Kritik

Benjamin Heisenberg: Lukusch

Inhalt:

Als Anton Lukusch 1987 aus der Ukraine nach Westdeutschland kommt, ahnt niemand, was sich hinter dem stillen Dreizehnjährigen verbirgt. Nur durch Zufall wird er kurze Zeit später als überragendes Schachtalent entdeckt. Die Bundesrepublik stürzt sich auf “ihr” neues Wunderkind. Doch wo Erfolg Geschichte schreibt, da tummeln sich die Profiteure schon.

Benjamin Heisenbergs “Lukusch” ist eine wilde und witzige Fahrt durch die unfassbare Geschichte des jungen Schachgenies Anton und seines grobschlächtigen Sidekicks Igor. klug und lässig zugleich spielt dieser Roman mit den Möglichkeiten des Erzählens und sprengt dabei seine eigenen Grenzen. (Klappentext)

Rezension:

Den Gegner seine Bewegungsfreiheit zu nehmen, ihn Zug für Zug auszumanövrieren, dies ist das Spiel der Könige, welches mit den Gegensätzen spielt. Schwarze und weiße Figuren werden gleichsam zweier Völker wie eine Armee über ein Spielfeld bewegt. Immer weniger Möglichkeiten auf Aktion Reaktion folgen zu lassen, gibt es bald für eine der beiden Seiten, während die andere Oberhand gewinnt. Zumindest meistens.

Übertragen auf große gesellschaftliche Ereignisse und Umbrüche, ist dies meist nicht ganz so einfach. Zu viele Schattierungen befinden sich zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Der Regisseur und Autor Benjamin Heisenberg hat es dennoch versucht, im übertragenen Sinne aus den einzelnen Figuren einen Roman herauszuarbeiten. Ist ihm eine moderne Version der “Schachnovelle” nach Art Stefan Zweigs gelungen oder doch noch mehr und etwas ganz anderes?

Wir Lesende steigen in die Geschichte gegen Ende der 1980er Jahre ein, als sich die Risse im System hinter dem Eisernen Vorhang immer deutlicher zeigen. Das Unglück von Tschernobyl, 1986, lässt die Welt still stehen. Wenig später werden zahlreiche Kinder und Jugendliche zur Genesung und Erholung außer Landes geschickt. Auch in Westdeutschland nimmt man sie auf. Anton Lukusch, der titelgebende unscheinbare Protagonist, ist eines dieser Kinder. Erst als er ein Schachspiel beobachtet, taut er ein wenig auf.

Schnell wird deutlich, der Junge hat Talent. Fortan wird das Wunderkind herumgereicht, spielt gegen den Bundeskanzler, beeindruckt bei Tests und Untersuchungen. Schnell jedoch verdunkeln Wolken den Erfolg. Eine zweifelhafte Organisation möchte sich die Begabung des Jungen zu Nutze machen, der das alles über sich ergehen lässt, immer begleitet von einem noch undurchsichtigeren Schatten, Igor, als er selbst einer ist. Erfolg folgt auf Erfolg, bis der Junge urplötzlich verschwindet. In der Gegenwart begibt sich der erwachsene Sohn seiner Gastfamilie auf Spurensuche, ohne zu ahnen, dass das Spiel noch lange nicht beendet ist.

So viel zur Geschichte, die gleichsam eines Schachspiels aus unwirklich vielen Elementen besteht, aufgrund derer man zeitweilig an der Genre-Zuordnung zweifeln mag. Roman heißt es da, aber genau so haben wir Ebenen eines packenden Thrillers, Gesellschaftskritik, zeithistorisches Porträt und ein Dokuspiel. Es ist ein experimenteller Film in Schriftform, der hier vorliegt, in den man sich einfinden muss, um nicht zwischen den Zügen zerrieben zu werden. Was eindeutig erscheint, wird im nächsten Moment ad absurdum geführt. Erzählstränge gehen nahtlos ineinander über, genauso wir nicht immer sofort ersichtlich zwischen Zeitebenen gewechselt wird.

Passend dazu eingewoben finden sich Fotografien, durchaus mit Realbezug, Fahndungsplakate, Protokolle und Zeitungsausschnitte, die kurzzeitig Zweifel aufkommen lassen, ob man es hier nicht doch mit einem kuriosen Sonderfall der Schachgeschichte, die genug Anlässe für Dramatik bietet, zu tun hat, um dann wieder ins Epische hineinzufinden. Diesen Zugang benötigt man. Wer den Protagonisten folgen will, benötigt Konzentration und Geduld.

Die Figuren sind in ihren Gegensätzen nicht immer nachzuvollziehen oder zu erklären, wie sich auch jeder Zug erst im Kontext eines Spiels erschließt, was manchmal dazu führt, dass eine gewisse Distanz besteht, die erst viel später aufgebrochen wird. Alle Protagonisten spielen um ihr Leben, Zusammenhänge, Sieger und Besiegte stehen erst spät fest. Niemand ist hier allwissend.

Die ungewöhnliche Art des Erzählens ist erst gegen Ende schlüssig. In dieser Art und Weise ist eine Geschichte selten zu lesen, wenn man den Zugang dazu findet. Lange bleibt unklar, welcher der Protagonisten die Oberhand gewinnen wird. Das Verwirrspiel ist gleichsam ein Puzzle aus Auslassungen und Wendungen, die ebenfalls im Nachhinein einen Sinn ergeben.

Wir bleiben einmal bei der Zuordnung Roman, der sicherlich nicht für jeden geeignet ist, zumindest nicht, wenn man liest, um den Kopf frei zu bekommen. Eher werden sich hieran die Geister scheiden, dennoch werden alle Zugang zumindest zu einigen Elementen finden. Davon hat die Geschichte einfach so viele, und sei es nur das zeithistorische Porträt. Man kann sich das gut vorstellen, diese Welt in Umbruch, Ängste, nicht zuletzt durch die Bezüge zur heutigen Zeit. Tschernobyl ist ein Symbol für vieles, das Schachspiel ohnehin.

Beim Schreiben merkt man den Hintergrund des Autoren, die Freude am Konstruieren und Schichten. Das gelingt nicht zuletzt durch einen klug ausgestalteten Hauptprotagonisten. Nur, wer spielt die Figuren? Wer wird am Ende matt gesetzt?

Autor:

Benjamin Heisenberg wurde 1974 in Tübingen geboren und ist ein deutscher Regisseur, Autor und Künstler. Nach der Schule studierte er Bildhauerei und erhielt 2000 sein Diplom an der Akademie der Bildenden Künste München, arbeitete anschließend als Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie. 2000 erhielt er den Debütantenpreis und studierte parallel, seit 1997, zudem Spielfilmregie, welches er 2005 abschloss. Zudem veröffentlichte er mehrere schriftstellerische Werke, Kurzfilme und nahm an zahlreichen Ausstellungen teil. Für seine Arbeit wurde Heisenberg mehrfach ausgezeichnet.

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Francis Seeck: Zugang verwehrt

Inhalt:

Eine bislang weitgehend ignorierte Diskriminierungsform prägt das Leben vieler Menschen fundamental: Klassismus. Die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Position spaltet unsere Gesellschaft, in der die Schranken zwischen den Klassen immer unnachgiebiger werden. Soziale Unterschiede spitzen sich dramatisch zu. Und Francis Seeck zeigt ganz klar: Eine gerechte Gesellschaft können wir nur erreichen, wenn wir uns mit Klassismus auseinandersetzen! (Klappentext)

Rezension:

Eine der großen Gefahren für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist verglichen mit anderen Punkten, die ebenfalls zu deren Spaltung beitragen, vergleichsweise unsichtbar oder, genauer, vor allem sichtbar für jene, die es betrifft. Klassismus ist der Oberbegriff dieses Phänomens, welches das Leben einer immer größeren Gruppe von Menschen bestimmt und dies von Geburt an. Die Kulturanthropologin und Antidiskriminierungstrainerin Francis Seeck hat nun eine zugängliche Diskussionsgrundlage verfasst, die zum Anlass genommen werden darf, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.

Wenn immer mehr Einkommen für Miete aufgewendet werden muss, Parkbänke so gestaltet werden, dass sich wohnungslose Menschen nicht länger dort aufhalten mögen und können, gleichzeitig die Lücke zwischen Arm und Reich immer unüberwindbarer wird, ein Aufstieg sowohl materiell als auch sonst gesellschaftlich kaum mehr möglich ist, ist dies nichts anderes als sich eine immer stetiger zeigende Festigung von Unterschieden. Damit ist dies Grundlage einer Ideologie, die nicht nur allein als Diskriminierungsform, sondern fast immer auch in Verbund mit anderen daherkommt.

Die Autorin, als Eine, die sich selbst durch Klassenschranken kämpfen musste, erklärt die Entstehung des Begriffs und seine Fascetten, die historische Dimension und ihre heutigen Ausprägungen, zugleich Verknüpfungspunkte und Lösungsmechanismen, über die zumindest nachgedacht werden sollte.

Dieses Buch soll zeigen, wie die oft ignorierte Diskriminierungskategorie Klassismus unsere Gesellschaft umfassend prägt. Mein Ziel ist, Menschen für Klassismus zu sensibilisieren, damit wir gemeinsam für eine sozial gerechtere Gesellschaft kämpfen. Es reicht nicht, über Klassismus zu reden und neue Theorien zu entwickeln, wir sollten auch ins klassismuskritische Handeln kommen.

Francis Seeck: Zugang verwehrt – Keine Chance in der Klassengesellschaft

Das klingt zunächst sehr technisch, doch anhand von Beispielen, die sie immer wieder einbringt, beleuchtet Seeck beide Seiten unserer und vergangener klassistischer Gesellschaften, derer die danach streben und derer, die dagegen ankämpfen. Gleichzeitig verliert sie jedoch nicht den Blick auf jene, die als Opfer dieses Systems so stark darin gefangen sind, dass sie Hilfe brauchen, um sich da raus zu kämpfen. Dies aus Perspektiven, die heute immer noch zu wenig eingenommen werden.

Wie auch den Schreibenden der bereits erschienenden Streitschriften der Reihe “Zündstoff” gelingt es ihr in kompakter Form Grundlagenwissen zu einer wenig bisher differenziert beleuchteten Thematik zu vermitteln, dass zwangsläufig neue Perspektiven gewonnen werden, ohne dass man zugleich mit allen genannten Lösungsvorschlägen einverstanden muss.

Schnell wird man jedoch feststellen, wie sehr man selbst vielleicht im klassistischen Denken verhaftet und wie schwer es angesichts unserer Gesellschaft ist, dauerhaft umzudenken. Diesen Prozess anzustoßen, ist ein Kraftakt, der mit dem Lesen der Denkschrift und der Diskussion die folgen sollte, der Francis Seeck gelungen ist.

Autorin:

Francis Seeck wurde 1987 geboren und ist eine deutsche Kulturantropologin und Antidiskriminierungstrainerin. Sie studierte zunächst Kulturwissenschaften an der Europa Universität Viadrina und Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität Berlin, an der sie auch promovierte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Antidiskriminierung und Gender, qualitative Sozialforschung und soziale Gerechtigkeit.

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Kurzblick: Fall eines Kritikers

In den Fluten der Berichterstattung geht derzeit zurecht eine Diskussion unter, die zunächst hintenan gestellt werden musste. Zu erschütternd sind gerade die Bilder aus dem Westen der Republik, zu erschreckend die Nachrichtenlage, in der es um verlorenes Hab und Gut, zerstörte Existenzen, tote und vermisste Personen geht und einer Großwetterlage, in der mehr denn je die Unfähigkeit eines Kanzlerkandidaten zu Tage tritt. Damit muss und sollte man sich beschäftigen.

Nichts desto trotz ist ein anderer Aufreger aktuell auch erschütternd. Der Kritiker Denis Scheck stellt in mehreren Videos eine Art Anti-Kanon der Literatur vor und empört damit einmal mehr.

Am Anfang stand ein Video zum wohl größten Machwerk der Geschichte. Denis Scheck spricht über „Mein Kampf“, dem Buch, in dem Adolf Hitler seine Gedanken und kruden Theorien formulierte, dem später grausamste Taten folgten, die Millionen von Menschen das Leben kosteten. Das Video selbst wurde inzwischen vom verantwortlichen Fernsehsender offline genommen, doch die anderen Beiträge sind weiterhin zu sehen.

Denis Scheck spricht da z. B. über ein Buch von Christa Wolf, über Johannes R. Becher, Stefan Fitzek und Stefan George. Andere Videos werden sicher folgen, über AutorInnen, deren Werk der Literaturkritiker quasi gottgleich per Blitze vernichtet, die Scheck aus den Händen schießen und mit denen er seines Erachtens Unlesbares eliminiert.

Nun darf Literatur genau so augenzwinkernd ironisch sein, wie auch bösartigen Spott enthalten, auch muss niemand die Bücher eines Thriller-Bestsellerautoren mögen, aber hier passiert dem SWR, nein, Denis Scheck genau das, was noch vor einigen Jahren Booktubern von den etablierten Medien vorgeworfen wurde. Der Kritiker spricht hier nicht vernünftig gegen Bücher, untermauert nicht, sondern bleibt oberflächlich, erhebt sich gottgleich (Keine andere Assoziation lässt der weiße Anzug Schecks zu.) über AutorIn und Werk. Ein Literaturpapst benötigt kein Argument, so die folgerichtige Aussage. Ein Blitz genügt.

Noch nicht im weißen Anzug, auf der Buchmesse Leipzig 2018 fotografiert. (privates Foto)

Was das ZDF mit dem Format „Filmgorillas“ im Bereich Filmkritik gelingt, in dem sich vier Film-Liebhaber kritisch mit cineastischen Werken auseinandersetzen, gelingt dem SWR hier im Bereich Literatur ganz und gar nicht. Dabei gibt es sie noch, Literaturformate im Fernsehen, die sich wohltuend abheben und in denen es um Bücher geht, nicht primär den Kritiker in Szene setzen. So ist in 3sat etwa vier Mal pro Jahr das Format „Buchzeit“ zu sehen, das Schweizer Fernsehen SRF geht monatlich mit seinem Literaturclub auf Sendung, für Deutsche in der Mediathek des Senders abrufbar.

In beiden Formaten stehen die besprochenen Werke im Vordergrund. Es wird verhältnismäßig ruhig miteinander diskutiert, sich ausgetauscht, für oder gegen ein Werk argumentiert. So funktioniert Kritik und so niveauvoll gibt es das bei vielen Booktubern und Bloggern, die mitnichten nur die Cover in die Kamera halten, sondern sich auch mit Sprache und Wirkung, literarischen Stilmitteln und eben all den Dingen auseinandersetzen, die zu guter Literaturkritik gehören. Dabei sind viele kreative Ideen und Formate zu sehen. Inzwischen täte es Sendern wie dem SWR gut, sich das einmal genauer anzuschauen.

Es reicht eben nicht, Werke per Blitz zu eliminieren, zumal die Assoziation zur Bücherverbrennung trotzdem steht, auch wenn sich der Sender inzwischen zumindest für das „Mein Kampf“-Video entschuldigt hat. Simone Barrientos setzte sich mit Schecks Kritik zu Christa Wolfs Werk „Kassandra“ auseinander, bei DeutschlandFunkKultur ist vom „Kritik-Clown“ (nicht Gott) zu lesen, der Literaturkritiker Jörg Magenau findet deutliche Worte, sowie das Magazin Der Spiegel und ich sehe einmal mehr, dass echte Literaturkritik, die sich wirklich argumentativ mit dem Werk auseinandersetzt, inzwischen woanders stattfindet. Beim SWR kann es nur um bloße Aufmerksamkeit gegangen sein. Substantielle Literaturkritik ist das zumindest nicht.

Zu Göttern in Weiß hatte ich bisher jedoch eine andere Assoziation.

Anmerkungen: Links wurden zum Stand des Veröffentlichungszeitpunktes des Textes geprüft. Der Autor übernimmt dafür keine Haftung und betont überdies, dass dieser Beitrag die eigene sehr subjektive Meinung darstellt und nichts anderes.

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Das Bloggen mit Büchern: Wie hältst du’s mit Rezensionsexemplaren?

Der Blog startete als kleines Privatvergnügen, zur Gedächtnisstütze nach der Lektüre. Mehr war es zu Beginn nicht, wollte ich doch aufschreiben, wie ich ein gelesenes Buch fand und warum das so ist, schließlich verdrängt man als Vielleser eine ganze Menge. Irgendwo muss ja der Platz für Gedanken zu neuen Büchern her. Da ist solch eine Schreibarbeit schon eine feine Sache.

Heute, lange nachdem ich mich auf’s Glatteis begeben habe, ohne auf mich zu vertrauen, dass es vielleicht noch jemanden gibt, der sichd afür interessiert, was ich zu sagen habe, mit größerem Selbstbewusstsein, ist aus dem persönlichen Archiv viel mehr geworden.

Inzwischen sehe ich es als meine Aufgabe an, Literatur vorzustellen und kritisch einzuordnen, auch einmal Bücher jenseits der obersten Schichten von Büchertischen und Bestsellerlisten zu zeigen. Gelesen wird das gerne, dafür bin ich unglaublich dankbar. Doch, auch ich muss mir als Blogger eine Frage gefallen lassen und die lohnt einer näheren Ausformulierung.

Wie hältst du’s mit den Rezensionsexemplaren?

Was der Mode-Bloggerin ihr Seidenschal oder ihre Handtasche ist, sind den Literaturbloggern die Rezensionsexemplare. Per se sind das Bücher, die in einer begrenzten Stückzahl von Verlagen und Autoren der Presse zur Verfügung gestellt werden, um diese unter die Menschen zu bringen, auf breiter Basis zu präsentieren und vorzustellen. Für die eine Seite nicht mehr und nicht weniger als kostengünstige Werbung, für uns Blogger Arbeitsmaterial, Content und Lohn zugleich.

Der Stapel ungelesener Bücher ist bei mir naturgemäß nicht klein.
Manchmal kommen aber auch Rezensionsexemplare hinzu.

Natürlich ist kein Schreiberling auf diese Art von Zuwendung angewiesen. Einige nutzen sie mehr, andere konzentrieren sich auf das, was sie ohnehin auf ihren Stapeln ungelesener Bücher finden. Persönlich stöbere ich gerne in den Vorschauen der Verlage, lasse mich auf Benachrichtigungen von Autoren und literarischen Agenturen ein.

Einige intensive Kontakte sind dadurch schon entstanden, mit einigen Schriftstellern hatte ich so die Grundlage für Interviews auf den Buchmessen geschaffen. Da ist die Frage nicht weit, wie kritisch man gerade dann sein darf. Schließlich hoffen die, die Rezensionsexemplare zur Verfügung stellen, auf eine positive Besprechung.

Gerade das ist nicht immer gegeben. Sei es, weil die Thematik nicht so von den AutorInnen verarbeitet oder umgesetzt wurde, wie man sich das als Leser erhofft hatte, weil man ganz andere Erwartungen an die Lektüre hatte oder das Buch zwar zeitnah gelesen hatte, aber in der falschen Stimmung dafür gewesen ist. Das und noch einige andere Punkte beeinflussen die Bewertung von Büchern und dies kann dann natürlich auch nach hinten losgehen.

Anfangs war ich noch vorsichtig. Zu Beginn ist man noch neu in dieser “Bubble”, fühlt sich geehrt, wenn man Rezensionsexemplare zugeschickt bekommt. An meinen ältteren Rezensionen merkt man das teilweise, doch mittlerweile neige ich dazu, zu sezieren, wie ein Rechtsmediziner eine Leiche. Gott sei Dank fühle ich mich nach dem Lesen der meisten Bücher weniger tot als viel mehr erfüllt.

Der Glücksgriff nach guter Lektüre gelingt mir häufiger, auch bei Anfragen an die Verlage, als dass er mir misslingt. Das erklärt viele positive Bewertungen. Ich kenne meine Lesevorlieben, meine Stimmung genau, begründe jedoch auch, wenn dies einmal nicht so funktioniert.

So schreibe ich dann auch negative Rezensionen. Um ehrlich zu sein, auch Verrisse zu formulieren, macht Spaß. Einige Verlage können davon bei mir leidgeprüft ein Lied singen. Doch, mein Anspruch ist es, jede Kritik, die ich äußer, sachlich zu formulieren und ausführlich zu begründen.

Es braucht auch einmal eine negative Meinung, doch letztendlich gilt das, was Marcel Reich-Ranicki einst in einem Interview formulierte. Hauptsache ein Buch wird erwähnt. Auch von ihm verrissene Lektüre verkaufte sich sehr gut. Schließlich wollten viele wissen, was an der Kritik des großen Kritikers dran ist. Inzwischen halte ich das ebenso.

Jeder kann hier sehen, welche Rezensionen auf einem Rezensionsexemplar beruhen. Das schreibe ich entweder in die Datenbox oben hinein, oder bei älteren Rezensionen, die noch nicht überarbeitet wurden, steht diese Information als Kennzeichnung im Verzeichnis. Es ist ersichtlich, transparent. Um so wichtiger dann auch, welches Fazit ich aus der Lektüre für mich gezogen habe.

Wenn das ausführlich und begründet ist, haben alle was davon. Leser, Autoren und Verlage. Es soll ja auch die jenigen geben, die genau wissen, was nicht für den Rezensenten funktioniert hat, könnte es für einem selbst sein. Das ist dann auch eine Hilfe. Vielleicht ist mir eine Handlung zu ruhig und langwierig, andere suchen genau dies. So kann auch eine negative Bewertung zu etwas Positiven führen. Damit ist dann viel gewonnen.

Drei Rezensionsexemplare von drei Verlagen.
Zwei davon funktionierten für mich gut, eines weniger.

Ja, es braucht auch negative Rezensionen und davon sind die von Verlagen zur Verfügung gestellten Werke nicht ausgenommen. Nur einmal hatte ich bisher eine etwas unprofeessionelle Reaktion darauf, ein anderes Mal habe ich auf Nachfrage hin, eine Kritik noch einmal etwas mehr ausformuliert. Relativ selten kommt es auch vor, dass ich mich gar nicht in der Lage sehe, eine Rezension zu schreiben. Dann bekommen Verlag und Autoren darüber eine Nachricht mit Begründung. Ansonsten gilt, was nun geschrieben steht.

Egal, ob die Rezension in die positive oder negative Richtung ausschlägt, begründet muss sie sein und mittlerweile gelingt mir zumindest das ganz gut. Für mich und meine LeserInnen die Lektüre einzuordnen, vielleicht eine Vorauswahl zu treffen, ist eine Hauptaufgabe inzwischen, die ich ernst nehme. Ausformulierte Kritik können Verlage und Autoren aushalten, letztendlich entscheidet ohnehin der Gang in die Buchläden und Bibliotheken. Wer danach anderer Meinung ist als ich, hat vielleicht etwas gefunden, was mir verschlossen geblieben ist. Das ist doch auch ganz schön.

Egal, ob positiv oder negativ. Das ist auch bei Rezensionsexemplaren nicht unbedingt wichtig. Hauptsache, begründet und sachlich muss die Kritik sein. Nur dann funktioniert es.

Mit einigen Verlagen und Autoren verbindet mich eine längere Zusammenarbeit, trotz mancher negativer Kritik oder vielleicht auch deswegen. Fast alle Werke, die ich anfrage, bekomme ich zumeist, zusammen mit den Büchern, die an mich sonst noch herangetragen werden.

Mittlerweile kennt man die Genre, die Themen, in denen ich mich bewege, was auch dazu führt, dass totale Fehlgriffe relativ selten sind. In letzter Zeit frage ich weniger an. Ich habe mich da in der Vergangenheit etwas übernommen, doch bin ich jedes Mal gespannt darauf, was mich erwartet. Heute frage ich gewählter nach.

Oft funktioniert das, manchmal leider nicht. Vielleicht kommt es am Ende auch nicht darauf an, welche Sternebewertung dabei herauskommt. Das Wie und Warum ist wichtiger. Für meine LeserInnen, für die Verlage und schreibende Zunft. Für die Statik meines Bücherregals. Auch, für mich. Dazu gehören dann auch negative Rezensionen.

Letztlich muss sich ein jeder seine eigene Meinung bilden.

Euer findo.

Die Fotos entstammen meinem Instagram-Account.

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Oskar Roehler: Der Mangel

Der Mangel Book Cover
Der Mangel Oskar Roehler ullstein Erschienen am: 28.02.2020 Seiten: 170 ISBN: 978-3-550-20038-0

Inhalt:

Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt.

Vom Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechszigern, den Anstrengungen der Väter, Wohlstand oder zumindest eine Illusion davon zu erschaffen.

Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter und das Gegenbild dazu, der Ausweg aus Mangel und Überfluss zugleich: die Kunst als Rettungsanker für das Überleben. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Der namenlose Junge beobachtet die Erwachsenen, die daran scheitern, eine Illusion von Wohlstand Wirklichkeit werden zu lassen und daran zu Grunde gehen, zerbrechen. Mit Gleichaltrigen trollt er durch die noch nicht fertige Neubausiedlung am Rande eines Dorfes, gräbt sich durch Schlamm und Lehm, versinkt sprichwörtlich in seiner eigenen Welt.

Zu Beginn ist er ein Vorschulkind, welches um sich herum alles aufnimmt, später versucht, mit den Mitteln der Kunst zu überleben, beinahe wie einst die Mütter und Väter um ihn herum, zu scheitern droht.

Beindruckend ist diese Novelle, deren Handlung der Leser wie einen kunstfollen Kurzfilm vor dem inneren Auge ablaufen sieht. Nicht von ungefähr kommt dieser Effekt, ist doch der Autor Oskar Roehler selbst Filmregisseur und Drehbuchautor.

Der Protagonist, Vorschulkind, Kind, früher Jugendlicher ist das alte Ego des Autors, der Eindrücke in sich aufsaugt, wie ein Schwamm. Kurz und prägnant sind die Sätze, messerscharf und folgerichtig, wie die Beobachtungen selbst.

In der Erzählung fühlt man mit dem Handelnden, der begreift, dass es da draußen in der großen weiten Welt noch etwas anderes geben muss, dass die Chancen, die sich ihm bieten, jedoch noch weniger als rar gesät sind.

Röhler verbildlicht hier Trost- und Perspektivlosigkeit, die Zeit des Wirtschaftswunders, die überall ankommt, nur nicht dort. Die Zeitspanne umreißt die ersten Jahrzehnte der bundesrepublikanischen Gesellschaft, mit allen Möglichkeiten, vielmehr jedoch mit allen Fallstricken.

Der Protagonist bleibt dabei immer in der Position des Schwachen, ständig am Rand des Abrgund stehend, selbst, als er beginnt, sich daraus zu kämpfen. Trost nur in der Welt der Kunst, der Sprache.

Roehlers Stil, diese Geschichte eine lehmhafte Schwere angedeihen zu lassen, ist gewöhnungsbedürftig. Schön zu lesen, doch plätschert die Trostlosigkeit wie voluminöse Regentropfen nur so dahin. Die Atmosphäre ist düster, die ganze Zeit über, kaum Hoffnungsschimmer.

Um das zu lesen, sollte man in der richtigen Stimmung sein. Für depressive Gemüter ist das nichts.

Es ist eine kompakte Erzählung mit dem Effekt eines Günter Grass, der mit Worten zu faszinieren oder verschrecken mochte. Dazwischen gibt es nichts, sozusagen luftleerer Raum.

Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Kunst als zweifelhafter Rettungsanker. Und immer wieder Dreck, Schlamm, Feuchtigkeit, Lehm. Graue, braune Masse, aus der man etwas erschaffen oder in die man versinken kann.

Doch, muss das zwischen zwei Buchdeckeln sein?

Autor:

Oskar Roehler wurde 1959 geboren und ist ein deutscher Filmregisseur, Journalist und Autor. Nach seinem Abitur ist er als Autor für Drehbücher tätig und wurde ab 1990 als Spielfilmregisseur bekannt. Sein erfolgreichster Film war “Die Unberührbaren”, der u.a. mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde.

Roehler gehört zu den Gründungsmitgleidern der Deutschen Filmakademie, 2003. Im Jahr 2011 veröffentlichte er einen autobiografischen Roman, den er auch verfilmte. 2018 verfilmte er den Roman “HERRliche Zeiten” des umstrittenen rechten Schriftstellers Thor Kunkel.

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Reinhard Kuhnert: In fremder Nähe

In fremder Nähe Book Cover
In fremder Nähe Reinhard Kuhnert Mirabilis Verlag Erschienen am: 22.02.2019 Seiten: 272 ISBN: 978-3-9818484-9-6

Inhalt:

Elias Effert ist Theatermann. Stückeschreiber, Regisseur und Liedermacher und feiert in der DDR große Erfolge, bis er zu sehr mit seinen Texten aneckt. Der Geschasste verlässt die DDR, nur einer holt ihn in Westberlin ab. Joachim, Chef eines Westberliner Theaters, will helfen.

Doch, Elias ist skeptisch, nach und nach stellen sich jedoch erste Erfolge ein. Effert erlebt aber auch die Zweifel und Schwierigkeiten, ein Westler zu werden. Eine Welt wurde ihm fremd, die andere wird nie ganz nah. Nach Jahren öffnet sich für Elias ein völlig unerwarteter Weg. (eigene Inhaltsangabe).

Rezension:

Wenn man den Umschlagstext und die Inhaltsangabe eines großen Verkaufsportals auf diese art und Weise zusammenfasst, könnte man fast den Eindruck bekommen, man hätte es hier mit einer spannenden und wendungsreichen Thematik zu tun, wird aber gleichsam auf den ersten Seiten enttäuscht werden. Und die gehören schon zu den spannendsten, welche der Künstlerroman zu bieten hat.

Geschrieben hat ihn Reinhart Kuhnert, der hier als Theatermensch seine eigene Biografie verarbeitet hat und von den Schwierigkeiten erzählt, zwischen Tür und Angel, in diesem Fall zwischen Ost und West zu leben und nirgendwo so richtig anzukommen.

Und genau das passiert zunächst auch mit den Leser. Vielleicht liegt es daran, dass mir das bewusste Erleben der DDR- und Wendezeit fehlt, jedenfalls ist das anfangs noch verständliche Verhalten und Denken des Hauptprotagonisten, welches ihn zu einer durchaus wandelbaren und interessanten Figur hätte machen können, mir sehr schnell gehörig auf die Nerven gegangen. Diese ständigen Selbstzweifel, das Jammern wird mit der Zeit so unerträglich, dass es auch nicht hilft, dass man aufgrund des Erzählstils geradezu durch die Seiten fliegt.

Zu nennen sind die beiden Hauptfiguren, Effert zum einen und zum anderen Kramert, die gleichsam gegensätzliche Pole ihrer Orientierung bilden, denen man jedoch beide gegen eine Ziegelmauer stoßen möchte. Fast möchte man beiden Protagonisten zu schreien, man kann sich aber auch anstellen.

Ansonsten bewegt sich außer der dahinplätschernden Handlung nicht viel. Sinnsuche, vielleicht nicht ohne Sinn aber ohne Ergebnis und irgendwie habe ich das von diesen Roman erwartet. War dann vielleicht auch ein Fehler von mir.

Interessant ist die Verschmelzung der Geschichte des Autors mit der seines Protagonisten. Hier erweißt sich das Reale wieder einmal spannender als die gesponnene Geschichte. Kuhnert hat selbst eine Dissidentenbiografie vorzuweisen und ging in den 1980er jahren in den Westen, musste als Künstler praktisch von Null auf starten, verarbeitete mit diesem Roman wahrscheinlich all die Gedanken, die ihn seither begleiteten.

Er verwendete dafür reale Texte, die er selbst für verschiedene Theaterbühnen schrieb und legte sie seinen Protagonisten in den Mund oder in der Füllertinte. Solch einen Kniff zu verwenden ist stark. Um so bedauerlicher, dass Kuhnert nicht mehr daraus gemacht hat als diesen Roman, der mich fragend zurücklässt und farblos erscheint.

Vielleicht wirkt die Geschichte anders, wenn man selbst eine ähnliche Biografie aufweisen kann oder zumindest der Generation des Autoren angehört oder dessen Berufsgruppe? Mir fehlte leider der Zugang.

Autor:

Reinhard Kuhnert ist Schauspieler, Regieassistent und Regisseur und arbeitete an verschiedenen Theatern in der DDR, später in Westberlin und im Ausland.. Bis 1983 wirkte er als erfolgreicher Dramatiker in Ostberlin, bevor er nach zunehmenden Konflikten mit der Zensur und den folgenden Rauswurf aus den Schriftstellerverband der DDR nach Westberlin übersieltelte.

Er schreibt Stücke für Theater, Funk und Fernsehen aber auch Romane und Gedichte.Von 1994 bis 2007 lebte er in Galway/Irland und war dort Gastdozent der dortigen Universität, sowie 2006 an der Universität und dem Victorian College of Arts Melbourne. Er erhielt 1999 den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlins und 2017 die Goldene Schallplatte.

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Guido Knopp: Meine Geschichte

Meine Geschichte Book Cover
Meine Geschichte Guido Knopp C. Bertelsmann Erschienen am: 13.11.2017 Seiten: 320 ISBN: 978-3-570-10321-0

Inhalt:

Mister History blickt zurück: Guido Knopp, der das neue Geschichtsfernsehen prägte und damit für Millionen Zuschauer zum wichtigsten Geschichtslehrer wurde, verknüpft pointiert und anekdotenreich zentrale gesellschaftliche und politische Entwicklungen der vergangenen sechs Jahrzehnte mit prägenden autobiografischen Stationen und persönlichen Erlebnissen.

Immer vor dem Hintergrund seines Lebensthemas, der deutschen Geschichte. Ein Buch nicht nur für seine Zuschauer und Leser, die ihm über Jahrzehnte treu geblieben sind. (Klappentext)

Rezension:
Geschichte muss nicht trocken sein, nicht langweilig oder gar oberlehrerhaft rübergebracht werden, um ihrer gerecht zu werden. Im Gegenteil, ist sie doch in all ihren Facetten spannend und durchaus erkenntnisreich. Im Guten, wie auch im Schlechten.

Wenn es ein Fazit bedarf, welches man aus Guido Knopps Arbeit ziehen darf. Lehrer setzen seine Dokumentationen im Unterricht ein, Wiederholungen einzelner Senderreihen bringen den Schwestersendern des ZDF immer noch gute Quoten, DVD-Verkäufe inmmer noch ordentliche Ergebnisse.

Doch, wer war der Mann, der als Initiator hinter all den Dokumentationen steckte, dem oft vorgworfen wurde, zweifelhafte Personen der Geschichte zu verherrlichen, der neue Dokumentationstechniken anwendete, die heute zum Standard gehören und das Geschichtsverständnis nun schon mehrerer Generationen zumindest mitprägte? Wer war Mr. History?

Erzählt wird seine Geschichte nun von ihm selbst. In seiner Biografie “Meine Geschichte” zeichnet Guido Knopp, gespickt immer wieder mit amüsanten Anekdoten, sein Leben nach und immer wieder auch ein Stück Fernsehgeschichte des ZDF.

Er berichtet von dem Aufbau seiner Redaktion bis zur Gestaltung der ersten Sendungen, gibt Einblick in den Aufwand, der hinter all den zahlreichen Dokumentationen steckt und wirft einen humorvollen Blick auf seine Kritiker, die ihm seine Erfolge mitunter neideten.

Er beschreibt das Wie und Warum, erklärt, wie Neuerungen in der fernsehtechnischen Gestaltung zunächst das Feuilleton althergebrachter Zeitungen verärgerte, und es zum Ruf der “Verknoppung” der Geschichte kam.

Kurzweilig und spannend, wie auch seine Beiträge, seine Dokumentationen zur deutschen Geschichte ist auch seine eigene. Wer “Fan” seiner Arbeiten ist, empfiehlt sich die Lektüre ohnehin, wer Kritiker ist, dem sei “Meine Geschichte aus dem C.Bertelsmann-Verlag ebenfalls ans Herz gelegt.

Wie entstanden bestimmte Sendungen, welcher Aufwand, der für den Zuschauer so nicht sichtbar ist, musste betrieben werden, um Sendereihen zu komplizierten Themen zu füllen, gerade wenn die Türen sich nur per Staubsauger öffnen ließen (sinnbildlich gesprochen)?

Wo waren die Grenzen der ZDF Redaktion Zeitgeschichte und wie die Resonanz in Deutschland, Europa und der Welt? Welche Historiker arbeiteten im Hintergrund mit, welche historischen Persönlichkeiten, von Berühmt bis zum zufällig gewesenen Zeitzeugen gaben Einblicke in die Geschehnisse?

Guido Knopp erinnert sich und kann sich damit getrost einreihen, in die Aufzeichnungen der Gespräche, die er und sein Team mit den verschiedensten Interviewpartnern geführt haben.

Das Kind des Wirtschaftswunders, welches die brotlose Kunst der Geschichte studierte, und diese selbst so spannend zu erzählen wusste, wie einst sein Lehrer auf seinem Gymnasium und sich damit um seiner Lieblingsthematik verdient machte.

Interessenten, die nicht zuletzt ein Stück Fernsehgeschichte nachempfinden und einen Blick hinter die Kulissen werfen möchten, und auch sonst, eine unbedingte Leseempfehlung. Geschichte ist spannend wie ein Krimi und es unbedingt wert, sie zu erzählen.

Was ist eigentlich "Verknoppung"?

Guido Knopp setzte als einer der ersten Spielszenen ein, wo historisches Filmmaterial nicht ausreichte, bestimmte Ereignisse der Geschichte darzustellen. Heute ein gängiges Mittel in den Fernsehtechniken unserer Zeit, war dies damals noch eine neue ungewohnte Technik.

“Nicht authentisch”, lautete das Urteil einiger großer Zeitungen. Zudem wurde Geschichte erstmals nicht nur chronologsich erzählt, sondern anhand von bestimmten Ebenen (z.B. anhand von Personenhierarchien), um eine bessere Nachvollziehbarkeit zu gewähren. Auch dies damals ein Novum.

Zudem wurde historisches Filmmaterial mit Kommentaren unterlegt, Personen nicht vor wertenden, sondern neutralen Hintergründen interviewt.

Auch dies, und die Präsentation geschichtlicher Themen, nicht “oberlehrerhaft”, zur Primetime, um für Aufklärung Reichweite zu bringen, brachten Guido Knopp und seiner Redaktion bestimmte Kritiken ein. Andere, wie Johannes Rau oder Simon Wiesenthal lobten Knopp für seinen Beitrag zum Geschichtsverständnis seiner Zuschauer.

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Autor:
Guido Knopp wurde 1948 geboren und ist ein deutscher Journalist, Historiker, Publizist und Moderator. Nach der Schule studierte er Geschichte, Politik und Publizistik und arbeitete zunächst als Redakteur verschiedener Zeitungen.

So war er u.a. für die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” und der “Welt am Sonntag” tätig. 1978 wechselte er zum ZDF und leidete ab 1984 die von ihm initiierte Redaktion “Zeitgeschichte”. Neben der Podiumsdiskussionsreihe “Aschaffenburger Gespräche” verantwortete er zahlreiche Dokumentationsreihen zur deutschen Geschichte.

Seit 2010 ist er Vorsitzender des Vereins “Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation.” Guido Knopp erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. die “Goldene Kamera” oder den “Emmy”. Er lebt mit seiner Familie in Mainz.

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Jürgen Petschull: Mit dem Wind nach Westen

Mit dem Wind nach Westen Book Cover
Mit dem Wind nach Westen Jürgen Petschull Goldmann (antiquarisch) Erschienen am: 01.01.1980 Seiten: 245 ISBN: 978-3-44211-5-013

Inhalt:

Eine kleine Stadt in Thüringen, in der Nähe der deutsch-deutschen Grenze. Zwei Männer glauben, das Herrschaftssystem der DDR nicht mehr länger ertragen zu können und verfallen auf eine phantastische Idee.

In einem selbstgebauten Heißluftballon wollen sie mit ihren Familien in den Westen fliehen, doch der erste Versuch misslingt. Zweihundetr Meter vor dem Todesstreifen im Sperrgebiet bleibt der Ballon in den Bäumen hängen.

Die Flüchtenden entkommen unerkannt, müssen den Ballon aber zurücklassen. Doch, bald starten sie einen neuen Fluchtversuch, denn den beiden Familien ist klar, die Staatssicherheit wird sie jagen. Mit einem zweiten Ballon starten sie schließlich einen neuen Versuch. Der Wind weht in westlicher Richtung. (eigener Text)

Rezension:
Für einen kurzen Moment der Geschichte rückte der kleine fränkische Ort Naila in den Blick der Weltgeschichte. Die westdeutsche, europäische, selbst die amerikanische Presse fand sich in den Ort ein, um über Unglaubliches zu berichten.

Zwei Familien hatten in der Nacht des 16. September 1979 mit einem selbst konstruierten Ballon die Flucht aus der DDR gewagt und waren sicher in der Nähe des Ortes gelandet, nachdem ein paar Monate zuvor der erste Versuch, die Grenze zu überqueren, gescheitert war.

Doch, was trieb zwei Familien dazu, die Flucht zu wagen, worauf mindestens langjährige Gefängnisstrafen, an der Grenze mit Selbstschussanlagen, scharfen Hunden und Minen mindestens Verstümmelungen, wenn nicht sogar der Tod bei Scheitern gedroht hätten?

Weshalb wollten die Wetzels und die Strelzyks, denen es beiden im System der DDR gut ging, die es zu so etwas wie Wohlstand gebracht hatten, diesem entfliehen? Jürgen Petschull schrieb ihre Geschichte auf. Ein Jahr nach ihrer Flucht.

Den Film kann man inzwischen auf allen möglichen Plattformen auf DVD zu Phantasie-Preisen erwerben, das Buch ist dagegen antiquarisch für ein paar Cent zu haben. Und es lohnt sich heute noch, diese Momentaufnahme der Geschichte vorzunehmen.

Jürgen Petschull hat vor Ort, in Pößneck in der DDR recherchiert, sowie in Naila beide Familien nach ihrer Flucht besucht und rekonstruiert diese von der ersten Idee bishin zum Bau des ersten Ballons, erzähltt von Mut und Überlebenswillen, Überdruss über ein verkrustetes Staatssystem und den Willen zur Veränderung.

In einer Zeit, in der es noch viele Berichte ideologisch gefärbt gegeben haben mag, auf beiden Seiten der Grenze, ganz unaufgeregt und neutral.

Er beleuchtet die Ereignisse von allen Seiten, fühlt den beiden Familien nach, stellt die Arbeit der Staatssicherheit dar, die nach dem ersten Fluchtversuch sicher die Fährte aufnahm und den Abtrünnigen auf die Schliche kam. Doch, die waren da schon längst mit dem zweiten Ballon mit dem Wind in den westen getrieben.

Zum Zeitpunkt des Aufschreibens war noch nicht klar, dass die Mauer ein gutes Jahrzehnt später fallen und die Grenze sich öffnen würde. Auch, dass die Familien sich im Umgang miteinander beide entfremden würden, war nicht abzusehen.

Ein Jahr später stand nur eines fest, die beiden Familien hatten es einem System gezeigt, welches nur überleben konnte, da es seine Bürger einsperrte. Und das wollte man würdigen.

Der bayerische Grenzort wollte profitieren, die Familien sollten es und die Welt sollte erfahren, dass man nur Mittel und Wege, Ideen, haben musste und manchmal auch eine gewaltige Portion Glück, die Grenzanlagen zu überwinden.

Peter Strelzyk ist dieses Jahr im Alter von 74 Jahren gestorben. In sofern ist es Zeit, sich an diese Geschichte zu erinnern, die glücklich ausgang und sich an jene Fluchten zu erinnern, die mit Gefängnis oder gar den Tod endeten.

Und daran, dass sich eben der Mensch als freiheitsliebendes Wesen nicht einsperren lässt. Herrlich neutral und ohne Ideologie erzählt Jürgen Petschull klar dokumentarisch ein Stück zweier unvergesslicher Familienbiografien, in deren Mittelpunkt ein selbstgebauter Ballon stand.

Dieser ist heute im Heimatmuseum in Naila zu bewundern, während die Familien nach der Wende wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Als dieses Mal freie Menschen.

Autor:
Jürgen Petschull wurde 1942 in Berlin geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er volontierte zunächst bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und arbeitete danach für die Neue Rhein/Ruhr Zeitung als Redakteur und Reporter, bevor er zum Magazin Stern wechselte.

Er schrieb vielfach beachtete deutsche und internationale Reportagen, arbeitete auch als Chefreporter für Geo. Er schreibt zeitgeschichtliche Sachbücher und Romane, die zumeist auf wahren Geschehnissen beruhen.1980 schrieb er über die Ballonflucht zweier Familien aus der DDR sein erstes Sachbuch. Mit seiner Familie lebt er in Bremen.

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