Sascha Lübbe: Ganz unten im System

Inhalt:

Unzählige Arbeitsmigrant*innen arbeiten unter teils menschenunwürdigen Bedingungen auf deutschen Baustellen, in Schlachthöfen, als LKW-Fahrer*innen oder als Reinigungskräfte in Hotels und Firmen. Viele von ihnen werden systematisch ausgebeutet. Sascha Lübbe entlarvt das krakenartige Geflecht aus teils kriminellen Firmen, eine Schattenwelt, in der die Grenze zwischen Legalität und Illegalität verschwimmt.

In einem aufrüttelnden Buch zeigt er, wie sich ein Parallelsytem in der deutschen Arbeitswelt etabliert hat. Er lässt Betroffene zu Wort kommen, zeigt, wie sie leben, aber auch, wie sie Widerstand leisten. Und er geht der Frage nach: Wie konnte es so weit kommen? (Klappentext

Rezension:

Gerade verschärft sich die Tonlage, doch kommen Debatten um die für immer mehr Branchen notwendige Migration zur Unzeit. Heute schon sind Migrant*innen in einigen Bereichen eine tragende Säule. In der Bauwirtschaft etwa, der Logistik oder in der Fleischindustrie.

Doch, einmal angekommen, heute zumeist aus Rumänien oder Polen, liegt für jene, die eigentlich nur ein gutes Auskommen suchen, vieles im Argen. Der Journalist und Autor Sascha Lübbe hat sich auf Spurensuche begeben und die Schattenwirtschaft systematischer Ausbeutung ergründet und mit den Betroffenen gesprochen, und jenen, die ihnen versuchen, zu helfen.

In ihren Ländern haben sie keine Zukunft. Jobs sind kaum vorhanden. So versuchen zumeist Männer wie Eugen und Dejan, die Namen sind in diesem aufrüttelnden und erschütternden Bericht zumeist zum Schutze derer geändert, die bereit sind, zu reden, ein Auskommen in Deutschland zu finden.

Mit falschen Versprechen in die Fremde gelockt, finden sie sich in einem System der Abhängigkeiten von dubiosen Firmengeflechten wieder, müssen körperliche Schwerstarbeit verrichten, werden drangsaliert und systematisch um einen Großteil ihres Lohnes betrogen. Dabei bilden die obersten Firmen nur die Spitze des Eisberges. Gut vernetzt auf allen Ebenen der Politik, reichen sie die Verantwortung an Subunternehmen weiter. Einmal darin verfangen, ist es für die Menschen, die oft kaum des Deutschen mächtig sind, schwer, sich zur Wehr zu setzen und zustehende Rechte einzufordern.

Der Autor geht anhand von drei Branchenbeispielen der Frage nach, wie funktioniert dieses System der Schattenwirtschaft überhaupt, wie ist es entstanden und was macht es mit den Menschen? Wie können Gesellschaft und Politik, die Betroffenen selbst dieses durchbrechen und was müsste sich ändern, damit auch die Menschen, profitieren, die die Jobs übernehmen, die niemand sonst machen möchte?

Anhand der Biografien und infolge von Gesprächen mit denen, die für die meisten Augen unsichtbar bleiben, zeigt der Autor auf, auf welchen menschnverachteten Grundlagen verschiedene Bereiche unserer Wirtschaft fußen, nicht ohne Auswege aufzuführen oder auch erste Schritte auf den Weg zur Besserung zu schildern, die es durchaus seitens Verbänden und Organisationen und auch der Politik gab, was jedoch immer noch zu wenig ist, angesichts der bestehenden Problematiken.

Nur selten kommen Menschen wie Samid und Umid zu Wort. Ihnen gibt der Autor eine Stimme und die Aufmerksamkeit, die es braucht, um ein Bewusstsein für ihre Situation zu schaffen. Er versucht dabei mit allen Ebenen ins Gespräch zu kommen, trifft dabei nicht nur auf Trostlosigkeit und Verzweiflung, sondern auch auf jene, die dagegen ankämpfen. Oder es zumindest versuchen.

Aufgrund der Nähe zu den einzelnen Personen ist der Bericht, der das fortsetzt, was Günter Wallraff einst angestoßen hat, sehr nahbar. Sascha Lübbe zeigt, dass sich am Umgang mit den Menschen, die für unseren Wohlstand arbeiten, unter anderen Vorzeichen nicht viel geändert hat. Zudem hat er eine ausführliche Quellenlage für seine Recherchen verwendet, die verschiedene Aspekte der Thematik aufgreifen tut. So unterbleibt eine zu theoretische Aufarbeitung. Man kann nicht anders, als davon berührt zurückzubleiben.

Abseits von den bloßen Zahlen, um die vor allem in der großen Politik diskutiert werden, sind die in diesem Werk aufgeführten Aspekte zu wichtig, um sie zu unterschlagen. Wie gehen wir mit den Menschen um? Wie müssen wir uns und das System ändern, damit auch sie gerecht und menschenwürdig teilhaben können? Sascha Lübbes Debattenbeitrag gibt dazu wichtige Denkanstöße.

Autor:

Sascha Lübbe wurde in Berlin geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Zunächst studierte er Publizistik und Nordamerikastudien, sowie Soziologie in Berlin und Lissabon, bevor er Redakteur für die drehscheibe, dem Magazin der Bundeszentrale für Politische Bildung wurde, danach war er unter anderem tätig für die Wissenschaftsseite der Berliner Zeitung und bis 2021 als Redakteur für den Mediendienst Integration.

Er schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und wurde 2022 für den Deutschen Reporter:innen-Preis, ein Jahr später für den Alternativen Medien- und den Deutschen Journalistenpreis nominiert. Sein Buch „Ganz unten im System“ wurde 2024 für den NDR-Sachbuchpreis nominiert.

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Hans Martin Krämer: Geschichte Japans

Reihe:

Sachbuchreihe für kompaktes Wissen, z. B. zu Kunst- und Kulturgeschichte, Biografien oder Ländergeschichte. Die Einzelbände können unabhängig von einander gelesen werden.

Inhalt:

Japanische Populärkultur in gestalt von Manga, Anime, J-Pop, Fernsehserien und Computerspielen erfreut sich in der westlichen Welt großer Beliebtheit, und japanische Marken sind in der globalen Konsumkultur fest etabliert. Der vorliegende Band sucht das heutige Japan historisch zu erhellen.

Nach einem knappen Durchgang durch die vormoderne Geschichte wird der Neuzeit deutlich mehr Platz eingeräumt, weil sie für die Erklärung der gesellschaftlichen und kulturellen Gegenwart Japans ungleich wichtiger ist. Eine kurze Einführung in die geografischen und klimatischen Grundlagen der japanischen Geschichte bildet den Auftakt des Bandes. (Klappentext)

Rezension:

Um den Schicksal vieler seiner Nachbarn zu umgehen, kolonisiert zu werden, führten Reformen von oben zu einem Umbau des Landes, welches schließlich selbst einen Großteil des asiatischen Raums kolonialisieren wollte und diese Rolle auf brutale Weise ausfüllte, bis zwei Atombomben auch dort den Zweiten Weltkrieg beenden sollten. Auch danach kam es, wie schon oft zuvor, zu einem politischen und gesellschaftlichen Wandel. Wie gelang es Japan, sich immer wieder an neue Gegebenheiten, vergleichsweise still, anzupassen und wo steht das Land heute? Der Japanologe Hans Martin Krämer hat sich auf Spurensuche begeben.

Titel zur Ländergeschichte komplettieren die umfangreiche Reihe aus dem Hause C. H. Beck, die kompakt und auf den Punkt gebracht, Überblickswissen präsentiert und über die man, einmal einen beliebigen Band sich vorgenommen, eigentlich immer das Gleiche sagen kann. Informationen, auf den neuesten wissenschaftlichen stand, werden hier niederschwellig, ohne zu sehr sich in Details zu verlieren, präsentiert, ohne eine gewisse Oberflächlichkeit aufkommen zu lassen oder entscheidende Punkte gar zu unterschlagen.

Das gilt auch für diesen Band, der sich nun mit der Historie Japans beschäftigt und zunächst einen Überblick über die Geografie und mit Hilfe von zwei Karten auf den Innenseiten des Einbandes auch über die politische Gliederung des Landes gibt. In kurzweiligen Kapiteln werden wir durch die einzelnen geschichtlichen Epochen, von den Anfängen bis zur Gegenwart gelotst und mit all den Fragestellungen und Herausforderungen der verschiedenen Zeitabschnitte konfrontiert.

Wir erleben erste Landwirtschaft und das Bilden einer Gemeinschaft bis hin zum Kaisertum, auch erläutert der Autor wirtschaftliche Gegebenheiten und ihren Einfluss auf das politische Geschehen. Je näher wir der Gegenwart kommen, desto kleiner werden die beschriebenen Zeitabschnitte unterteilt, um ein größeres Verständnis für den heutigen Stand zu schaffen. Dies gelingt, ohne die Konzentration als ein „Rasen“ vor allem zu Beginn des Lesens zu empfinden oder das Gefühl, bestimmte Abschnitte nur sprunghaft und mit Abstrichen aufgespürt zu haben und das, bei einer durchaus ausführlichen Quellenlage, aus der heraus recherchiert wurde.

Für mich damit ein weiterer Band, der sich nahtlos in die Reihe der zuvor erschienen einfügt und sie damit gut ergänzt. Vor allem, wer ohne Vorkenntnisse an die Thematik herangeht, aber auch sonst, ist mit „Geschichte Japans“ gut bedient.

Autor:

Hans Martin Krämer wurde 1972 in Wuppertal geboren und ist ein deutscher Japanologe. Er studierte zunächst in Düsseldorf und Bochum Geschichte, Japanologie und Philosophie, nevor er nach Forschungsaufenthalten in Tokyo, Harvard und Kyoto im Jahr 2008 eine Juniorproffesor für Japanologie in Bochum antrat. Seit 2012 lehrt er als Professort für Japanologie an der Universität Heidelberg.

Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Geschichte, Bildungs- und Religionsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, sowie der Frühen Neuzeit. Seit 2019 ist er Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung, für eine Amtszeit von 4 Jahren ist er seit 2023 Dekan der Philosophischen Fakultät Heidelberg.

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Wolfgang Kraushaar: Israel

Inhalt:

Als die Hamas am 7. Oktober 2023 über 1.100 Israelis ermordete, schien auf einen Schlag der von den Nazis verübte eliminatorische Antisemitismus zurückgekehrt zu sein. Premierminister Netanyahus Versuch, den Aggressor umgehend auszuschalten, führte jedoch im Gaza-Streifen zu einer humanitären Katastrophe. Die Bilder, die seitdem um die Welt gehen, haben zu einem Aufflammen des Antisemitismus und zu Debatten geführt, die von einer Begriffsverwirrung erheblichen Ausmaßes gekennzeichnet sind.

Wolfgang Kraushaar ordnet die unterschiedlichen Diskurse, trennt die antisemitschen Stereotype von triftigen Argumenten und stellt die unverzichtbaren zivilisatorischen Minimalforderungen heraus, nicht ohne den Umgang mit den Problem- und Grenzfällen zu präzisieren. (Klappentext)

Rezension:

Einen Tag nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges fünfzig Jahre zuvor, am jüdischen Feiertag Simchat Tora brachen zunächst Unmengen von Raketen über die Mitte und den Süden Israels herein. Damit wurde der seit 2014 zwar fragile, aber bestehende Waffenstillstand gebrochen, doch war dieser Angriff nur Ablenkung für das, was folgen sollte. Kämpfer der Hamas durchbrachen die Grenzanlagen und forderten über 1.100 Todesopfer, 3.000 Verletzte. Unzählige Menschen wurden in den Gaza-Streifen verschleppt. An keinem Tag seit dem Holocaust zuvor sind so viele Jüdinnen und Juden getötet worden, wie am 7. Oktober 2023.

Das ganze Ausmaß der Bestialität wurde erst nach und nach deutlich. Je detaillierter die Informationen ausfielten, desto massiver wurden die Schockwellen. Zugleich suchte man nach Worten, einen Begriff für diese Barbarei. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar ordnet darauf Begrifflichkeiten ein, beleuchtet die Phrasen und Narrative einer kaum zu durchdringenden Diskussion und zeigt die Meta-Diskurse auf.

Zunächst beginnt der Autor beim jüngsten aller Konflikte und zeigt auf, was eigentlich am 7. Oktober geschehen ist und wie es überhaupt zu den dann stattfindenden Ereignissen kam. Er erläutert die Vorbereitungen der Hamas, aber auch die Reaktionen Israels in sehr kompakter Form, bevor er zunächst geografische Begrifflichkeiten einordnet, beginnend mit von der deutschen Politik beschworenen Solidarität mit dem jüdischen Staat. Was heißt dies überhaupt und können diese Worte überhaupt mit einer sinnvollen Bedeutung gefüllt werden oder ist dies letztendlich eine hohle Phrase ohne Wert, nur aus Pflichtbewusstsein?

Danach wird die politische Geografie aufgedröselt und zugleich auf die Geschichte der Region eingegangen. Was sind Israel und der Zionismus überhaupt? Wie sind Politiker, wie etwa ein Netnyahu einzuordnen, um dann widerum den Bogen zu Deutschland als Partner des Landes zu spannen. Auch wird die Gemengenlage im Gaza-Streifen erläutert, sowie im Westjordanland, ohne zu vergessen, dass wenn wir Israel betrachten, auch geklärt werden muss, was eigentlich Palästina in den unterschiedlichen Ansichten als geografischer Raum bedeutet und wie der Stelllenwert der Hamas ist. Auch wieder im Gegenlicht zu den Akteuren der Politik Israels.

So geht es weiter in der Lektüre, die zu weilen sehr theoretisch daherkommt, aber gerade bei dieser sensiblen Thematik sehr viel Wert darauf legt, Begrifflichkeiten korrekt einzuordnen. Dabei erklärt Kraushaar die verschiedenen Interpretationen und stellt sie einander gegenüber. Nur so entsteht ein klares Bild, für welches man jedoch durchgehend Konzentration benötigt, dieses in sich aufzunehmen. Einerseits politiktheoretisch, andererseits fast philosophisch wirkt diese Einordnung, die versucht, einem Konflikt sprachlich Herr zu werden. Zuweilen sehr distanziert scheint das, nicht jedoch vollends ohne Emotion zu sein.

Der Autor zeigt die Wendepunkte der Geschichte der Region als Verkettung. Unweigerlich kommt die Frage auf, was als nächstes passieren muss, was als nächstes passieren wird. Lehrreich ist das Sachbuch vor allem mit den letzten Kapiteln, in dem Parolen erläutert werden, die zu weilen auf Demonstrationen zu hören sind und wenn Meta-Diskurse kurz zusammenfassend dargestellt werden.

Man geht mit einer Fülle an Informationen und Wissen aus der Lektüre heraus, muss sich jedoch bis dahin sehr konzentrieren und zuweilen wiederholend lesen. Leicht zugänglich ist etwas anderes. Positiv anzumerken ist jedoch, dass Kraushaar nicht vergisst, anhand zusammengestellter Punkte zu erläutern, was im Endeffekt für die Auflösung eines Konflikts in der Region seines Erachtens erfolgen müsste. Ob das dann so funktioniert, steht jedoch in den Sternen.

Autor:

Wolfgang Kraushaar wurde 1948 geboren und ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Von 1987 bis 2014 arbeitete er am Hamburger Institut für Sozialforschung, seit dem bis zum 2023 für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seine Forschungsschwerpunkte sind Protestbewegungen und der linke Terrorismus. Er ist Autor verschiedener Werke zu diesen Thematiken.

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Zdena Salivarova: Ein Sommer in Prag

Inhalt:

Ein heißer Sommer im Prag der Fünfzigerjahre: Jana Honzlova, eine junge Sängerin in einem Folklore-Ensembble, darf nicht mit auf Tournee ins Ausland reisen, da sie im kommunistischen System als politisch unzuverlässig gilt. Stattdessen soll sie im Büro des gähnend leeren Betriebsgebäudes die Stellung halten, woe sie ihre Langeweile einzig mit der freundlichen Putzfrau teilen kann und heimlich internen Intrigen nachforscht.

Das allgegenwärtige Spitzelwesen, aber auch ihre verwickelte Familiensituation und die Wiederbegegnung mit einem früheren Verehrer halten Jana in Atem – die sich trotz aller Widrigkeiten ihre Chuzpe und ihren Straßenwtz bewahrt. (Klappentext)

Rezension:

Ein beeindruckendes Stück der jüngeren tschechischen Exilliteratur ist sicherlich „Ein Sommer in Prag“, von Zdena Salivarova, welcher nun erstmalig in deutscher Übersetzung vorliegt. Erzählt wird in diesem leichtgängien Roman die Geschichte von Jana, die wir durch einen flirrenden Sommer in der tschechischslowakischen Hauptstadt begleiten. Das Prag der Fünfziger Jahre ist hart zu jeden, der sich den gesellschaftlichen Anforderungen des kommunistischen Systems nicht anpassen möchte.

Zwei Familienmitglieder der Hauptprotagonistin befinden sich in Arbeits- und Internierungslagern und auch Jana ist schon längst ins Visier des allgegenwärtigen Innenministeriums geraten. Sie ist es, die mit ihrem Gehalt ihre Mutter und die jüngeren Geschwister durchbringt, doch geraten Sicherheiten beinahe schon zu Beginn ins Wanken.

Das West- und Ostdeutschland der Nachkriegszeit und Fünfziger Jahre dürfte hinreichend beschrieben wurden sein. Der Blick in andere Länder kam dagegen noch nicht so häufig vor und so folgen wir den Spuren der Protagonistin durch die quirlige tschechische Hauptstadt, deren Atmosphäre man sich in sich aufnimmt. Mit feinfühligen Schreibstil hat Salivarova eine Geschichte mit mehreren Strukturelementen aufgebaut, die der Erzählung einen ganz besonderen Sound geben.

Zunächst sind da die Protagonisten selbst, die das Spiegelbild der damaligen Gesellschaft abbilden. Die Hauptprotagonistin selbst schwangt dabei zwischen der Lebenslust einer jungen Frau, aber auch einer, die schnell an die gesellschaftlichen Grenzen stößt, im Wissen, dass sie an gewisse Glasdecken stoßen wird, die schnell immer undurchdringlicher werden. Um sie herum gruppiert sehen wir die Familie, die Nachbarschaft, sowie verschiedene Arten von Kolleginnen, die sich vor allem durch ihre Einstellung zum herrschenden System unterscheiden.

Die Bedrohung als zweites Element wirkt dabei zunächst diffus, beginnt aber durch das Drängen einer der Figuren immer mehr Gestalt anzunehmen. Abgeschlossen schließlich wird die Erzählung durch eine Art Märchen. Die Erzählperspektive wechselt hier.

Das ist viel für einen Roman, dessen erzählerischer Zeitraum nur einen knappen Monat umfasst, doch kann natürlich in wenigen Wochen allerhand passieren. Salivarova gelingt dabei der Spagat einiges zu beschreiben und vieles zwischen den Zeilen erscheinen zu lassen. Dabei ist es vor allem die Perspektive der Hauptprotagonistin, aus derer wir die Geschehnisse erleben, einer Kämpfernatur mit hoher Auffassungs- und Beobachtungsgabe, die sich zunehmend die Frage stellen muss, wie lange Widerstand noch aushaltbar ist.

Was wieder einmal beweist, dass die Literatur den Menschen veredelt. Nur leider war es mit ihrer Liebenswürdigkeit schnell wieder passe.

Zdena Salivarova: Ein Sommer in Prag

Schauplätze sind hier in ihrer Beschreibung ebenso gelungen. Ob nun im kleinen, der muffige Büroraum des Ensemblegebäudes, die Widrigkeiten eines baufälligen Hauses mit all den kleinen Eigenheiten, die den Roman unverkennbar in Prag verorten lassen. Das beginnt bei baulichen Besonderheiten, wie der Pawlatsche, eine Art Zugangsbalkon im Innenhof des ärmlichen Wohnhauses der Protagonistin bis hin zu Wegbeschreibungen durch Prag, die einem Bilder von quirligen Gassen dieser Stadt vor dem inneren Auge entstehen lassen.

Zdena Salivarova, die selbst nur wenig geschrieben und sich eher auf das Verlegen von Exilliteratur konzentriert hat, hat ihren Figuren Ecken und Kanten verliehen, wobei die unangenehmen Protagonisten einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen. Die Ungewissheit drohender Konsequenzen schwebt wie ein Damokles-Schwert dauerhaft drohend über den Kopf der Hauptfigur. Dieses Gefühl vor allem bestimmt die Erzählung, doch zeigt sich in ihr auch die Vielschichtigkeit, zumal wenn man dem familiären Chaos‘ Janas beiwohnt oder ihrer Beziehung zum kleinen Bruder, Paradebeispiel kindlicher Unschuld.

Auffällig ist, was fehlt und damit ist nicht nur die Stalin-Statur gemeint, an derer Stelle heute in Prag das Metronom zu finden ist. Aber auch dies macht die Erzählung zu etwas besonderen. Die Autorin, so scheint es, wollte zwar das Lebensgefühl in der Stadt zu dieser Zeit vermitteln, dabei jedoch ein bestimmtes Bild bewahren. Eine gewisse Tristesse und dunkle Wolken, ohne zu sehr ins Düsterne abzugleiten, bestimmt die Stimmung, durchsetzt mit Elementen, der Hoffnung. Der Schreibstil bleibt dabei beständig ruhig. Man ahnt dabei die ganze Zeit nicht, worauf es hinauslaufen und dass der Stoß von einer anderen als der zu erwartenden Stelle kommen wird.

Der Blick der Autorin, nicht nur auf ihre Protagonisten, auch auf die Örtlichkeiten ist vielschichtig. Man folgt ihm gern und hat, vor allem wenn man die Stadt kennt, das Gefühl, man könnte die Erzählung ablaufen. Das ist so heute nicht mehr möglich, zudem die Atmosphäre sich vollkommen geändert hat, aber alleine dass diese Idee immer noch funktioniert, trotz der inzwischen verstrichenen Jahre seit Erscheinen des Romans, zeigt das schriftstellerische Können Salivarovas.

Nur einen einzigen Kritikpunkt habe ich, einen Zahlendreher. Dabei kann es sich um ein Versehen der Autorin, einem Übersehen der Übersetzerin Sophia Marzolff handeln oder dem Nichterwähnen eines kleinen, ansonsten für die Geschichte aber unerheblichen Ereignisses. Den Gesamteindruck schmälert das jedoch nicht wirklich.

Ansonsten ist dies einfach eine liebevolle Erzählung.

Autorin:

Zdena Salivarova wurde 1993 in Prag geboren und ist eine tschechisch-kanadische Autorin, Schauspielerin und Verlegerin. Nach dem Abitur war sie von 1952 bis 1962 Mitgleid des staatlichen tschechoslowakischen Gesang- und Tanzensembles und gehörte danach zum Ensemble eines Kabaretts. 1965 studierte sie Dramaturgie an der Prager Filmhochschule, dem einige Filmproduktionen folgten, bevor sie zusammen mit ihrem Ehemann nach Kanada emigrierte.

Dort gründete sie 1971 einen Exilverlag, den sie bis zu dessen Auflösung 1993 leitete. Wegen ihrer publizistischer Aktivität wurde ihr 1978 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt. 1990 erhielt sie wegen eben dieser den Orden des Weißen Löwen der Tschechischen Republik, zwei Jahre später die Ehrendoktorwürde der Universität Toronto. Sie veröffentlichte zwei Romane aus eigener Feder, nebst mehrerer Erzählungen und Kurzgeschichten, konzentrierte sich aber af das Verlegen anderer Autorinnen und Autoren.

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Matz: Das Verschwinden des Josef Mengele

Inhalt:

1949: Josef Mengele landet in Buenos Aires. Hinter verschiedenen Pseudonymen versteckt, glaubt der ehemalige Folterarzt von Auschwitz, er könne sich ein neues Leben erfinden. Perons Argentinien ist wohlwollend, die ganze Welt will die Nazi-Verbrechen vergessen. Doch die Verfolgung wird wieder aufgenommen und er flieht über Paraquay nach Brasilien. Seine Pdyssee wird nicht mehr unterbrochen … bis zu seinem mysteriösen Tod 1979. Eine herausragende Adaption des Romans von Olivier Guez über die Flucht und die Jagd nach Mengele, dem „Todesengel“ ohne Reue. (Klappentext)

Rezension:

Als 1945 das Deutsche Reich am Boden lag, versuchten viele ihrer Repräsentaten, ehemals hohe Würdenträger, Politiker an den Schalthebeln der Macht und ausführende Beamte ihr Heil in der Flucht. Für nicht wenige führte dieser Weg über die sogenannte „Rattenlinie“ nach Südamerika, Eichmann etwa, der Organisator der Todeslager oder Eduard Roschmann, der „Schlächter von Riga“.

Auch Josef Mengele, der an der Rampe von Auschwitz über Leben und Tod entschied, bestialische Experimente an Zwillingen, unter den Deckmantel der Medizin, durchführte, gelang es so, nicht zuletzt durch die Hilfe einflussreicher Freunde, beinahe spurlos zu verschwinden. Die Geschichte seiner Flucht und des Versteckens hat Olivier Guez zu einem packenden Roman verarbeitet. Fünf Jahre später wurde die Erzählung für die hier nun vorliegende Graphic Novel durch Alexis Nolent (Matz) und Jörg Mailliert adaptiert.

Erdfarben und klare Linien dominieren die einzelnen Panels, die die Geschichte eines Phantoms erzählen, deren unmenschliche Grausamkeiten kaum in Worte zu fassen sind. Das versuchen weder der Autor des Skripts, noch der Illustrator. Die Geschichte setzt nach dem Unfassbaren an, welches in Rückblenden nur gestreift wird. Konzentriert wird sich hier auf die Zeit nach 1945, die sich anhand weniger Puzzlestücke rekonstruieren lässt. Dabei tauchen wir ein in die wirre Gedankenwelt eines Mannes, dessen Handeln nicht mehr nachzuvollziehen ist.

Einige Dokumente und Geld im Gepäck, die Unterstützung von Freunden, nicht zuletzt der Familie, die mit einem gut situierten Betrieb fest im wirtschaftlichen Gefüge des bayerischen Heimatortes der Mengeles, gelingt es dem „Todesengel“ von Auschwitz zu fliehen, wo er sich auf ein funktionierendes Netzwerk verlassen kann. Das Untertauchen gelingt. Man trifft sich untereinander, phantasiert von Rückkehr und „Viertem Reich“, wenn sich die Lage in Europa wieder beruhigt haben sollte. Das tut sie nicht. Mit den Jahren gelingt es Verfolgern in Israel und Deutschland, Spuren aufzunehmen. Die Schlinge zieht sich immer enger zu. Auch in Südamerika selbst wird es einsam um Mengele, der immer mehr seiner Unterstützer verprellt.

Dies die Handlung der verdichteten Graphic Novel, in denen sich großformatige Panels abwechseln, die reine Unbeschwertheit zeigen, abewechselnd mit Details des tiefen Falls einer Figur, die am Ende nur noch der Schatten ihrer Selbst sein wird. Zwei Stränge stehen hier im Fokus, natürlich der Weg Mengeles selbst, zunächst im Versuch sich mit Hilfe alter Seilschaften ein neues Leben aufzubauen, dann zunehmend in Wahn und Verzweiflung verfallend, als alle Unterstützung nach und nach wegbricht.

Zum anderen können wir die Situation in Deutschland verfolgen, der Umgang der Familie, die einerseits ihren wirtschaftlichen Erfolg nutzt, um Mengele in Südamerika zu unterstützen, andererseits aber auch ihren Betrieb aus dem Blickfeld heraushalten möchte, als nach den Anfängen der Bundesrepublik doch noch die Nazi-Gräuel des Familienmitglieds Thema werden, nicht zuletzt auch durch innere Auseinandersetzungen. Auch die Verfolgung der Repräsentanten des NS-Regimes durch Menschen wie Fritz Bauer oder des israelischen Geheimdiensts Mossad schaffen Zeichner und Texter mit einzubringen. So werden die wichtigsten Handlungsstränge und Aspekte des Romans, der als Vorlage diente, eingebunden und auf sehr anschauliche Weise übermittelt.

Der nervöse Strich des Zeichners korrespondiert sich im irren Blick der unmenschlichen Bestie, die sich jämmerlich verkriecht und doch immer wieder Morgenluft wittert, zudem gerade der deutsche Staat in seiner Anfangszeit wenig Interesse verspürt, den Opfern des NS-Regimes Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Diese Hoffnungsschimmer zerrinnen der kümmerlichen Figur, zu der Mengele mit den Jahren wird, immer schneller durch die Finger. Am Ende bleibt vom Skorpion, der sich mehrfach gehäutet hat, nichts mehr übrig und verkommt zu einem Phantom.

Eine sehr eindrückliche Graphic Novel, die weder mit visuellen Eindrücken spart, zudem durchaus textlastig daherkommt, jedoch keineswegs überfrachtet wirkt. „Das Verschwinden des Josef Mengele“, kann man als durchaus gelungene Adaption betrachten, deren Bilder nicht so schnell loslassen werden.

Autoren und Illustrationen:

Alexis Nolent ist ein französischer Schriftsteller, vor allem für Drehbücher von Videospielen, zudem veröffentlichte er auch einen Roman und unter dem Pseudonym Matz eine Reihe von Comics. Er wurde in Rouen, Frankreich geboren, wuchs in der Karibik auf, bevor er nach Paris zog. Vor dem Schreiben von Comics studierte er Jura. Für seine Arbeit bekam er u. a. den Priix Saint-Michel, 2004 und 2006.

Jörg Mailliet wurde 1970 im Toulon geboren und ist ein französischer Comic-Zeichner. Er studierte Grafikdesign in Lyon und arbeitet seitdem als freier Grafiker. Er illustriert Kinderbücher und ist Mitgründer eines Kinderbuchverlages. Für die Illustration des Comic Tagebuchs 14/18 wurde er 2015 für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Olivier Guez wurde 1974 in Straßburg geboren und ist ein französischer Journalist und Schriftsteller. Er studierte von 1992 bis 1996 in Straßburg Internationale Beziehungen. Weitere Stationen führten ihn nach London. In einem Fernstudium studierte er Jura, bevor er 1998 eine Masterprüfung in Europäische Politik und Verwaltung abglegete. 1998 war er als Beobachter der Wahlen von der OSZE und dem französischen Außenministerium nach Bosnien-Herzegowina entsandt, danach berichtete er für verschiedene Tageszeitungen aus Lateinamerika, Europa und dem Nahen Osten. Nach verschiedenen Stationen u. a. 2009 einer Beobachtermission in Pakistan und Afghanistan lebt Guez in Paris und ist u. a. Kulturberichterstatter für die FAZ und FASZ.

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Kristin Rubra: Keloid

Inhalt:

Christina, eine junge deutsche Medizinstudentin in den USA, verliebt sich Anfang der 1980er Jahre in einen Mitstudenten, der die Traumata seiner jüdischen Familie in Body-Actionpaintings austobt. Sein Vater Leon, ehemaliger GI bei den legendären Thunderbirds, die das KZ Dachau befreiten, ist strikt gegen „alles Deutsche“ und vor allem gegen sie.

Sieben Jahre später liegt Leon nach einem Verkehrsunfall in einem deutschen Krankenhaus auf dem OP-Tisch vor Christina. Aus dem Wiedererkennen entwickelt sich eine spannungsgeladene Beziehung: Leon, der Christina von alten und uralten Verletzungen anhand seiner Edelsteinsammlung erzählt, wird für sie zum wichtigsten Menschen ihres Lebens. (Klappentext)

Rezension:

Zeit heilt alle Wunden, doch Spuren bleiben. Äußerlich kann dies in Form von Narben passieren, die zurückbleiben, doch auch innerlich lassen Kristina bestimmte Ereignisse im Leben nicht los, wie auch Leon bereits als junger Erwachsener erfahren musste. So kommt es, dass beide sich treffen, einander umkreisen und ob der Wunden, die ihnen hinzugefügt wurden und die sie sich selbst gegenseitig verschaffen, im Laufe der Jahre nie zur Gänze fallen und aufeinander einlassen können. Erzählt wird diese Liebesgeschichte von Kristin Rubra, mit den mehrdeutigen Titel „Keloid“. Welche Wunden sind wir bereit einander zuzufügen, im Leben zu tragen und manchmal gar in etwas Positives umzuwandeln?

Die ruhige Erzählung, die unsere zwei Protagonisten begleitet, umfasst eine Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten, in denen das Machtgefälle und die Sicht aufeinander, sich stets wandeln. Aus der Perspektive Christinas erzählt, deren anfängliche Unsicherheit im Laufe der Jahre einem pragmatischen Selbstbewusstsein weicht, welches sie sich selbst jedoch immer wieder in Frage stellen wird, erleben wir ein langsames Abtasten, aus dem nur langsam ein Zugang zu Leon wird, der erst mit seinem Autounfall langsam bereit ist, auf die ehemalige Freundin zuzugehen. Die Geister der Vergangenheit verfolgen beide, zudem die Familiendynamik des Älteren, welche Christina nur schwer zu fassen bekommt.

Zwischen Berlin und Amerika spielt der Roman, in dem die Autorin Kapitel für Kapitel die Charaktere seziert. Niemand bleibt hier ohne Ecken und Kanten. Ihr Päckchen haben sie alle zu tragen. Keinesfalls wird man mit beiden Protagonisten gleichsam warm werden. Auch die wichtigsten Nebencharaktere haben ihre Grauschattierungen. Über Strecken wirkt dies zuweilen enervierend, doch sind die Figuren nachvollziehbar ausgestaltet, so dass keine Unklarheiten beim Lesen bleiben werden. Alles fügt sich ineinander. Nur manchmal wünscht man sich ein etwas schnelleres Erzähltempo.

Rückblenden dominieren vor allem, wenn sich der Blick Leon zuwendet, dem die Vergangenheit nicht loslässt, die sich zu öffnen, ihm nur gegenüber Christina möglich sein wird. Behutsam hat die Autorin die Beziehung der beiden Figuren zueinander aufgebaut. Irritierend ist nur der Kontrast. Manchmal reagieren die Charaktere zu ruhig oder zu heftig für eine geschilderte Situation. Darunter leidet zwar nicht die Glaubwürdigkeit des gesamten Handlungsstranges, die Autorin hat sich hier auf einen Haupt- und nur wenige Nebenschauplätze konzentriert, es lässt einem für einen kurzen Moment jedoch etwas verdutzt stehen.

Kristin Rubra schafft es Schauplätze und das Gefühl für Orte mit genau der richtigen Mischung an Detailschärfe und dem Blick fürs große Ganze enstehen zu lassen, ohne dass sie es mit der Sprache übertreibt. Erst bei den Charakteren kippt es an manchen Stellen dann doch ins Kitschige. Genrebedingt ist das in Ordnung. Was widerum gut gelungen ist, ist das hintergründige Thema der vererbten oder nachwirkenden Traumata als Überbleibsel von Erinnerungen. Dies wird erst nach und nach verständlich, funktioniert jedoch über den gesamten Handlungsstrang. Die Auflösung, das Ende, funktioniert je nach eigener Gefühlslage mehr oder weniger gut.

Der Roman „Keolid“ wird seine Leser- oder eher Leserinnenschaft, schätze ich, finden, wenn sie sich darauf einlassen kann. Das ist in Ordnung. Eine Erzählung, in dem die medizinerfahrene Autorin nicht nur sprichwörtlich auf das schaut, was auf unserer Haut an Spuren vom Leben zurückbleibt.

Autorin:

Kristin Rubra ist eine deutsche Ärztin. Zunächst studierte sie u. a. in den USA Medizin und Creative Writing und veröffentlichte dort erste Texte, bevor sie ihr Studium in Düsseldorf abschloss. Sie ist als Ärztin im klinischen Bereich tätig. 2019 erschien eine Geschichtensammlung von ihr. Dies ist ihr erster Roman.

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Empfehlung: Rachel Jedinak – Wir waren nur Kinder

Ein Buch ist zu kurz oder kompakt für eine Rezension, so schön oder so eindrücklich, dass eine Rezension dem nicht gerecht werden könnte, aber trotzdem von vielen gelesen werden sollte? Dafür gibt es die Kategorie „Empfehlungen“, in der Bücher vorgestellt werden, außerhalb von Rezensionen und Sterne-Berwertungen.

Rachel Jedinak, geboren 1934, überlebt die erste Massenverhaftung der Juden in Paris, die als „Razzia vom Velodrome d’Hiver“ in die Geschichte einging. Diese, am 16. und 17. Jungi 1942 stattfindenden, gelten als die symbolträchtigsten Szenen der französischen Kollaboration. Als Gerüchte über die bevorstehende Razzia aufkommen versteckt ihre Mutter Rachel und ihre ältere Schwester bei den Großeltern, doch werden sie von der Concierge denunziert und schließlich zu einer Sammelstelle gebracht. Nur mit Mühe und Glück gelingt es den beiden Mädchen durch einen Notausgang zu entkommen. Darüber schreibt die Autorin in ihrem autobiografischen Bericht, sowie über ihre Arbeit Jahrzehnte später, gegen das Vergessen. (eigene Inhaltsangabe)

Normalerweise versuche ich jedem Buch in einer Rezension gerecht zu werden, nur muss das diesmal in einer abgespeckten Form geschehen, da mehr die Seitenzahlen nicht zulassen, die Eindrücke überwältigend sind und man das, was man da gelesen hat, überhaupt erst unter einen Hut bringen muss, und das mir, der ich durchaus regelmäßig solche Berichte lese. Zeitzeugenberichte. Die, die wichtig sind, die Bücher gegen das Vergessen, die immer wichtiger werden, je weniger Menschen noch von den Ereignissen erzählen können, die immer mehr lieber zu den Akten legen, gar relativieren möchten. Hier und überall in Europa.

Gerade dann ist es wichtig, allen auch Geschehnisse in Erinnerung zu rufen, von denen hierzulande kaum jemand etwas weiß, die Razzia vom Velodrome d’Hiver in Paris ist ein solches, hier in einem kleinen kompakten, aufrüttelnden und schmerzlichen Bericht einer Überlebenden. Rachel Jedinak war damals nur ein kleines Kind, gerade einmal acht Jahre alt, als sich ihre Welt schlagartig änderte, die nur die elterliche Wohnung, die Schule, einige Straßenzüge ihres Viertels umfasste. Doch Krieg, Rassismus, Antisemitismus haben auch dort nicht halt gemacht. Schmerzlich die Erinnerung, von der sicher geglaubten Freundin plötzlich beim Spiel ausgegrenzt zu werden und andere Dinge, die wieder hochkommen, als die Erwachsene Jahrzehnte später vor Schulklassen berichtet.

Im hohen Alter beschäftigt sich die Autorin mit diesem Stück Zeitgeschichte, welche auch ein schmerzlicher Teil ihrer Biografie ist, bringt Gedenktafeln an Schulen und Gebäuden ehemaliger Einrichtungen an, führt Gespräche. Über das, was eigentlich unsagbar ist, unbegreiflich für das damalige Kind, welches kaum in der Lage ist, das, was geschieht, einzuordnen. Wie denn auch? Die Erwachsene versucht es mit wenigen Worten. Ein kompakter Bericht der sich nicht ins Überflüssige verliert und sich dabei an ihre Landsleute richtet. Seht her. Auch Franzosen haben sich beteiligt. Nicht alle, aber eben auch. Auch das darf nicht vergessen werden.

Das Leben hängt manchmal nur an wenigen Worten. Das hat Rachel Jedinak in frühester Kindheit erfahren müssen. Alle anderen dürfen es nicht vergessen.

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Rick Riordan: Percy Jackson 5 – Die letzte Göttin

Einordnung in der Reihe:

Inhalt:

Jetzt ist Percy gefragt: Sein Todfeind Kronos holt zum letzten Schlag aus und marschiert auf den Olymp zu, mitten ins Herz von New York. Dabei sind doch die olympischen Götter alle ausgezogen, um gegen das wiedererstandene Monster Typhon zu kämpfen! Und zu allem Unglück haben Percys Freunde einen Spion in den eigenen Reihen … (Klappentext)

Rezension:

Es ist noch nicht so lange her, da war Band 5 der Reihe um Halbgott Percy Jackson, den Sohn des Poseidon, der Abschluss einer Reihe und ihr Schöpfer Rick Riordan hatte sich längst diversen Spin-Offs gewidmet, inzwischen aber gibt es einen sechsten Band, der bereits ins Deutsche übersetzt wurde und auch ein siebter dürfte folgen, um die Hauptreihe zu ergänzen.

Im Englischen gibt es ihn schon. Aufgrund des zeitlichen Abstands der Erscheinungstermine zum fünften, können alle nachfolgenden Bände jedoch als Ergänzung betrachtet werden. Ein würdiger Abschluss des Hauptstrangs bietet der fünfte Teil der Jugendbuchreihe in jedem Fall.

Und der beginnt, sich mitten hinein ins Chaos stürzend. Eigentlich wollte Percy mit seiner Mutter und deren neuen Freund einige Tage Ferien genießen, doch für seinen Geschmack ist die Ruhe viel zu schnell vorbei. Mehrere Konfrontationen mit Kronos sind nicht einmal wenig, doch nicht nur dadurch beginnt der sonst allmächtige Olymp Verfallserscheinungen zu zeigen.

Percy und seine Freunde steuern auf die größtmögliche Konfrontation zu, derer sie sich bewusst sind, dass sie entweder zu ihrer Rettung oder ihrem entgültigen Untergang führen wird. Dies passiert sehr schnell. Wieder fliegen wir dank Ambrosia und unglaublich hohem Erzähltempo durch die einzelnen Kapitel, in denen sich spannungsgeladene und witzige Szenen einander abwechseln.

Bis zum Schluss hat Rick Riordan eine Figurendynamik gehalten, die vielleicht nicht eine gewisse Vorhersehbarkeit des Endes verhindern kann, aber man da gerne mitgeht. Warum man schon damals nicht an eine Serie gedacht hat, weiß Hermes persönlich. Die Buchreihe bietet sich gerade dafür magisch an.

Der Autor schafft es hier alle seit dem ersten Band begonnenen Handlungsstränge zusammen zu führen und zu einem sinnvollen Ende ohne Sprünge und erzählerische Lücken zu verknüpfen. Zwar verschwimmen nach dem Ende, welches an diverse Schlussszenen amerikanischer Katastrophenfilme erinnert, nur eben auf das jugendliche Lesepublikum heruntergebrochen, die einzelnen Kapitel zu einem undefinierbaren Ganzen, welches sich nicht wirklich mehr entwirren lässt.

Trotzdem bleibt letztlich eine positive Grundstimmung zurück. Die Figuren sind da bis zuletzt durch die Bank weg nicht perfekt und haben, selbst der Hauptprotagonist, ihre Ecken und Kanten, was nicht nur „Die letzte Göttin“ ungemein sympathisch macht.

Ob die nachgereichten Folgebände diesen Stil halten und nahtlos daran anschließen können, trotz des zeitlichen Abstandes, wird entscheiden, ob sie eine sinnvolle Ergänzung nur sind oder die Hauptreihe komplettieren. Bis dato darf jedoch dieser hier als gelungener Abschluss gelten.

Autor:

Rick Riordan wurde 1964 in San Antonio, Texas, geboren und ist ein US-amerikanischer Schriftsteller. Zunächst studierte er Englisch und Geschichte, später unterrichtete er Anglistik und Sozialwissenschaften an einer High School in San Francisco. In Kalifornien und Texas unterrichtete er griechische Mythologie.

Durch seinem Sohn inspiriert, sowie durch ein Schulprojekt „Kreatives Schreiben“, begann die Geschichte um Percy Jackson Gestalt anzunehmen, welche er 2005 veröffentlichte, dem weitere Werke und Reihen folgten.

Seit 2018 unterstützt er ein Segment des Verlags Disney Hyperion, indem unter dem Imprint Rick Riordan Presents mythologisch inspirierte Jugendbücher von Angehörigen der jeweiligen Kulturen erscheinen. Seine Werke wurden mehrfach verfilmt und ausgezeichnet, u. a. mit dem Mark Twain Award 2008 oder den Children’s Choice Book Award 2011.

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Jean-Jacques Sempe: Benjamin Kiesel

Inhalt:
Benjamin Kiesel wird ständig rot, einfach nur so (nur dann nicht, wenn er etwas angestellt hat), und alle lachen ihn aus. Er träumt von einer Fee, die ihn heilen kann, und findet stattdessen … einen Freund, der ihn nicht auslacht, sondern versteht. Denn auch Rudi Rettich leidet an einer seltsamen Krankheit: Er muss ständig niesen,, selbst wenn er nicht erkältet ist. Eine melancholische wie lustige Geschichte über zwei tapfere Außenseiter, die ihre Freundschaft sogar ins Erwachsenenalter retten können. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft begeistert seit 1971 die Lesenden und könnte nicht besser in die heutige Zeit passen. Grund genug für eine revidierte Neuausgabe mit entsprechender Übersetzung, in der der deutsche Titel „Carlin Caramel“ an den Titel der Geschichte des französischen Originals angepasst wurde.

Viel gibt es nicht über die kleine Erzählung, die man rein von den Textzeilen her als kurze Kurzgeschichte betrachten kann, zu sagen. Beschrieben wird eine Kinderfreundschaft, zweier, die eines gemeinsam haben, nämlich etwas, was sie nicht kontrollieren können und sie so zu Außenseiter macht. Doch, zusammen ist man weniger allein und vor allem immer stärker und so verbringt man fortan viel gemeinsame Zeit, kann sich auch für die Hobbys und Talente des jeweils anderen begeistern. Und das klappt auch, nachdem man sich eine Zeit lang aus den Augen verloren und sich erst im Erwachsenenalter wiedergefunden hat.

Eine Erzählung über Unterschied und Zusammenhalt, Freundschaft und das Interesse für einander, wie es uns in unserer hektischen Zeit zu Oft verloren geht, ist alleine schon deshalb erwähnenswert, hinzu kommen aber noch die liebevollen Zeichnungen von Jean-Jacques Sempe, der nicht nur dem kleinen Nick seine Abenteuer verschaffen hat, sondern auch hier seine Begabung für Wimmelbilder zeigt, die mit schnellen Strich Wimmelbilder entstehen haben lassen, in die man sich verlieren darf.

Großflächig zeichnend hat Sempe eine Unmenge Details in seinen Zeichnungen versteckt, wenn man das Gewusel einer Großstadt betrachtet oder die Massen am Ferienstrand und dort die beiden lieben Protagonisten sucht.

Über die Charaktere lässt sich nicht viel mehr sagen, was auch nicht notwendig ist, tzrotzdem kann man sich mit den beiden gut identifizieren. Bei uns allen gibt es schließlich irgendetwas, was uns irgendwo zu Außenseitern macht, auch wenn für uns dieses Merkmal etwas ganz Normales darstellt, was eben zu uns gehört. Toleranz und Akzeptanz so komprimiert darzustellen und so ein Plädoyer zu schaffen, dass es okay ist, einfach nur man selbst zu sein, sich nicht verbiegen zu müssen, wird hier komprimiert gekonnt dargestellt.

Für mich ist dies eine Geschichte, die man in vielerlei Hinsicht einfach nur liebhaben kann. Anderes ist nicht notwendig.

Autor:
Jean-Jacques Sempe wurde 1932 geboren und war ein französischer Zeichner und Karikaturist. Gemeinsam mit Goscinny entwarf er die bekannte Kinderbuchreihe „Der kleine Nick“, nebst veröffentlichte er zahlreiche Bildbände. Nach dem Militärdienst veröffentlichte er regelmäßig Zeichnungen in verschiedenen Printmedien Frankreichs und im Ausland. Er arbeitete mit Künstlern und Autoren wie Goscinny und Patrick Süßkind zusammen. Kennzeichen seiner Bilder waren großformatige Tuschezeichnungen mit schnellem Strich. Er starb 2022.

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Mike Le/Stephanie Le: Nudeln, Nudeln, Nudeln

Inhalt:

Du kannst dir ein Leben ohne Nudeln nicht vorstellen? Dann kommen hier 75 internationale Nudel-Lieblinge für alle Lebenslagen. Von einfach bis fancy, cremig bis schlürfig und mild bis scharf ist für jeden Nudel-Fan etwas dabei. Und mit selbst gemachter Pasta, gepimpten Instant-Ramen und dem ultimativen Bowl-Baukasten werden deine Nudel-Skills im Nu auf das nächste Level gehoben. (Klappentext)

Rezension:

Nudeln sind nicht gleich Nudeln und gehen immer. Die Grundausstattung für ein Nudelgericht gibt es praktisch überall zu haben und man kann sie vielseitig zubereiten. Aufwendig, wie in einem Sternerestaurant oder schnell nach Feierabend. Nudeln sind ein Gericht für die Seele und das weltweit. Ob als One Pot oder Ramen, als Bowl oder Lasagne, in Form von Reis-Bandnudeln oder Chow Mein. Die Foodblogger Stephanie & Mike Le haben die ganze Welt nach Nudelgerichten abgesucht und die 75 besten in dem hier vorliegenden Kochbuch zusammengestellt.

Doch zuvor werden in dem fotografisch sehr Appetit machenden Buch Grundlagen abgehandelt. Welche Nudelsorten gibt es? Welche kann man wie ersetzen, wenn eine Sorte mal nicht verfügbar ist und wie eigentlich, gelingt eine perfekte Soße, bevor es um die Pasta geht.

Übersichtlich gegliedert sind die Gerichte nach den Aufwand, den man betreiben muss, sie zuzubereiten, immer wieder ergänzt durch Tipps für Toppings und Abwandlungen: Wo bekommt man diese spezielle Zutat eigentlich her? Was ersetzt gut was? Und welche Kombinationen eignen sich eigentlich für verschiedene Lasagnevariationen?

In der Küche sind solche Tipps für jemanden wie mich, mit zwei linken Händen, gold wert, zudem ich auch immer ideenlos bin, auf manche Kombinationen so im Leben nicht kommen würde. Und so habe ich mich bereits an mehreren Rezepten ausprobiert.

„Cacio E Pepe“ sind zum Beispiel Pici-Nudeln mit Käse und schwarzem Pfeffer, eine sehr schlichte Kombination, die aber schnell von der Hand geht und sehr wenig Zutaten bedürfen. Diese waren zwar etwas trocken, was aber durchaus auch an mir gelegen haben mag. Ich muss das Rezept unbedingt nochmals ausprobieren. Die Cowabunga-Nudeln, das sind Chow Mein Nudeln mit Frühlingszwiebelöl, habe ich in einer scharfen Variante probiert und in einer etwas milderen. Das Topping, Chili Crisps, ist hier die ausschlaggebende Zutat.

Eines der Gerichte, und ich bin natürlich noch nicht ganz durch, die mich begeistern konnten, waren „Moules Frites ohne Frites“, aber mit Nudeln. Also, Casarecce, die ich durch kurze Röhrennudeln ersetzen musste, mit Miesmuscheln. Zunächst klingt diese Kombinationen, nun ja, einigermaßen wild und ist für meine Begriffe, einigermaßen aufwendig zuzubereiten, wobei meine Kochkünste in der Küche nun weiß Gott kein Maßstab sind, aber das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen und hat ausgezeichnet geschmeckt.

Dieses Experiment ist also geglückt und damit auch das, des Verlages, der mir wagemutig ein Kochbuch zugesendet hat. Was kommt als nächstes auf den Teller? Eine Bowl? Eine Lasagnevariation? Ich werde mich weiter durch die Rezeptsammlung probieren. Es gibt so viele Möglichkeiten, zumal die AutorInnen dazu ermuntern, zu ergänzen, abzuwandeln. Die Ansicht für den perfekten Bowl-Baukasten erinnert da beinahe an die Homepage-Baukästen aus den 90er Jahren. Mach dies, dann das und tu das dann dazu. Damit kann man doch arbeiten, oder? Mir gefällt nicht nur das, sondern auch die zugänglichen Erläuterungen, gut.

Ein kleiner Kritikpunkt dennoch, der sich wohl bei solchen Rezeptsammlungen jedoch kaum vermeiden lässt: Einige Rezepte sind nicht wirklich für ganz kleine Küchen geeignet, da man sich für die nach meinem Gefühl für die Zubereitung eher ausbreiten können müsste. Organisation ist da alles, trotzdem ist an manchen Stellen die Umsetzung des Schriftlichen nicht wirklich einfach oder, sagen wir mal, gut von der Hand gehend.

Aber man wird sehen. Vielleicht ergänze ich ja den Beitrag noch, nach dem Probieren weiterer Rezepte aus diesem Buch?

Autoren:

Stephanie und Mike Le sind AutorInnen, FotografInnen, entwickeln Rezepte und haben die Welt bereist, um wirklich gute Rezepte zu finden. Ob in den Wüsten New Mexicos oder in den Hügeln von Bologna, kein Weg ist zu weit für ein tolles Gericht. Gemeinsam schreiben sie am preisgekrönten Blog i am a food blog, in dem es um alles geht, was mit gutem Essen zu tun hat. Dies ist ihr zweites Kochbuch.

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