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Min Wang: Die schöne Füchsin – Chinesische Geistergeschichten

Inhalt:
Geistergeschichten haben in China eine lange Erzähltradition. Sie berichten von merkwürdigen Ereignissen – v. a. von der Begegnung zwischen Geistern und Menschen. Dabei geht es zwar manchmal gruselig zu, oftmals auch heiter und nicht selten sogar pikant, denn zwischen den beiden Welten können sich hocherotische Beziehungen entwickeln – insbesondere wenn Fuchsgeister im Spiel sind.

Den Hintergrund der Geschichten bilden die alten Vorstellungen vom Schicksal der Seelen Verstorbener, ihrem Aufenthalt in der Unterwelt und ihrer Wiedergeburt. Bei der kurzweiligen Lektüre der Geistergeschichten erfährt man viel über den Volksglauben im alten China, von dem manche Elemente bis heute – etwa in Bestattungsritualen und der Ahnenverehrung – eine Rolle spielen. (Klappentext)

Rezension:
Geistergeschichten sind vorwiegend gruselig und düster, zumindest nach westlicher Erzähltration. In anderen Kulturkreisen sind sie durchaus breiter gefächert. Zwar verschmelzen auch in chinesischen Geschichten Ober- und Unterwelt miteinander, doch eröffnet sich in deren Texten eine ganz andere Bandbreite, von heiter bis hin zu pikant. Die Historiker und Germanisten Min Wang und Franz König haben zusammen mit dem Märchenexperten und Psychologen Felix Winter solche herausgesucht, die zusammen die Fülle chinesischer Erzählkunst aufzeigen und im vorliegenden Werk versammelt.

Immer wieder kehren in den kurzweiligen und kompakten Texten Themen wie das Verschmelzen von Ober- und Unterwelt auf, die Seelenwanderung und Wiedergeburt, an denen sich die Figuren reiben, vor allem wenn sich Geisterwesen und Menschen begegnen. Dann kommen die Geschichten, die allesamt ruhig und behutsam formuliert wirken, ins Rollen. Thematisch gleichen die ersten Texte unseren Fabeln, während im Verlauf diese immer chinesischer wirken. Fußnoten erklären dabei historische Zusammenhänge. Chinesische Kalligraphien runden die Gestaltung der Geschichtensammlung ab. Kulturelle Hintergründe werden am Schluss erläutert, den man vorziehen sollte, so man mit dieser Art von Erzählungen aus dem geografischen Raum noch nicht vertraut ist.

Und dann bleibt nur noch, die Geschichten auf sich wirken zu lassen und in Gedanken zu vergleichen. Wie wirken der Tod und seine Handlanger im Vergleich etwa zu den Äquivalenten der griechischen Mythologie oder in unseren Märchen? Welches Schicksal erwartet die Figuren, wenn sie die roten Linien ihrer Welten übertreten. Wie gehen die großen chinesischen Erzählenden mit Themen wie Tod und Trauer um, mit Liebe oder Sehnsucht?

Vergleichsweise ruhig, kaum einmal rasant erzielen die Texte ihre Wirkung mit nur wenigen Worten. Trotzdem sind sie so ausformuliert, dass man sich das alles vor dem inneren Auge vorstellen kann, wenn Orte sehr plastisch beschrieben werden, aber auch weil die verhandelten Themen universal sind. Alle werden in dieser Sammlung einen oder mehrere Erzählungen finden, zu denen sie Zugang haben werden, die fabelartigen Geschichten gar für jüngere Lesende geeignet, aber eben auch solche entdecken, die in die Erwachsenenwelt hineingreifen. Das macht unglaublich Spaß, vor allem, wenn man mit dieser Art von Erzählungen aus dieser Region noch nicht in Berührung gekommen ist.

Schon alleine, um den Horizont über den Tellerrand hinaus zu erweitern, ist es wert sich die chinesischen Geistergeschichten vorzunehmen, von denen die titelgebende „Die schöne Füchsin“ eine davon ist. Die ruhigen Formulierungen, das mystische wird dabei im Gedächtnis bleiben, gerade im Kontrast zu bereits bekannten. Das gilt ebenso in der Gegenüberstellung der Texte aus diesem Buch zueinander, die man hintereinanderweg lesen oder immer wieder einmal zur Hand nehmen kann. Vielleicht wirken sie dann sogar noch mehr.

Autoren:
Min Wang ist Germanist und emeritierter Professort der Nanking Universität.

Franz König ist Germanist und Historiker.

Felix Winter ist Psychologe, Erziehungswissenschaftler und Märchenexperte.

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Elisabeth König: Tobias – Der kleine König

Inhalt:
Nur wenige Stunden nach seiner Geburt wurde der kleine Tobias mit dem Hubschrauber in die Kinderklinik geflogen. Es sollte der erste von vielen Krankenhausaufenthalten in seinem Leben werden. Elisabeth König beschreibt in ihrem Buch authentisch und berührend das Leben ihres schwerbehinderten Sohnes Tobias, den man in der Klinik immer „der kleine König“ nannte.

Rezension:
Mit einer Mischung aus Biografie, Lebensbericht und Lebenshilfe hat die Religionspädagogin Elisabeth König dem kurzen Leben ihres Sohnes Tobias ein beeindruckendes und berührendes Denkmal gesetzt. Aus Erlebnisberichten, geschrieben aus dessen Sicht, ursprünglich nur für dessen Ärzte und Therapeuten gedacht, ist das mutmachende Zeugnis eines jungen Lebens entstanden, welches hier gebunden zwischen Buchdeckeln vorliegt.

Bis zur Geburt scheint noch alles in Ordnung, als im Kreissaal plötzlich Hektik ausbricht. Sauerstoffmangel macht dringendes Handeln notwendig, als Tobias das Licht der Welt erblickt und eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, die die junge Familie fortan auf die Probe stellen wird, aber auch zeigen, wie sehr diese Menschen zusammenschweißen können. Der Alltag wird von nun an zur steten Herausforderung, ob beim Hausbau oder der Organisation von Therapien und Krankenhausaufenthalten. Eine Auswahl dieser schildert die Autorin in ihrem Buch. Steter Halt und strukturgebend für die Familie und nicht zuletzt für sie selbst, der Glaube.

Hierbei wird das Lesen zur Herausforderung, wenn man selbst dieses Fundament nicht hat, aufgrund anderer Sozialisation. Beeindruckend ist es, wie die Königs daraus Kraft gezogen haben, um schier Unmenschliches zu ertragen und zu leisten. Das geht unter die Haut, lässt einem nicht unberührt, trotzdem fehlt etwas beim Lesen oder wird einem nicht so erreichen, wie andere, die dieses Glaubensfundament nicht haben. Für die jenigen sind diese Passagen zuweilen sehr anstrengend zu lesen, trotzdem sind andere Passagen um so nahegehender.

Was hat da Tobias nicht alles an Klinikaufenthalten und Untersuchungen, Therapien, auf sich nehmen müssen? Elisabeth König schildert ein Leben im permanten Ausnahme-, wenn dieser zum Normalzustand wird. Der Weg durch die medizinischen Instanzen, der andere schon auf geringeren Stufen zerbrechen lässt, die Auseinandersetzung mit Krankenkassen, aber auch der familiäre Zusammenhalt, der trotzdem nicht unberührt bleibt, sind harter Tobak ohne Atempause. Und das geht sehr nah.

Hoffnunggebend ist die Geschichte vom „kleinen König“ aber auch, was nicht zuletzt mit dem Schreibstil und der gewählten Perspektive transportiert wird, wenn die wenigen glücklichen besonderen Momente hochgehalten werden, die zeigen wie kostbar jeder einzelne davon ist. Dies schafft Elisabeth König, die mit der Überarbeitung der Texte, die ursprünglich nur für einen engeren Personenkreis gedacht waren, sicher selbst ihre Herausforderungen hatte, sprachlich auf den Punkt zu bringen.

Und hat damit ihren Sohn ein wunderbares Vermächtnis geschaffen.

Media:

BR Podcast / Buchschnittchen: Elisabeth König im Gespräch

Autorin:
Elisabeth König ist Religionspädagogin und in der Erzdiözese Freiburg als Gemeindereferentin tätig. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt sie im südlichen Oberschwaben.

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Johann-Günther König: Anschluss verpasst!

Inhalt:
„Wir bitten um Entschuldigung.“

Diese Durchsage bekommen Bahnreisende heutzutage viel zu oft zu hören. Verspätungen und Zugausfälle prägen mittlerweile das Alltagsgeschäft. Zuverlässigkeit ist längst kein Qualitätsmerkmal der Deutschen Bahn mehr. Die Gründe dafür sind vielfältig. Bislang hat stets der Straßen- und Luftverkehr verkehrspolitische Vorfahrt genossen. Nun ist es aber allerhöchste Eisenbahn, dem klimaschonenden Schienenverkehr oberste Priorität einzuräumen.

Doch wie ist es überhaupt zu dem Niedergang gekommen? Sind die Weichen mit den Gleissanierungen richtig gestellt? Führt der verordnete Wettbewerb die Bahn wirklich in die Zukunft?

Johann-Günther König beleuchtet Zusammenhänge und Hintergründe des akuten Desasters und welche Potenziale in der Deutschen Bahn schlummern. (Klappentext)

Rezension:
Ob im Nah- oder Fernverkehr, immer öfter liegen die Nerven blank. Fahrgäste, die vergeblich auf Züge warten oder durch sich aufsummierende Verspätungen Termine verpassen, in Züge ein steigen, die ebenso lawede sind wie die Bahnhöfe, die sie verlassen, sich mit immer kostenspieligeren Bauexperimenten konfrontiert sehen oder mit Streiks, den die mittlerweile auch entnervten Angestellten gegen das Management führen, welches selbst kaum Herr über schier undurchsichtige Unternehemsverflechtungen zu sein scheint. Dabei ist die Bahn eigentlich das Verkehrsmittel der Stunde und scheint in anderen Ländern durchaus zu funktionieren, auch wenn es hier und da Herausforderungen zu meistern gibt.

Der Autor Johann-Günther König hat sich auf Spurensuche zwischen den Bahngleisen begeben. Dabei entstanden ist ein informatives und gut recherchiertes Sachbuch, welches die Krise der Deutschen Bahn beleuchtet und zeigt, warum Aufgeben keine Option ist.

Jenseits von Satire- und Aufregerbüchern liegt mit „Anschluss verpasst!“ ein faktenreiches Sachbuch vor, welches die Geschichte und die Anfänge dessen, was wir heute als Krise eines großen Mischkonzerns betrachten dürfen, beleuchtet, der nicht nur den Spagat zwischen Nah- und Fernverkehr immer mehr schlecht als recht zu leisten versucht, sondern auch im Auslands- oder Logistikgeschäft mit seinen zahlreichen Verflechtungen stets die falschen Weichen zu stellen scheint, wenn die denn einmal funktionieren.

Sehr analytisch beleuchtet der Autor die Auswirkungen vergangener Bahnreformen und zeigt auf, welche Anteile daran, Akteure wie die Europäische Union, die Aufeinanderreihung verschiedener Verkehrsminister und eine Konzernstruktur hat, die, selbst wenn man ernsthaft Probleme angehen wollte, keine wirkliche Lösung zulässt. In kompakt gehaltenen Kapiteln werden Aspekte wie Bauprojekte oder der Deutschlandtakt analysiert, und die Schwachstellen aufgezeigt, die nicht nur die Passagiere mittlerweile auf den Zahnfleisch gehen lassen.

Ohne Polemik werden Fakten und Selbstdarstellungen der Bahn so genau unter die Lupe genommen, dass Kapitel, die sich eigentlich bequem für eine Bahnfahrt eignen, langsam und konzentriert zu Gemüte geführt werden müssen, aber auch, welche Punkte umgesetzt werden müssten, um die Bahn wieder auf die richtige Spur zu bringen.

Kenntnisreich ohne überflüssige Worte zeigt Johann-Günther König die Vielschichtigkeit dessen auf, an welchen Ecken und Enden es an Willen, Geld und Weitsicht fehlt und bei wem genau die Verantwortlichkeiten zu suchen sind, denn inzwischen sind einfach zu viele Akteure daran beteiligt. Nicht immer ist dies einfach zu lesen, doch macht die Lektüre vieles von dem verständlicher, was da passiert. Und diesen Schritt mitzufahren, ist ja schon einmal ein Anfang.

Autor:
Johann-Günther König wurde 1952 in Bremen geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Publizist. Nach der Schule studierte er Sozialpädagogik und arbeitete in der Kinderkulturforschung, währenddessen zugleich seine ersten literarischen Arbeiten erschienenn. Nach seiner Promotion wirkte er dann als Vertriebsmanagaer und Geschäftsführer für Unternehmen der Telekommunikation und Elektronik. Seit 1975 veröffentlicht er Prosa, Gedichte, literarische Reiseführer und Sachbücher, schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine.

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Murmel Clausen: Leming

Inhalt:
Sie ist nicht so leicht, diese Sache mit dem Leben als geradenoch-Teenager: Kolja, Verena und Reinhold treffen in einem Suizid-Forum im Internet aufeinander. Gemeinsam wollen sie, um dem Ganzen ein passend dramatisches Ende zu setzen, an den Plattensee, um in einen erloschenen Vulkan zu springen. Nur dass Kolja eigentlich mitfährt, um die anderen beiden von dem Vorhaben abzubringen. Doch können eine chaotische Reise in einem getunten Audi, ein toter Opa, eine wilde Partynacht am Balaton, eine Sonnenfinsternis und letztlich ihre Freundschaft Verena und Reinhold neuen Lebensmut schenken? (Klappentext)

Rezension:
Knallhart ehrlich und brutal im Umgang mit seinen Protagonisten ist das vorliegende Jugendbuch „Leming“, von Schriftsteller und Drehbuchautor Murmel Clausen, der sich behutsam einer Thematik widmet, die schon eine Altersgruppe weiter schwierig zu händeln ist. Doch liest sich diese kleine, aber feine kompakte Erzählung über Suizidalität erstaunlich leichtgängig und kann damit einen Anker für junge Menschen schaffen, einen Anknüpfungspunkt für Gespräche zu finden.

Ein solcher Anker im Buch ist Kolja, Hauptprotagonist des Romans, der sich vor allem von seinem Vater unverstanden fühlt, ansonsten jedoch seine Rolle bereits zu Beginn der Geschichte gefunden hat. Er ist die gute Seele eines düsteren Forums, in dem sich Menschen über suizidale Gedanken austauschen, redet auf dessen Mitglieder ein und versucht sie so von manch einem angestrebten allerletzten Schritt abzuhalten.

Fein ausgearbeitet erfahren wir nach und nach mehr über sein Leben un dessen Sicht, aus der wir der Erzählung begegnen. Wir begleiten ihn auf einen Roadtrip Richtung Ungarn, in dem er versuchen wird, zwei Mitglieder des Forums, denen er sich nahe fühlt, unter Vorgabe, dass er ebenfalls einen Schlusspunkt ans Leben setzen wolle, von eben diesem abzuhalten. Doch ist dies überhaupt eine händelbare Aufgabe für einen Jugendlichen oder nicht doch mehrere Nummern zu groß?

Diese Frage schwingt über die gesamte Erzählung immer mit, die von der Dynamik des Hauptprotagonisten im Zusammenspiel mit zwei weiteren Nebenfiguren lebt, die nach und nach an Ecken und Kanten gewinnen. Sie alle sind nachvollziehbar gezeichnet, wankend in ihren Gefühlswelten, ebenso ist der Abstand vom Alter der Protagonisten glaubwürdig in ihren Charakteren dargestellt.

Reinhold als Ältester wirkt abgeklärt und in seinem Willen klar, während Kolja als Jüngster in seinen Gedankengängen schwankend und zuweilen unsicher dargestellt wird. Das macht die Figuren fassbar, auch wenn der Autor nur wenige Seiten braucht, um um sie herum eine sehr einnehmende Sogwirkung zu entfalten. Tatsächlich lässt sich dieser kleine Roman flüssig lesen. Die ernste thematik wird dabei immer wieder unterbrochen von Stellen mit Leichtigkeit und durchaus feinsinnigen Humor. Dadurch ist die Geschichte nicht nur für die Zielgruppe, sondern auch darüber hinaus lesbar.

In die Figuren kann man sich gut hineinversetzen. Der Hauptprotagonist ist hier Taktgeber und guter Beobachter. Zwar ahnt man durchaus schnell, wie die Erzählung ausgehen wird, doch liegt das am Genre und der Zielgebung des Autoren selbst, der ein eigenes Erlebnis zum Schreibanlass genommen hat. Am Ende des Buches stehen dann auch Hinweise und Links in Form von QR-Codes zur Telefonseelsorge als Zeichen, dass man mit seinen Sorgen nicht allein sein muss und es durchaus Hilfsangebote da draußen gibt. So ist dieses Buch Gesprächsangebot und Denkanstoß zugleich, auch wohl sehr gut in Schulen als Diskussionsanstoß denkbar.

Das liegt an der Ausgestaltung und Nahbarkeit der Protagonisten, ebenso am filmischen Schreibstil, der die wenigen Handlungsorte sehr plastisch vor Augen führt. Irgendwie passend, dass der Autor die Schein- und Trostlosigkeit des Balatons genommen und zumindest bei mir einen sehr ermüdenden Balaton-Urlaub in Erinnerung gerufen hat. Hier gibt das einmal Pluspunkte. Jedenfalls kann man sich das alles gut vorstellen. Murmel Clausen spielt da seine Profession als Drehbuchautor sehr in die Hände. Auch hat er damit unglaubwürdige Wendungen und Sprünge vermieden, wenn man einmal von der Vorhersehbarkeit absieht, die in diesem Genre fast gegeben zu sein scheint. Trotzdem fühlt sich „Leming“ in etwa so an, wie ein „Tschick“. Nur eben düsterer.

Dieses Buch hat das Zeug zur Schullektüre, spricht vor allem Jugendliche an, kann aber dennoch darüber hinaus gut gelesen werden, ohne großartig Abstriche machen zu müssen. Es ist Murmel Clausens Aufforderung über ein gesellschaftliches Tabu ins Gespräch zu kommen, was nur selten aufs Tableau gebracht wird, wenn überhaupt, dann, wenn es bereits zu spät ist. Die Ausgewogenheit zwischen der Schwere der Hauptthematik und die Leichtigkeit eingestreuter, auch fröhlicher Momente, macht die Erzählung dem zugänglich.

Man darf sich mehr solche kleinen aufs Wesentliche konzentrierte Geschichten wünschen, die vor allem ihre Zielgruppe ernst nehmen. Es wäre für uns alle ein Gewinn.

Anmerkung: Bei der Altersempfehlung würde ich ab 12/13 Jahren ansetzen.

Autor:
Claus-Henric „Murmel“ Clausen wurde 1973 in München geboren und ist ein deutscher Drehbuch- und Romanautor. Zunächst arbeitete für das Radio, nevor er gemeinsam mit Michael Herbig, Rick Kavanian und Christian Tramitz Drehbücher für verschiedene Fernsehshows zu schreiben begann. 2012 erschien sein erster Roman, dem weitere folgten, sowie Drehbücher zu mehreren Tatorten. Für seinen Roman „Leming“ wurde er 2024 mit dem Kinder- und Jugendbuchpreis „Luchs“ von Radio Bremen und der Zeitung „Die Zeit“ ausgezeichnet.

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Michelle Müller-Nagy: Hinter deinem Schatten

Inhalt:
Michelle ist fünfzehn und psychisch krank. Als sie sich bei einem renommierten Filmprojekt bewirbt, das labile Menschen porträtiert, trifft sie auf den verheirateten Alexander. Der gute Ruf des sozial engagierten Unternehmens trügt: Bald beginnt der Regisseur Grenzen zu übertreten und missbraucht Michelle auf subtile Weise über Jahre hinweg.

Die Jugendliche verfällt immer mehr in eine totale emotionale Abhängigkeit dem wesentlich älteren Mann gegenüber. Sie gerät in einen nicht enden wollenden Kreislauf aus Selbstzerstörung, um ihren Schmerz und die Einsamkeit zu betäuben, die Alexander in ihr hinterlässt.

Sie sieht nur noch einen letzten Ausweg, ihrer Abhängigkeit ein Ende zu setzen: Den eigenen Tod.
(Klappentext)

Rezension:
Wie viel Schmerz, wie viel Leid kann eigentlich ein Mensch tragen, ohne daran zu zerbrechen? Wie viel Mut braucht es, sich selbst zu erkennen, Hilfe anzunehmen, um mit Rückschlägen, die es, je heftiger das Erlebte, das Krankheitsbild ist, zwangsläufig gibt, umzugehen? Niemand weiß das besser als Michelle Müller-Nagy, deren Weg schon in jungen Jahren einem Pfad voller Scherben gleicht, auf dem sie mehrfach fällt und trotzdem weitergeht. Darüber erzählt sie in ihrem bedrückenden und doch irgendwie mutmachenden Buch „Hinter meinem Schatten“, erschienen bei Pinguletta.

In einer Mischung aus Biografie und Verarbeitungsbericht schildert die Autorin entscheidende Jahre ihres Leidenwegs in die emotionale Abhängigkeit. Falsche Vertrauenspersonen, Therapeuten ohne Verständnis für den Ballast eines jungen Menschen und ein steiniger Weg zur Selbsterkenntnis, kennzeichnen spätestens ihr Leben seit ihrem fünfzehnten Geburtstag. Ungeschönt erzählt sie davon, von ihren Kampf um einen Platz, den sie lange vergeblich versucht zu finden, der sie mehrfach in den Abgrund stürzen lässt. Hineingesogen wird man beim Lesen in eine Lebensgeschichte voller erdrückender Momente, die in rasend schneller Taktung aufeinander folgen. Atempausen hatte die Autorin kaum. Lichtblicke zerplatzten ihr so schnell wie Seifenblasen.

Diese Geschichte geht unangenehm unter die Haut. Liest man einen Abschnitt, mag man sich kaum vorstellen, was als nächstes passieren wird. Man leidet mit, wenn wieder ein Chatverlauf, wieder ein Aufeinandertreffen neue Wunden schafft und erkennt, wie verkettet und übergreifend psychische und körperliche Krankheitsbilder sind und auf Müller-Nagy eingewirkt haben müssen, ihr die Luft zum Atmen genommen haben. Wer sich darin auch nur punktuell wiedererkennt, dem zeigt die Autorin, dass kleinste Strohhalme reichen, sich daran zu klammern und sich immer wieder am Leben zu halten. Auch jeden anderen muss die Lektüre unbedingten Respekt abnötigen.

Immer wieder innehalten muss man, um selbst den Kopf freizubekommen. Zu unfassbar ist das, was die Autorin da schildert, die ungeschönt kritisch mit sich selbst umgeht und uns ihr Innerestes offenbahrt. Wut kommt dabei hoch. Warum hast du nicht gleich gesehen, was dich kaputt macht, aber noch viel mehr, warum habt ihr da draußen nicht gesehen, wie jemand kaputtgeht? Die Autorin hält sich selbst und vor allem allen anderen den Spiegel vor und gibt damit Einblick in eine Welt, die man kaum begreifen kann, steht man außen. Und wird damit zur wichtigen Stimme derer, die in unserer lauten tosenden Welt fast nicht zu hören sind. Mit Krankheitsbildern, für deren Gewalt kaum Worte zu finden sind.

Dieser Erfahrungsbericht ist so viel Michelle Müller-Nagy, deren offener Umgang mit ihren Erfahrungen nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, wie auch Pinguletta, dessen Verlagsprogramm wie kaum eines sonst Menschen ins Blickfeld rücken lässt, die sonst keine Bühne haben. Auf Augenhöhe. Die Autorin nimmt sich dafür Zeit, ihren Blickwinkel zu erörtern, dass eine Fortsetzung dieses Buch ergänzen muss, die sich direkt daran anschließt. Schon mit den ersten Seiten wird die Aufteilung auf zwei Bücher verständlich. Alleine diesen ersten Teil niederzuschreiben, muss ein unglaublicher Kraftakt gewesen sein.

Bitte mehr dieser grundehrlichen Lektüre und bitte mehr Sichtbarkeit solcher Menschen.

Autorin:
Michelle Müller-Nagy wurde 1995 in Erfurt geboren und leidet seit der Pubertät an Depressionen, selbstverletzenden Verhalten und Suzidalität. Ohre Erfahrungen zwischen behandlungen und Therapien, in den Bereichen Sucht, Borderline, emotionaler Abhängigkeit und Trauma verarbeitet sie auf einem eigenen Instagramkanal @talkingboutshadows. Sie ist Autorin mehrerer Kinderbücher und Gesellschaftsspiele.

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Michael Sommer: Mordsache Caesar

Inhalt:
Rom hält den Atem an: Während der Senatssitzung am 15. März 44 v. Chr. ist Gaius Julius Caesar unter den Dolchen der Verschwörer gefallen – tödlich verwundet durch mindestens 23 Stiche. Wie konnte es so weit kommen? Wer waren die Täter? Welche Motive trieben sie an? Als historischer Ermittler untersucht Michael Sommer den berühmtesten Mordfall der Weltgeschichte und präsentiert seine Ergebnisse – eine packende Geschichte, die sich wie ein Kriminalroman auf den unvermeidlichen Höhepunkt hin zuspitzt. (Klappentext)

Rezension:
Noch immer vermag das alte antike Rom zu faszinieren. Von Anbeginn seiner Gründungslegende über das Königstum hinaus, bis zu dessen Sturz, dem nachfolgend der Bildung der Republik und des Kaisertums, ranken sich zahlreiche Geschichten um die Menschen, die die Geschicke dessen bestimmten, was später einmal das Römische Reich genannt werden sollte.

Einem Wendepunkt in dessen Geschichte nimmt sich nun der Althistoriker Michael Sommer an und erzählt, wie einige Männer aus verschiedenen Gründen versuchten, die letzten Reste der Republik durch einen Mord versuchten zu retten. Was waren ihre Gründe? Wie planten sie? Welche Ziele hatten die Verschwörer gegen denen, der sich zuvor zum Diktator auf Lebenszeit ausrufen lassen hatte? Gaius Julius Caesar.

Der Verlauf des Ereignisses ist von seinem Höhepunkt her bekannt. Auch der berühmte Ausspruch, den man Caesar mitsamt seiner letzten Atemzüge bis heute in den Mund legt, sind längst geflügelte Worte, doch wie kam es eigentlich zu diesem Komplott, welches die unterschiedlichsten Männer zusammenbrachte und in einem Ziel vereinte? Was folgte daraus?

Der Autor spinnt den Boden und erzählt kurzweilig von einem der spannendsten Momente der antiken Geschichte. Von der Gründungslegende an, werden die Biografien der einzelnen Verschwörer durchleuchtet. Wer hatte welche Gründe? Wo waren Wendepunkte`Wer wurde wann und wie, warum in den Kreis der Verschwörer mit welcher Rolle einbezogen?

Michael Sommer zeigt detailliert ein sehr differenziertes Bild aus politischen wie moralischen Beweggründen, die die Täter leiteten, die dennoch ihre Position und Befähigung, überhaupt erst in diese Rolle zu kommen, dem Diktator selbst verdankten. Der Autor legt aber auch dar, weshalb sich ein Julius Caesar als Produkt seiner Zeit überhaupt etablieren konnte und weshalb zwar der Tyrann am Ende beseitigt gewesen ist, aber dennoch die vorherhigen Verhältnisse nicht wieder hergestellt werden konnten.

Eine intensive Auseinandersetzung mit der historischen Quellenlage, die kritisch betrachtet werden muss, stammt doch das Wenige, was wir wissen, von den Verschwören selbst oder von Personen, die nicht unmittelbar am Geschehen beteiligt waren, ist Grundlage der Recherchen, welches das Gerüst für dieses hochspannend zu lesende Sachbuch bilden, welches dem Anspruch gerecht wird, sowohl Laien einen Überblick und Zugang zum historischen Ereignis zu bieten, als auch neueste Erkenntnisse historisch gerecht einzuordnen.

Jedes Kapitel, welches nochmal mehrfach untergliedert ist, widmet sich einem der Verschwörer. Überschneidungen sind da zwangsläufig gegeben, welche ein konzentriertes Beschäftigen und Innehalten verlangen, zudem die Namensähnlichkeiten der Personen zueinander eine Herausforderung darstellen können.

Aufgelockert durch wenige Abbildungen, etwa historischer Münzen und einer Karte im Innenteil, welche das Römische Reich in seiner Ausdehnung zurzeit Julius Caesars zeigt, kann man die Lektüre nur mit Gewinn lesen, zudem die Überlegungen des Historikers nachvollziehen, der diese abgesetzt vom eigentlichen Text immer wieder einstreut.

Auch die Nachbetrachtung wird nicht vergessen. So gelingt eine Einordnung im geschichtlichen Verlauf. Was folgte auf Caesars Ermordung? Haben die Verschwörer ihre Ziele erreicht? Wer waren die tatsächlichen Sieger? Sie selbst oder gar am Ende lachende Dritte? Auch das wird erzählt, wenn auch Michael Sommer seinen Fokus nicht verliert. Und man selbst eintauchend in die Geschichte diese Tage und Wochen, die dem vorausgegangen sind, nachfühlen kann. Auch dafür braucht es solche Bücher, die Geschichte gleichsam wie einen Krimi erzählen können.

Das ist hier wunderbar gelungen.

Autor:
Michael Sommer wurde 1970 in Bremen geboren und ist ein deutscher Althistoriker. Er studierte zunächst u. a. Geschichte, Klassische Philologie, Alte Geschichte und Politikwissenschaft in Freiburg am Breisgau, bevor er im dortiken Orientalischen Seminar Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter wurde.

Nach Stationen in Oxford, habilitierte er und war in Liverpool als auch in Freiburg tätig, bevor er eine Professur für alte Geschichte in Oldenburg annahm. Seine Themen sind u. a. die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der römischen Kaiserzeit, sowie die verschiedenen antiken Kulturen. Neben Gastbeiträgen im Magazin Cicero veröffentlicht Sommer in verschiedenen Fachzeitschriften, sowie in mehreren Büchern zur antiken Geschichte.

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Peter Theiner: Carl Goerdeler – Ein deutscher Bürger gegen Hitler

Inhalt:
Carl Goerdeler (1884-1945) ist bekannt als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Die nun vorliegende Biografie zeichnet den Weg dieses mutigen Bürgers nach, der nach einer erfolgreichen Karriere in der Kommunalpolitik als entschiedener Gegner des Regimes auftrat und im Februar 1945 hingerichtet wurde. (Klappentext)

Rezension:
Nichts sprach dafür, dass der konservative Verwaltungsjurist und Kommunalpolitiker Carl Friedrich Goerdeler zum Widerstandskämpfer berufen war und doch geschah eben dies. Um ihn, den ehemaligen Oberbürgermeister der Messestadt Leipzig, dessen Karriere in den Verwaltungen von Solingen und Königsberg ihren Anlauf nahm, bildete sich ein Netzwerk des Widerstands, welches Menschen unterschiedlicher politischer Richtungen verband, bis er noch vor dem 20. Juli 1944 zur Fahndung ausgeschrieben, später denuziert und hingerichtet wurde.

Der Historiker Peter Theiner hat nun die Lebensgeschichte dieses Mannes aufgearbeitet, der früh die Fehler des NS-Regimes erkannt und Überlegungen zur Gestaltung eines vereinten Europas angestellt hat, welche erst viel später verwirklicht werden sollten.

Was Sophie Scholl oder Georg Elser für München und Claus Schenk Graf von Stauffenberg für Berlin bedeuten, ist für Leipzigs geschichtlicher DNA Carl Friedrich Goerdeler, dessen Leben von Posen nach Solingen und Königsberg in die schon damals posierende Messestadt führen sollte.

Überall dort reformierte er unter den Eindrücken des ersten Weltkrieges und den turbulenten Jahren der Weimarer Republik kommunale Strukturen, was ihn, zunächst parteilos, später Mitglied der DNVP Respekt über die Grenzen aller politischer Lager einbrachte und dazu führte, dass selbst kurz vor seiner Hinrichtung Himmlers Schergen ihn die Ausarbeitung letzter Grundsatzpapiere abrang, um aus seiner Expertise zu schöpfen.

Doch, wie wurde der Theoretiker zu einem der Dreh- und angelpunkte des Widerstands und weshalb scheiterte einer, der stets bemüht war, das Große und Ganze zu sehen? Diesen und damit zusammenhängenden Fragen geht der Autor in der von ihm vorgelegten umfassenden Biografie nach. Ausführliche Rechercheleistung vorangehend, zeigt Peter Theiner den Weg Goerdelers von seiner Kindheit bis hin zu seinem Ende in Plötzensee auf. Kleinteilig und detailliert schildert er Stationen und Wegpunkte, ohne dabei die Sichtweisen derer außer Acht zu lassen, mit denen Goerdeler im Laufe seines Lebens in Kontakt kam.

Anhand seiner zahlreichen Überlegungen, die er in unterschiedlichste Denkschriften hat einfließen lassen, Tagebuchaufzeichnungen und den Protokollen seiner Gegner entsteht nach und nach das Portrait eines vielschichten Mannes, dessen politischen Wandel man an einzelnen Stationen festmachen kann, wie auch der Wertekanon in turbolenten Zeiten, der trotz der Sperrigkeit Goederles selbst doch genügen sollte, um selbst dünne Fäden des Widerstands in Bewegung zu halten.

Der Text ist dabei gespickt von zahlreichen Details, nicht unbedingt leicht zu lesen, doch ist ja nichts spannender als das wahre Leben und das Goerdelers liest sich wie ein Krimi, der unweigerlich auf die Katatstrophe zusteuert. Dass Goerdeler diese Weitsicht durchaus besaß, zeigt der Autor anhand von zahlreichen Beispielen, aber auch, dass dieser bis zuletzt daran glaubte, an Stellschrauben drehen zu können, die ihm da schon längst entglitten waren.

Wie er selber ein klar denkender, rechtlich urteilender, gradlinig wollender Mensch war, der wenig oder nichts an Dunklem, Unerlöstem, Hintergründigem in sich trug, so nahm er auch von seinen Mitmenschen an, dass, so weit nicht Selbstsucht oder böser Wille im Wege stehe, auch bei ihnen es nur der verständigen Aufklärung und der wohlmeinenden sittlichen Belehrung bedürfe, um sie von etwaigen Irrtümern zurückzubringen und auf den rechten Weg zu führen. […] Wie er selbst ein durch und durch undämonischer Mensch war, so wusste er auch nicht um das Dämonische. Und das hatte eine verhängnisvolle Wirkung: in seinem politischen Kalkül fehlten diese wichtigen Posten.

Peter Theiner: Carl Goerdeler – Ein deutscher Bürger gegen Hitler

So wird in der Biografie sehr ausführlich dargestellt, welche Überlegungen von Staatsverständnis bis hin zum europäischen Denken ihn leiteten, wie sie entstanden und wie sich Deutschland in dieses Gebilde einfügen sollte. Zuweilen wirkt dies sehr theoretisch, zumal in der Konfrontation mit Goerdelers Gesprächspartnern von England über Frankreich bis nach Amerika. Niemand, den er warnte, wollte ihn glauben.

Der Autor zeichnet anschließend weiter das Dilemma eines Widerstands auf, der aufgrund mangelnder Ressourcen und unglücklicher Fügungen nicht mehr als ein Achtungszeichen in die Welt senden konnte. Das liegt, so wird hier aufgezeigt, an der zeit selbst, als auch an Ereignissen, die über die Protagonisten hinwegrollten, aber auch an Personen, die sich selbst im Weg standen.

Goerdeler bildet da keine Ausnahme und doch ist er eine der herausstechenden Personen, die zumindest versucht haben, dem Widerstand eine Form zu geben, dessen Strahlkraft bis ins Heute wirkt. Der Anhang zeigt das umfassende Recherchematerial, welches verschriftlich aufgelockert wird, mit wenigen Bildern, immer wieder durchsetzt mit zahlreichen Zitaten und Auszügen aus Texten Goerdelers und seiner Diskutanten ein wichtiges Dokument gegen das Vergessen darstellt.

Neben den zivilen und den, weniger Militärs, zeigt Peter Theiner mit seinem Werk nun einen kleinen, aber wichtigen Teil des politischen Widerstands auf, den es eben auch gab.

Nicht nur deshalb ist diese Biografie zu empfehlen.

Autor:
Peter Theiner wurde 1951 in Haan geboren und ist ein deutscher Historiker und Stiftungsmanager. Nach Schule und Wehrdienst studierte er Geschichte, Romanistik, Philosophie, Soziologie und Erziehungswissenschaften in Düsseldorf und Dijon, mit Station in Paris, wonach eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent und seine Promotion folgten.

Danach war er in der Weiterbildung und Personalentwicklung tätig, sowie Leiter des Bereichs Völkerverständigung der Robert Bosch Stiftung. An der Universität Stuttgart war er Lehrbauftragter am Historischen Institut. Theiner verfasste mehrere Schriften, u. a. eine vielbeachtete Biografie über Robert Bosch.

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Sasha Filipenko: Der Schatten einer offenen Tür

Inhalt:
Die gottverlassene Provinzstadt Ostrog wird von einer Suizidserie von Jugendlichen im Waisenhaus erschüttert. Kommissar Alexander Koslow aus Moskau soll die Ermittlungen in die Hand nehmen, doch die örtliche Polizei hat ihre eigenen Theorien. Als Petja, ein Sonderling mit einem Herzen für die Natur, verhaftet wird, glaubt Koslow nicht an dessen Schuld. Aber warum geriet Pietja damals derart außer sich, als der Bürgermeister von Ostrog den Heimkindern einen Griechenland-Urlaub spendieren wollte? Ein philosophischer Kriminalroman aus Russland, inspiriert von einer wahren Geschichte. (Klappentext)

Rezension:
Wenn Sasha Filipenko schreibt, werden große Themen aufgemacht und so erzählt er unter der Schicht einer spannenden Ermittlergeschichte in „Der Schatten einer offenen Tür“ von Korruption und Willkür, sowie der Perspektivlosigkeit der russischen Provinz, die brutal auf das Leben der Menschen dort einwirkt. Der Roman, der von der Struktur einem schwermütigen Choral gleicht, lässt sich dabei erstaunlich leichtgängig lesen, nur um einem dann mit der Vielschichtigkeit seiner Protagonisten zu konfrontieren.

Eine Suizidserie erschreckt die russische Provinzstadt, in der es wenig gibt, um die Tristesse zu überdecken. Vor allem für die Heimkinder dort scheint es keine Zukunft zu geben, doch zieht der dicht aufeinanderfolgende Freitod der Jugendlichen die Aufmerksamkeit der Medien des Landes auf sich, so weit, dass sich Moskau zum Eingreifen gezwungen sieht.

Der Ermittler Alexander Koslow wird nach Ostrog geschickt, um mit seinem Assistenten die hießige Polizei zu unterstützen, was dort nicht auf Gegenliebe stößt, denn er war schon einmal dort. Koslow weiß, wer dabei ist, Staub aufzuwirbeln wird nicht gerne gesehen, zudem auch er mit privaten Problemen zu kämpfen hat, die seinen Spürsinn zu unterminieren drohen.

So viel zum rasant geschriebenen Roman, der wieder einmal typisch für Filipenko einen ganz eigenen Erzählstil aufweist. Aus der Sicht von Koslow erschließen wir uns das Örtchen und ihre Bewohner, ein Spiegel der untersten Schichten der russischen Gesellschaft, die bereits von Geburt an für das Leben gezeichnet ist. Die Darstellung des Kontrastes gelingt dabei alleine durch die Darstellung des Ermittelnden aus der glänzenden Metropole, der jedoch selbst nicht ganz unkompliziert ist, andererseits die der Figuren, die das Städtchen bevölkern. Alle hier, so wird schnell klar, haben ihr Päckchen zu tragen. Diese Zeichnung gelingt dem Autor mit wenig Worten.

Erzählt wird die Geschichte, die einen Handlungszeitraum von nur wenigen Tagen in einer dichten Abfolge kompakter Kapitel. Nicht einmal die Hauptfigur selbst gelingt es dabei über die gesamte Strecke alle Sympathien auf sich zu vereinen. Bis zum Ende spielt der Autor mit allen Schattierungen. Der Protagonist ist wehleidig, versingt in Selbstmitleid. Charaktereigenschaften, die einer durchgehenden und gezielten Ermittlung abträglich sind. Gut gezeichnet ist die sensationsheischende Journalie, die abwartend in der Bar der Stadt, offenbar die einzige Attraktion der Stadt, Langeweile in Wodka ertränkt.

Neben Koslow ist vor allem die Darstellung von Petja hervorzuheben, der von Geburt an rein von seinen Charakterzügen aneckt und auch als Erwachsener sich nicht in ein System pressen lässt. Wie geht eine autoritäre Gesellschaft, wie die russische, mit solchen Menschen um, eine der Fragen, deren brutale Beantwortung Filipenko nicht lange schuldig bleibt. Später verbinden sich diese beiden Handlungsstränge, vor einer trostlosen Kulisse, die beinahe filmisch beschrieben wird. Dieses Zusammenspiel ist eine Stärke Filipenkos, wegen der man diese Geschichte gerne lesen wird.

Allerdings darf man dabei nicht von vornherein in melancholischer Stimmung sein. Die bekommt man Zeile für Zeile serviert, allerdings ohne, dass es ins kitischige Fahrwasser gerät. Wenn man von einer oder zwei Szenen absieht. Der Perspektivwechsel zwischen Koslow und Petja tut der Erzählung dabei gut. Unterbrochen durch Protokolle, mit deren Hilfe die Ermittelnden versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. Einige Punkte bleiben dabei offen, müssen die Lesenden selbst denken.

Wer halb offene Enden mag, wird damit auch zufrieden aus der Gesichte hinausgehen, zudem gewisse Themen auch nur teilweise angedeutet werden. Diesen Stil muss man mögen. Filipenko beherrscht jedoch die Balance, von dem, was unerwähnt bleiben kann, was ausgesprochen werden muss. Kein Wort ist hier zu viel oder zu wenig. In seinem Roman erzählt der Autor von Willkür und Korruption, Gewalt seelischer und physischer Natur und einen Aspekt der russischen Gesellschaft, der traumatisiert. Diese Mischung macht den Roman zu etwas sehr Besonderen.

Erwähnen muss man auch unbedingt die Übersetzungskunst Ruth Altenhofers, die hier sicher ihren Gutteil dazu beigetragen hat.

Der in vierunzwanzig „Gesängen“ erzählte Roman zeigt wieder einmal, dass Filipenko unabhängig von der gewählten Tonalität ein großartiger Erzähler ist, der das Niveau seiner Geschichten halten kann. Nicht nur deshalb ist „Der Schatten einer offenen Tür“ lesenswert.

Autor:
Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. Er wurde in über 15 Sprachen übersetzt und studierte nach der Schule zunächst an der Europäischen Humanistischen Universität Minsk und ging anschließend 2004 nach St. Petersburg. Dort schloss er das Studium der Literatur ab und arbeitete für verschiednee unabhängige russische Fernsehsender.

In Belarus ist sein Werk teilweise verboten, zudem er in Opposition zum herrschenden Machtapperat um Lukaschenka steht, sich mit den in seinem Geburtsland stattfindenden Protesten 2020-2021 solidarisierte. Mit seiner Familie lebt er inzwischen im Schweizer Exil. Filipenko schreibt seine Texte weiterhin auf Russisch.

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Florianne Koechlin: verwoben & verflochten

Inhalt:
Meine Streifzüge durch wissenschaftliches Neuland, meine Besuche und Gespräche mit Forscherinnen, Bauern und anderen Experten zeigten Mal für Mal: Eine andere, vielfältigere Landwirtschaft ist machbar. Und mich begeistert immer von neuem, wie sehr alles Leben „verwoben & verflochten“ ist, in einem Ausmaß, wie wir uns das noch vor wenigen Jahren nie hätten erträumen können, und wie sich dadurch neue Perspektiven für die Landwirtschaft und den Planeten ergeben. (Klappentext)

Rezension:
Überall sprießen derzeit neue wissenschaftliche Erkenntnisse für unsere Landwirtschaft und unsere Ernährung wie Pilze und Mikroben aus dem Boden. Sie sind verantwortlich für Kommunikation und Nährstoffaustausch von Pflanzen, sorgen für Vielfalt und Bodengesundheit. Diese und lokale Kreisläufe sind das Rezept für morgen, für eine Welt, die immer mehr Menschen ernähren muss.

Dabei können wir viel für uns lernen, wenn wir Flora und Fauna bis hinein in ihre kleinsten Bestandteile beobachten. Die Biologin Florianne Koechlin hat Menschen aus Afrika, Asien und Europa dazu befragt, Experten schildern lassen, wie moderne und vielfältige Landwirtschaft unseren Böden dienen und für unsere Ernährung sorgen kann und welche Ansätze dazu bereits jetzt erfolgreich praktiziert werden.

Ihr sehr interessantes Sachbuch erstreckt sich dabei nicht nur auf ein Themengebiet. Hier erklärt sie themenübergreifend Zusammenhänge und zeigt an Beispielen, wie einzelne Komponenten aufeinander einwirken und wie heute an verschiedenen Standorten weltweit geforscht wird. Dabei zeigt Florianne Koechlin, die für ihre Recherchen Projekte über längere Zeit begleitet und Baumkronen von oben betrachtet, sehr detailreich Zusammenhänge auf. Mit ihrer Begeisterung, die sämtliche kompakte Kapitel durchzieht, schildert sie den steinigen Weg zu dem, was wir heute wissen und was dies für unsere Zukunft bedeuten kann.

Die Autorin beschreibt diese Dinge mit einem klaren wissenschaftlichen Blick, aber so klar, dass die Erkenntnisse auch uns Laien zugänglich werden. Ohne dabei die kritischen Punkte aus den Augen zu verlieren, wenn es zum Beispiel um Patente auf Lebensmittel, Big Data und dem Einsatz moderner Technologien in der Landwirtschaft geht. Klar ist von Beginn an, ein Wandel muss stattfinden, sollen unsere Böden weltweit uns Menschen künftig weiterhin ernähren, aber ebenso, dass vielerorts dieser bereits stattfindet.

Dem Sachbuch merkt man den Rechercheaufwand dahinter an. Spannend ist auch dargestellt, wie aus einzelnen Bausteinen und Forschungsprojekten größere Zusammenhänge hergestellt werden können. Es ist eben keine Übersicht von dem, was alles nicht funktioniert, sondern wie schon jetzt Weichen für die Zukunft gestellt werden, die noch mehr Kopfsache werden muss.

Gerade dazu kann dieses kleine feine Büchlein beitragen, den man viel Lesepublikum wünschen darf.

Autorin:
Florianne Koechlin wurde 1948 geboren und ist Biologin und Autorin. Bekannt wurde sie als Kritikerin der Gentechnik und Verfasserin zahlreicher Bücher und Artikel in Zeitschriften und Magazinen. Sie befasst sich mit Erkenntnissen zu Pflanzen und Lebewesen, insbesondere Pflanzenkommunikation und Beziehungsnetze, sowie zukunftsfähigen Konzepten der Landwirtschaft. Sie ist zudem Geschäftsführerin des Blauen Instituts und als Künstlerin tätig.

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Sabine Lehmbeck: Benefiz

Inhalt:
Acht Frauen, acht Lebenswege, die miteinander verknüpft sind.

Jede hat ihre Träume, ihre Herkunft, ihre Ängste, Abhängigkeiten und Glücksmomente. Und ihre eigenen Umstände. Was können wir selbst ändern, was nicht? Und was lässt sich zusammen am besten meistern?

Ein Plädoyer für die Kraft der Solidarität und das Ausleben von Leidenschaften.
(Klappentext)

Rezension:
Auf leisen Sohlen kommt „Benefiz“ daher, ein Roman in unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlicher Frauen, die alle miteinander verbunden sind und entfaltet mit wenigen Seiten eine unglaubliche Kraft. Dabei ist der Autorin ein vielseitiger Spiegel unserer Gesellschaft und der Themen gelungen, die dort verhandelt werden. In dieser Erzählung werden die Fäden zwischen ihnen gesponnen, die zeigen, dass unsere Stärken im Zusammenhalt und der Gemeinschaft liegen.

Aber vor allem ist der Roman zunächst einer über Frauen unterschiedlicher Generationen, Herkünften und Schichten, deren Leben im quirligen Hamburg und Umgebung zunächst uns Lesenden die Figuren offenbart. Jedes der kompakt gehaltenen Kapitel erzählt aus der Perspektive einer der Protagonistinnen, welche auf das Jahresende und einer von einigen derer mit organisierten Benefizveranstaltung zusteuert, zu Gunsten iranischer Frauen.

So schafft es die Autorin nicht nur eine Erzählung von gesellschaftlicher, Brisanz als auch von Debatten zu erzählen, wie sie glaubwürdig in jedweden Haushalt so ganz nebenbei täglich miteinander verhandelt werden. Ohne den Blick auf die Protagonistinnen zu verlieren, gelingt dies. Sabine Lehmbeck hat mit jedem Kapitel ein Puzzleteil mehr geschaffen, welches nach und nach ein ganzes Bild ergibt. Die Sichtweisen aufeinander ergänzen sich gut. Keine der Figuren ist perfekt, sie haben alle ihre Schwächen und Fehler und ergänzen sich dabei zusammen hervorragend.

Gegensätze werden praktisch im Nebensatz erzählt und erzeugen sowohl Spannungsfelder als auch Dynamiken. Durch die kompakt gehaltenen und doch überschaubaren Figurentableau gelingt es hier, beim Lesen den Überblick zu behalten. Man fühlt mit den Figuren, kann nachempfinden und versteht deren Handlungsweise. Etwas, was bei manch umfangreichen Roman viel weniger gelingt.

Wenn man etwas kritisieren wollte, ist es ausgerechnet das. Gerne würde man an mancher Stelle in der Erzählung noch länger verweilen, noch mehr erfahren über den weiteren Verlauf, der Vorgeschichte. Alles wird hier ohne Effekthascherei, Melancholie erzählt. Das wahre Leben eben, ohne Langeweile. Der Persketivwechsel bringt die Dynamik, wobei es der Autorin durchweg gelungen ist, den roten Faden in der Hand zu behalten und Handlungsstränge gekonnt zusammenzuführen. Auch kann man sich gut in die Umgebung der Figuren hineinfühlen, auch wenn für deren Beschreibungen ebenfalls kein Wort zu viel verloren wird.

Frauenrechte, Selbstbestimmung, Emanzipation, Veränderungen und Akzeptanz sind das Gerüst dieser Erzählung ohne Voyeurismus und ohne Wertung. Die Autorin, so scheint es, bringt zur Sprache, was ihr wichtig ist, ohne den Zeigefinger zu erheben und regt zum Nachdenken an. Das schafft der Roman durchaus, andererseits kann man ihn jedoch auch lesen, um gut unterhalten zu werden, ohne sich zu überladen. Das bekommt mit „Benefiz“, wer sich darauf einlässt.

An manchen Stellen zu kurz, da man gerne den einen oder anderen Blick mehr in das Leben der Protagonistinnen haben möchte, an vielen jedoch genau von der richtigen Länge ist diese Erzählung, in der die Männer nur eine kleine Nebenrolle spielen. Und tut sich dabei sehr gut. Das ist doch ganz schön.

Autorin:
Sabine Lehmbeck wurde 1969 geboren und ist eine deutsche Buchhändlerin und Autorin. In der Umgebung von Hamburg lebt sie und beschäftigt sich mit Frauenthemen und dem Wohlstandsgefälle in unserer Gesellschaft. Sie betreibt ein Antiquariat und hat 2022 ihren ersten Roman veröffentlicht. „Benefiz“ ist ihre zweite Erzählung.

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