
Inhalt:
Ben Oppenheim balanciert zwischen Ex-Frau, zwei Kindern und seiner Liebe zu Julia. er hat Rückenschmerzen und Geldsorgen, aber was ihn wirklich ängstigt, ist der Krieg in osteuropa. Getrieben vom jüdischen Fluchtinstinkt steigt er eines Morgens kurzerhand in ein Flugzeug nach Brasilien. Mitsamt Ex-Frau und Kindern, aber ohne Julia. Im Krisenmodus läuft Benn zur Hochform auf. Nur der Atomkrieg lässt auf sich warten. Ben dämmert, dass er sich ändern muss, wenn sich etwas ändern soll. (Klappentext)
Rezension:
Eine Geschichte voller Misstrauen gegen sich selbst, eingebettet im kriselnden Weltgeschehen und transgenerationalen Trauma liegt mit Micha Lewinskys Erzählung „Sobald wir angekommen sind“ vor. Der Roman führt uns vom beschaulichen Zürich einmal um den halben Globus und zeigt sehr eingängig, dass auch vermeintliche Kurzschlussreaktionen ihre Hintergründe haben und das deren Folgen gewaltig sein können.
Düster erscheint die Welt dem Protagonisten, der sich von Beginn an von allen Seiten gedrängt sieht. Der berufliche Erfolg bleibt schon länger aus, im Leben seiner Familie hat er keinen sicheren Stand, ebenso schwebend ist die Beziehung zu seiner Geliebten, zu deren Sohn er keinen rechten Zugang finden möchte. Die immer bedrohlicheren Nachrichten aus Osteuropa tun ihr Übriges.
Nur noch weg möchte Ben, der sich als Getriebener sieht, schon qua der Historie seiner jüdischen Vorfahren, deren Schicksal er bereits zu Anfang so sehr verinnerlicht hat, dass nur noch die Flucht nach vorne bleibt. Mit Kindern und Ex-Frau macht Ben sich auf nach Brasilien, wo er mit der Zeit feststellen muss, dass es leicht ist, einem geografischem Ort zu entfliehen, sich selbst und seinen Problemen jedoch fast unmöglich ist zu entkommen.
„Je schlechter es dir geht, desto lustiger bist du.“
Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind
„Danke“, sagte Ben. „Ohne deine Hilfe könnte ich das nicht.“
Der temporeiche Roman, der eine Flucht auf mehreren Ebenen erzählt, behandelt wichtige Themen, ohne dabei die Hauptfigur zu schonen, die mit ihren Umgang nicht gerade nervenschonend seinen Mitmenschen und, das sei hier schon mal festgestellt, mit uns Lesenden umgeht. Transgenerationales Trauma wurde erstmals im Blick auf Überlebende der Shoah und deren Nachfahren beschrieben, nur wandelt sich dieses Getriebenensein im übertragenden Sinne für Ben zu einer selbsterfüllenden Prophezeihung.
Flucht natürlich, sagte Bens Nervensystem. Flucht, Flucht. Flucht.
Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind
Renn!, riefen die Ahnen.
Die Hauptfigur tut sich bis an die Schmerzgrenze selbst leid, auch wenn der gezeichnete Gegenpart, hier die Ex-Frau, sich kaum sympathischer anstellt. Nur schütteln möchte man den gehetzt wirkenden Protagonisten, dessen Familie sich mit und wegen ihm mehrfach am Rande des Abgrundes bewegt. Alle scheinen, so sieht es Ben, nicht die Tragweite der Geschehnisse zu erfassen, machen es mit ihren Anforderungen an ihm nur noch schlimmer. Und er sieht sich folgerichtig mit den Rücken zur Wand.
Abgesehen vom weinerlichen, sich selbst bemitleidenden Hauptprotagonisten kann man auch an kaum einer anderen Figur ein gutes Haar lassen, wobei die Sympathien mit steigender Entfernung zu Ben zunehmen. Lewinsky spielt dabei mit unzähligen Grauschattierungen, die da aufeinanderprallen und mit zahlreichen Kontrasten. Letztere geben schon die Handlungsorte wieder.
Sie hatten sich so an ihre Privilegien gewöhnt, dass sie sich bedroht fühlen mussten, sobald sich etwas veränderte. Sie standen ganz oben in der Nahrungskette, aber stark waren sie dennoch nicht. Eigentlich konnten sie sich kaum noch rühren, so satt lagen sie in ihren bewachten Wohntürmen. Unfähig zu fliegen, unfähig, sich zu wehren. Sie mussten sich verbarrikadieren und bewaffnen. Mit der Kuchengabel in der Hand […]
Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind
Ein Exil soll es sein, so hofft es der Protagonist, doch entpuppt sich das gewählte Ziel als Ferienort, in welchem im übertragenen Sinne all die Herausforderungen der Heimat warten. Diese Irritation im Gegenspiel zum geografischen Raum darzustellen, gelingt dem Autoren, der mit seinem Roman auch Stefan Zweig gedenkt, der seinerseits vor den Nazis ins südamerikanische Exil geflohen war und stellt Ben dem gegenüber.
Ben hatte sich die Südamerikaner immer dunkler vorgestellt. Gut gelaunt. Und im Grunde tanzend. Nun musste er sich eingestehen, dass er sein zukünftiges Zuhause vor allem von Bildern des Karnevals kannte.
Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind
Die Frage, wann der richtige Moment zur Flucht ist, scheint da durch, ebenso, wann es eine unverhältnismäßige Kurzschlossreaktion wäre. Wo da der Protganist zu verorten ist, beantwortet sich schon in den ersten Kapiteln der Erzählung.
Diese ist in sich schlüssig ohne Lücken und mutet zuweilen wie ein Fernsehspiel an. Zwar sind die Handlungen nachvollziehbar, die Zeichnung des Protagonisten geht einem jedoch nicht sonderlich nahe. Gerade, wenn man sich eher rational denkend verortet. Hier ist die Figur auch gegenüber sich selbst im ständigen Widerspruch. Und da kann man wie auch immer geartete Traumta gelten lassen, im Gegensatz zum Jammertal, in dem sich Ben ständig zu befinden scheint. Schauplätze sind indes nachvollziehbar beschrieben.
Ein Roman mit einer fast unsympathischen Hauptfigur muss man mögen zu lesen. Dann aber eröffnet sich eine Erzählung, die auf so vielen Ebenen wirkt. Transgenerationales Trauma, Unsicherheiten in einer sich den Krisenherden ausgesetzten Welt, Flucht- und Schutzinstinkt hat Micha Lewinsky zu einem Dschungel nicht nur für Ben verwoben. Ob dies aber reicht, um den Wald vor lauter Bäumen am Ende des Tages zu sehen?
Autor:
Micha Lewinsky wurde 1972 in Kassel geboren und ist ein Schweizer Drehbuchautor, Regisseur und Schriftsteller. Mit seiner Regiarbeit „Herr Goldstein“ wurde er 2005 mit dem Pardino d’Oro ausgezeichnet, für sein Spielfilm-Regiedebüt erhielt er 2008 den Schweizer Filmpreis in der Kategorie Bester Spielfilm. 2022 erschien sein erstes Buch.