Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Inhalt:

Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig – Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Und erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte einer eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist.

Ein bewegendes Buch über eine faszinierende Frau und Mutter. (Klappentext)

Rezension:

“Woody Allen hat gesagt: Das schlechte Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Recht hat er.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

“Dafür nun habe ich überlebt.”, so oder ähnlich klingen die Vorwürfe, die sich Michel Bergmann Zeit seines Lebens anhören muss, aus dem Munde derjenigen, die ihm am nächsten stehen sollte. Das tut sie auch, doch das Leben spielte der Mutter, wie allzu vieler ihrer Generation übel mit. Geschehnisse, die lange danach noch Wirkung zeigen, in den Familien übergreifend. Der Autor schaut, Jahre nach dem Tod, zurück, sucht die Wegmarker und Wendepunkte und damit, seine Mutter mehr zu verstehen als er es zu ihren Lebzeiten konnte. Entstanden ist eine Mischung aus Romanbiografie, Familienepos, Ode und Psychogram, hart zu der Frau, die er zu seiner Hauptprotagonistin macht, aber auch sich selbst nicht schonend.

Der Filmemacher weiß sich unterschiedlicher Genre zu bedienen und setzt deren Elemente gekonnt um. Der Handlungsverlauf gleicht im Spannungsverlauf eben dem eines guten Films, während dessen er sich an den biografischen und neuralgischen Punkten des Lebens seiner Mutter entlang hangelt. Zuweilen ist das fast wie ein Krimi zu lesen, aber eben in Romanform erzählt Michel Bergmann liebevoll aus dem Leben seiner Mutter. Ihre und seine Perspektive sind die bestimmenden Elemente, die Abwechslung in diese kurzweilige Erzählung bringen. Die Kapitel sind benannt nach den einzelnen Stationen dieser bewegten Biografie, bei der man immer wieder innehalten muss. Um zu schmunzeln, laut loszulachen, auf das einem das Lachen im nächsten Moment im Halse stecken bleibt.

Erzählt wird die Geschichte der Mutter über die gesamte Lebensspanne, konzentriert auf die neuralgischen Punkte. Der Autor könnte noch viel mehr erzählen, doch beherrscht er des Berufs wegen die Kunst des Reduzierens. Auf die Leinwand kann man schließlich auch nicht alles bringen, was man gerne möchte. Überflüssige Zeilen gibt es hier auch zwischen den Buchdeckeln nicht. Dabei lässt Michel Bergmann die unterschiedlichsten Handlungsorte vor dem inneren Auge entstehen. Wir folgen der Protagonistin, deren Ansichten sich über die Jahre verhärten werden, in der Rückschau wird das Schicksal sie verbittern lassen, durch Deutschland in seiner schlimmsten, später auch in seiner besten Zeit, in die Schweiz und nach Frankreich. Wenige Worte genügen hier manchmal, um ganze Welten lebendig erscheinen zu lassen.

Hauptfiguren bilden der Erzähler selbst und seine Protagonistin, die wie zwei gegensätzliche Pole einander abstoßen, aber doch nicht ohne einander können. Diese Konstellation kommt aber auch bei den Nebencharakteren zum Tragen, doch während der Sohn mit dem Abstand der Generation das Konfliktpotenzial sieht und zu bewältigen weiß, kann sich die Mutter nicht davon befreien.

“Und die Ingredienzen dieses neuen Lebens durch Überleben haben nicht nur psychische Schäden verursacht. Sie haben Krankheiten und Todesursachen provoziert und letztlich auch die Gene verändert, die an uns weitergegeben wurden. Bis heute werden die Auswirkungen dieser schweren, lebensbedrohlichen Jahre der Schoah unterschätzt. Wir alle wären andere. Und unserer Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Brüche in der Erzählung ergeben sich durch die Protagonisten selbst, nicht zuletzt durch den Erzählenden, der zwischen den Zeiten springt, um damit andere Punkte dieser Geschichte unterfüttern. Im Lesefluss selbst ist das keinesfalls störend. Es ergibt sich sogar eine gewisse Dynamik und ein Erzähltempo, welches es verhindert, dass man vollends in nicht enden wollende Melancholie hinabstürzt, aus der man nicht wieder hinausfinden würde. Dem Lesenden wachsen die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten ans Herz. Vielleicht sollten wir alle uns die Geschichte unserer Eltern anschauen, mag man hinterher meinen, um sie zu begreifen, um sich selbst besser zu verstehen.

Der Autor weiß die Wirkung von Sätzen und sprachlichen Bildern zu nutzen, setzt sie gekonnt und nicht über die Maßen ein, setzt damit seiner Mutter, die er zur Hauptprotagonistin macht, ein Denkmal, nicht ohne dieses selbst zu hinterfragen. Immer wieder steht die Frage im Raum, was wäre wenn, um im gleichem Atemzuge beantwortet zu werden, mit: “So. Und nicht anders.” Diesem Stil kann man sich nicht entziehen, möchte man auch nach wenigen Seiten schon nicht, trotz einer Figur, die in Teilen unnahbar, manchmal fast unangenehm bleiben wird.

“Ich lehne mich zurück, atme tief durch. Was für eine Geschichte! Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Es ist ein Buch über ein Blick hinter die Fassade eines Menschen und auch die Suche des Autoren nach sich selbst. Am Ende scheint Michel Bergmann auf viele seiner Fragen Antworten gefunden zu haben. Diesen Weg zu verfolgen, durch sprichwörtlich viel zu viele und zu tiefe Täler, immer wieder aber auch Berge des Glücks, okay, das klingt jetzt kitschig, war interessant und lesenswert. Gelernt hat man am Ende auch etwas dabei und sei es nur eine ganze Reihe jüdischer Ausdrücke und Begrifflichkeiten, die Bergmann am Ende des Romans, der eigentlich eine Biografie, eine Suche und auch sonst darstellt, erläutert. Ein Text der so viel schafft, den Autoren sicherlich und nicht zuletzt, die Lesenden selbst herausfordert, den kann man nur empfehlen.

Autor:

Michel Bergmann wurde 1945 in Basel geboren und ist ein schweizerisch-deutscher Filmproduzent, Regisseur und Schriftsteller. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung bei der Frankfurter Rundschau und war anschließend als freier Journalist tätig.

Später wechselte er in die Filmbranche und arbeitet seither als Drehbuchschreiber, Regisseur und Produzent. Sein erster Roman wurde im Jahr 2010 veröffentlicht, weitere folgten, 2021 seine erster Kriminalroman. Er erhielt u. a. den Deutschen Industriefilmpreis und den New York Film Award.

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Banana Yoshimoto: Kitchen

Inhalt:

Als Mikage ihre Großmutter verliert, ist sie vollkommen allein in der großen Wohnung. Nur in der Küche, wo sie das Brummen des Kühlschranks in den Schlaf wiegt, kommt sie zur Ruhe. Aus ihrer Einsamkeit holt sie Yuichi. Er schlägt ihr vor, zu ihm und seiner Mutter zu ziehen. Denn Eiriko, die wunderschöne “Mutter” Yuichis, hat eine schillernde Vergangenheit. (Klappentext)

Rezension:

Wer sich vom Klappentext leiten lässt, kommt darin um. Die Inhaltsangabe passt zu einer Geschichte, etwas weiter gefasst zu zwei Erzählungen, jedoch nicht die Handlung derer drei, die in dieser Kurzromansammlung zusammengefasst wurden. Eine Sammlung ist dies, von Texten unterschiedlicher Entstehungszeit, jedoch aus den Jahren, in denen sich die japanische Autorin Banana Yoshimoto noch neu an das Schreiben und Erzählen herangewagt hat.

Doch schon hier werden die großen Themen der Kunst, der Literatur und des Lebens behandelt. Um letzteres geht es auch, genau so wie um Tod, Trauer und den steinigen Weg der Verarbeitung, den man nie ganz verlassen können wird, besonders wenn man einen geliebten Menschen verloren hat.

Alle drei Erzählungen sind für sich genommen kompakt und werden nur durch die Themen zusammengehalten, können jedoch als Einzelwerk gut wirken. Eines mehr als die anderen. In dieser Zusammenstellung wirkt der Mittelteil am schwächsten und verschwimmt mit zunehmender gelesener Zeilenanzahl der dritten Erzählung. Das Lesen hintereinanderweg, wie dies mit einem Großteil der westlichen Literatur funktioniert, ist hier nicht möglich.

Es lohnt sich immer wieder innezuhalten, einzelne Abschnitte, die so kunstvoll geschrieben sind wie ein Gemälde, auf sich wirken zu lassen. Zu erwähnen ist aber auch, dass andere Sätze aber mit der Holzhammermethode aufzeigen, dass sich dahinter noch verschiedene Ebenen verbergen. Ob man die allerdings greifen kann, hängt davon ab, wie viel Erfahrungen man schon mit dieser Art von Texten gesammelt hat.

In allen Erzählungen beschränkt sich die Autorin auf wenige Figuren und einer überschaubaren Anzahl von Perspektivwechseln, die sehr gewählt gesetzt sind, jedoch manche Länge haben entstehen lassen. Das ist schade, denn dem Zugang zu den Geschichten ist dies nicht unbedingt zuträglich.

Auch wirken manche Szenarien wie durch einem Nebelschleier, wenn man auch anerkennen muss, dass die Autorin durchaus gesellschaftliche und literarische Grenzen mit ihren Erzählungen in Japan aufgebrochen hat. Das sagt uns zumindest ein einordnendes Nachwort, hier von Giorgio Amitrano. Unbedingt notwendig für jene, die noch nie etwas von der Autorin gelesen haben oder gar mit Yoshimoto einen Einstieg in die japanische Literatur versuchen möchten. Von Letzteren würde ich allerdings abraten.

Wenn man sie einmal zu fassen bekommt, zerrinnen einem die Figuren im nächsten Moment wieder zwischen den Fingern. Mitfühlen fällt jedoch leichter, wenn man ähnlichen Verlust schon einmal erlebt hat oder benennen kann. Anders ist es schwer, auch wenn man allgemein Probleme damit hat, Gefühl zu beschreiben, zu benennen. Hier hätte vielleicht ein etwas anderer Schreibstil gut getan, was aber auch an der Übersetzung selbst liegen kann.

Spannend ist es für jene geschrieben, denen das Sezieren von Gefühlswelten liegt, große Überraschungen bleiben jedoch auch dann aus. Die braucht es dann jedoch auch nicht.

Wer die Kurzgeschichten wirklich als solche liest und nicht hintereinanderweg schmökert, sondern zwischendurch innehält, gewinnt dadurch mehr. Daher empfiehlt es sich, zwischendurch eine Pause einzulegen. Das sollte man aber vielleicht vorher wissen.

Nun denn, ihr wisst das jetzt. Vielleicht ist euer Urteil dann milder.

Autorin:

Banana Yoshimot ist das Pseudonym der japanischen Autorin Mahoko Yoshimoto. Geboren wurde sie 1964 und studierte nach der Schule japanische Literatur. Für ihre Abschlussarbeit bekam sie 1986 den Dekanspreis ihrer Universität. ein Jahr später für ihre Erzählung “Kitchen” den 6. Kaien-Literaturpreis für Debütanten. Weitere Werke folgten, die mehrfach ausgezeichnet und übersetzt wurden.

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Empfehlung: e. o. plauen (Erich Ohser) – Vater und Sohn

Manche Werke benötigen aus verschiedenen Gründen keine Bewertung, sind es aber wert, vorgestellt und erwähnt zu werden. Für genau solche ist diese Kategorie.

Die bekannten Bildergeschichten des Berliner Zeichners und Karikaturisten Erich Ohser, die er unter dem Künstlernamen e. o. plauen veröffentlichte, begeistern seit Generationen die Menschen. Die Geschichten handeln von einem Vater und seinem kleinen frechen Sohn, die mit den alltäglichen Problemen kämpfen und dabei auch allerlei Abenteuer erleben.

In diesem Buch sind sämtliche Abenteuer und Streiche vereint. (Klappentext)

Manche Sammlungen sind einfach nur lieb und unscheinbar, doch um so eindrücklicher kann die Geschichte sein, die sich dahinter verbirgt. So ist das auch mit den großen und kleinen Abenteuern von Vater und Sohn, die in kurzen Comic-Strips die Herzen ihrer Leser und Leserinnen erobert haben. Und das weltweltweit. Zum Leben erweckt hat sie Erich Ohser unter Pseudonym.

Vormals als politischer Zeichner tätig, durfte er unter den Nazis nur mehr ohne Politikbezug und unter falschen Namen tätig bleiben, konnte aber seine Abscheu vor den Zielen des NS-Regimes nicht verbergen, was ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Dem Prozess vor dem Volksgerichtshof, der wahrscheinlich mit einem Todesurteil geendet hätte, entzog sich Ohser durch Suizid. Geblieben sind u. a. diese Geschichten.

In dieser Ausgabe sind sämtliche Comic-Strips versammelt, die so liebevoll gezeichnet sind, dass man beim Blättern darin versinkt, immer wieder schmunzeln und manchmal herzhaft auflachen muss. Die meisten dieser Geschichten sind zeitlos, einige im Kontext ihrer Entstehungszeit einzuordnen.

Für alle Liebhaber der Zeitungscomics und auch sonst, sehr zu empfehlen.

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Birand Bingül: Alles Propaganda!

Inhalt:

Hass, Wut, Fake News und vermeintliche Verschwörungen: Unsere Debattenkultur ist im Ausnahmezustand, und Polarisierung ist zu einem zentralen Phänomen unserer Gesellschaft geworden. Birand Bingül legt in seinem beunruhigenden Weckruf dar, dass dies Teil einer Propaganda-Strategie ist, die den Kollaps des gesellschaftlichen Dialogs anstrebt – und damit den Kern der liberalen Demokratie angreift. Deutlich wird: Um uns davor zu schützen, müssen wir der Propaganda ins Auge schauen. (Klappentext)

Rezension:

Konstruktiver Dialog und Kompromissfindung, zwei Kernelemente demokratischer Gesellschaften, bekommen weltweit immer stärkeren Gegenwind. Praktisch in jedem Themenbereich findet sich inzwischen aufgeheizte Rhetorik, die versucht den Diskurs zu bestimmen, was nicht zuletzt an Parteien und Personen liegt, die Macht um der Macht willen erlangen wollen und dazu mehr oder weniger offen ausgefeilte Strategien benutzen, die manipulativ die Diskussionen in eine bestimmte Richtung lenken und halten sollen.

Wenn man das Monster der Propaganda verstehen und seinen Schockwellen etwas entgegenstellen will, muss man zunächst das Wesen einer Propagandapartei erkennen. Landläufig kursieren verschiedene Bezeichnungen, die jedoch den Kern des Phänomens verfehlen.

Birand Bingül: Alles Propaganda! Wie Manipulation unsere Demokratie gefährdet

Doch wie funktioniert das, was man Propaganda nennt, eigentlich? Was ist das überhaupt? Wie unterscheiden sich Propagandisten und ihre Parteien von jenen, die dem gegenüber stehen? Welche Ziele haben diese und wie versuchen sie, die Oberhand in unseren Gesellschaften zu erlangen und zu halten? Dieser Thematik hat sich nun der deutsche Journalist und Autor Birand Bingül angenommen.

In der hervorragenden kleinen, aber um so wichtigeren Reihe “Zündstoff” aus dem Atrium-Verlag, innerhalb derer sich verschiedene Autor:innen bereits mit dem strukturellen Problem des Rassismus beschäftigt haben oder etwa dem Zustand der Pflege, wird nun ein neuer Aspekt aufgerollt. In sehr kompakter Form und klarer Sprache geht es zunächst um die Unterschiede und Entwicklung von Propagandaparteien anhand verschiedener Beispiele weltweit.

Der Autor stellt verschiedene Stufen dar und erläutert sie etwa an der polnischen PiS oder der ungarischen Fidez, verliert zugleich jedoch nicht den Blick vor der eigenen Haustür. Auch in Deutschland sitzt mit der AfD eine Partei in den Parlamenten, die die Klaviatur der Propaganda perfekt beherrscht. Natürlich fehlt nicht die Rückschau auf unsere Geschichte, in der die Nationalsozialisten ihrerseits die Welt in den Abgrund stürzten und man sich zu manchen Aspekten heute noch fragen mag, wie konnte dies passieren?

Hier zeigt Bingül sehr sachlich und kompakt verschiedene Kommunikationsstrategien anhand verschiedener Quellen auf, mit derer Hilfe Propagandisten bestehende Normen zu ihrem Vorteil nutzen, umkehren, um ihren eigenen Spielregeln Wirkung zu verschaffen und warum es so schwierig ist, für liberale Demokratien, dagegen anzukämpfen, dem auch zu widerstehen.

Und wie sehen Lösungsstrategien gegen Propaganda aus? Die Antworten darauf rechtfertigen eigene Texte und so fehlen diese im Gegensatz zum Aufbau anderer Werke innerhalb dieser Reihe. Wichtig ist zunächst einmal, seinen Blick zu schärfen für Ursache und Wirkung von Propaganda, um die Anfälligkeit im Einzelnen dafür zu verringern. Das möchte Birand Bingül mit seinem Text erreichen, denn ohne Verständnis für die Funktionalität ist der versuchten Verhärtung der Fronten weltweit kaum zu begegnen.

Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass Propaganda einfach weggehen oder wegbleiben wird. […] Die Gefahr ist da. Immer.

Birand Bingül: Alles Propaganda! Wie Manipulation unsere Demokratie gefährdet

Das ist Grundlagenliteratur par excellence, die man gerade heute, wo Propagandisten mit ihren medialen Werkzeugen und auch sonst, Stück für Stück Vielfalt, Diversität und Kompromissfindung, eine sachliche Debattenkultur bekämpfen, benötigt. Man kann sich die Lektüre sowohl im universitären Bereich vorstellen als auch als Unterrichtsgrundlage für höhere Schulklassen, aber auch, wenn man selbst einen Überblick erhalten möchte, der einlädt, sich mit der Thematik näher auseinander zu setzen.

Autor:

Birand Bingül wurde 1974 geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Nach einem Studium der Journalistik in Dortmund arbeitete er beim WDR und als Reporter für verschiedene Nachrichtensendungen, u. a. der Tagesschau und den Tagesthemen. Von 2005 an trat er dort regelmäßig als Kommentator auf, zudem veröffentlichte er mehrere Werke, seinen ersten Roman im Jahr 2002, zudem mehrere Sachbücher.

Von 2010-2014 war Bingül stellvertretender Unternehmenssprecher des WDR, zudem ab 2020 Leiter der ARD-Kommunikation. Nach verschiedenen Stationen ist er seit 2022 Geschäftsführer einer Beratungsagentur. 2017 entschloss er sich unter Eindruck der gefährdeten Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei seine türkische Staatsbürgerschaft aufzugeben.

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Barbara Constantine: Kleiner Tom, was nun?

Inhalt:

Tom ist elf Jahre alt. Mit seiner viel zu jungen Mutter Joss wohnt er in einem alten Wohnwagen, und weil Joss abends gerne ausgeht, sich verliebt und mit Freunden wegfährt, ist Tom oft allein. Sein Essen klaut er in den Gemüsegärten der Nachbarschaft. Hier rupft er eine Karotte aus der Erde, dort eine Kartoffel. Aber er ist sehr vorsichtig.

Sorgfältig beseitigt er seine Spuren, steckt die Pflanzen zurück in die Erde und buddelt die Löcher wieder zu. Eines Abends, als er einen neuen Garten betritt, um etwas zu essen zu suchen, stolpert er beinahe über die dreiundneunzigjährige Madeleine, die zwischen ihren Kohlköpfen liegt und weint. Tom nimmt sich ihrer an, denn ehrlich gesagt: Zusammen ist man weniger allein … (Klappentext)

Rezension:

Wie schön sind doch Erzählungen, in denen nichts aber eigentlich ganz viel passiert. Als solche entpuppt sich der Roman der französischen Autorin Barbara Constanine, den man nichtsahnend aufschlägt, um sofort in eine liebevolle Geschichte hinein zu geraten.

Lesend folgt man den Fußspuren des kleinen Hauptprotagonisten, der eine viel zu große Last auf seinen schmalen Schultern tragen muss. Tom streift durch die Gärten der Nachbarschaft, um die für seine Mutter und sich ohnehin unregelmäßigen und kargen Mahlzeiten zu ergänzen. Ohne es zu wissen, sind seine Erkundungsgänge schon längst entdeckt. Nicht dies, auch nicht gefundene Möhren oder die Katze der Nachbarn lassen ihn eines Abends aufschrecken. Eine ältere Frau liegt hilflos in ihrem Garten. Tom hilft ihr auf und setzt damit unwissentlich Veränderungen in Gang.

Diese Geschichte ist unter den Deckmantel einer reinen Erzählung zum Wohlfühlen mehr als es Klappentext oder Verlagsinhaltsangabe hergeben, hat es die Autorin doch geschafft auf wenigen Seiten so viel anderes umzubringen. Die Entwicklung einer Mutter-Sohn-Beziehung in vertauschten Rollen, hier ist eindeutig der Kleine der Große, ebenso wie eine anrührende Coming-of-Age-Geschichte sind hier zu finden, ein Roman über Freundschaft und Familie, Veränderungen.

Der Roman spielt in einem nicht näher benannten Zeitfenster, doch dürfte der Handlungsstrang nicht mehr als über ein paar Wochen hinausgehen. Das reicht der Autorin dennoch, um vor allem ihren Hauptprotagonisten Konturen zu geben. Andere Figuren werden im Laufe der Handlung nur soweit ausgearbeitet, wie es zur Erzählung beiträgt, doch hat man gegen Ende das wohltuende Gefühl, nichts zu vermissen. Hier ist weniger mehr, stattdessen Konzentration aufs Wesentliche. Antagonisten braucht Constantine nicht, um zu zeigen, was der Titel des Werks impliziert, welches Susanne van Volxem liebevoll ins Deutsche übersetzt hat.

“Kleiner Tom, was nun?”, wird innerhalb der Kapitel per Perspektivwechsel zwischen den Figuren erzählt. Misslungene Sprünge oder störende Wechsel fehlen, auch das Erzähltempo bleibt nahezu die gesamte Geschichte über unverändert. Vielleicht kann man, außer die Gefahr in Kauf zu nehmen, ins Kitschige zu geraten, was die Autorin umgangen hat, bei dieser Art von Erzählung auch nicht viel falsch machen. Man bleibt dabei, nicht weil es so sehr spannend wäre, was man da vor sich hat, es ist einfach wie etwas, was man konsumiert, um sich hinterher besser zu fühlen. Ohne dafür negative Seiten in Kauf nehmen zu müssen.

Sprachlich ist das alles kein großer Wurf, ein Roman für Zwischendurch ohne besonderen Anspruch. Es genügt, dass man sich in den Hauptprotagonisten hineinversetzen, die Tomaten, die er mopst, förmlich greifen kann, den Hunger spürt, aber auch das Wechselspiel zwischen den Figuren beobachtet. Mehr möchte man dann auch nicht. Vielleicht ein wenig von der Tom Tomatensoße? Das würde schon reichen.

Es ist eine einfache Geschichte für Zwischendurch, um den Kopf frei zu bekommen, aber auch sich berühren zu lassen. Die Welt durch Kinderaugen ist nicht immer einfach, aber manchmal dadurch ein wenig besser.

Autorin:

Barbara Constantine wurde 1955 geboren und ist eine französische Drehbuchautorin, Töpferin und Schriftstellerin.

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Erri de Luca: Die Stadt antwortete nicht

Inhalt:

Von seiner neapolitanischen Kindheit, von wortkargen Fischern, von der Entdeckung der Natur handeln Erri de Lucas Erzählungen; von seinen Jahren als Arbeiter auf dem Bau, seinem politischen Kampf gegen den Klassismus; von der Liebe und dem Heiligen, der Literatur und den Bergen. In seiner behutsamen Prosa lässt der große italienische Autor Erinnerungen lebendig werden und beleuchtet schlaglichtartig die Etappen eines bewegten Lebens. (Klappentext)

Rezension:

Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Wer vom Gewohnten abweicht, dem kann das ebenfalls passieren. Dies zeigt der neue Kurzroman aus der Feder von Erri De Luca, der zunächst wie gewohnt mit durch seine Kindheit biografisch angehauchten Episoden beginnt.

Hier zeigt sich der Autor in Bestform, wenn er den Staub der Erinnerung aufwirbelt und seine Klassenkameraden noch einmal einen Aufstand gegen die Lehrerschaft proben, noch bevor gesellschaftliche Revolten sich auch im südlichen Europa ihren Platz im Bewusstsein der Gesellschaft erobern. Im Gegensatz zu seinen erprobten Texten, bleibt De Luca hier jedoch nicht dabei. Es ist diesmal keine Coming of Age Geschichte, die hier mit “Die Stadt antwortete nicht” vorliegt. Im Gegenteil, der Schreibende ist hier vom Erwarteten abgewichen und spannt den Bogen, lässt seinen Protagonisten wachsen. Protest, Wandel und Suche bestimmen dessen Leben, an dessen Ende der zurückblicken wird.

In gewohnt kompakter Form gelingt diese Sammlung von Erzählungen, die zwischen den Zeiten springen und so wirken, als hätten sie bisher für keinen Roman genügt, wie sie der Autor sonst erschafft. Es fehlt hier ein verbindendes Schlüsselereignis, die Konzentration auf einem kleinen Zeitausschnitt, was die Texte Erri De Lucas sonst so besonders macht, wenigstens ist die Tonalität unverändert. Ruhig wirkt das Erzählte, südeuropäische Gelassenheit oder die Milde des Alters, in welchem man auf Vergangenes zurückblickt.

Der Protagonist, beinahe sicher mit dem Autoren gleichzusetzen, was bei den vorherigen Romanen nicht immer ganz so klar ist, welchen Anteil der Biografie der Schreibende eingewoben hat, bleibt gleich, der erzählte Zeitabschnitt ändert sich. Beinahe scheint es, als würde man einzelne Fotos oder Zeitabschnitte in die Hand bekommen, dazu die passende Geschichte erfahren.

Das genügt, um Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen, die Gassen der italienischen Stadt am Fuße des Vesuvs, den Geruch betriebsamer Baustellen, aufgewirbelter Staub im Klassenzimmer. Große Überraschungen sucht man hier vergebens, trotz der Sprunghaftigkeit. Das Phänomen, nach Kindheit, nach Ereignissen anderer Leben zu fragen und immer wieder die gleichen Geschichten erzählt zu bekommen, die sich im Laufe der Zeit zu Familienlegenden entwickeln, kennen doch, in irgendeiner Art und Weise alle. So wirkt diese Aneinanderreihung, in die man dennoch versinkt.

Eventuell ist es vielleicht sogar klug, zuerst diesen Erzählband sich vorzunehmen und dann die anderen Geschichten, die in vielen Teilen fiktionaler und nach einem erprobten Schema geschrieben wurden. Dort kommt eher Ruhe hinein, da die Sprünge fehlen und man wird nicht sofort nach einigen Kapiteln wieder aus dem Gelesenen gerissen. Auch sind diese Texte stärker, da kleinere Zeitabschnitte ausgedehnt werden und nicht so viele Jahre auf so wenig Seiten untergebracht werden, wie in dieser Erzählung. Nichts destotrotz kommt man hiermit der Biografie Erri De Lucas wohl am nächsten, sowie einem Italien im Wandel.

Immerhin für diese Perspektive lohnt sich das dann.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeitet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Alexander Bätz: Nero – Wahnsinn und Wirklichkeit

Inhalt:

Seit eh und je fasziniert der römische Kaiser Nero (37-68 n. Chr.) die Nachwelt: als Muttermörder und Brandstifter, als Christenverfolger und tyrannisch-exzentrischer Anti-Kaiser, der sich zum Künstler stilisiert. Doch was gibt die antike Überlieferung eigentlich an verbürgtem Wissen über Nero her?

Alexander Bätz entdeckt Nero neu, indem er sein Leben und seine politische Karriere in die täglichen Rituale der römischen Kaiserzeit einfügt. Durch eine Neulektüre der antiken Quellen treten Nebenfiguren aus dem römischen Alltag in ihren Berührungspunkten mit Nero hervor: Senatoren, die abhängig waren von ihrer Nähe zum Kaiser, einfache Bürger, die ihr tägliches Auskommen im Moloch Rom suchten, jungfräuliche Priesterinnen, prominente Intellektuelle, Soldaten, Sklaven und ehemalige Sklaven, die – etwa als Ammen oder Vorkoster – dem Kaiser so nah kamen wie kaum jemand sonst. (Klappentext)

Rezension:

Der Herrscher schaut von einer Anhöhe auf einen orangeroten Gluthaufen. Feuer frisst sich durch die Straßen und fordert unzählige Opfer. Nero selbst tut nichts, erfreut sich an den Anblick der brennenden Stadt. Das Zentrum des antiken Weltreichs liegt in Trümmern. Es ist vor allem dieses Bild, welches uns aus den Überlieferungen von der Herrschaft Neros geblieben ist, doch muss sie differenzierter betrachtet werden.

Nero, der als Person zum Inbegriff für Inkompetenz, Unberechenbarkeit und Willkür werden sollte, bis heute, war genau das, gleichzeitig eben nicht nur. Größere Krisen erschütterten seine Zeit erst gen Ende seines Lebens, vor allem in seiner Person begründet. Ansonsten erlebte das Weltreich eine Stabilisierungsphase und wirtschaftliche Blüte. Der Historiker und Wissenschaftsjournalist Alexander Bätz hat sich nun die antiken Quellen vorgenommen. Müssen wir unser Bild von Nero neu justieren?

Wer sich mit den Geschehnissen der Antike beschäftigt, kann sich mitunter nur auf wenige ausführliche Quellen berufen, die gegen zu prüfen schwerfällt. Vergleichendes Material ist über die Jahrtausende, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft vorhanden und so beginnt diese Biografie mit der Aufstellung und Bewertung dessen, worauf sich die darauf folgenden Ausführungen und Analysen stützen werden. Bei Nero sind es vor allem drei Quellen antiker Geschichtsschreiber, die Nero selbst altersmäßig kaum gekannt haben dürften und sich ihrerseits vor allem auf Nachbetrachtungen beschränken mussten. Was ist von dem Bild Neros, welches wir heute haben, was unweigerlich auf diese Texte zurückgehen muss, also zu halten?

Der Autor greift weit zurück. Stützt sich zunächst auf Rom und seine Gesellschaft, um dann in die Analyse von Familienstrukturen zu gehen, die der antike Herrscher später nachhaltig durcheinander wirbeln sollte, aber auch für sich zu nutzen wusste. Wie ist die Kaiserwerdung zu betrachten, welche Feinheiten müssen bei Neros Handeln betrachtet werden, wenn der Ausgangspunkt die vorherige Regentschaften Claudius’ und Caligulas gewesen sind?

Sehr nüchtern folgt die Analyse diesem Zeitstrahl, der schon bald erste Ausschläge zeigen sollte, aber auch, dass unser heutiges Bild höchst einseitig ist. Nero war durchaus erfolgreich, zeigt Alexander Bätz, verschreckte jedoch die römischen Eliten zu oft mit seinem Verhalten und seinen Reaktionen, als dass man dies unberücksichtigt lassen kann.

Die sehr detaillierte und ausführliche Biografie erfordert Konzentration ob der Vielzahl antiker Namen, doch werden Hintergründe sehr genau erläutert, so sie zum Verständnis auch Lesender beitragen, denen man nicht unbedingt geschichtliches Grundwissen attestieren kann. Dazu tragen die einzelnen Abschnitte bei, die in sich relativ kompakt formuliert sind und sich praktisch häppchenweise lesen lassen. Damit wird der Fließtext etwas aufgelockert, genau so wie durch zwei sich gut ergänzend einfügende Bildteile. Die Abschnitte fügen sich zusammen zu den Kapiteln, die ihrerseits sehr ausführlich einen kleineren Zeitabschnitt in Neros Leben und Herrschaft darstellen.

Dabei gelingt es Bätz das Bild Neros in seine Einzelteile zu zerlegen und, wo notwendig, zu korrigieren. Nero als Person und seine Zeit müssen differenziert betrachtet werden. Mord, Totschlag, Willkür und Unfähigkeit gehören dazu, aber eben nicht nur. In diesem Sinne ist das vorliegende Werk ein sehr wichtiger Bestandteil der modernen Betrachtung der antiken Welt und einer Person, die trotz dessen, dass sie von jedem nachfolgenden Herrscher verdammt wurde, in den Köpfen überdauerte. Wie auch Rom eben nicht vollständig niederbrannte.

Autor:

Alexander Bätz hat Alte Geschichte, Germanistik, Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Würzburg, Padua und Berlin studiert. Nach seiner Promotion arbeitete er bei der Zeitung Die Zeit und ist seit 2016 als wissenschaftlicher Bibliothekar für Altertumswissenschaften an der Universität Konstanz tätig. Als freier Autor und Wissenschaftsjournalist schreibt er für verschiedene Zeitungen und Magazine.

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Donald Antrim: An einem Freitag im April

Inhalt:

Ein schonungsloser ehrlicher Bericht über Todesnähe als Lebensbegleiter: Donald Antrim beleuchtet Tragödie und Stigma des Suizids und bietet Trost, der Leben retten kann. (Klappentext)

Rezension:

Hinterher weiß Donald Antrim nicht einmal mehr, was ihn diesmal angetrieben hat, die Feuertreppe seines Hauses hochzusteigen. Prüfend tritt er ans Geländer, um in den Abgrund zu schauen. Er hält sich fest, um loszulassen. zumindest mit einer Hand, die dann doch wieder den sicheren Halt sucht. Wie wird es sein, das Sterben? Wird es schmerzhaft werden? Spürt man nichts? Wird Antrim es bereuen, in den Sekunden zwischen Leben und Tod, diese Entscheidung getroffen zu haben? An diesem Tage wird er es nicht erfahren. Aus irgendeinem Grund entscheidet er sich um, geht zurück in seine Wohnung. Ein langer, steiniger Weg über Klinikaufenthalte und Therapien folgt diesem Ereignis, ebenfalls nur ein trauriger Punkt in seinem Leben, zudem der Suizid schon lange gehört.

Wir sagen auch, dass wir das wollen, aber stimmt das auch?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

In einer Mischung aus Essay und bericht beschäftigt sich der amerikanische Autor mit Suizid als Prozess. Als solchem sieht er das, was auch Freitod, Selbstmord oder Selbsttötung genannt wird und oft nur den eigentlichen Schlusspunkt meint. Doch ist es das oder vielmehr eine Krankheit, die die Betroffenen zu einer an sich selbst grausamen oder erlösenden, auch das je nach Blinkwinkel, Handlung bringt. Er stellt dar, wie es ist, mit diesem Gefühl zu leben, sich ein Ende zu wünschen oder darauf meinen hinwirken zu müssen. Doch durchzieht den Bericht auch Hoffnung.

Wenn man beispielsweise sagt, Suizidanten seien von Natur aus impulsive Menschen, unterschlägt man die Stunden, Monate und Jahre der Angst und des körperlichen Niedergangs, der Furcht und scheinbaren Resignation, mit denen wir in den Tod gehen. Oder vielleicht halten wir den Katatoniker für antriebslos und verstehen nicht die Qual, das Gefühl, dass der Körper irgendwie vibriert, die Paralyse. Der Mann auf der Brücke hockt vielleicht stundenlang am Geländer, starrt nach unten und hat zugleich Angst davor, hinzusehenn. Die Frau in den Wellen plantscht nicht ins Meer hinaus, sondern geht eher langsam, bis sie untertaucht.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Klar wägt Antrim ab. Es ist ein ruhiger Text, immer wieder sich selbst prüfend. Wenn ein steiniger Weg ins Unausweichliche führt, kann man auch abbiegen und den Teufelskreis durchbrechen? Der Autor hat das versucht, wollte sich helfen lassen. Dieser Weg ist noch mehr von klippen und spalten durchzogen, Umwegen und Rückschlägen. Er berichtet von seinem Weg, ohne außer Acht zu lassen, dass dieser ihm geholfen hat und für andere etwas anderes gelten mag.

Die Paralyse des Suizids ist keine Apathie oder Stille. Wir fühlen uns eingekapselt, irgendwie eingeengt. Unsere Körper könnten zerbrechen, oder etwas außerhalb von uns wird zerbrechen. Was wird zerbrechen?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Donald Antrim bricht das Schweigen über ein Tabuthema, welches viel öfter zur Sprache kommen sollte, um Zugang zu den Betroffenen zu finden, vielleicht einen Weg, sie aus diesem Teufelskreis herauszunehmen und in Sicherheit zu halten. In einer Mischung aus biografischen Rückblicken, Verarbeitung und nüchternen Bericht ist der Text keine leichte Kost.

Förmlich spürt man die bleierne Last, die dem Autoren die Luft zum Atmen genommen hat. Man muss dann beim Lesen innehalten, blättert zurück, liest einzelne Abschnitte nochmals und fragt sich unweigerlich, wie man selbst in dieser Situation gehandelt hätte. Wäre man stark genug für eine Therapie? Was passiert bei einem Rückschlag? Würde man sich helfen lassen (wollen)? Wann wäre der Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gäbe? Glücklich, wer sich damit noch nie beschäftigen musste. Für die an Suizid leidenden (bleiben wir bei der Betrachtung als Krankheit statt Schlusspunkt) ein tägliches Abwägen. Wann gewinnt was die Oberhand?

Ich bin der Überzeugung, dass Suizid eine Entwicklungsgeschichte ist, ein Krankheitsprozess, keine Handlung oder Entscheidung, kein Entschluss oder Wunsch. Ich verstehe Suizif nicht als Reaktion auf Schmerz oder als Botschaft an die Lebenden – zumindest nicht nur.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Als Teil der Verarbeitung und Enttabuisierung ein notwendiges und wichtiges Schriftstück, wirbt Antrim für diesen Blickwinkel. Vielleicht sollte man aber wirklich gefestigt sein, um diesen Text lesen zu können. Schließlich ist der so stark wie die Thematik selbst.

Autor:

Donald antrim wurde 1958 geboren und ist ein US-amerikanischer Autor. Nach einem Studium an der Brown University veröffentlichte er 1993 seinen ersten Roman, dem weitere folgten. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heyden Fellow for Fiction an der American Academy in Berlin. 2013 erhielt er den MacArthur Fellowship. Er lehrt Literatur an der Columbia University.

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Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Inhalt:

1940 ist Chiune “Sempo” Sugihara offiziell der japanische Vizekonsul in Litauen. Tatsächlich aber spioniert er als Agent seines Außenministeriums deutsche und russische Truppenbewegungen aus. Seit seinen Lehrjahren in japanischen Kolonien ein entschiedener Gegner von Tyrannei und Unterdrückung, nimmt er sich der jüdischen Flüchtlinge an, die eines Tages beginnen, sein Konsulat zu belagern. Gemeinsam mit einem kreativen holländischen Konsul und einem profitorientierten russsischen Kommunisten heckt er einen wahnwitzigen Plan aus, ihnen mit Visa zweifelhafter Gültigkeit die freie Passage nach Japan zu ermöglichen.

Für die Juden beginnt eine aufreibende Odyssee durchs eiskalte Sibirien und über die raue japanische See in die Freiheit. Für Sugihara folgen Kriegsgefangenschaft, die unehrenhafte Entlassung aus dem Staatsdienst, Gelegenheitsjobs in Japan und Russland. Erst Jahrzehnte später erfährt er, dass sein Plan aufgegangen ist, und erst kurz vor seinem Tod wird er von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad vashem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. (Klappentext)

Rezension:

War Chiune Sigihara der japanische Schindler? Dass er seit Bekanntwerden seiner Taten immer wieder mit diesem wenig originellen Titel bedacht wird, ist so unglücklich wie verständlich. Auch ohne Vorkenntnisse hat man bei einer derart griffigen Verschlagwortung sofort eine ungefähre Vorstellung von der historischen Rolle, die ihm zukommt. Gleichwohl ist eine solche Bezugnahme auf eine andere historische Persönlichkeit auch immer eine Reduzierung.

Der japanische Schindler ist eben nicht das Original. Mit einer derartigen Größe verglichen zu werden ist einerseits sicherlich eine Ehre, klingt andererseits jedoch nach einem Trostpreis. Eine Hitparade der Holocaust-Helden wäre unschicklich, und darüber hinaus hat Chiune Sugihara es verdient, nicht nur im Schatten eines anderen geehrt zu werden.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Der in Japan lebende Journalist und Autor Andreas Neuenkirchen tut dies in einem recht eindrucksvollen Porträt, welches er über den japanischen Diplomaten, der durch seine Postion getarnt, eigentlich für seine Regierung die Truppenbewegung der Deutschen und der Sowjetunion ausspionieren sollte, dem jedoch per Aufenthaltsort eine bedeutende Rolle zukommen sollte, in Bezug auf die Menschen, deren Leben er rettete. Entstanden ist eine eindrucksvolle Biografie einer hier in Europa fast vergessenen, in Japan erst spät gewürdigten Persönlichkeit, ein wichtiges Werk in der Reihe der Bücher gegen das Vergessen.

Die Geschichte von Chiune Sugihara beginnt der Journalist mit einem Blick auf dessen Elternhaus, Kindheit und Jugend, die schließlich in einem Weg mündete, abseits dessen, welchen der Vater für seinen Sohn erdacht hatte. Wichtige Schlüsselmomente und Stationen werden dargestellt, um darauf später zurückzukommen und die Motivation für das spätere Handeln Sugiharas wenigstens im Ansatz zu klären.

Neuenkirchen begab sich nicht auf die Spuren eines Unternehmers, der zunächst nur günstige Arbeitskräfte für seine Fabriken brauchte, für den dann im Laufe der Zeit die menschlichen Leben einen höheren Stellenwert erhielten oder der Männer, die im Auftrag ansonsten neutraler Regierungen, wie dies etwa in Schweden der Fall gewesen ist, Verfolgte vor dem Schlimmsten bewahren sollten. Chiune Sugihara war im Auftrag der japanischen Regierung in Europa unterwegs.

Wenngleich die Rettung Tausender jüdischer Flüchtlinge die Sugiharas in Deutschland nicht in Bedrängnis bringen sollte, so dauerte es dennoch nicht lange, bis sich der Himmel über ihrem Schicksal verfinsterte.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Nach Lehrjahren in der Mandschurei zunächst in Moskau, später dann in Kaunas, vor allem um die Truppenbewegungen der eigentlich verbündeten Deutschen und derer Gegner auszuspionieren. Neuenkirchen hat den auslösenden Moment für eine menschliche Großtat und den Weg Sugiharas, sowie den Umgang mit dem historischen Erbe gesucht.

Für die zahlreichen Geschichte, ja für diese eine, wirkt der Text auf den ersten Blick beinahe zu kompaktm, doch Neuenkirchen wagt keine Ausschweifungen, hat sich beim Schreiben aufs Wesentliche konzentriert. Die Wirklichkeit ist spannend genug. Sie bedarf keinerlei Ausschmückung. Gestützt auf Archivarbeit, Interviews und Zeitzeugenberichten, Zeitungsartikeln verfolgt er den Weg eines außergewöhnlichen Menschen und der jenigen, deren Leben Sugihara rettete.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, zückte Sugihara ein letztes Mal auf litauischem Boden Feder und Papier. Die letzten behelfsmäßigen Visa warf er aus dem fenster des fahrenden Zuges, in die Hände derer, die ihn laufend begleiteten, so lange es ging. Erschöpft und verzweifelt rief er: “Ich kann nicht mehr schreiben, bitte vergebt mir!” Dann sank er in seinen Sitz und schlief sofort ein.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Eindrucksvoll werden einzelne Momente herausgestellt. Fast wirkt es so, als wäre man inmitten eines Dokuspiels und doch ist dies ein sehr flüssig zu lesendes Sachbuch, welches einmal einen anderen erinnerungswerten Aspekt zur Sprache bringt, als dies normalerweise der Fall ist. Ansonsten hätte man schon öfter von Chiune Siguhara gehört.

Andreas Neuenkirchen versteht es Familien- und Personengeschichte, sowie ein gesellschaftlichs Porträt miteinander zu verknüpfen, ebenso Nachwirkungen und den Umgang mit der Vergangenheit darzustellen. Ein Sachbuch, welches sich von der durch das wirkliche Geschehen verursachten Dramaturgie wie ein spannender Roman liest, ist das. Und fast genau so aufgebaut. Im forderen Teil gibt es ein Personenregister. Aber auch die Nachbetrachtungen sind sehr überlegt und kenntnisreich. Sie runden die Thematik gut ab.

Der Ausgang der Geschichte von Chiune Sugiharas Taten ist bekannt, doch noch viel zu wenig beschrieben. Dieser Text ändert das nun.

Autor:

Andreas Neuenkirchen wurde 1969 in Bremen geboren und arbeitet seit 1993 als Journalist. Zunächst zuständig für Bremer Stadtmagazine und Tageszeitungen, arbeitete er von 1998 bis 2016 als Redakteur in München. Nebenher arbeitete er als Autor für Hörspiele, Heftromane, Rundfunkreklame, Bücher und Filme. Die meisten haben Japan-Bezug. Seit 2016 lebt er mit seiner japanischen Frau und der gemeinsamen Tochter in Tokio.

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Christine Westermann: Die Familien der anderen

Inhalt:

Christine Westermann taucht ein in die wechselvolle Geschichte ihrer Familie – anhand der Bücher, die ihr Leben geprägt haben.

Elegant, ehrlich und warmherzig erzählt sie von Büchern, die die Familien der anderen beschreiben. Von Lektüren, die helfen, die eigene Geschichte besser zu verstehen.
(Klappentext)

Rezension:

Der Traum eines jeden bibliophilen Menschen. Christine Westermann träumt ihn schon als Kind. Eine Bibliothek mit Leiter soll es sein, um auch mal die oben stehenden Bücher zu erreichen. Dort oben, im Regal ihrer Eltern, stand z. B. “Der Zauberberg” von Thomas Mann, dieser Roman, der alleine schon durch seinen Umfang zu beindrucken weiß. Die Journalistin, die selbst jahrelang im Fernsehen und Rundfunk schon unzählige Bücher empfohlen und einige geschrieben hat, nimmt ihn sich nun vor, während sie ihr neues Werk schreibt, in dem sie sich entlang der Werke hangelt, die sie für ihr Leben prägten.

In diesem Sinne ist es keine klassische Biografie, die uns Lesenden mit “Die Familien der anderen” vorgelegt wird, auch eine Art Ratgeber sucht man hier vergebens, obwohl die Werke von Christine Westermann in diese Rubrik einsortiert werden. Vielleicht sind es eher zu Papier gebrachte Überlegungen, ein wenig von allem.

So wie in der Öffentlichkeit sie nur Bücher empfehlen möchte, die ihr selbst zusagen, schreibt und erzählt sie, nachdenklich, melancholisch zuweilen, mit einer Prise Humor, denen die das lesen werden, zugewandt. Ausschweifend wie Thomas Mann, gar hochtrabend, wie der, der sein Vorwort Vorsatz nannte, möchte sie nicht sein. Kann sie auch nicht.

Das Lesen dieses Werks fordert, ist anstrengend, die Erinnerungen an erste Auftritte im Literarischen Quartett, an Lesereisen, an deren Ende meist ein Kölsch auf dem Tisch steht oder zermürbende Diskussionen in Sitzungen der Jury zum Deutschen Buchpreis, immer wieder auch das Rückbesinnen auf die eigene familiäre Vergangenheit, zudem, warum sie heute noch mehr an Familienkonstellationen, Brüchen und Wandlungen interessiert ist als an allem anderen.

Das Hochtrabende geht ihr ab, kompakt hangelt sich entlang der Bücher, die sie prägten. Eine sehr interessante Lektüreliste steht am Ende des Buches. Und “Der Zauberberg” von Thomas Mann? Hat sie ihn beenden können, bewältigt diesen Berg? Muss man das überhaupt? Ist abbrechen auch eine Option, wenn man sehr lange schon anderen Bücher empfiehlt? Wenn nicht empfehlen, vielleicht selbst schreiben? Wie macht man das, wird Christine Westermann auf einem Klassentreffen gefragt.

Mir hat diese Art der biografischen Lektüre sehr gefallen. Der Wechsel zwischen Anekdoten der Vergangenheit und Gegenwart, dem Vergleichen mit gelesener Lektüre und wahrscheinlich nicht nur Abgabedatum des Manuskriptes im Nacken, sondern eben auch schwergewichtige Lektüre auf den Nachttisch. Das wirkt sehr locker, sehr nahbar. Was kann ich reinen Gewissens empfehlen, doch bitte nur das, was ich selbst gern gelesen habe. Verrisse versucht Christine Westermann Zeit ihres Lebens zu vermeiden.

Ein paar Anekdoten verraten viel, die Bücherliste der Autorin noch viel mehr, über sie selbst, die für ihre Auswahl der Lektüre oft genug gescholten wurde, nicht nur von Quartett-Kollegen. Doch, was nützt die beste Lektüre, wenn sie die Lesenden nicht erreicht. Das gelingt Christine Westermann mit “Die Bücher der anderen” viel besser.

Autorin:

Christine Westermann wurde 1948 in Erfurt geboren und ist eine deutsche Moderatorin, Journalistin und Autorin. Nach der Übersiedlung von Erfurt nach Mannheim, machte sie nach der Schule ein Volontariat beim Mannheimer Morgen und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Von da an arbeitete sie als freie Journalistin für verschiedene Radio- und Fernsehsender, produzierte Filme und Reportagen.

Später moderierte sie im ZDF “Die Drehscheibe”, später bis 2002 die “Aktuelle Stunde”. Von 1996-2016 moderierte sie die Sendung “Zimmer frei!” und wurde zusammen mit Götz Alsmann dafür mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Von 2015-2019 war sie eine der Teilnehmerinnen des Literarischen Quartetts, daneben präsentiert sie per Podcast und Radiosendung Bücher. Ihr erstes Buch erschien 1999, weitere folgten. Christine Westermann lebt in Köln

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