Benjamin Heisenberg: Lukusch

Inhalt:

Als Anton Lukusch 1987 aus der Ukraine nach Westdeutschland kommt, ahnt niemand, was sich hinter dem stillen Dreizehnjährigen verbirgt. Nur durch Zufall wird er kurze Zeit später als überragendes Schachtalent entdeckt. Die Bundesrepublik stürzt sich auf „ihr“ neues Wunderkind. Doch wo Erfolg Geschichte schreibt, da tummeln sich die Profiteure schon.

Benjamin Heisenbergs „Lukusch“ ist eine wilde und witzige Fahrt durch die unfassbare Geschichte des jungen Schachgenies Anton und seines grobschlächtigen Sidekicks Igor. klug und lässig zugleich spielt dieser Roman mit den Möglichkeiten des Erzählens und sprengt dabei seine eigenen Grenzen. (Klappentext)

Rezension:

Den Gegner seine Bewegungsfreiheit zu nehmen, ihn Zug für Zug auszumanövrieren, dies ist das Spiel der Könige, welches mit den Gegensätzen spielt. Schwarze und weiße Figuren werden gleichsam zweier Völker wie eine Armee über ein Spielfeld bewegt. Immer weniger Möglichkeiten auf Aktion Reaktion folgen zu lassen, gibt es bald für eine der beiden Seiten, während die andere Oberhand gewinnt. Zumindest meistens.

Übertragen auf große gesellschaftliche Ereignisse und Umbrüche, ist dies meist nicht ganz so einfach. Zu viele Schattierungen befinden sich zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Der Regisseur und Autor Benjamin Heisenberg hat es dennoch versucht, im übertragenen Sinne aus den einzelnen Figuren einen Roman herauszuarbeiten. Ist ihm eine moderne Version der „Schachnovelle“ nach Art Stefan Zweigs gelungen oder doch noch mehr und etwas ganz anderes?

Wir Lesende steigen in die Geschichte gegen Ende der 1980er Jahre ein, als sich die Risse im System hinter dem Eisernen Vorhang immer deutlicher zeigen. Das Unglück von Tschernobyl, 1986, lässt die Welt still stehen. Wenig später werden zahlreiche Kinder und Jugendliche zur Genesung und Erholung außer Landes geschickt. Auch in Westdeutschland nimmt man sie auf. Anton Lukusch, der titelgebende unscheinbare Protagonist, ist eines dieser Kinder. Erst als er ein Schachspiel beobachtet, taut er ein wenig auf.

Schnell wird deutlich, der Junge hat Talent. Fortan wird das Wunderkind herumgereicht, spielt gegen den Bundeskanzler, beeindruckt bei Tests und Untersuchungen. Schnell jedoch verdunkeln Wolken den Erfolg. Eine zweifelhafte Organisation möchte sich die Begabung des Jungen zu Nutze machen, der das alles über sich ergehen lässt, immer begleitet von einem noch undurchsichtigeren Schatten, Igor, als er selbst einer ist. Erfolg folgt auf Erfolg, bis der Junge urplötzlich verschwindet. In der Gegenwart begibt sich der erwachsene Sohn seiner Gastfamilie auf Spurensuche, ohne zu ahnen, dass das Spiel noch lange nicht beendet ist.

So viel zur Geschichte, die gleichsam eines Schachspiels aus unwirklich vielen Elementen besteht, aufgrund derer man zeitweilig an der Genre-Zuordnung zweifeln mag. Roman heißt es da, aber genau so haben wir Ebenen eines packenden Thrillers, Gesellschaftskritik, zeithistorisches Porträt und ein Dokuspiel. Es ist ein experimenteller Film in Schriftform, der hier vorliegt, in den man sich einfinden muss, um nicht zwischen den Zügen zerrieben zu werden. Was eindeutig erscheint, wird im nächsten Moment ad absurdum geführt. Erzählstränge gehen nahtlos ineinander über, genauso wir nicht immer sofort ersichtlich zwischen Zeitebenen gewechselt wird.

Passend dazu eingewoben finden sich Fotografien, durchaus mit Realbezug, Fahndungsplakate, Protokolle und Zeitungsausschnitte, die kurzzeitig Zweifel aufkommen lassen, ob man es hier nicht doch mit einem kuriosen Sonderfall der Schachgeschichte, die genug Anlässe für Dramatik bietet, zu tun hat, um dann wieder ins Epische hineinzufinden. Diesen Zugang benötigt man. Wer den Protagonisten folgen will, benötigt Konzentration und Geduld.

Die Figuren sind in ihren Gegensätzen nicht immer nachzuvollziehen oder zu erklären, wie sich auch jeder Zug erst im Kontext eines Spiels erschließt, was manchmal dazu führt, dass eine gewisse Distanz besteht, die erst viel später aufgebrochen wird. Alle Protagonisten spielen um ihr Leben, Zusammenhänge, Sieger und Besiegte stehen erst spät fest. Niemand ist hier allwissend.

Die ungewöhnliche Art des Erzählens ist erst gegen Ende schlüssig. In dieser Art und Weise ist eine Geschichte selten zu lesen, wenn man den Zugang dazu findet. Lange bleibt unklar, welcher der Protagonisten die Oberhand gewinnen wird. Das Verwirrspiel ist gleichsam ein Puzzle aus Auslassungen und Wendungen, die ebenfalls im Nachhinein einen Sinn ergeben.

Wir bleiben einmal bei der Zuordnung Roman, der sicherlich nicht für jeden geeignet ist, zumindest nicht, wenn man liest, um den Kopf frei zu bekommen. Eher werden sich hieran die Geister scheiden, dennoch werden alle Zugang zumindest zu einigen Elementen finden. Davon hat die Geschichte einfach so viele, und sei es nur das zeithistorische Porträt. Man kann sich das gut vorstellen, diese Welt in Umbruch, Ängste, nicht zuletzt durch die Bezüge zur heutigen Zeit. Tschernobyl ist ein Symbol für vieles, das Schachspiel ohnehin.

Beim Schreiben merkt man den Hintergrund des Autoren, die Freude am Konstruieren und Schichten. Das gelingt nicht zuletzt durch einen klug ausgestalteten Hauptprotagonisten. Nur, wer spielt die Figuren? Wer wird am Ende matt gesetzt?

Autor:

Benjamin Heisenberg wurde 1974 in Tübingen geboren und ist ein deutscher Regisseur, Autor und Künstler. Nach der Schule studierte er Bildhauerei und erhielt 2000 sein Diplom an der Akademie der Bildenden Künste München, arbeitete anschließend als Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie. 2000 erhielt er den Debütantenpreis und studierte parallel, seit 1997, zudem Spielfilmregie, welches er 2005 abschloss. Zudem veröffentlichte er mehrere schriftstellerische Werke, Kurzfilme und nahm an zahlreichen Ausstellungen teil. Für seine Arbeit wurde Heisenberg mehrfach ausgezeichnet.

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