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Autoren-Interview auf der Leipziger Buchmesse 2018: Björn Berge und die Briefmarken

NH: Herzlich willkommen auf der Leipziger Buchmesse. Bei mir ist Björn Berge, Autor des Buches „Atlas der verschwundenen Länder“ (erschienen bei dtv). Sie sammeln Briefmarken und Treibgut, hobbymäßig eher eine ungewöhnliche Kombination. Wie sind Sie auf dieses doch sehr spezielle Sammelgebiet gekommen?

BB: Ich werde langsam älter und habe daher beschlossen, anstatt selbst die Welt zu bereisen, diese zu mir kommen zu lassen. Vor 20 Jahren habe ich damit begonnen, jeden Sommer ein Stück der europäischen Küste entlang zu gehen und wollte mir die ganze Küste Bucht für Bucht, Strand für Strand erwandern. Ich habe im äußersten Norden Dänemarks damit begonnen und bin bis südlich von Le Havre gekommen. Das Ziel war, für mich die Welt zu erobern.

NH: Die Kontinente umrunden und damit zu erfahren?

BB: Genau.

NH: Das Sammelgebiet Briefmarken. Was können uns Briefmarken in Zeiten von E-Mails und WhatsApp heute erzählen?

BB: Briefmarken sind schon immer Propaganda gewesen. Das erste, was ein Herrscher macht, wenn er an die Macht kommt, ist es, Briefmarken zu veröffentlichen, manchmal waren die auch schon vorher fertig, und die stellen das Land natürlich immer so dar, wie er es sehen möchte. Stärker, vielleicht auch netter, demokratischer oder liberaler.

NH: Es geht um Macht und Wirtschaft, Geschichten die sich auf Grundlage der Motive, des Materials, erschließen. Wie sind Sie auf die erste Briefmarke gestoßen? Was war ausschlaggebend dafür, zu sagen, das ist ein interessantes Sammelgebiet, das verfolge ich weiter?

BB: Die Motive können lügen, aber das Material und die Beschaffenheit nicht. Ich beschäftige mich sehr mit den Sinneseindrücken, welche mir eine Briefmarke erzählt. Der Leim, die Beschaffenheit und vielleicht Geruch. Ich habe die Briefmarkensammlung von meinem Vater übernommen. Ich habe sie wieder entdeckt, als ich gemerkt habe, dass ich nicht mehr selbst so um die Welt laufen kann und mir dann diese Sammlung angeschaut. Ich habe gemerkt, was ich da wertvolles habe. Nicht im Sinne von Geld, sondern was ich da für Geschichten in den Händen halte, quasi einen Weltatlas.

9783423281607
Autor: Björn Berge
Titel: Atlas der verschwundenen Länder
Seiten: 239ISBN: 978-3-423-28160-7
Verlag: dtv
Link zur Rezension: hier klicken

NH: Sie beschreiben, dass Sie vor allem gebrauchte Briefmarken sammeln, aus denen Sie die Geschichten ziehen. Ein Sammler sammelt für gewöhnlich neue oder zumindest gut erhaltene Briefmarken. In ihrem Buch stellen Sie Briefmarken vor, die deutliche Gebrauchsspuren haben. Mal ein Riss, mal fehlen Zacken. Ist das auch ein Weg, diese Länder zu erfahren?

BB: Definitiv. Ich bezeichne diese Art von Sammeln als „punksammeln“. Die Benutzung und die Benutzungsspuren sind das, was mich am meisten interessiert.

NH: Welches ist die kurioseste Geschichte, die Sie gefunden haben?

BB: Das ist wohl die der Briefmarke von Helgoland, welches zu dieser Zeit Heligoland hieß und britisch war. Die habe ich von meinem Vater geerbt. 1870 war Helgoland ein bekanntes Heilbad, ein Kurort, wo die Aristokratie aus ganz Europa hinkam.

Sie haben die Gäste mit Pferdewagen an den Strand gefahren, dort zwei Stunden an der frischen Seeluft stehen lassen und dann wieder ins Hotel gebracht. Wenn ich die Briefmarke in meiner Hand erwärme, etwas reibe und daran rieche, kann ich immer noch den Geruch von kräftigem Massage-Öl wahrnehmen, was von dem Kurort zeugt.

NH: Das machen Sie aber nicht oft, da sonst die Briefmarke kaputt geht?

BB: Das sind einzigartige Erinnerungen. Vielleicht ist es sogar die allerletzte Spur des Helgoländer Duftes, da die Insel im Krieg komplett zerbombt wurde.

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NH: Die Geschichte von Helgoland lässt sich anhand von Archiven oder Reiseberichten nachvollziehen, es gibt aber auch Marken, wo es ziemlich schwierig war, deren Geschichten zu erfahren. Wie sind Sie da vorgegangen, um diese zu erfahren?

BB: Ich analysiere zuerst die Motive der Briefmarken und versuche, die Lüge dahinter zu finden und darauf baue ich dann die Geschichten auf, die ich hier erzähle.

NH: Wir haben hier Geschichten von Kolonialherren, Herrschern und Hochstaplern. Heutzutage werden immer weniger Briefe oder Postkarten verschickt. Wenn die Briefmarke aus unserem Alltag verschwindet, was fehlt dann künftig?

BB: Das ist sehr schade, denn Briefmarken sind Teil einer sehr intimen Kommunikation.

NH: In ihrem Buch stellen Sie nicht nur die Geschichten hinter den Marken vor, sondern auch Reiseberichte oder auch Kochrezepte aus den jeweiligen Ländern. Wo war jetzt die Recherche besonders schwierig?

BB: Es war eine phantastische Entdeckungsreise, dieses Buch zu schreiben. Fast jeden Morgen bin ich quasi in einem anderen Land aufgewacht, ohne genau zu wissen, wo ich hinkam. Im Dschungel, an den Stränden oder in Eis und Schnee.

NH: In ihrem Buch stellen Sie exemplarisch 50 Briefmarken vor. Die Geschichte ist sicher noch nicht zu Ende erzählt. Das Sammelgebiet ist riesig. Haben Sie einen Überblick, wie viel ihnen noch ungefähr fehlt?

BB: Ich habe das mal ausgerechnet. Es gibt ungefähr 1175 Länder, die seit dem Erscheinen der ersten Briefmarke, der „One Penny Black“ von 1840, Marken herausgegeben haben. Ich besitze ungefähr 750 davon.

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Die Briefmarke von Heligoland. (dtv)

NH: Also wird das Sammeln dieser Marken noch eine Weile beschäftigen. Gibt es noch andere Sammler, mit denen Sie sich austauschen können? Die jetzt dieses spezielle Sammelgebiet haben?

BB: Meine Methode zu sammeln ist wirklich einzigartig. Ich kann mich da nicht mit konservativen Briefmarkensammlern austauschen. Bei denen muss alles perfekt sein. Die Perforation, der Stempel muss richtig sitzen, sie sollen möglichst wenig Gebrauchsspuren vorweisen. Meine Sammlung ist das krasse Gegenteil davon. Das ist für mich ein großer Vorteil, da ich sie günstig bekomme, manchmal sogar geschenkt.

NH: Sie gehen auf die Farbe ein, den Leim, das Papier. Gibt es so etwas wie eine Entwicklung, dass jetzt z.B. in Europa ein bestimmter Leim verwendet wurde, in Asien wieder etwas anderes?

BB: Es ist gleichzeitig eine Kulturgeschichte der Briefmarke und der technischen Historie des Druckes. Nicht gerade chronologisch, aber das war ja auch nicht meine Absicht.

NH: Dieses Buch enthält nur eine kleine Auswahl an Briefmarken, im Gegensatz zu ihrer Sammlung. Es gibt sicher noch viele interessante Geschichten zu erzählen. Gibt es diesbezüglich Pläne?

BB: Die Auswahl der Briefmarken ist ein wenig zufällig, aber ich habe versucht, sie sowohl geografisch als auch zeitlich über den Globus zu verteilen, damit es nicht zu einseitig wird und wirklich eine Art Weltgeschichte daraus entsteht. Dadurch ist eine Art Parallelgeschichte zu der offiziellen entstanden, da sie aus der Perspektive der Länder erzählt wird, die schlicht und einfach zu kurz gekommen sind, da sie untergegangen sind. Es ist eine Art Gegenstück zu Darwins „Survival of the Fittest“.

Link zur Leseprobe. (dtv)

NH: Sie haben von der Geschichte Helgolands gesprochen. Gab es eine Geschichte, die Sie besonders überrascht hat, von der Sie nicht geahnt hätten, dass Sie so passiert ist?

BB: Eine schwierige Frage, denn ich war an sich fast immer überrascht. Die Reise war improvisiert, und eigentlich habe ich nur meine eigene persönliche Erfahrung erzählt.

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Der Autor Björn Berge über Briefmarken und die faszination für ihre Eigenschaften.

NH: Gibt es so etwas wie einen Favoriten unter Ihren Briefmarken?

BB: Auch hier sind die Briefmarken genannt, an denen ich die meisten Spuren entdecken kann. Deshalb gehört die Marke von Heligoland zu den Favoriten, aber es gibt natürlich auch noch andere. Die, die die schönsten Geschichten erzählen.

NH: Ist es frustrierend, ein Sammelgebiet zu haben, was man praktisch nicht vollenden kann oder glauben Sie daran, dass Sie das schaffen?

BB: Es ist ähnlich meinem Strandprojekt. Ich bin ungefähr zwei Prozent meines Weges gekommen, aber die Erfahrung kann ich nutzen, um meinen eigenen Maßstab anzulegen, die Welt zu erkunden.

NH: Der Weg ist das Ziel?

BB: Genau.

NH: Herr Berge, ich bedanke mich für das Gespräch.

Das Interview ist redaktionsrechtlich geschützt und darf ohne Genehmigung weder kopiert, noch andersweitig vervielfältigt oder verwertet werden. Alle Rechte liegen bei dtv und findosbuecher.com.

Ich danke den Verlag und seinen freundlichen Mitarbeitern, den Übersetzer, ohne den das Interview nicht zustande gekommen wäre und nicht zuletzt Björn Berge für diese spannende halbe Stunde.

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Sy Montgomery: Rendezvous mit einem Oktopus

Rendezvous mit einem Oktopus Book Cover
Rendezvous mit einem Oktopus Sy Montgomery mare Verlag Erschienen am: 29.08.2017 Seiten: 336 ISBN: 978-3-86648-265-4 Übersetzerin: Heide Sommer

Inhalt: Er ist der heimliche Star der Meere: der Oktopus. Mit acht Armen und drei Herzen verfügt das Ausnahmetier über körperliche Superkräfte – vor allem aber ist es schlau.

Kraken können lernen, tricksen, spielen, und wenn sie etwas nicht können, ist es: Langeweile aushalten. Mit Witz, Sachkenntnis und Empathie erzählt Sy Montgomery von ihren Begegnungen mit diesen außergewöhnlichen Tieren und nimmt den Leser mit auf eine unvergessliche Reise. (Klappentext)

Rezension:

Abseits von den Tieren, die zum Orakel stilisiert werden, ist die erste Reaktion der meisten Menschen Unverständnis gegenüber den Weichtieren, die natürlich so ganz anders sind als wir. Ohne Wirbelsäule, ohne schützenden Panzer, eine klitschige Masse mit acht Armen, die jeder ein Eigenleben zu führen scheinen, drei Herzen und tatsächlich blauen Blut.

Und Tinte. Es sind hoch intelligente Tiere, die ihre Stimmung durch Farben signalisieren; wenn sie rot sind, sind sie sauer; und sich in jede noch so scheinbar unmögliche Öffnung quetschen können und doch, wissen wir so wenig über sie.

Die Autorin und Naturforscherin nimmt ihre Leser mit auf eine faszinierende Reise zu ebenso erstaunlichen, wie unergründlichen Geschöpfen. Durch Seefahrergeschichten von einst zu grausamen Ungeheuern geschriebenen Tieren entdeckt sie die wahre Seite eines faszinierenden Wesens.

Sie nähert sich den Tieren in Gefangenschaft und in der freien Natur, hilft mit bei der Feldforschung draußen, in der freien Natur und lässt sich, sprichwörtlich, fallen, in die Umarmung eines Oktopusses. Fakten- und kenntnisreich, unterstützt durch die Eindrücke und den Wissen vieler Experten auf den Gebiet der Mollusken, versucht Montgomery sich die Welt aus der Sicht ihrer achtarmigen Bewohner zu erschließen.

Neben der persönlichen Bekanntschaft mit den Kraken des New England Aquariums in Boston gewinnt sie interessante Einsichten in ein Leben, welches den meisten von uns verschlossen bleibt.

Ein besonderes Sachbuch, welches nicht ohne Grund in der deutschen Ausgabe bei mare zu finden ist. Nach dem erzählerischen Sachbuch „Die Polarfahrt“ von Hampton Sides, ist dies der nächste Knüller, der mich ebenso begeistern konnte.

Detailliert beschreibt die Autorin ihre Faszination, die Versuche der Annäherung an eine so weit entfernt entwickelte Spezies, vergisst jedoch nicht die fachliche Komponente, so dass all die Leser auf ihre Kosten kommen werden, die ihr Wissen mal auf einem ganz ungewöhnlichen Gebiet erweitern, dabei jedoch die literarische Komponente nicht zu kurz kommen lassen möchten.

Tatsächlich vergisst man von Zeile zu Zeile manchmal, dass es sich um ein Sachbuch, nur eben der anderen Art handelt.

Wenn man der Autorin etwas vorwerfen möchte, und das ist jetzt Jammern auf hohen Niveau und führt zu einer eher philosophischen Diskussion, die tatsächlich an anderer Stelle zu führen ist, ist es die Gefahr der Nähe zu den Tieren.

Nicht im Sinne, dass diese extrem gefährlich wären. Diese bedenken schafft Montgomery schnell beiseite. Aber diese starke manchmal doch zu vermenschlichte Beziehung, die sie zu einigen der Exemplare aufbaut, denen sie begegnet, könnten falsche Schlüsse folgen.

Wir sprechen hier immerhin von Wildtieren, auch wenn sie teilweise in Gefangenschaft, d.h. in Aquarien gehalten und studiert werden. Diese Art und Weise, auf die Kraken zu zugehen, macht jedoch nur einen kleinen Teil dieses detaillierten Sachbuches aus.

Hat ein Oktopus Gefühle? Wie löst dieses Tier ihm gestellte Aufgaben? Kann er planen und wofür stehen all die farben, die er zeigen, all die Formen, die er sich aufgrund körperlicher Veränderungen zu Eigen machen kann?

Wie viel Kraft kann ein Oktopus mit einem einzelnen Saugnapf aufwenden, und weshalb ist ein Bostoner Krake regelmäßig des Nachts ausgebrochen? Amüsante Geschichten und erstaunliche Fakten versammelt die Autorin mit dem Ziel, verstehen zu wollen. Und am Ende wird man nie wieder Tintenfischringe essen können. Das hat auch etwas.

Autorin:

Sy Montgomery wurde 1958 in Frankfurt/Main geboren und ist eine Naturforscherin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin. 1979 schloss sie ihr Studium an der Syracuse University in den Fächern Journalismus, Französisch und Literatur ab, sowie in Psychologie. Ihr wurden zwei Ehrendoktortitel verlieren.

Ihre Bücher, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene, wurden für verschiedene Preise nominiert, u,.a. den National Book Award im Bereich Sachbuch. Sie schreibt Drehbücher u.a. für National Geographic TV und beteiligt sich an wissenschaftlichen Studien und Expeditionen im Bereich der Naturforschung.

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Ernest van der Kwest: Die Eismacher

Die Eismacher Book Cover
Die Eismacher Autor: Ernest van der Kwest Rezensionsexemplar/Roman btb Verlag Taschenbuch Seiten: 384 ISBN: 978-3-442-71597-8

Inhalt:

Seit fünf Generationen haben sich die Talaminis der süßen Kunst des Eismachens verschrieben. Jedes Jahr im Frühling siedeln sie aus dem „Tal der Eismacher“ in den malerischen Dolomiten nach Rotterdam über.

In ihrem kleinen Eiscafe gibt es alles, was das Herz begehrt: zartschmelzendes Grappasorbet, sanftgrünes Pistazieneis, zimtfarbene Schokolade. Dennoch beschließt der ältere Sohn Giovanni, mit der Familientradition zu brechen, um sein Leben der Literatur zu widmen. Denn er liebt das Lesen so sehr wie das Eis. Bis eines Tages sein Bruder Luca ein höchst ungewöhnliches Anliegen hat… (Klappentext)

Rezension:

Ein Roman über zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Welt des Eismachens, handwerklich schwere Arbeit, wenn man das süße klebrige Etwas nicht maschinell, sondern per Hand herstellt.

Nach Rezepten, die man von Generation zu Generation weitergibt, irgendwann nur noch nach Gefühl befolgt und damit den Besuchern eines Eiscafes für ein paar Minuten eine kleine Freude bereitet, einerseits. Andererseits, die Welt der Poesie, der Lyrik, die Gefühle nicht in Aromen, aber in Worten auszudrücken vermag. Geschriebene Zeilen, denen man sich öffnen und sich darin fallen lassen muss.

Beide Welten sind die von Giovanni, der eines Tages mit der Tradition seiner Familie brechen muss, um sich einer konkret zu widmen, dabei alle enttäuscht. Seinen Bruder, der daher seine eigenen Träume zurückstellen muss, seine Eltern, die in ihm an sich den Nachfolger seines Großvaters und seines Vaters selbst sehen, seine Liebe zur Literatur nicht verstehen wollen und können und immer wieder darauf stoßen, wie sehr dieser Bruch einen Riss durch die Familie gezogen hat.

Ernest van der Kwast hat mit „Die Eismacher“ einen wahrhaft poetischen Roman geschrieben, in dem der Generationenkonflikt schon früh angelegt und herausgearbeitet wird. Sehr detailliert wird die handwerkliche Arbeit, die Geschichte des Eismachens dargestellt.

Hier merkt man die Recherchearbeit des Autoren, der sich zudem mit den Schwierigkeiten des familiären Zusammenhaltes befasst, wenn die Kinder etwa während der Eissaison ins Internat müssen, fernab des Eiscafes und damit von den Eltern getrennt, sowie den Riss, der sich durch die Familien zieht, sowie den Zwang, eine Arbeit aufzunehmen, die von Generation zu Generation vielleicht immer unattraktiver wird.

Perspektivwechsel zwischen den erwachsenen Ich der Protagonisten und Kindheitsrückblicken zeigen diese Differenz auf, schon in den ersten Zeilen spürt man den Gegensatz zwischen den beiden Brüdern, die auseinander streben, jedoch nicht ohneeinander können.

Doch genau da, spätestens ab etwa der Mitte des Handlungsverlaufes wird es unglaubwürdig. Die Bitte des Bruders, auf die im Klappentext so schön hingewiesen wird, ist im realen Leben kaum vorstellbar, der Umgang mit den Folgen, so sie auch positiv sind, einfach nur unverständlich und nicht nachvollziehbar.

Der Schreibstil ist klar. Jede Zeile lässt die Liebe des Autoren für das Kulinarische, das Eis, und das Seelische, die Literatur, erkennen, doch der Handlungsverlauf bremst den Spannungsbogen ab, die Auflösung der Geschichte stimmt nicht zufrieden.

Positiv ist, dass man viel erfährt über die Geschichte des Eismachens, über die Schwierigkeiten der Herstellung, die beim Eiscafe-Besuch kaum gewürdigt werden und der angelegte Konflikt. Unzufrieden macht die Auflösung und der Umgang der Protagonisten untereinander. Eine Geschichte mit Ecken und Kanten, gar nicht so rund wie eine Eiskugel. Welche Sorte auch immer.

Autor:

Ernest van der Kwast wurde 1981 in Bombay geboren, und ist ein niederländischer Autor und Journalist. Bevor er Schriftsteller wurde, erreichte er im Hochleistungssport, in der Disziplin Diskuswurf nationale Bedeutung. Er gab den Sport auf, studierte Wirtschaftswissenschaften, veröffentlichet später eine Sammlung von Erzählungen und einen Roman. Mit dem Aufschreiben seiner Familiengeschichte gelang ihn 2010 der Durchbruch.

Der Autor war Chefradakteur einer niederländischen Literaturzeitschrift, später Autor einer satirischen Kolumne in einer Internetausgabe des NRC Handelsblad. Zeitweise lebte er mit seiner Familie in Südtirol, derzeit jedoch wieder in Amsterdam.

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Paul Auster: Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch Book Cover
Das rote Notizbuch Paul Auster Rezensionsexemplar/Essays Rowohlt Hardcover Seiten: 108 ISBN: 978-3-498-07402-9

Inhalt:
Wie wirkt der Zufall auf unser Leben und was steckt hinter dieser seltsamen Macht? Diese Fragen durchziehen Austers gesamte Werke. In dieser Ausgabe versammelt der Autor all die Zufälle, die sein Leben prägten und in die entscheidende Richtung lenkten.

In einem roten Notizbuch hat Auster all die seltsamen und unergründlichen Ereignisse festgehalten, die man der schriftstellerischen Phantasie zuschreiben möchte, die sich jedoch tatsächlich zugetragen haben. Kntstanden ist eine Sammlung feinsinniger und kurzer Erzählung, erstmals vollständig versammelt. (Klappentext)

Rezension:
Es ist bezeichnend, wenn Autoren auf mehreren hundert Seiten großartige Geschichten lebendig werden lassen können, aber ebenso bewundernswert, wenn dies mit wenigen Zeilen gelingt. Paul Auster, einer der großen amerikanischen Gegenwartsliteraten, gelingt beides.

Sein Werk „4 3 2 1“ schlug dies- und jenseits des großen Teiches ein wie eine Bombe, ein vom Umfang her überschaubareres Werk wird es ebenso tun. Paul Auster veröffentlichte bereits in den 1990er Jahren Teile seines Notizbuches in der er all die Alltäglichkeiten, die Besonderheiten des Erlebten, die Zufälle schriftstellerisch festhielt, um diese zu ergründen. Nun liegt dieses kleine, dennoch nicht geringe Werk erstmals vollständig vor.

Feinsinnig erzählt Auster, wie sich seine Wege, die seiner Familie, mit anderen Menschen kreuzten, wie der Zufall bestimmte, wen der Autor zu seinen Freunden zählen würde, wen Auster aus den Augen verlieren und später wieder begegnen sollte.

Fasziniert vom Zufall und der Kunst vom Schicksal, welches das Leben bestimmt und dennoch immer wieder zu den Schriftsteller führt, der Auster ist. Bestseller-Autor, Romancier, Lyriker. Schreibkünstler, wie kaum ein Zweiter. Kurz und prägnant sind die Texte, niemals überladen, und keinesfalls überflüssig.

Sie öffnen den Zugang zum Schriftsteller. Der Leser wird eingesogen und ist versucht, selbst nach den Zufällen seines Lebens zu suchen, die Eckpunkte und Meilensteine zu bestimmen, die man aufgenommen oder beiseite gelassen hat, die das Leben in gute und weniger gute Abschnitte bisher geteilt haben.
Die Kraft des Zufalls ist faszinierend, gut und böse zugleich, doch immer Dreh- und Angelpunkt.

Der verbrannte Zwiebelkuchen, dessen Geschmack alles andere übertüncht, das Haus, in dem die Familie zeitweilig in der Nachbarschaft zu einem anderen weltberühmten Autoren gelebt hat, der reflexhafte Griff, der Leben rettet, dem Retter auf ewig im Bewusstsein eingebrannt, der Geretteten nur eine weitere sekundenlange Episode in ihrem Leben. Sie alle und noch viele mehr sind hier versammelt.

Kurzweilige unterhaltende Literatur, die zum Nachdenken anregt, wenn man das möchte. Ansonsten zählt nur Ersteres, was genügt, um die Texte Austers zu würdigen.

In flüssiger, niemals komplizierter Schreibweise, vom Ausdruck gar nicht zu reden, ist dieses nun vollständige Notizbuch zwar nicht mehr vom Cover her rot, jedoch ein Must-have für Liebhaber moderner amerikanischer Literatur, und auch sonst ein herausragendes Stück Textarbeit. Sehr lesenswert.

Autor:
Paul Auster wurde 1949 in Newark, New Jersey, geboren und ist ein US-amerikanischer Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University, arbeitete zunächst in Frankreich, später dann u.a. als Telefonist für die New York Times.

Weltbekannt wurde er durch seine New York-Trilogie, eine Reihe experimenteller Kriminalromane. Auster verfasste jedoch auch zahlreiche Essays und Gedichte, fertigte zudem Übersetzungen an. Im Jahr 2017 erschien sein Bestseller „4 3 2 1“.
Der Autor ist Verfasser mehrerer Drehbücher und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wie die Ehrendoktorwürde der Universität Kopenhagen und den NEA Fellowship für Poesie.

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Leipziger Buchmesse 2018 – Sonntag oder was von der Messe übrig blieb?

Eine Buchmesse ist anstrengend. Schön, aber kräftezehrend. Für mich sind die Gespräche mit Autoren und den Verlagsmitarbeitern ein Highlight und der Grund, warum ich die Messe besuche. Nicht wegen der Neuerscheinungen, über die ich mich auch so regelmäßig informiere oder informiert werde.

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Leipziger Buchmesse 2018 – Samstag

Das Wochenende, welches traditionell die besucherstärksten Tage für die Buchmesse darstellt, war vor allem geprägt durch Schnee, Eis und Glätte, die zusammen den Leipziger Hauptbahnhof stundenweise lahmlegten. Viele Besucher haben es erst gar nicht zur Messe geschafft, ich selbst habe von meinem Quartier, was jetzt auch nicht so weit vom Messegelände lag, etwas mehr als eine Stunde gebraucht. Wohl gemerkt, die Strecke nimmt bei normalen Witterungsverhältnissen nicht mehr als 30 Minuten in Anspruch. Ich habe es dann trotzdem noch pünktlich auf die Messe geschafft.

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Leipziger Buchmesse 2018 – Freitag

Wenn Buchmesse ist, versuche ich immer möglichst viel mitzunehmen. Nicht gerade Kugelschreiber und Notizblöcke, nach denen man eh seit mehreren Jahren explizit fragen muss, wenn man welche haben möchte, aber viele Lesungen, Diskussionen und Interviews möchte ich mir dann doch ganz gerne anschauen und so ging es am Freitag gleich früh am Morgen los, als am MDR Kultur Stand Rüdiger Frank über die Erlebnisse sprach, die zu seinem neuesten Werk „Unterwegs in Nordkorea„, führten, welches bei DVA erschien.

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Leipziger Buchmesse 2018 – Donnerstag

Die ersten beiden Messetage sind, zumindest in Leipzig, die entspanndesten. Allerhöchstens Fachbesucher und Schulklassen bevölkern die Messehallen, und wer sich von der Arbeit freinehmen konnte, ansonsten stößt das Gros der Besucher erst am Wochenende hinzu. Dem entsprechend waren die Hallen vergleichsweise leer und man konnte entspannt von Stand zu Stand gehen.

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Leipziger Buchmesse 2018 – Vor der Messe beim MDR – Die Studiotour

In Leipzig gab es an Wetterphänomenen zu Messezeiten schon alles. Strahlender Sonnenschein, Hitzewellen, Regen, aber einen Wintereinbruch hatten wir im März noch nie. Zumindest, soweit ich mich erinnern kann und so waren die Tage schon vor dem eigentlichen Messestart mehr als frostig. Trotzdem war ich natürlich dort, schließlich ist ein Besuch der Stadt ein Heimspiel für mich. Wohl dem, der dort Familie hat.

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Detlev Meyer: Das Sonnenkind

Das Sonnenkind Book Cover
Das Sonnenkind Detlev Meyer aufbau Verlag Erschienen am: 19.01.2018 Seiten: 232 ISBN: 978-3-351-03718-5

Inhalt:

Carsten ist fast zehn Jahre alt, ein wenig altklug und entdeckt die Welt mit seinen Kinderaugen. Das sind die Besuche des Cafe Kranzler mit Opa, das Spielen mit Freunden auf der Straße und die Eltern, die den kleinen wissbegierigen und manchmal alklugen Bengel, Herr werden müssen.

Doch, der Großvater erkrankt und versucht seine Umgebung davon abzuschirmen, der Junge indes macht seine ganz eigenen Erfahrungen mit der ihn meist wohlgesonnenen Umgebung, die dennoch ihre Tücken hat. Bühne frei für das Sonnenkind… (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Carsten, fast zehn Jahre alt, wächst im „richtigen“ Teil Berlins auf, als der Westen im Wohlstand des Wirtschaftswunders schwelgte, sich die Demokratie dadurch etablierte und überhaupt das Leben am schönsten ist. Warum auch nicht, wo doch der Junge von allen gemocht wird?

Die Großeltern dichten sich eine adlige Herkunft an, verwöhnen ihren Enkel nach Strich und Faden, der Vater hadert mit den Kriegserinnerungen, versucht nach vorne zu blicken, der Großvater hat eine Geliebte und der Bruder macht aus allem ein Geschäft. Und alle mögen den Sonnenschein, vom Truseweg aus Neukölln, welches noch nicht das Viertel von Einwanderen ist, welches es einmal werden wird. Das Leben ist schön.

Detlev Meyer erzählt aus der Kindheit seines alten Egos. Entstanden ist mit den „Sonnenkind“ ein wunderbares Straßenportrait liebenswerter Figuren, die Betrachtung einer quirligen, sich findenden Metropole in Kleinformat.

Der Leser erfährt die Welt aus der Sicht eines altklugen, wissbegierigen, aber vorwitzigen und liebenswerten Bengels, der es faustdick hinter den Ohren hat, damit aber ganz und gar nach der Familie kommt.

Alle Charaktere sind schrullig, neben der Spur und doch so, wie man die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Berliner darstellen würde, wäre dies gefordert. Passieren tut dabei nicht viel, es ist trotzdem amüsant zu lesen, wie der Kleine die Widersprüchlichkeit der Erwachsenenwelt begreift und für sich zu nutzen weiß.

So wird der grantige Hausmeister ebenso um den kleinen Finger gewickelt, wie der tödlichen Krankheit des Großvaters der Schrecken genommen und der Leser kann gar nicht ohne Schmunzeln, Lächeln, von Zeile zu Zeile springen, Wort für Wort in sich aufsaugen. Ein kleiner Großstadtroman, der es in sich hat.

Geschrieben aus wechselnder Ich-Perspektive der handelnden Protagonisten ist der Lesende nah dran an den Figuren, die man durchweg für voll nehmen kann. Genau so stellt man sich diese und jene Person vor, und eben nicht anders.

Der Schreib- und Erzählstil macht sie greifbar, den Großvater, der seinem geliebten Enkel die Krankheit zu erklären versucht, sich selbst aber ebenso erklären muss, den Vater, der versucht Frau und Söhnen Herr zu werden und die Kinder, die ob ihres Charakterzugs im gesamten Straßenzug berühmt und berüchtigt sind.

Autobiographische Züge hat der Roman, in dem der Autor auf vorangegangenes Geschriebenes und auf seine Kindheit Bezug nimmt und sich so selbst ein Denkmal gesetzt ha.

Es is dies, sein letztes großes Werk, in welchen Detlev Meyer sich seiner Kindheit bewusst wird, die schön und angenehm war, als die Welt noch fass- und beherrschbar war, der Mauerbau nicht drohte und überhaupt Politik keine Rolle spielte. Nicht für einen Zehnjährigen, dessen Interesse sich nur in den Grenzen seiner unmittelbaren Umgebung bewegt.

„Das Sonnenkind“, ist ein gefälliger Roman, dessen Wirkung man sich kaum entziehen können wird, der gute Laune, eben die eines Kindes, verbreitet und mit Gewinn gelesen werden kann. Vielleicht sollten wir uns alle irgendwann an unsere Kindheit, an die Sonnentage, erinnern? Es könnte sich lohnen.

Autor:

Detlev Meyer wurde 1948 in Berlin geboren und studierte zunächst Bibliotheks- und Informationswissenschaften, bevor er als Bibliothekar in Toronto und Entwicklungshelfer in Jamaika arbeitete.

Er erhielt mehrere Literaturstipendien und widmete sich in Gedichten und Prosatexten als einer der wenigen offen schwul lebenden Autoren der Szene, sowie der Bedrohung durch Aids und deren Folgen. Sein letzes Werk erschien postum 2001 (Das Sonnenkind), nachdem er 1999 starb.

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