Europa

Vanessa Nakate: Unser Haus steht längst in Flammen

Inhalt:

Vanessa Nakate wächst in Uganda auf und erlebt, wie es Jahr für Jahr heißer wird, die Ernten immer kleiner werden, Armut und Hunger zunehmen. Als sie sich 2019 mit dem Klimawandel auseinandersetzt, wird ihr klar: Wenn sie nicht handelt, wer dann?

Doch während die Schulstreiks von Fridays for Future in Europa einem farbenfrohen Happening gleichkommen, droht Streikenden in Uganda Gefängnisstrafe. Vanessa schweigt nicht! Entgegen aller Widerstände nimmt sie den Kampf gegen die Klimaerhitzung auf.

(Inhaltsangabe Kurzform)

Rezension:

Als Vanessa Nakate die Berichte über die Klima-Proteste vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2020 zu Gesicht bekommt, traut sie ihren Augen kaum. Neben all den Aktivist*innen, die sich mit ihr für Klimagerechtigkeit und -schutz einsetzen, hätte sie auf den Bildern einer großen weltweit tätigen Presseagentur zu sehen sein müssen, doch wurde sie aus dem Bild getilgt, eine Praxis, wie man sie nur mehr von Diktaturen kennt. Wieder einmal ist Afrikas Stimme unter den Klimaprotesten damit unhör- und unsichtbar gemacht wurden.

Ein Jahr zuvor hat die Uganderin zum ersten Mal von den Protesten in der westlichen Welt erfahren, um sich daraufhin selbst über den Klimawandel zu informieren, und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, in ihrer Heimat sich für den Klimaschutz einzusetzen und die Menschen darauf aufmerksam zu machen. In Uganda ist dies mit vielen Hürden verbunden. Die Meinungsfreiheit ist eingeschränkt, Proteste nur bedingt möglich und der Willkür des Regimes ausgeliefert. Die traditionelle Rolle, die Frauen zugestanden wird, lassen kaum Entfaltungsmöglichkeiten zu. Dennoch wagt es die Autorin, zunächst nur mit Unterstützung einiger Familienmitglieder, auch in Uganda auf den Klimawandel aufmerksam zu machen und ahnt dabei nicht, welche Steine sie ins Rollen bringt.

Inzwischen gibt es ganze Bücher und reihen über den Klimawandel und Porträts der bekanntesten Gesichter der Klimabewegung, was ungemein wichtig ist und den Regierungen allerorts immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden muss. Doch Stimmen aus anderen als den westlichen regionen der Erde, sind kaum hörbar. Woran liegt das?

Die Autorin berichtet von ihrem eigenen Weg hin zu den Protesten selbst, über die Situation der Menschen in ihrem Land und die Auswirkungen, die der Klimawandel schon jetzt in Uganda hat. Nakate ist dabei durchaus kritisch mit sich selbst, stellt jedoch auch dar, was selbst vermeindlich kleine Schritte bewegen können und wie vielgestaltig Aktivismus eben auch sein kann, in Gegenden, in denen man vorsichtig mit der eigenen Meinung hausieren gehen muss.

Nun in Buchform ist diese Stimme sichtbar und damit im Fokus der westlichen Welt, , was sich manchmal spannend wie ein Krimi liest, jedoch immer wieder vor Augen führt, dass es eben auch in Afrika Menschen gibt, die sich für den Klimawandel interessieren und dagegen kämpfen wollen, dass dies jedoch teilweise anders aussehen muss, als wir dies zuweilen auf den Schirm haben, jedoch nicht aus unserem Blickfeld geraten darf.

So ist dieses Werk teils Biografie, Handreichung dafür, wie man selbst sich für Klima- und Umweltschutz einsetzen kann, egal, wie vermeintlich klein Mittel und Wege sind, aber auch Bericht der Entwicklung einer jungen Frau, die man für ihren Mut und Zielstrebigkeit nur bewundern kann. An mancher Stelle rutscht dies sehr ins Emotionale ab, was vielleicht nicht falsch ist, mich aber aus dem Lesefluss herausgebracht hat. Ich hätte mir zudem noch eine ausführlichere Erläuterung von Beispielen des Einsetzens von Klimaaktivist*innen in Afrika gewünscht, als sie die Autorin in ihrem Buch ausführt.

Dennoch ist es gut und richtig, jetzt auch diese Perspektive für alle sichtbar zu haben.

Autorin:

Vanessa Nakate wurde 1996 in Uganda geboren und ist eine ugandische Klimaschutzaktivistin, die sich u. a. für Fridays for Future engagiert. Sie wuchs in der ugandischen Hauptstadt Kampala auf und studierte Betriebswirtschaftslehre an der Makerere-Universität, seit 2019 setzt sie sich für Klimaschutz ein und nahm an mehreren Aktionen der Klimaschutzbewegung teil, zudem initierte sie eigene Projekte, wie dem Ausstatten von Schulen in Uganda mit Solarzellen, sie hält zudem Vorträge und hilft anderen sich für den Klimaschutz vernetzen.

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Christian Grataloup: Die Erfindung der Kontinente

Inhalt:

Warum zeigt ein Kompass immer nach Norden? Wie viele Kontinente gibt es? Und weshalb sprechen wir von drei Ozeanen, obwohl nur eine einzige große Wassermasse existiert? Die Darstellung unseres Planeten hat sich im Laufe der Zeit häufig verändert. entdecker, Kaufleute und Kolonisatoren nahmen die Welt ganz unterschiedlich wahr.

Christian Grataloup erzählt die Geschichte unserer Sicht auf die Welt völlig neu. In einem grandiosen Durchgang von der Antike bis heute zeigt er mit sprechenden Beispielen und beeindruckenden Bildmaterial, warum wir unsere Welt so und nicht anders sehen.
(Klappentext)

Rezension:

Heute mehr ein Gedankenspiel, standen zwei Fragen vor erst wenigen Jahren noch ernsthaft zur Diskussion. Gehört Island in die Staatengemeinschaft der Europäischen Union hinein oder nicht? Wie verhält sich es mit der Türkei? In Bezug auf den Inselstaat im hohen Norden wurde diese Frage mehrheitlich positiv beantwortet, gleichwohl Island geologisch zweigeteilt ist, zum einen auf der nordamerikanischen Platte liegt und nur zur Hälfte auf der Eurasischen zu finden ist. Auch ist Island weiter entfernt von irgendeinem Staat der EU als von Kanada etwa, oder der USA,. Trotzdem stieß die Bewerbung Islands um einen Platz in der Staatengemeinschaft allgemein auf ein positives Echo, welches sich erst 2015 aufgrund der isländischen Finanzkrise zerschlagen sollte.

Anders, die Türkei. Dieses Land ist geologisch sowohl auf der Euraischen als auch auf der Arabischen Platte zu finden, hat Grenzen mit Ländern, die bereits Mitglieder der Europäischen Union sind, zudem zahlreiche wirtschaftliche Verbindungen in die Staatengemeinschaft, nicht zuletzt durch zahlreiche Migranten, die dort leben. Trotzdem gab es von Beginn an Vorbehalte gegen eine Mitgliedschaft, gegen die vielfältig argumentiert wurde. Im Gegensatz zu Island wurde hier auch oft das geografische Argument genutzt, schließlich wären nur drei Prozent der Landmasse der Türkei wirklich als Europäisch zu verorten.

Dieses Gedankenspiel lädt, abseits jener in die Diskussion sonstig geführten Argumentation, zu einem Nachdenken über die Sicht auf unsere Welt ein. Was ist das, was als Kontinent bezeichnet wird, wirklich? Meinen wir damit wirklich immer ein, wie auch immer definiertes, geologisches oder geografisches Konstrukt? Wie entstand die Definition dieses Begriffs und müsste der sich nicht ebenso verändern und anpassen an eine sich immer mehr vernetzende Welt, in der geografische Grenzen praktisch kaum eine Rolle mehr spielen (wohlgemerkt, die politischen einmal außen vor gelassen)? Mit dieser Frage beschäftigt sich der französische Historiker und Geograf Christian Grataloup in diesem vorliegenden Werk.

Auf den ersten Blick sind es einfache Fragen, die der Autor hier aufwirft, doch bringen diese vielfältige Problemstellungen mit sich, die aus der Geschichte heraus entstanden sind. Grataloup hangelt sich gleichsam entlang eines Zeittrahls von der Antike bis in die Moderne und zeigt, wie die Entdeckung der Welt und damit auch der Vergrößerung des eigenen Radius‘ die Europäische Sicht zunächst im Laufe der Entdeckung Amerikas und schließlich des Zeitalters der Imperien mit ihren Kolonien der Welt ihren Stempel aufdrückte.

Warum ist es etwa so, dass das, was wir als Europa bezeichnen, mittig auf Karten dargestellt wird und nicht etwa am Rand, wie etwa Amerika oder das nur schwer zu definierende Ozeanien? Warum einigte man sich auf Greenwich als Ort des Nullmeridians, wo dieser Ort sonst so jenseits aller geografisch neuralgischen Punkte liegt?

Hier erläutert der Fachmann einem breiten Publikum seine Thesen zu diesen und daran anknüpfenden Fragen, was für Laien nicht immer ganz nachvollzuziehen ist. Tatsächlich sollte man schon ein gewisses Interesse an Sozio- als auch Geografiegeschichte mitbringen, da sonst der Text oft genug nicht leicht zu lesen ist. das Bildmaterial unterstützt den Text hier eher als dass es den Inhalt auflockert. Dies ist ein Diskussionsbeitrag für Sparteninteressierte, wenn auch ein sehr bereichender. Einem Beitrag für Geografie- und Geschichtsstudium kann man diesem Werk auch nicht absprechen.

Neue Erkenntnisse und Zusammenhänge ergeben sich sowie so. Dieses Werk profitiert von der Fachkenntnis, dem jahrelangen Forschen und Recherchieren des Autoren, ebenso wie von dessen Begeisterung für die Thematik. Einsteigern empfiehlt es sich vielleicht dennoch nicht, zu diesem Sachbuch im Überformat zu greifen. Wer das Interesse und die notwendige Konzentration dazu aufbringen kann, wird es jedoch mit Gewinn lesen.

Autor:

Christian Grataloup wurde 1951 geboren und ist ein franzöischer Geograf und Historiker. Er ist emeritierter Professor an der Universität Paris VII. Am Institut d’etudes politiques de Paris hat er ebenso gelehrt, wie an den Universiäten von Reims, Dakar, Genf und Lüttich. Grataloup forschte u. a. zur Didaktik der Geografie als auch zur Geogeschichte der Globalisierung. Er ist Autor zahlreicher Werke, die bereits in mehreren Sprachen übersetzt wurde und zeichnet sich für eine Vielzahl von Fachartikeln verantwortlich.

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Tom Chesshyre: Slow Train

Slow Train - Eine Liebeserklärung an Europa heute in 25 Stationen Book Cover
Slow Train – Eine Liebeserklärung an Europa heute in 25 Stationen Tom Chesshyre Dumont Reise/mairdumont Erschienen am: 14.04.2020 Seiten: 334 ISBN: 978-3-7701-6696-1 Übersetzerin: Astrid Gravert

Inhalt:

Die Freiheit auf Schienen genießen – dafür begibt sich Tom Chesshyre auf eine abenteuerliche Zugreise quer durch Europa, von London über die Ukraine bis nach Venedig. Das eigenetliche Reiseziel, Europa und seine Bewohner kennenlernen.

Tom Chesshyre reist ohne genauen Plan, eben dorthin, wohin die Schienen führen, und freundet sich unterwegs mit seinen Mitreisenden an – und natürlich mit dem ein oder anderen Schaffner. Ein persönlicher Reisebericht, der zeigt, was Europa zusammenhält. Und eine leidenschaftliche Einladung, sich mit dem nächsten Zug selbst auf den Weg zu machen. (Klappentext)

Rezension:

Als Groß-Britannien sich dafür entscheidet, die Europäische Union zu verlassen, besteigt der Reiseschriftsteller Tom Chesshyre einen Zug und begibt sich auf die Suche nach eben dem, wovon sich so viele seiner Landsleute entfernt zu haben scheinen. Was ist das, dieses Europa? Welche Bedeutung hat der Begriff, der für die Einen Hoffungsschimmer und Sehnsuchtsort, für die anderen Projektionsfläche allen Übels darstellt?

Was können wir heute noch von diesem Zusammenhalt für uns mitnehmen, der zunehmend zu bröckeln beginnt. Mit einem Interrailticket durchquert der Autor den Kontinent, von West nach Ost, Endstation Venedig.

Reiseberichte sind Momentaufnahmen bestimmter Zustände und zumeist sehr subjektiv. Da nimmt sich dieser von Tom Chesdshyre nicht aus, dessen Liebe zu Zügen bereits auf den ersten Seiten auffällt. Der Leser begleitet den Autor von Station zu Station, die Kapiteleinteilung folgt der Reiseroute. Eindrücklich sind die Schilderungen von Begegnungen im Zug, kurzen Momenten der Beobachtung an den Bahnsteigen. Passieren tut nicht viel.

Tom Chesshyre lässt sich treiben und überraschen, ob von belgischen Schaffnern oder im Museum der zerbrochenen Beziehungen, irgendwo im ehemaligen Jugoslawien. Das macht nichts. Interessant sind ohnehin die Gedanken des Briten, die mit zunehmender Entfernung von zu Hause immer mehr zum dortigen politischen Geschehen schweifen. Werden in einem Europa, in dem sich die Staaten immer mehr von einander entfernen, Reisen wie diese noch möglich sein?

Am Rande der Bahnsteige, Bahnhöfe, zeigen sich für Autor und LeserInnen, wie Europa heute noch wirkt und was das für die Menschen bedeuten kann, etwa im gebeutelten Kosovo oder in der von den jüngsten Auseinandersetzungen mit Russland geplagten Ukraine.

Sachlich, doch immer auch mit viel Emotionen verbunden, beschreibt Chesshyre was er sieht ohne ins Kitschige abzugleiten. Nur manchmal ist das Technische, die Eisenbahnliebhaberei dann doch etwas zu viel des Guten. Fans des Rollwerks auf Schienen kommen jedoch auf ihre Kosten. Liebhaber von Reiseberichten, ohnehin.

Ein Plädoyer für Europa, ob nun innerhalb eines politischen Gebildes, so doch als Gemeinschaft, in der ein jeder sein eigenes Leben lebt und doch auf den jeweils Anderen einwirkt. Die Eisenbahn verbindet heute noch ganze Länder und Regionen, funktioniert auch dort zuweilen, wo Politik gerade auseinander triftet.

Auf persönlicher Ebene scheint noch zu klappen, was offiziell immer schwieriger wird. Tom Chesshyre beobachtet, saugt auf und spricht mit den Menschen, hört zu. Das Reisen auf Schienen macht neugierig, verbindet, verändert Blickwinkel. Einen hauch davon kann man aus diesem Bericht mitnehmen. Damit ist dann schon ein Anfang gemacht.

Autor:

Tom Chesshyre wurde 1971 geboren und ist ein britischer Reiseschriftsteller. Für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte er mehrere Reportagen, u.a. bei The Times. Auch für National Geographic war er bereits tätig. Über das Zugreisen schrieb er bereits mehrere Reiseberichte. Chesshyre lebt in London.

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Diana Johanssen/Percy Shakti Johannsen: Aussteigen, einsteigen, los!

Aussteigen, einsteigen, los! Book Cover
Aussteigen, einsteigen, los! Diana/Percy Shakti Johannsen Knaur Taschenbuch Erschienen am: 01.04.2020 Seiten: 224 ISBN: 978-3-426-79079-3

Inhalt:

Was brauchen wir wirklich?, fragt sich Familie Johannsen und wagt das, wovon viele Menschen bloß träumen, nämlich: kurzerhand alles hinschmeißen und dem lästigen Alltagstrott samt Hamsterrad an Verpflichtungen zu entfliehen.

Diana und Percy Johannsen und ihre drei Kinder geben alles auf: Jobs, Freunde, Familie und sogar ihren festen Wohnsitz, um in ihrem ausgebauten Mercedes-Bus um die Welt zu reisen. Ein alternatives Leben in absoluter Freiheit erwartet sie! (Klappentext)

Rezension:

Reiseberichte sind an sich immer interessant zu lesen. Was ist denn schöner als das Erkunden fremder Länder, sich in Gegenden und Sehnsuchtsorte hineinzuträumen und mit den Autoren die besonderen Momente einer Reise zu durchleben? Zumal, wenn die Art des Reisens besonders ist oder die Region, durch die die Autoren mit ihren Werken führen.

Viele solcher Berichte gibt es, gleichsam von Familien, die aus verschiedenen Gründen den grauen Alltag hinter sich lassen, und dem Hamsterrad aus Trott und Stress enfliehen möchten. Das ist vollkommen legitim, genau so wie es richtig ist, zumindest zu versuchen, seine Träume zu verwirklichen und sich auf den Weg ins große Unbekannte aufzumachen, davon dann schließlich zu erzählen.

Und so haben Diana und Percy Shakti Johannsen ihre Erlebnisse nun uns Lesern zugänglich gemacht und beschreiben eine Reise, die noch lange kein Ende gefunden hat, deren Anfang aber gemacht werden musste. Gemeinsam mit Kindern und Hund brechen sie auf, mit den Minibus Südeuropa zu erkunden, Alltagstrott, Stress und durchaus erfolgreiche Jobs hinter sich zu lassen.

Zu Beginn sehr interessant zu lesen, schildern die Beiden abwechselnd, auch ungeschönt von ihren Reiseerlebnissen, Schwierigkeiten und besonderen Momenten, als Familie auf engen Raum diese Chance zu ergreifen und die durchfahrenen Gegegenden zu erkunden. Eine Reise durch Europa und zu sich selbst.

„Ich will dich auch nicht überzeugen.“

Aus im Buch geschilderten Dialog. Geteilig, das Gefühl beim Lesen.

Das wäre alles sehr kurzweilig zu lesen, wenn nicht spätestens nach den ersten Abschnitten sich die erhobenen Zeigefinger häufen würden. Überhaupt nicht subtil drängen die Autoren ihre durchaus lobenswerte ökologische Lebensweise den Lesern auf, dermaßen penetrant, dass man in einem Gespräch wohl schnell die Geduld als Zuhörer verlieren würde.

So viele Post-its habe ich lange nicht mehr verwenden müssen.

Aber, man liest das ja und so füllen sich die Seiten mit augenrollend aufzunehmenden Stichworten, von denen man letztendlich so genervt ist, dass sie Einem nicht mehr erreichen. Die eigentlichen Reiseerlebnisse rücken dabei in den Hintergrund.

Man freut sich gar richtig, wenn die beiden Johannsens schildern, wie die nur für die Ferien mitreisende große Tochter, dieses gemeinschaftliche Erlebnis früher als geplant abbricht, um wieder ihren Alltag leben zu können. Zum Unverständnis der Eltern natürlich.

„Es gibt ein Leben ohne Netz.“ „Für dich vielleicht, Papa.“

Geschildert typischer Dialog im Buch „Austeigen, einsteigen, los!“.

Viel schlimmer als dieses ganze Getue um die ökologische Lebensweise, um alle Klischees zu erfüllen, in freien Momenten mit Yoga gefüllt, ist jedoch die ausführliche Schilderung um des Unfalls und der Krankheit des Sohnes, der die Pläne der Eltern gefährlich ins Wanken gebracht hat.

Natürlich ist so etwas weder Kindern noch Eltern zu wünschen, doch scheinen die Autoren beide immer noch darüber erschüttert zu sein, dass ein alternativer Lebensstil vielleicht doch auch Grenzen hat, zumal in unserer Zeit, und das Globuli, Gebete und Yoga nicht in jeder verdammten Lebenssituation das Nonplusultra sind. Genau so, wie der sein Ziel verfehlende Reisebericht, der auch sonst in all seinen Zeilen mit Vorsicht zu genießen ist.

Es ist sicher nur eine Kleinigkeit, eine allergische Reaktion. Lukas wird die Globuli nehmen, und alles wird gut.

Diana Johannsen/Percy Shakti Johannsen „Austeigen, einsteigen, los!“

Es gibt interessante, vielschichtige und alle Seiten beleuchtende Reiseberichte, auch von Familien, die zeigen, wie ein Ausbrechen aus dem Alltag gelingen kann. Aufgrund der zahlreich erhobenen Zeigefinger gehört dieser nicht dazu.

Aufreger, Aluhüte und erhobene Zeigefinger.

Autoren:

Percy Shakti Johannsen wurde 1976 geboren und arbeitete als Produktionsleiter bei MTV. Dort lernte er seine spätere Frau kennen. Beide lebten in München, gründeten ein Yogastudio und einen veganen Cateringservice. Inzwischen leben sie zwischen Deutschland und Portugal, haben Kochbücher herausgegeben und geben weiterhin Yoga-Kurse.

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Philipp Gut: Jahrhundertzeuge Ben Ferencz

Jahrhundertzeuge Ben Ferencz Book Cover
Jahrhundertzeuge Ben Ferencz Philipp Gut Piper Erschienen am: 02.03.2020 Seiten: 346 ISBN: 978-3-492-05985-5

Inhalt:

Minutiös aufbereitete SS-Ereignismeldungen sind es, die Ben Ferencz nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt. Eine Chronik des Genozids, ein Sensationsfund und Grundlage für den daraus folgenden Einsatzgruppenprozess in Nürnberg.

Mit gerade einmal 27 Jahren tritt Ferencz als Chefankläger auf und auch danach prägt der Anwalt wichtige Etappen der Zeitgeschichte mit. Er gestaltet die deutsche Wiedergutmachungspolitik mit, ebenso den Aufbau des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Ben Ferencz, der SS-Generäle jagte, Opfer entschädigte und bis ins hohe Alter für den Weltfrieden kämpfte. (abgewandelte Inhaltsangabe)

Rezension:

Hundert Jahre sind eine kaum fassbare Zeitspanne, vor allem, wenn sie so ereignisreich gewesen sind, wie die, die Ben Ferencz in vielen Facetten erleben und mitgestalten durfte.

Aus einer armen Familie stammend, wurde der begabte Junge Jurist und half mit Recht und Gerechtigkeit international durchzusetzen und wurde so zu einem Fürsprecher gegen Gräuel und Leid, solches zu sühnen und künftig zu verhindern. Dies ist seine Biografie.

Der Historiker und Journalist Philipp Gut hat sich die fulminante Aufgabe gegeben, eine atemberaubende Biografie zu verschriftlichen. Nun im Piper-Verlag erschienen, ist dies gelungen. Auf der grundlage von Berichten, Tagebuch-Einträgen und nicht zuletzt Interviews mit den jenigen, den der Autor später als Jahrhundertzeuge betiteln würde, zeichnet Gut das Leben eines Kämpfers nach.

Minutiös beschreibt er die Anfänge des begabten Schülers und Studenten, der Recht studierte und den der Krieg nach Europa brachte, der Kontinent, der zu Ferencz prägenster Wirkungsstätte werden sollte.

Ferencz erzählt, wie direkt in den letzten Kriegstagen Material in seine Hände fiel, welches später Grundlagen für die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg werden sollte und welche Weichen ihm gestellt wurden, künftig sich dafür einzusetzen, dass solches Leid, wie von den Nationalsozialisten verursacht, künftig nicht ungesühnt bleiben würde.

Faszinierend sind die einzelnen Episoden aus Ferencz‘ Leben, welches immer wieder Berührungspunkte mit den Europa bewegenden Ereignissen hatte, die er zudem kräftig mitgestaltete. Beindruckend, seine Ausführungen, wie er um die Entschädigung von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern kämpfte und welchen Hürden er sich gegenüber sah, als es darum ging, eine internationale Gerichtsbarkeit gegen künftige Kriegs- und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schaffen.

In verständlicher Sprache, ohne das Für und Wider der beschriebenen Zeit außer Acht zu lassen, erweist der Autor einem der großen Menschen der jüngeren Zeitgeschichte Ehre und Respekt. Eine Biografie, gleichsam ein Denkmal für jemanden, den es immer um die Sache ging, der jedoch auch fehler und Schwierigkeiten eingesteht, denen er sich ausgesetzt sah.

Intensiv recherchiert, ohne rosarote Brille, ist diese Biografie so spannend wie ein Krimi zu lesen.

Make Law, not War.

Sein Leitspruch und die Maxime, nach der ferencz lebte. Der Bericht über einen außergewöhnlichen Menschen in bewegenden Zeiten.

Autor:

Philipp Gut wurde 1971 geboren und ist ein Schweizer Journalist und Autor. Er studierte in Zürich und Berlin Geschichte, neuere deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie und arbeitete als Assistent an der Universität Zürocj, bevor er 2005 promovierte. Als freier Autor arbeitete er zunächst beim Zürcher Tages-Anzeiger, seit 2010 als stellvertrender Chefredakteur.

Er schrieb für mehrere Zeitungen und veröffentlichte Biografien zu Hermann Hesse und Winston Chruchill. Seine Recherchen sorgen immer wieder für Aufsehen und werden intensiv diskutiert.

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Monika Rech-Heider: Auf nach Neuland

Auf nach Neuland Book Cover
Auf nach Neuland Monika Rech-Heider Verlag: Benevento Erschienen am: 20.02.2020 Seiten: 271 ISBN: 978-3-7109-0086-0

Inhalt:

Raus aus der Job-Familie-Alltag-Tretmühle und rein ins Abenteuer. Monika Rech-Heider und ihr Mann nehmen ihre Kinder aus Schule und Kindergarten und durchqueren mit ihrem Bulli ein Jahr lang Europa.

Auf nach Neuland – ein Kontinent ohne Grenzen, ein Leben in Freiheit mit ganz viel Zeit. Vor allem aber eine Reise, die alles andere als geplant verläuft und nach der nichts mehr ist, wie es vorher war. (Klappentext)

Rezension:

Wir wollten den Kindern zeigen, dass das leben gut ist. Dass Europa gut ist. Dass wir hier zu Hause sind dass uns nichts passiert. Und der Plan ist aufgegangen.

Monika Rech-Heider „Auf nach Neuland“

Der Anfang dieses Roadtrips quer durch Europa liegt in einer vielschichtigen Sinnkrise und so ist der Bericht nicht nur Reisereportage, Selbsthilfebuch und Erfahrungsbericht, sondern die Geschichte einer Familie, auf den Weg zu sich selbst.

Aus dem gleichnamigen Blog heraus entstanden, den die Familie während der Reise führte, die zunächst mit einer Sinnkrise begann, erzählt die Autorin, wie es ihrem Mann, den Kindern und ihr selbst gelang, sich als Familie wieder zu finden und neu zu sortieren.

Einfühlsam und nahbar beschreibt Rech-Heider zunächst den Ausgangspunkt, der zu einem Trip mit großen Stolpersteinen führen sollte, die letztendlich nur überwindbare Herausforderungen darstellen sollten.

Für ähnliche Vorhaben gibt sie Tipps und Anregungen, etwa was die Organisation der Kinder angeht, da in Deutschland Schulpflicht herrscht und Ausbrüche aus dem system so nicht vorgesehen sind. Entgegen dem Gehalt vieler anderer Reiseberichte, beschreibt die Autorin hier, welche Probleme solch ein Vorhaben mit sich bringt.

Nichts wird beschönigt, weder fahrzeugtechnische Herausforderungen, noch familiär emotionale Achterbahnfahrten.

Dies ist die Stärke des Berichts, dessen kurzweilige Kapitel einen Lesefluss entstehen und so nicht nur die rein geografische Reise nachvollziehen lassen. Immer wieder gibt es Sprünge zwischen den einzelnen Zeitpunkten der Reise, sowie Rück- und Ausblicke ins Familienleben. Zeitrechnung, vor und nach der Reise.

Der emotionale Zugang wird dadurch hergestellt. Ein Leser kann sich sofort mit dem Ausbruchswillen aus dem alltäglichen Trott identifizieren. Auch die Freiheiten und Vorteile, jedoch auch Probleme Europas kommen zur Sprache.

Gleichzeitig wirken manche Beschreibungen zwar als für die Autorin selbst wichtig, für den Konsumierer der „Blogartikel“ auch mal belanglos. Dies stört und hemmt den Lesefluss, im nächsten Moment ist man jedoch gleich wieder in einer anderen Ecke Europas angelegt.

Monika Rech-Heiders Bericht lebt von den Beschreibungen der Begegnungen mit Menschen, die man wohl landläufig als Zufallsbekanntschaften bezeichnet, die die Familie auf ihren Weg hin machte, sowie der Gewissheit, dass es hier durchaus gelang, ein wenig aus diesem Abenteuer in die Zeit nach den Trip hinüber zu retten.

Natürlich muss eine Sinnkrise nicht unbedingt mit einer Auszeit oder einer Reise bewältigt werden, doch die kurzen Texte, die nach den jeweiligen Reiseabschnitten gegliedert sind, zeigen zumindest diese Möglichkeit auf.

Immerhin dies. In der Art mündlich vorgetragen, kommt der Bericht sicher noch emotionaler und tiefgehender rüber, schriftlich fehlt hier noch das gewisse Etwas. Als Anregung, für sich selbst einen Weg aus der Gleichförmigkeit des Alltags zu entrinnen, funktioniert „Auf nach Neuland“ dennoch.

Autor:

Monika Rech-Heider ist Geografin, Journalistin und Inhaberin einer kleinen PR-Agentur. Ihr Mann ist freiberuflicher Architekt. Zusammen reisten sie und ihre Kinder ein Jahr durch Europa. Aus dem zugehörigen Blog entstand das gleichnamige Buch.

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Claudia Weber: Der Pakt

Der Pakt Book Cover
Der Pakt Claudia Weber C.H. Beck Erschienen am: 18.07.2019 Seiten: 276 ISBN: 978-3-406-73531-8

Inhalt:
Im Zweiten Weltkrieg waren Nazideutschland und die Sowjetunion nicht nur erbitterte Gegner, sondern vorübergehend auch Verbündete.

Der Pakt war mehr als das politische Zweckbündnis, das Hitlers Überfall auf Polen erlaubte und den Krieg für die Sowjetunion hinauszögerte. Seine Wirkung blieb nicht nur auf Osteuropa beschränkt, auch wenn beide Mächte ihren Gewaltfuror dort entfesselten. Claudia Weber zeichnet nach, wie Hitler und Stalin einen ganzen Kontinent in weniger als zwei Jahren ins Verderben stürzten. (Klappentext)

Rezension:
Monate vor Kriegsbeginn horchte die Welt auf. Neben den offiziellen Meldungen machten Gerüchte die Runde. unglaublich und unerklärlich für die Völker Europas nicht zuletzt auch für die Deutschen und die Russen selbst.

Deren oberste politische Führungen, die sich ideologisch diametral gegenüber standen, gingen zum handschlag über und hatten einen Pakt geschlossen, den sich niemand ob der vergangenen feindlichen Rhetorik und entgegengesetzten Weltanschauungen erklären konnte. Was also, steckte dahinter?

Claudia Weber begibt sich auf Spurensuche in politischen und privaten Archiven, zwischen Moskau und Berlin. Die Professorin für Zeitgeschichte rekonstruiert die Ereignisse, die dem Schlimmsten aller Kriege vorausgingen, den es je gegeben hat.

Das vorliegende Werk ist das Ergebnis ihrer unermüdlichen Recherchearbeit, die dennoch nicht alle Geheimnisse aufdecken konnte. „Der Pakt“, zeigt dennoch auf, wie zwei Diktatoren Europa unter sich aufteilten und für Jahre in den Abgrund stürzten.

Im C.H. Beck Verlag erschienen, der sich hiermit wieder einmal der Aufarbeitung eines geschichtlichen Kapitels verdient gemacht hat, zeigt Claudia Weber auf, wie und warum die Bestandteile des Hitler-Stalin-Paktes beschlossen wurden, welche Gespräche und Überlegungen dem vorausgingen, welchen Nutzen und Vorteile sich die beiden Vertragspartner davon versprachen.

Die Historikerin zeigt, dass es hierbei nicht nur um die Aufteilung eines Kontinents ging, sondern auch um intensive wirtschaftliche Beziehungen, fernab aller Ideologien und strategischen Überlegungen.

Detalliert werden hier Konsultationen zwischen Deutschen und Sowjets geschildert, sowie die Interpretation ihrer direkten und indirekten Nachbarn, etwa den Polen oder den Briten.

Diese Ausgewogenheit ist notwendig zur zeitlichen Einordnung, gleichzeitig sehe ich einige Formulierungen, so wie sie zwischen den Buchdeckeln geschrieben stehen, kritisch, lenken sie doch die Sympathie manchmal auf die falsche Seite. Größtenteils gelingt es der Autorin jedoch, neutral zu sein, so dass dies nicht allzu sehr ins Gewicht fällt.

Kurzweilig und spannend wie ein Krimi liest sich die Historie zwischen den „two evils“, wie der damalige britische Premier Winston Churchill die Diktoratoren Hitler und Stalin bezeichnete, ihrem Streben nach Macht, Einfluss und territorialen Gewinnen, die Europa auf Jahrzehnte hinaus verändern sollten.

Insbesondere die von beiden Ländern vorab geknüpften, jedoch selten besprochenen, wirtschaftlichen Beziehungen werden hier haarscharf analysiert.

Aufgelockert durch zahlreiche Fotografien und Einbindung noch nicht zu häufig genutzten Quellenmaterials kann dieses Werk als Ergänzung und Vertiefung der Materie genutzt werden, zumal auch das Vertragsprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes selbst mit eingebunden ist, wie auch das geheime Zusatzdokument.

Claudia Weber schildert eindrucksvoll dieses Ereignis, welches dem Weltenbrand vorausging, der unmittelbare Folge davon zwingend sein musste. Trotz Abstrichen in manchen Formulierungen, sehr informativ geschrieben, empfehlenswert zu lesen.

Autorin:
Claudia Weber wurde 1969 geboren und ist eine deutsche Historikerin. Seit 2014 ist sie Professorin für Europäische Zeitgeschichte in Frankfurt/Oder. Zunächst studierte sie Lehramt in Leipzig, danach Südslavistik, Politik- und Osteuropawissenschaften.

Nach mehreren Zwischenstationen sind ihre Forschungsschwerpunkte die Gewalt- und Diktaturengeschichte des 20. Jahrhunderts, die Kulturgeschichte des Kalten Krieges, sowie die vergleichende Imperiengeschichte. Sie veröffentlicht reglmäßig Beiträge in nationalen und internationalen Fachzeitschriften.

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Navid Kermani: Entlang der Gräben

Entlang den Gräben Book Cover
Entlang den Gräben Navid Kermani C.H. Beck Erschienen am: 26.01.2018 Seiten: 442 ISBN: 978-3-406-71402-3

Inhalt:

Ein immer noch fremd anmutendes, von Kriegen und Katastrophen zerklüftetes Gebiet beginnt östlich von Deutschland und erstreckt sich über Russland bis zum Orient. Navid Kermani ist entlang den Gräben gereist, die sich gegenwertig in Europa auftun: von seiner Heimatstadt Köln nach Osten bis ins Baltikum und von dort südlich über den Kaukasus bis nach Isfahan, die Heimat seiner Eltern.

Mit untrüglichem Gespür für sprechende Details erzählt er in seinem Reisetagebuch von vergessenen Regionen, in denen auch heute Geschichte gemacht wird. (Klappentext)

Rezension:

Europa ist ein politisches geschaffenes Gebilde, welches den Frieden auf den gleichnamigen Kontinent sichert. So scheint es. Doch im Inneren und an den Rändern gährt es.

Egal ob wir von den Parallelgesellschaften reden, die sich längst innerhalb der deutschen Städte aus Religions- und Volksgruppen gebildetet haben, ob man sich in Polen mit der Aufarbeitung der eigenen und fremden Geschichte schwer tut oder in der Ukraine im Spannungsfeld des Konfliktes im Donbass versucht, zu überleben, die Gräben in Europa scheinen tief.

Navid Kermani hat sich im Auftrag des Magazins Der Spiegel aufgemacht, diese Regionen aufzusuchen und zu erfahren.

Vom heimischen Köln bis hinein nach Isfahan, der ursprünglichen Heimat seiner Eltern. Er trifft die jenigen, die am Rande vergessener Konflikte leben müssen, mit den politischen und wirtschaftlichen Begebenheiten zurechtkommen müssen. Einfache Bewohner in der Region im Sperrgebiet von Tschernobyl, geschasste Schriftsteller in Aserbaidschan, Weissrussen und Iraner, die auf die Zukunft nach den jetzt dort herrschenden Mächten hoffen.

In mehreren Etappen durchquert er den Kontinent, stöbert interessante und nachdenklich stimmende Lebensläufe und Geschichten auf. Mit feiner Beobachtungsgabe seziert er den Zustand Europas, erkennt, dass es Konflikte auch hier gibt, die unlösbar scheinen, Menschen jedoch überall mit den gleichen Sehnsüchten nach Frieden zu Hause sind.

Obwohl Kermani für mehrmalige Reisen in die verschiedensten Winkel Europas aufgebrochen ist, ergibt sich eine zusammenhängende Route, die der Leser anhand von zwei Karten innerhalb der Buchdeckel verfolgen kann. Genau so übersichtlich sind auch die Berichte, geschrieben als Tagebucheinträge des Reiseberichts.

Detailliert beschreibt der Autor, was er sieht, welche Gespräche sich ergeben, manchmal mit Nennung der Namens seiner Kontakte, oft genug musste er jedoch Namen ändern, um die Personen in ihren Heimatländern keiner Gefahr auszusetzen.

Entstanden ist ein intimes Portrait einer Kette von Ländern, die uns oberflächlich gesehen, nicht ferner liegen könnten und doch so nah sind. Und immer wieder stößt er auf Neues, was den Autor selbst überrascht, wenn etwa das Brot in der selben Tradition hergestellt wird, wie bei uns, nur hunderte Kilometer von Deutschland entfernt und Literaturmuseen dort auftauchen, wo man es am wenigsten erwartet.

Besonders eindrücklich schildert er den Umgang der machthabenden Behörden mit den Menschen in den jeweiligen Ländern, aber auch die verschiedenen Sichtweisen, die etwa den Konflikt in der Ukraine und auf der Krim wachhalten, sowie das Zerwürfnis zwischen Aserbaidschan und Armenien.

Mit wohlwollenden und zuweilen traurigen Blick beobachtet er Vorgänge, die der Sichtweise eines friedlichen kulturellen Europas zumindest an seinen Rändern Lügen strafen. Detailliert schreibt er auf, ohne seine poetische Sprache zu verlieren, was er sieht.

Das Besondere sind die Bilder, die er wie ein Schwamm aufsaugt, Bilder von örtlichen Begebenheiten und von Menschen, deren Mut und Zuversicht, manchmal auch nur bloßer Wille zu überleben in jeder einzelnen Zeile sichtbar wird. Wer etwas über Europa lernen möchte, der sollte zu diesem Buch greifen.

Als Kind iranischer Eltern kommt er im Osten mit AfD-Wählern ins Gespräch, überall sonst berichtet er jeweils von beiden Seiten des zu benennenden Konflikts. Immer ausgewogen zu sein, Markenzeichen seiner Reportagereise, die packender und einprägsamer nicht erzählt werden könnte.

Kermani auf der Suche nach der Idee von Europa, und wie sie an den Rändern des Kontinents in Frage gestellt wird, zuletzt auch eine Suche nach sich selbst, die es sich zu begleiten lohnt. Eine sehr eindrückliche Leseempfehlung im Sachbuch-Bereich.

Autor:

Navid Kermani wurde 1967 in Siegen geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Publizist und habilitierter Orientalist. Er arbeitere nach der Schule als freier Mitarbeiter und Redakteuer für verschiedene Zeitungen, studierte Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaften. Seit 2007 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Von 2006-2009 war er Mitglied der deutschen Islamkonferenz. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und beschäftigen sich mit Grenzerfahrungen im Alltag, der Auseinandersetzung mit Tod und der islamischen Mystik. Für den Spiegel berichtete er aus mehreren Krisengebieten der Welt. Kermani lebt mit seiner Familie in Köln.

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Autoren-Interview auf der Leipziger Buchmesse 2018: Dogan Akhanli und ein Tag in Granada

NH: Herr Akhanli, der Haftbefehl von Interpol in Spanien durch die Türkei beruhte offensichtlich auf ihre Arbeiten, die sehr kritisch mit der Politik dieses Landes umgehen, etwa mit den Völkermord an den Armeniern. In wie fern war das ausschlaggebend?

DA: Ich beschäftige mich mit der türkischen Politik, aber ich bin vorsichtiger, wenn es um politische Akteure geht. Ich bin kein Journalist. Ich beschäftige mich mit der Kontinuität des Landes. Woher kommt es, dass wir in einer ständigen Situation der Agonie leben oder dieser ständige Ausnahmezustand? Dieser Zustand endete bisher nicht.

Wenn man einen Blick in die Geschichte der Türkei wirft, sieht man dass diese Gewalt eine normale politische Form ist. Wenn ich über die Gewalt an den Armeniern rede, über die Vertreibung der Griechen oder ähnliches, spreche ich von aktuellen Themen.

NH: Kein geschichtlicher Bezug, also, weil sich das kontinuierlich durchzieht?

DA: Ja.

NH: Sie wurden in Spanien praktisch aus dem Bett heraus verhaftet. Andere Journalisten und Schriftsteller in der Türkei sind direkt im Zugriff dieses Staates. Was sagt das aus, über die heutige Situation für Autoren und Journalisten in der Türkei?

DA: Die Situation der Meinungsfreiheit hat sich in der Türkei so verschlechtert, dass man es leicht mit der Militärzeit vergleichen kann. Als das Militär an der Macht war, haben alle geschwiegen, durften auch nicht frei schreiben. Jetzt darf man angeblich schreiben, wenn man das aber macht, kommt man ins Gefängnis. Das ist die Kontinuität der Verfolgung.

Es gibt die Geschichte von zwei Brüdern, Journalisten, die verhaftet wurden. Deren Vater war auch Journalist in den 1960er Jahren und hat ähnliches durchmachen müssen. Er war Parlamentsabgeordneter, gleichzeitig Journalist und Schriftsteller. Er wurde damals schwer gefoltert. Ein halbes Jahrhundert später „gehen“ die Söhne den gleichen Weg und kommen lebenslänglich ins Gefängnis.

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Dogan Akhanli über seine Verhaftung in Spanien.

NH: Sie wurden zwei Mal verhaftet, einmal 2010 und 2016. Wie gehen Sie damit um, dies zu verarbeiten, auch, wenn andere Schriftsteller, die Sie vielleicht gut kennen, ebenfalls verhaftet werden und in die gleiche Situation kommen?

DA: Obwohl ich in Deutschland, einen geschützten Raum, lebe, habe ich nach der Festnahme und Freilassung 2010 fast den Bezug zu meiner Muttersprache verloren. In dieser Zeit ist mein Vater gestorben. Ich wollte nicht mehr Türkisch schreiben und mit der Türkei nichts mehr zu tun haben. Das war eine so tiefe Verletzung, dass ich danach Jahre lang kein Buch mehr schreiben konnte.

In Spanien, nach dieser Festnahme, habe ich die Blockade überwunden, und habe über „Die Verhaftung in Granada“ geschrieben. Dass war das erste Buch seit sieben Jahren. Im Vergleich mit den türkischen Kollegen bin ich in einer priviligierten Situation. Ich kann die Türkei kritisieren und angreifen. Sie dürfen es nicht, machen es trotzdem und landen dafür im Gefängnis. Dann ist es meine Freiheit, mich mit denen zu solidarisieren.

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Autor: Dogan Akhanli
Titel: Verhaftung in Granada
Seiten: 224
ISBN: 978-3-462-31856-2
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
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NH: Im Buch beschreiben Sie ein Gespräch zwischen einen türkischen Gefängnisbeamten und Ihnen, in der es darum geht, dass der deutsche Staat sich um seine Bürger kümmert und sorgt. Der Beamte ist dem gegenüber verständnislos, da er das so nicht kennt. Ist es flächendeckend so, dass der türkische Bürger vor dem Staat Angst hat?

DA: In der Türkei ist die Beziehung zwischen Bürger und Staat sehr interessant. Sie mögen den Staat nicht, haben eine unglaubliche Angst. Aus der Erfahrung heraus wissen sie, dass dieser Staat seine eigenen Bürger seit hundert Jahren u.a. getötet, vertrieben, gefoltert und verfolgt hat.

Das ist im Gedächtnis gespeichert. Sie gehen in etwa damit so um, wie bei einer Frau, die ständig von ihrem Mann geprügelt wird, aber jeden Tag sagen muss, dass sie ihn liebt. Aus dieser Angst heraus gibt es ständige „Liebeserklärungen“ an diesen Staat. Das hat mit Liebe oder Mögen nichts zu tun, nur mit Selbstschutz.

NH: Wie gelingt es dann diesen Staat sich zu halten, wenn die Bürger nicht dahinterstehen? Halten Sie friedliche Demonstrationen und die Auflösung der macht, wie es sie in der DDR gab, für möglich oder eher nicht?

DA: Das passiert gerade. Am 8. März haben sehr viele Frauen demonstriert. Das waren tausende Menschen. Sie schrieen, wir wollen keine Diktatur. Sie waren kreativ und mutig, solche Slogen zu entwickeln, um gegen den Staat zu agieren. Es ist für mich die einzige Hoffnung, dass zukünftig häufiger eine solche Bewegung von unten kommt, dass Erdogan am Ende weg ist.

NH: Also glauben Sie an eine Zukunft der Türkei nach Erdogan?

DA: Ja. Absolut. Er hat riesige Angst vor dem Machtverlust. Deshalb begibt er sich in den Krieg und greift Syrien an. Er hat diese Bedrohung einfach erfunden. Es gab sie nicht. Er will durch die Hetze gegen die Kurden die türkische Bevölkerung zusammenhalten. Aber er kann scheitern, wenn er dies nicht schafft. Das kann für ihn sehr gefährlich werden. Wenn der kurdische Widerstand Erfolg hat, kann Erdogan seine Macht verlieren.

NH: Hierzulande sind wir sehr abhängig von den Bildern aus den Medien, die natürlich immer nur einen Ausschnitt zeigen können. Die Deutschen sind darauf in unsicher, ob sie z.B. in die Türkei weiter reisen sollen oder nicht. Sind Sie zufrieden mit der Berichterstattung hier über dieses Land?

DA: Die sachliche Berichterstattung der deutschen Medien finde ich nicht schlecht. Sehr distanziert, keine feindseelige Stimmung. Das gefällt mir. Ob man in die Türkei reisen darf oder nicht, ob man durch den Tourismusboykott die Opposition verstärken kann, bin ich mir nicht sicher. Wenn ich die Vergangenheit anschaue, haben solche Boykottaufrufe nicht viel gebracht.

Wenn es den Menschen schlecht geht, beschäftigen sie sich nur mit dem Überleben und sind von der Politik abgewendet. Ich würde weiter empfehlen, Urlaub in der Türkei zu machen. Die Begegnungen mit den Menschen in der Türkei sind wichtig.

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"Die Begegnungen mit den Menschen in der Türkei sind wichtig."

Man kann es nicht pauschalisieren, dass alle Türken Anhänger von Erdogan sind. Ich finde es schade, wenn die Begegnungen nicht stattfinden können. Die Touristen kommen mit einen anderen Blick, andere Werte, eine andere Weltanschauung. Diese Begegnungen können etwas bewirken.

NH: Ihre Situation wurde medial sehr aufmerksam beobachtet. Es gab eine große Berichterstattung. Was muss sich ändern, für Kollegen, die vielleicht nicht wissen, dass sie auf irgendeiner Liste stehen und für die die Aufmerksamkeit nicht ganz so groß ist?

DA: Wir haben als zivile Gesellschaft nicht so viele Möglichkeiten. Wir können uns aber mit bedrohten oder sich in Haft befindlichen Kollegen solidarisieren, z.B. über Briefkontakte mit Inhaftierten. Man muss Wege finden, dass die Menschen nicht ins Vergessen geraten. Das ist unsere Aufgabe. Von der deutschen Politik erwarte ich, dass sie sich nicht zum Komplizen der türkischen Despotie macht. Da sollte man sehr vorsichtig sein. Erdogan ist keine vertrauenswürdige Person.

Die deutsche Regierung sollte alle diplomatischen Wege versuchen, bevor man nicht mehr miteinander redet. Das hat etwas mit Verhandlungen zu tun. Es mussten rote Karten gezeigt werden, dass z.B. Deniz Yücel immer noch in Haft ist. Deutschland sollte seine eigenen Möglichkeiten etwas besser nutzen als früher. Nicht leise sein und sich zurückhalten, sondern an die Möglichkeiten glauben.

NH: Wie viel von dem, was für Ihre Freilassung im Hintergrund getan wurde, haben Sie mitbekommen?

DA: Viel. 2010, aber auch 2017 in Spanien war es ein Glück, dass die Öffentlichkeit schnell reagiert hat. Diese schnelle Reaktion von der deutschen Presse, der zivilen Gesellschaft und der Regierung hat mich wirklich aus einer schwierigen Situation gerettet. Ich habe viel Unterstützung aus allen Kreisen bekommen.

NH: Wie ist Ihre Situation in der türkischen Gemeinde aufgenommen worden?

DA: Das weiß ich nicht genau, weil ich so wenige Kontakte habe. Ich habe hauptsächlich Kontakt zu Exil-Personen und ein paar andere, nicht aber AKP-Kreise. Nur zwei Leute daraus, auch Kollegen von mir, haben zu mir Kontakt und dadurch bekomme ich ein wenig die Stimmung mit. Warum sie so denken und eine gewisse Zuneigung zu Erdogan haben, weiß ich nicht.

NH: Das ist teilweise sehr schwer für die Deutschen nachzuvollziehen.

DA: Das ist normal. Auswanderer unterstützen meist die Mächtigen des Herkunftlandes. In der deutschen Geschichte war das auch so. In der Nazi-Zeit haben die Deutschen im Ausland oft auch die Nazis unterstützt. Das ist nicht außergewöhnlich. Für mich ist es auch unerklärlich, dass viele, die hier geboren, zur Schule gegangen sind und diese Demoratie kennen, trotzdem diesen Mann schätzen. Es gab mal eine Umfrage einer wissenschaftlichen Studie, dass die Mehrheit der türkischen Einwanderer Merkel mehr als Erdogan als ihren Präsident sehen. Sie schätzen Frau Merkel zehn Mal mehr als ihn.

NH: Das Pendeln zwischen diesen zwei Welten, der türkischen und der deutschen. Wie sehr hat sie das beeinflusst, jetzt auch nochmal in Hinblick Ihrer Situation 2017?

DA: Ich lebe isoliert von türkischen Kreisen, aber ich würde auch nicht unterscheiden. Ich habe keine Möglichkeiten zwischen zwei Welten zu unterscheiden, da ich mit Leuten mehr in Kontakt bin, die der gleichen Meinung wie ich sind. Ich möchte einen Dialog mit meinen Landsleuten, sie auch verstehen, warum sie so gekränkt sind, wenn man über Erdogan so eine kritische Stimme erhebt. Warum empfinden sie so gekränkt? Ich habe leider wenige Möglichkeiten, mit denen in Kontakt zu treten.

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Dogan Akhanli: "Ich bin isoliert von türkischen Kreisen."

NH: Was müsste sich konkret ändern, damit Sie wieder in die Türkei reisen würden wollen?

DA: Die Situation hat sich seit 2010 verschlechtert, und damals war es schon willkürlich. Ich kann sowie so in die Türkei nicht reisen, da es einen Haftbefehl gegen mich gibt. Auch, wenn der nicht da wäre, könnte ich nicht dorthin, weil es so unberechenbar geworden ist. Da muss sich etwas Grundsätzliches ändern.

NH: Wie sehr waren Sie von der Situation in Granada überrascht?

DA: Sehr. Ich dachte, ich bin Deutscher und geschützt in Europa. Habe nie gedacht, dass sie mich festnehmen würden, aber es ist passiert. Es war eine Ohnmachtssituation, später Wut, dann Heilung, aber es hat mich wirklich überrascht.

NH: Wann haben Sie 2017 zum ersten Mal gemerkt, dass es sich für Sie dann doch in eine positive Richtung entwickelt. Wann war der Moment, jetzt wird alles gut?

DA: Sofort. Am nächsten Tag, da ich die Berichterstattung aus Deutschland mitbekommen hatte. Alle großen Zeitungen haben darüber berichtet und die deutsche Regierung sich eingemischt hat. Da dachte ich, dass es mir nicht so schlecht gehen kann.

NH: Hätten Sie es denn der spanischen Regierung zugetraut, sie abzuschieben?

DA: Nein. Das wäre ein Skandal gewesen, und illegal. Ich bin als Flüchtling hergekommen und habe diese Anerkennung. Nach dem Beschluss des Europäischen Gerichtshofes wusste ich, dass sie politisch anerkannte Flüchtlinge nicht abschieben dürfen. Trotzdem haben sie zwei Monate gebraucht, zum Punkt zu kommen. Richtige Angst hatte ich nicht.

NH: Was sind Ihre zukünftigen Pläne?

DA: Eigentlich, wie immer. Ich schreibe Romane, mache Begegnungsprojekte zwischen Türken und Deutschen, dass die Menschen aus unterschiedlichen Kreisen zusammenkommen. Und ich werde weiter schreiben.

NH: Dann danke ich Ihnen für das Gespräch.

Das Interview und Bildmaterial darf ohne Genehmigung nicht vervielfältigt oder andersweitig verwertet werden. Dies ist redaktionsrechtlich geschützt. Die Rechte liegen bei findosbuecher.com, den Verlag Kiepenheuer & Witsch und Dogan Akhanli.

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Ian Kershaw: Höllensturz – Europa 1914 bis 1949

Höllensturz - Europa 1914 bis 1949 Book Cover
Höllensturz – Europa 1914 bis 1949 Ian Kershaw DVA Erschienen am: 12.09.2016 Seiten: 764 ISBN: 978-3-421-04712-9 Übersetzung: Klaus Binder (u.a.)

Inhalt:

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stürzt sich Europa in eine selbstverschuldete Katastrophe, die historisch ohne Beispiel ist. Über drei Jahrzehnte hinweg, von 1914 bis 1949, prägten Kriege, Völkermorde, Vetreibungen und politische Unruhen die Geschichte des Kontinents.

Ian Kershaw gelingt ein Glanzstück der modernen Geschichtsschreibung in seiner Schilderung dieser gleichermaßen faszinierenden wie beklemmenden Ära, in der Europa sich beinahe selbst zerstört hätte.

Meisterlich denkt er die wichtigsten Entwicklungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur der europäischen Länder zusammen und führt uns die Auswirkungen des tiefgreifenden Wandels auf das Leben von Millionen von Menschen vor Augen. (Klappentext)

Rezension:

Sehr umfangreiche und detaillierte Sachbücher führen wohl ein Nischendasein in unseren Buchhandlungen, doch entdeckt man unter den „Wälzern“ bei genaueren Hinsehen immer wieder Schätze, die es sich zu Betrachten lohnt.

Ian Kershaw ist ein Garant für solch eine Literatur, die selbst mit der Thematik vertrauten Lesern neues und vielschichtiges Hintergrundwissen vermittelt. Hier zumeist inhaltlich sich mit den Zweiten Weltkrieg und Hitler als Person befassend.

Aber auch der große Zeiten-Überblick gelingt dem britischen Historiker, der sich wissenschaftlich und auch sonst wieder einmal ein Denkmal zwischen zwei Buchdeckeln geschaffen hat.

„Höllensturz – Europa 1914 bis 1949“, erzählt die Geschichte eines Kontinents in Umbruch, von Ländern, die sich gegenseitig in unvergleichliche Abgründe getrieben haben und von Menschen, die ihresgleichen millionenfach in zwei schrecklichen Kriegen vernichteten.

Es ist unsere Geschichte, die zum Fanal für mehrere Generationen und ihrer Auswirkungen, die noch mehrere Jahrzehnte spürbar waren. Europa im modernen beinahe 30-jährigen Krieg.

Ian Kershaw hat sich der schwierigen Thematik angenommen und beleuchtet dieses Mal nicht nur die geschichte der Deutschen, sondern die Geschichte der großen und kleinen Länder des kontinents.

Er erläutert detailliert, wie es zur Urkatstrophe des 20. Jahrhunderts kommen konnte und weshalb vor 1949 demokratische Staatsformen Schwierigkeiten hatten, sich zu etablieren.

Der Autor analysiert den Niedergang des British Empire zugleich mit den Aufstieg der USA und das auseinanderbrechende Mächtegleichgewicht zwischen Frankreich, dem Deutschen Reich und dem Russischen Reich, erklärt weshalb der Staat der Habsburger in einer Kettenreaktion seinem Untergang entgegen kämpfte, die schließlich auch andere Staaten ins Unglück stürzte.

Messerscharf beleuchtet er gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Komponenten, macht fassbar, was unfassbar ist.

Geschichte begreiflich zu machen, ist die vornehmste Aufgabe der Historiker und Ian Kershaw beherrscht dies perfekt. Bewiesen hat er es schon mit seiner Hitler-Biografie, die in der wissenschaftlichen Aufarbeitung Maßstäbe setzte, hier legt der Historiker jedoch noch eine Schippe drauf.

Natürlich ist der Einstieg in die Thematik nicht einfach, tatsächlich wird, wer die Detailliertheit und Informationsfülle nicht gewohnt ist, Schwierigkeiten bekommen. Und ja, Vorbildung und Interesse empfiehlt sich.

Wer jedoch Geduld mitbringt, wird mit umfangreichen Analysen, verständlich gezogenen Linien von Überblickswissen und einer Genauigkeit belohnt, die ihres Gleichen sucht.

Ian Kershaw setzt hier Maßstäbe in der Verarbeitung von unzähligen Quellen, dessen Verzeichnis knapp gehalten ist, jedoch auf das unfassbar zahlreiche Material hinweist, welches dem Autoren zur Verfügung stellt. Geschichtswissenschaft für Fachleute und das gemeine Volk, Kershaw schafft beides.

Es ist Lektüre, die ein hohes Maß an Konzentration erfordert, deren Leser jedoch mit Wissen, neuen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen belohnt werden. Es ist die Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts aller europäischen Völker, welche sich Ian kershaw zu einem Langzeitprojekt gemacht hat.

Die zweite Hälfte, eine glücklichere Zeit, wird ebenso ausgearbeitet erscheinen, so zumindest der Historiker im Vorwort, der wissenschaftlich korrekt auf die Vielzahl an Arbeiten anderer Historiker hinweist, die auch ihm als Grundlage zum Schreiben dienten.

Das Lesen solcher Bücher ersetzt den Geschichtsunterricht und wirkt effektiv nach. Geschichte muss nicht trocken sein, Sachbücher nicht pur theoretisch, so gelingt moderne Vermittlung, auf dass sich die Vergangenheit nicht wiederholen mag.

Kershaw appeliert an unser Gewissen, denn der nächste Krieg, soviel ist 1949 schon klar, hat das Potential, die Menschheit völlig zu vernichten. Eingeleitet durch Zitate berühmter Personen aus Politik und Kultur jener Zeiten schwebt in den ausführlichen Kapiteln diese Warnung wie ein Damoklesschwert über die Köpfe der Leser.

Uns sollte daran gelegen sein, es nicht hinunterfallen zu lassen.

Autor:

Sir Ian Kershaw wurde 1943 in Oldham, Lancashire geboren und ist ein britischer Historiker, der durch seine Schriften zum Nationalsozialismus, besonders durch seine Hitler-Biografie Bekanntheit erlangte.

Nach der Schule studierte er geschichte und war zunächst Dozent für Mittelalterliche und Moderne Geschichte an der University of Manchester. Nebenbei erlernte er im Goethe-Institut seiner Stadt die deutsche Sprache und verlagerte seinen Tätigkeitsschwerpunkt auf die deutsche Geschichte.

1983/84 hatte er eine Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum inne, 1987 nahm er eine Professur in Nottingham an, später in Sheffield, wo er bis Ende september 2008 Geschichte lehrte. Zahlreiche Auszeichnungen erhielt er für seine Aufarbeitung deutscher und europäischer Geschichte, u.a. das Bundesverdienstkreuz.

2002 wurde er zum Ritter geschlagen. 2012 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2013 wurde er für sein Lebenswerk mit den Meyer-Struckmann-Preis geeehrt. Seine Werke gelten als geschichtswissenschaftliche Standardliteratur.

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