Rowohlt

Tove Alsterdal: Blinde Tunnel

Inhalt:

Sonja und Daniel wollen ihre Ehe retten und erfüllen sich einen Traum: Das schwedische Paar kauft ein Weingut in Tschechien. Das Anwesen liegt seit dem Zweiten Weltkrieg brach, verströmt jedoch eine betörende Magie. Bei ihren Aufräumarbeiten entdecken sie ein Kellergewölbe mit Flaschen aus den Kriegsjahren. Und die mumifizierte Leiche eines Jungen mit weißer Armbinde. Die Polizei hat kein Interesse, der Sache nachzugehen, aber mithilfe der Anwältin Anna erfährt Sonja mehr über die bewegte Geschichte des Dorfes, die Annexion der Gebiete durch Hitler, das Leid der Bevölkerung. Doch dann wird Anna ermordet und Daniel als Verdächtiger verhaftet. Sonja begreift, dass der Schlüssel in der Vergangenheit liegen muss. Und dass manche Dinge für immer verborgen bleiben sollten. (Klappentext)

Rezension:

Alleine das Szenario reicht bereits aus, um eine Erzählung vollkommen zu überfrachten. Die Frage jedenfalls, stellt sich relativ schnell. Kann das funktionieren? Ein schwedischer Krimi, der in Tschechien spielt und die konfliktbeladene Geschichte zwischen Tschechen und Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Zwischen die damaligen Fronten zu geraten und verschüttete Emotionen aufzurütteln, ist jedenfalls das Letzte, was die beiden Hauptprotagonisten wollen, als sie in die tschechische Provinz ziehen.

Das verlassene Haus mit ehemaligen Weingut sah ja auf den Bildern vor dem Kauf so malerisch aus. In Zentraleuropa angekommen wird Sonja und Daniel jedoch schnell klar, dass mit dem Grundstück auch ein Teil der Vergangenheit dieses Landstrichs erworben wurde, der noch immer nicht zu viele Fragen erwünscht. Als dann auch noch die Leiche eines Jungen im ehemals zugemauerten Weinkeller gefunden wird, ist schnell nichts mehr, wie es war. Sonja beginnt die Geschichte des Ortes zu hinterfragen, doch wem kann sie noch trauen?

Somit ist der Handlungsrahmen umschrieben, in dem sich die beiden Hauptprotagonisten befinden. Beide geraten schnell in einem Strudel hinein, dessen Wirkung sie schnell nicht mehr kontrollieren können. Jeder im Dorf und alle, auf die vor allem Sonja stößt, um mehr zu erfahren, scheinen eigene Interessen zu verfolgen. Nichts scheint Schwarz oder Weiß, viele Grautöne vermischen sich. Auch die beiden Protagonisten haben ihre Ecken und Kanten. Emotionale Kälte ist zwischen den Zeilen zu lesen, genau so wie der Staub vom lange nicht mehr genutzten Boden aufgewirbelt wird.

Dabei umfasst das Szenario im Hier und Jetzt nur wenige Tage. Rückblicke in die Vergangenheit, die sich Sonja nach und nach öffnen, geben der Geschichte eine Dynamik, die vor allem dann interessant wird, wenn das Erfahrene unmittelbare Auswirkungen bekommt. Zudem gibt es zu wenig Literatur, die diesen Teil der Geschichte so einarbeitet. In sofern funktioniert die Mischung, der dennoch an einigen Stellen etwas mehr Tempo gut getan hätte.

Dieses ist nämlich ansonsten durchaus ordentlich. Erzählerische Längen existieren kaum. Auch Sprünge oder Wendungen sind so eingearbeitet, dass sie nicht fehl am Platze wirken. Vielleicht hätten sogar ein zwei derer Sachen mehr der Geschichte gut getan, doch kann man auch damit zufrieden sein, dass nicht skandinavische Melancholie den O-Ton bestimmt. Der Sprung außerhalb der nordischen Länder funktioniert hier hervorragend. Nur eine Frage bleibt offen, wie würde ein solcher Krimi erzählt werden, wenn dieser aus der Feder tschechischer Schreibender stammte? Vielleicht ist jedoch diese Perspektive dem Ganzen zuträglich.

Die beiden Hauptfiguren sind glaubwürdig ausgearbeitet, wobei der männliche Part durch die weibliche Protagonisten Konturen bekommt. Auch die Geschichte wird ja aus Perspektive Sonjas erzählt, bis auf die Rückblicke, die sich ihr nach und nach erschließen. Facettenreich sind sie und alle Nebenfiguren vor allem dadurch, dass lange nicht klar ist, wer der Gegenpart ist und auch das Ende einem mit gemischten Gefühlen zurücklassen wird, was jedoch hervorragend zur Geschichte passt und kaum anders vorstellbar wäre. Eine Erzählung in der nicht alle Konflikte zur Gänze aufgelöst sind, ist eben eines nicht. Langweilig.

So facettenreich die Geschichte, so spannend erzählt Tove Alsterdal diese, dass man gerne mehr erfahren möchte, immer einen kalten Schauer im Nacken spürend. Effekthaschend blutige Szenarien sucht man hier vergebens. Angenehm hat sich die Autorin hier zurückgehalten, trotzdem kommt keine Langeweile auf. Im Gegensatz zu vielen anderen Krimis wird hier mit etwas längeren Kapiteln gearbeitet, deren Übergänge im Verhältnis fließend sind. Trotz der insgesamt sehr kompakten Erzählung hat man das Gefühl, dass die Autorin sich Zeit für die Ausarbeitung der Szenarien genommen und ebenso ausreichend für deren Grundlagen recherchiert hat.

Das trägt dazu bei, dass man sich die einzelnen Schauplätze und Figuren gut vor dem inneren Auge vorstellen kann, ohne sich darin allzu lang aufhalten zu müssen. Dieser Krimi ist damit nicht nur für alle Fans des Genre, sowie so an skandinavischer Literatur Interessierte gerichtet, eben auch für jene, die einmal ausweichend von Sachbüchern mit zweifelhafter Tendenz sich einer Thematik nähern möchten, die sonst nur wenig besprochen wird.

Am Ende fehlt noch der eine oder andere I-Tüpferl, insgesamt ist es jedoch eine sich lohnende Lektüre. Zumal jeder irgendeine Leiche im Keller hat.

Autorin:

Tove Alsterdal wurde 1960 in Malmö geboren und ist eine schwedische Schriftstellerin, Journalistin und Dramatikerin. Zunächst arbeitete sie als Krankenschwester, bevor sie 1985 eine Ausbildung zur Journalistin begann. Danach arbeitete sie lange Zeit für Radio und Fernsehen, begann 1990 zudem für eine unabhängige Theatergruppe zu schreiben. Ihr Krimidebüt gab sie 2009, dem weitere Romane folgten. 2014 erhielt sie den Preis für den besten Kriminalroman des Jahres der Svenska Deckarakademin. 2020 begann sie an einer Krimiserie zu arbeiten, die 2023 abgeschlossen wurde.

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Peter Urban: On Air – Erinnerungen an mein Leben mit der Musik

Inhalt:

Beatles, Bowie, Onkel Pö: Peter Urban erzählt von seinem bewegten Leben mit der Musik.

Seit Jahrzehnten prägt Peter Urban die deutsche Radiolandschaft – als legendärer trockener Kommentator des Eurovision Song Contests, als Moderator verschiedener Musiksendungen, inzwischen auch als Podcaster. Offen und unprätentiös beobachtet er seit fast 50 Jahren als pop-experte die nationale und internationale Musikszene und hat in seiner langen Laufbahn unzählige Pop-Größen getroffen, interviewt und porträtiert – von Keith Richards über Yoko Ono zu David Bowie, Elton John, bruce Springsteen, Joni Mitchell, Paul Simon, Harry Belafonte und Eric Clapton. Mit diesem Buch legt er nun seine Memoiren vor, den Soundtrack eines Lebens, das beruflich wie privat immer von der Musik geprägt war. (Klappentext)

Rezension:

Nahezu alle kennen seine Stimme, ob aus dem Radioprogramm oder aus dem Off, als Kommentar des Eurovision Song Contest, den er seit 1997 bis zu seinem Abschied im Jahr 2003 mit einer Ausnahme begleitete. Doch Urbans Leben mit Musik nahm schon vorher seinen Lauf. Seit seiner Kindheit spielt der 1948 in Bramsche geborene Peter Urban selbst und kam Jahre später eher per Zufall zum Rundfunk und bildete seit dem die Grundlage für so manche Plattensammlung. Nun legt der Moderator und Journalist, ja, auch Musiker, seine Autobiografie vor, in der er nicht nur seine eigene Geschichte festhält.

In einem Interview der NDR-Talkshow hat es Peter Urban einmal in etwa so formuliert, sein ganzes Leben mache oder drehe sich um Musik, aber für den Eurovision Song Contest sei man bekannt. Doch ist das Kommentieren des Musikwettbewerbs nur ein weiterer meilenstein gewesen im bewegten leben, welches er noch einmal Revue passieren lässt. Angefangen hat das alles mit dem heimischen Musizieren im Wohnzimmer der Eltern und dem Beobachten der Techniker, die eine Aufführung aus der Ortskirche seiner Kindheit übertragen sollten. Und so beginnt das Vorspiel, welches ihn von der Heimatregion nach Hamburg, mehrfach nach London und dann rund um die Welt führen sollte. Eindrücklich schildert der Journalist die Suche nach besonderen Platten und Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern. Mit vielen wird er in Berührung kommen.

Im Laufe der Jahre verändert sich das gesellschaftliche Gefüge in Deutschland und der weklt, mit ihm die Musik. Peter Urban versucht Zeit seines Lebens den Blick über den Tellerrand zu bewahren. In den einzelnen, quasi Musiktiteln nachempfunden überschriebenen Kapiteln schält er besondere ereignisse und Wegmarken heraus, was besonders zu Anfang wirkt wie die Abhandlung eines Lexikon der Musikgeschichte.

Nach und nach, als hätte Urban, der sonst nur das Schreiben von Songtexten, Noten oder Moderationstexte gewöhnt ist, erst einmal in das erzählende Texten hineinfinden müssen, wirkt die Biografie zugänglicher und einfacher zu lesen. Natürlich sei gesagt, dass man quasi nebenher unzählige Titel sich heraussuchen und abspielen kann, hat man doch ebenso mit “On Air” einen Fundus an hörbarer Zeitgeschichte vorliegen. Sicher ist es auch so, dass je nachdem ab wann die gemeinsamen Berührungspunkte größer werden, die Biografie interessanter wird. Das beginnt bei mir, der mit Peter Urban als ESC-Kommentator aufgewachsen ist, eben erst damit.

Faszinierend sind die Hintergründe, die er erläutert. Wie liefen Vorbereitungen für eine Radio-Sendung ab, in der bedingt noch viel improvisiert werden musste, wie entwickelte sich die Technik weiter, zum Segen oder Fluch des Moderierenden. Wie betrachtet Urban die Entwicklung des weltweit größten Musikwettbewerbs ebenso wie die Musikszene selbst, wie betrachtet sie auch ihn und warum noch einmal wirkt manches Kommentar am ESC-Finalabend für manch Zuschauenden so betulich? Wo hätte er selbst einmal kritischer sein können oder gar müssen? Peter Urban gibt sich kritisch, sinniert, jedoch ohne über andere, denen er begegnet, herzuziehen. Eine Biografie mit Respekt und ganz viel Nostalgie ist das, so vielschichtig.

Immer noch beeindruckt, schildert er sehr ausführlich die Begegnungen mit Legenden wie Yoko Ono oder Mick Jagger, Keith Richards, einzelnen Mitgliedern der Beatles oder Udo Lindenberg, ohne die Probleme oder schwierigkeiten des Musik-Business’ außen vor zu lassen. Er kennt sie ja selbst, aus eigener Erfahrung heraus. Peter Urban spielte selbst in einigen Bands, was er bei seinem Interviews zu nutzen wusste. Wer ihn traf, der spürte wohl, hier ist jemand, der sich auskennt, der weiß, wovon er spricht.

Diese Liebe zur Musik kommt in jeder einzelnen Zeile durch und ist daher nur als lesenswert zu empfehlen, auch als einen Aspekt der langjähriger bundesrepublikanischer Geschichte und auch sonst. An manchen Stellen wirkt das zwar sehr theoretisch, fast exerzierend, doch zeigt Urban eben auch, was Musik in der Lage ist in Menschen zu bewirken. Damit ist dann nicht nur gemeint, dass auch unzählige Hörer und Hörerinnen seine Rundfunksendungen als Fenster zum Westen nutzten, teilweise penibel Listen führten, wann welche Titel gespielt wurden und sich so ein Stück Ausbruch aus dem Alltag schufen, noch bevor die Mauer fiel.

Der Autor stellt jedoch auch ein bedeutendes Stück journalistischer Entwicklungsgeschichte dar, eben so interessant, wie auch wie er sich zukünftig die Rolle der Öffentlich-Rechtlichen, des Rundfunks und überhaupt des Eurovison Song Contests vorstellt, dem er, wie er selbst feststellt, eigentlich ein eigenes Buch widmen könnte. Dieser sehr ausführliche Streifzug, nicht nur durch die Musik, macht viel Freude, diese zu verfolgen, zudem Peter Urban es vermeidet, gezielt offene Wunden zu suchen und die noch einmal zu erweitern. Auch das ein Kennzeichen des Werks, allen Personen, die in seiner Beschreibung vorkommen, zollt er respekt.

So sind es eben nicht nur “Erinnerungen an mein Leben mit der Musik”, sondern viel mehr als das.

Autor:

Peter Urban wurde 1948 in Bramsche geboren und ist ein deutscher Journalist, Musiker und Radiomoderator. Nach der Schule studierte er zunächst in Hamburg Anglistik, Soziologie und Geschichte, bevor er 1977 über Texte anglo-amerikanischer Populärmusik promovierte. Seit 1973 arbeitet er für den Norddeutschen Rundfunk zunächst frei, später fest angestellt. Zudem verwirklichte er diverse Musikprojekte als Musiker und Komponist. 1988 übernahm er eine Stelle als Redakteur der Musikredaktion des NDR.

Von 1995 bis 1988 war er als Station-Voice von NDR 2 tätig, ab 2003 Redakteur für mehrere Sendungen von NDR Info. Ab 1997 kommentierte er den Eurovision Song Vonetst, war verschiedener Weise auch Juror, z. B. 2012 beim Jewrovision in München. 2013 ging er als Redakteur in Rente, arbeitet jedoch als freier Mitarbeiter weiterhin für den NDR. 2023 kommentierte er zum letzten Mal den Eurovision Song Contest.

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Alexander Bätz: Nero – Wahnsinn und Wirklichkeit

Inhalt:

Seit eh und je fasziniert der römische Kaiser Nero (37-68 n. Chr.) die Nachwelt: als Muttermörder und Brandstifter, als Christenverfolger und tyrannisch-exzentrischer Anti-Kaiser, der sich zum Künstler stilisiert. Doch was gibt die antike Überlieferung eigentlich an verbürgtem Wissen über Nero her?

Alexander Bätz entdeckt Nero neu, indem er sein Leben und seine politische Karriere in die täglichen Rituale der römischen Kaiserzeit einfügt. Durch eine Neulektüre der antiken Quellen treten Nebenfiguren aus dem römischen Alltag in ihren Berührungspunkten mit Nero hervor: Senatoren, die abhängig waren von ihrer Nähe zum Kaiser, einfache Bürger, die ihr tägliches Auskommen im Moloch Rom suchten, jungfräuliche Priesterinnen, prominente Intellektuelle, Soldaten, Sklaven und ehemalige Sklaven, die – etwa als Ammen oder Vorkoster – dem Kaiser so nah kamen wie kaum jemand sonst. (Klappentext)

Rezension:

Der Herrscher schaut von einer Anhöhe auf einen orangeroten Gluthaufen. Feuer frisst sich durch die Straßen und fordert unzählige Opfer. Nero selbst tut nichts, erfreut sich an den Anblick der brennenden Stadt. Das Zentrum des antiken Weltreichs liegt in Trümmern. Es ist vor allem dieses Bild, welches uns aus den Überlieferungen von der Herrschaft Neros geblieben ist, doch muss sie differenzierter betrachtet werden.

Nero, der als Person zum Inbegriff für Inkompetenz, Unberechenbarkeit und Willkür werden sollte, bis heute, war genau das, gleichzeitig eben nicht nur. Größere Krisen erschütterten seine Zeit erst gen Ende seines Lebens, vor allem in seiner Person begründet. Ansonsten erlebte das Weltreich eine Stabilisierungsphase und wirtschaftliche Blüte. Der Historiker und Wissenschaftsjournalist Alexander Bätz hat sich nun die antiken Quellen vorgenommen. Müssen wir unser Bild von Nero neu justieren?

Wer sich mit den Geschehnissen der Antike beschäftigt, kann sich mitunter nur auf wenige ausführliche Quellen berufen, die gegen zu prüfen schwerfällt. Vergleichendes Material ist über die Jahrtausende, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft vorhanden und so beginnt diese Biografie mit der Aufstellung und Bewertung dessen, worauf sich die darauf folgenden Ausführungen und Analysen stützen werden. Bei Nero sind es vor allem drei Quellen antiker Geschichtsschreiber, die Nero selbst altersmäßig kaum gekannt haben dürften und sich ihrerseits vor allem auf Nachbetrachtungen beschränken mussten. Was ist von dem Bild Neros, welches wir heute haben, was unweigerlich auf diese Texte zurückgehen muss, also zu halten?

Der Autor greift weit zurück. Stützt sich zunächst auf Rom und seine Gesellschaft, um dann in die Analyse von Familienstrukturen zu gehen, die der antike Herrscher später nachhaltig durcheinander wirbeln sollte, aber auch für sich zu nutzen wusste. Wie ist die Kaiserwerdung zu betrachten, welche Feinheiten müssen bei Neros Handeln betrachtet werden, wenn der Ausgangspunkt die vorherige Regentschaften Claudius’ und Caligulas gewesen sind?

Sehr nüchtern folgt die Analyse diesem Zeitstrahl, der schon bald erste Ausschläge zeigen sollte, aber auch, dass unser heutiges Bild höchst einseitig ist. Nero war durchaus erfolgreich, zeigt Alexander Bätz, verschreckte jedoch die römischen Eliten zu oft mit seinem Verhalten und seinen Reaktionen, als dass man dies unberücksichtigt lassen kann.

Die sehr detaillierte und ausführliche Biografie erfordert Konzentration ob der Vielzahl antiker Namen, doch werden Hintergründe sehr genau erläutert, so sie zum Verständnis auch Lesender beitragen, denen man nicht unbedingt geschichtliches Grundwissen attestieren kann. Dazu tragen die einzelnen Abschnitte bei, die in sich relativ kompakt formuliert sind und sich praktisch häppchenweise lesen lassen. Damit wird der Fließtext etwas aufgelockert, genau so wie durch zwei sich gut ergänzend einfügende Bildteile. Die Abschnitte fügen sich zusammen zu den Kapiteln, die ihrerseits sehr ausführlich einen kleineren Zeitabschnitt in Neros Leben und Herrschaft darstellen.

Dabei gelingt es Bätz das Bild Neros in seine Einzelteile zu zerlegen und, wo notwendig, zu korrigieren. Nero als Person und seine Zeit müssen differenziert betrachtet werden. Mord, Totschlag, Willkür und Unfähigkeit gehören dazu, aber eben nicht nur. In diesem Sinne ist das vorliegende Werk ein sehr wichtiger Bestandteil der modernen Betrachtung der antiken Welt und einer Person, die trotz dessen, dass sie von jedem nachfolgenden Herrscher verdammt wurde, in den Köpfen überdauerte. Wie auch Rom eben nicht vollständig niederbrannte.

Autor:

Alexander Bätz hat Alte Geschichte, Germanistik, Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Würzburg, Padua und Berlin studiert. Nach seiner Promotion arbeitete er bei der Zeitung Die Zeit und ist seit 2016 als wissenschaftlicher Bibliothekar für Altertumswissenschaften an der Universität Konstanz tätig. Als freier Autor und Wissenschaftsjournalist schreibt er für verschiedene Zeitungen und Magazine.

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Donald Antrim: An einem Freitag im April

Inhalt:

Ein schonungsloser ehrlicher Bericht über Todesnähe als Lebensbegleiter: Donald Antrim beleuchtet Tragödie und Stigma des Suizids und bietet Trost, der Leben retten kann. (Klappentext)

Rezension:

Hinterher weiß Donald Antrim nicht einmal mehr, was ihn diesmal angetrieben hat, die Feuertreppe seines Hauses hochzusteigen. Prüfend tritt er ans Geländer, um in den Abgrund zu schauen. Er hält sich fest, um loszulassen. zumindest mit einer Hand, die dann doch wieder den sicheren Halt sucht. Wie wird es sein, das Sterben? Wird es schmerzhaft werden? Spürt man nichts? Wird Antrim es bereuen, in den Sekunden zwischen Leben und Tod, diese Entscheidung getroffen zu haben? An diesem Tage wird er es nicht erfahren. Aus irgendeinem Grund entscheidet er sich um, geht zurück in seine Wohnung. Ein langer, steiniger Weg über Klinikaufenthalte und Therapien folgt diesem Ereignis, ebenfalls nur ein trauriger Punkt in seinem Leben, zudem der Suizid schon lange gehört.

Wir sagen auch, dass wir das wollen, aber stimmt das auch?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

In einer Mischung aus Essay und bericht beschäftigt sich der amerikanische Autor mit Suizid als Prozess. Als solchem sieht er das, was auch Freitod, Selbstmord oder Selbsttötung genannt wird und oft nur den eigentlichen Schlusspunkt meint. Doch ist es das oder vielmehr eine Krankheit, die die Betroffenen zu einer an sich selbst grausamen oder erlösenden, auch das je nach Blinkwinkel, Handlung bringt. Er stellt dar, wie es ist, mit diesem Gefühl zu leben, sich ein Ende zu wünschen oder darauf meinen hinwirken zu müssen. Doch durchzieht den Bericht auch Hoffnung.

Wenn man beispielsweise sagt, Suizidanten seien von Natur aus impulsive Menschen, unterschlägt man die Stunden, Monate und Jahre der Angst und des körperlichen Niedergangs, der Furcht und scheinbaren Resignation, mit denen wir in den Tod gehen. Oder vielleicht halten wir den Katatoniker für antriebslos und verstehen nicht die Qual, das Gefühl, dass der Körper irgendwie vibriert, die Paralyse. Der Mann auf der Brücke hockt vielleicht stundenlang am Geländer, starrt nach unten und hat zugleich Angst davor, hinzusehenn. Die Frau in den Wellen plantscht nicht ins Meer hinaus, sondern geht eher langsam, bis sie untertaucht.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Klar wägt Antrim ab. Es ist ein ruhiger Text, immer wieder sich selbst prüfend. Wenn ein steiniger Weg ins Unausweichliche führt, kann man auch abbiegen und den Teufelskreis durchbrechen? Der Autor hat das versucht, wollte sich helfen lassen. Dieser Weg ist noch mehr von klippen und spalten durchzogen, Umwegen und Rückschlägen. Er berichtet von seinem Weg, ohne außer Acht zu lassen, dass dieser ihm geholfen hat und für andere etwas anderes gelten mag.

Die Paralyse des Suizids ist keine Apathie oder Stille. Wir fühlen uns eingekapselt, irgendwie eingeengt. Unsere Körper könnten zerbrechen, oder etwas außerhalb von uns wird zerbrechen. Was wird zerbrechen?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Donald Antrim bricht das Schweigen über ein Tabuthema, welches viel öfter zur Sprache kommen sollte, um Zugang zu den Betroffenen zu finden, vielleicht einen Weg, sie aus diesem Teufelskreis herauszunehmen und in Sicherheit zu halten. In einer Mischung aus biografischen Rückblicken, Verarbeitung und nüchternen Bericht ist der Text keine leichte Kost.

Förmlich spürt man die bleierne Last, die dem Autoren die Luft zum Atmen genommen hat. Man muss dann beim Lesen innehalten, blättert zurück, liest einzelne Abschnitte nochmals und fragt sich unweigerlich, wie man selbst in dieser Situation gehandelt hätte. Wäre man stark genug für eine Therapie? Was passiert bei einem Rückschlag? Würde man sich helfen lassen (wollen)? Wann wäre der Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gäbe? Glücklich, wer sich damit noch nie beschäftigen musste. Für die an Suizid leidenden (bleiben wir bei der Betrachtung als Krankheit statt Schlusspunkt) ein tägliches Abwägen. Wann gewinnt was die Oberhand?

Ich bin der Überzeugung, dass Suizid eine Entwicklungsgeschichte ist, ein Krankheitsprozess, keine Handlung oder Entscheidung, kein Entschluss oder Wunsch. Ich verstehe Suizif nicht als Reaktion auf Schmerz oder als Botschaft an die Lebenden – zumindest nicht nur.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Als Teil der Verarbeitung und Enttabuisierung ein notwendiges und wichtiges Schriftstück, wirbt Antrim für diesen Blickwinkel. Vielleicht sollte man aber wirklich gefestigt sein, um diesen Text lesen zu können. Schließlich ist der so stark wie die Thematik selbst.

Autor:

Donald antrim wurde 1958 geboren und ist ein US-amerikanischer Autor. Nach einem Studium an der Brown University veröffentlichte er 1993 seinen ersten Roman, dem weitere folgten. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heyden Fellow for Fiction an der American Academy in Berlin. 2013 erhielt er den MacArthur Fellowship. Er lehrt Literatur an der Columbia University.

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Harald Meller/Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin

Inhalt:

Eine Frau, ein Kind, Todesumstände ungeklärt. Von den Nazis entdeckt und für ihre zwecke missbraucht, versank das 9000 Jahre alte Grab in Vergessenheit. Nun wird der Cold Case mithilfe modernster Wissenschaft aufgeklärt. Die Ergebnisse machen die Schamanin von Bad Dürrenberg zu einem der aufregendsten archäologischen Funde Europas.

Die Bestsellerautoren Harald Meller und Kai Michel brechen auf zu einer Reise in eine fantastische Welt, in der sich das Schicksal der Menschheit entschied.

Sie präsentieren einen archäologischen Krimi erster Güte, der tiefe Einsichten in unsere Ursprünge bietet. Selten war Menschheitsgeschichte so aktuell und bedeutsam wie im Fall dieser geheimnisvollen Frau. Schon zu Lebzeiten war sie eine Legende – und ihre Macht wirkte weit über den Tod hinaus. (Klappentext)

Rezension:

Funde aus längst vergangenen Zeiten vermögen uns heute noch in Erstaunen zu versetzen, nicht zuletzt, wenn sie in unmittelbarer Umgebung passieren. So geschehen in Sachsen-Anhalt, in der Umgebung von Bad Dürrenberg, wo man in den 1930er Jahren das Grab einer Doppelbestattung aus dem Mesolithikum, der Mittelsteinzeit, fand. Das besondere hier, die Grabbeigaben, woraus die Entdecker ihre eigenen Schlüsse zogen, damals ihrer eigenen Ideologie untergeordnet.

Doch was erzählt uns das Grab der Schamanin wirklich? Wer waren Frau und Kind, die dort gefunden wurden? Wie lebten sie? Warum die zahlreichen Beigaben? Was kann uns dieser Fund über das Gestern und Heute erzählen? Der Retter der Himmelsscheibe von Nebra, Harald Meller und der Autor Kai Michel haben sich auf Spurensuche begeben. Eine spannende Reise, nicht nur zu unseren Anfängen.

Dies ist der Ansatz dieses durchaus thematisch interessanten Sachbuchs, in welchem man der Begeisterung seiner Autoren in jeder einzelnen Zeile nachvollziehen kann. Beschrieben wird zunächst einmal, wie Wissenschaft funktioniert, welche Techniken heute im Gegensatz zu noch vor ein paar Jahren uns heute zur Verfügung stehen, um Fragen zu klären und Erkenntnisse gewinnen, aber auch wie systematische Arbeit eine von Ideologien durchzogene ersetzt hat, um die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

Mit der notwendigen Expertise gehen die beiden Autoren nicht nur einem Stück Geschichte der Archäologie auf den Grund, sondern dröseln anhand ihrer Erkenntnisse auch das Leben auf, wie es die Begrabenen geführt haben könnten. Erstaunt registriert man da, was heute mit modernster Wissenschaft und Analyse möglich ist, sich zu erschließen.

Natürlich ist aber Archäologie vor allem zunächst einmal das Aufstellen von Theorien und Modellen. Auch dies wird sehr ausführlich dargestellt. Das wirkt sich negativ auf die Lesbarkeit des Textes aus, der vollkommene Konzentration erfordert. Ausschweifend geht es dabei vor allem zu Beginn um die Begrifflichkeit, was ist überhaupt eine Schamanin? Gibt es eine Definition? Darf man diese überhaupt noch so verwenden, wie sie ursprünglich verwendet wurde? Welche Vorstellungen lassen sich damit verbinden? Woher stammen diese? An manchen Stellen führt dies zu einer Überladung, die kurzzeitig zwingt, innezuhalten und sich zu sortieren.

Da hilft es auch nicht, dass eine Auflockerung anhand mehrerer Zeittafeln und ausgewählten Bildmaterials versucht wird. Diese Veröffentlichung bewegt sich an der Grenze zwischen populärwissenschaftlicher und vollkommen fachlich geneigter Literatur, rein von der Lesbarkeit des Textes, was man wissen sollte, bevor man sich darauf einlässt. Der Informationswert ist jedoch unbestritten vorhanden.

Die Autoren schaffen es, Schauplätze, die Mittelsteinzeit an sich und Archäologiegeschichte wieder aufleben zu lassen, zeigen nebenbei wie Wissenschaft und Diskurs in diesem Kontext funktionieren. Das ist vielleicht das größte Verdienst des Werks. Wer beim Lesen sich nicht an manchen Längen stört, wird eine Lektüre mit Gewinn vorfinden. Und neuen Perspektiven, wie sie einst die Schamanin von Bad Dürrenberg ihren Mitmenschen gegeben hat.

Autoren:

Harald Meller wurde 1960 geboren und ist ein deutscher Archäologe und Historiker. 1981 begann er ein Studium der Vor- und Frühgeschichte, provinzialrömischer Archäologie und Ethnologie in München und Berlin, welches er 1987 abschloss. 1993 promovierte er und war seit 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Vor- und Frühgeschichte in Köln.

1995-2001 war er Gebietsreferent im Landesamt für Archäologie Sachsen, anschließend Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, sowie Direktor im Museum für Vorgeschichte in Halle. Seit 2004 ist er Direktor des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, anschließend Honorarprofessor für die Archäologie Europas in Halle. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er im Zusammenhang mit dem Fund der HImmelsscheibe von Nebra bekannt.

Kai Michel wurde 1967 geboren und ist ein deutscher Historiker und Literaturwissenschaftler, der bereits mehrere Werke zu geschichtlichen und archäologischen Themen veröffentlicht hat. Sein Werk “Die Himmelsscheibe von Nebra” ist eines der erfolgreichsten Archäologie-Bücher der letzten Jahre.

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G.D. Abson: Natalja Iwanowa 2 – Blutrot ist das Schweigen

Einordnung in der Reihe:

G. D. Abson: Natalja Iwanowa 1 – Tod in Weißen Nächten

G. D. Abson: Natalja Iwanowa 2 – Blutrot ist das Schweigen

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Inhalt:

In einer eisigen Januarnacht wird Natalja Iwanowa an eine Landstraße nahe Sankt Petersburg gerufen. Dort liegt die Leiche einer jungen Frau. Was nach einem Erfrierungstod aussieht, stellt sich als Mord heraus. Bevor die Kommissarin mit ihren Ermittlungen beginnen kann, wird ihr der Fall vom russischen Inlandsgeheimdienst entzogen. Denn die Ermordete war Mitglied einer politischen Protestgruppe. Weitere Aktivisten sollen kaltgestellt werden, befürchtet Natalja. Sie muss den Täter finden. Im Namen der Toten und der Gerechtigkeit. (Klappentext)

Rezension:

Mit einer sehr interessanten, da geladenen Mischung, hat der Schriftsteller G. D. Abson seine Krimi-Reihe um die russische Kommissarin Natalja Iwanowa nun fortgesetzt, nicht zuletzt vor den aktuellen politischen Ereignissen, die noch einmal sehr tief in das dortige System der einzelnen Verschachtelungen staatlicher Organe blicken lassen.

Während jedoch andere Fortsetzungen des Öfteren an Spannungsmomenten hat der Autor es hier geschafft, das Niveau seines Debüts zu halten. So begleiten wir erneut die ermittelnde Hauptprotagonistin durch das winterliche Sankt Petersburg und geraten sehr schnell in ein Strudel aus Korruption, Absprachen und den Fallstricken eines politischen Systems, welches auch Natalja Iwanowa an ihre Grenzen bringen wird.

Sie öffnete die Arbeitszimmertür. Die Schubladen mit ihren Unterlagen waren leer, und auch der Computer stand nicht mehr auf dem Schreibtisch. An seiner Stelle lag dort eine Beschlagnahmungsquittung unter einem Briefbeschwerer. “Sieht doch gar nicht so schlimm aus”, sagte Sergej. “Das täuscht, es ist schlimmer – hätte mir das Sledkom Angst einjagen wollen, hätten sie die Bude auseinandergenommen. Aber das hier war eine gezielte Durchsuchungsaktion.” “Hast du denn etwas zu verbergen?”

G. D. Abson: Natalja Iwanowa 2 – Blutrot ist das Schweigen

So ist der vorliegende Band nicht nur ein klassischer Krimi, in dem es um die Ermittlung selbst gehen, sondern auch mit Politthrill-Elementen gespickt, die es in sich haben. Natürlich ist der Erzählstil leichtgängig. Selbst wenn man den Auftaktband sich noch nicht zu Gemüte geführt hat, findet man schnell Zugang zur Geschichte und zu den einzelnen Figuren.

Spannende Wendungen ergeben sich hier jedoch nicht so sehr sich aus den Ermittlungen der Protagonistin, eher aus den Tücken des Systems, innerhalb dessen Iwanowa agieren muss. Die Kapitel sind im typisch modernen Stil sehr kompakt, genügend Cliffhanger sorgen für ein schnelles Vorankommen. Neben der bereits erwähnten Ebene des mit in die Handlung eingewobenen politischen Systems, kommt auch das Privatleben der Akteurin ins Trudeln. Jedoch, um das nachvollziehen zu können, muss man nicht, es ist jedoch hilfreich, den ersten Teil der Reihe gelesen haben. Der Zeitraum des Handlungsrahmens ist indes überschaubar.

Abson konzentriert sich wieder auf relativ wenige Hauptfiguren, die dafür umso stärker ausgearbeitet wurden. Alle anderen sind nur dazu da, um die Handlung voranzutreiben. Die Perspektive bleibt immer die der Hauptprotagonistin. Nichts wirkt hier überfrachtet, dazu der eingearbeitete Flair des Handlungsortes, der sich einmal mehr von seiner düsteren Seite zeigen darf.

Kleinere Logikfehler sind zu verschmerzen, durch den Bezug auf real geschehene Ereignisse und existierender staatliche Strukturen, die die Erzählung sehr authentisch erscheinen lassen, wenn auch das Ende an kleinen Stellen zu wünschen übrig lässt. Das ist jedoch vielleicht auch der Fluch des zweiten Bandes, der zumindest Lust auf die Fortsetzung macht.

Wer gerne rasante, leichtgängige Thriller liest, ohne allzu abstruse Wendungen serviert zu bekommen, sich auch mal an andere Schauplätze als die typischen angelsächsischen Gefilde heranwagt, ist auch mit dem zweiten Band um Kommissarin Natalja Iwanowa gut bedient.

Autor:

G. D. Abson wuchs auf Militärbasen in Deutschland und Singapur auf, bevor er nach Großbritannien zurückkehrte und unter anderem Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Russland studierte. Heute lebt und arbeitet er als selbstständiger Business-Analyst im Süden Englands.

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Peter Englund: Momentum – November 1942

Inhalt:

Im November 1942 drängt alles auf Entscheidung: Auf der Pazifikinsel Guadalcanal schlagen US-Streitkräfte die japanischen Besatzer zurück; in der Schlacht von El Alamein, Ägypten, werden die deutsch-italienischen Truppen zum Rückzug gezwungen; in Stalingrad wird die deutsche 6. Armee eingekreist.

Peter Englund schildert die Ereignisse in diesem entscheidenden Monat aus der Sicht derer, die sie erlebt haben: darunter ein deutscher U-Boot-Kommandant im Nordatlantik, ein zwölfjähriges Mädchen in Shanghai, ein sowjetischer Infanterist in Stalingrad, ein Partisan in den belarussischen Wäldern, eine Journalistin in Berlin, eine Hausfrau auf Long Island – neben bekannten Figuren wie Sophie Scholl, Ernst Jünger oder Albert Camus. Ein episches Geschichtswerk, das die existenzielle Dimension des Krieges erfahrbar macht. (Klappentext)

Rezension:

Nach der Erzählung eines spannenden Stücks skandinavischer Kriminalgeschichte hat sich der schwedische Historiker und Journalist Peter Englund einem Wendepunkt der Geschichte vorgenommen und seziert die wenigen Wochen, die sich rückblickend als mit entscheidend für den Ausgang des Zweiten Weltkriegs darstellen.

Der November 1942 ließ den Mythos der unbesiegbaren Deutschen ebenso bröckeln, wie die über alles erhabene Weltsicht einiger japanischer Militärs. Zugleich zeigte sich das Organisationstalent und die wirtschaftliche Stärke Amerikas, die zum entscheidenden Faktor des Krieges werden sollte, aber auch der unbedingte Durchhaltewillen der sowjetischen Streitkräfte, die bei Stalingrad auf Entscheidung drängten, sowie die brutale Unmenschlichkeit der Vernichtungslager.

Der Autor berichtet mit der Form des literarischen Sachbuchs und bringt die Perspektiven verschiedener Beteiligter rund um den Globus zur Sprache. Beinahe liest man dies wie einen Roman, hat jedoch ein auf gründlicher Recherche gestütztes Werk, welches unzählige Facetten beleuchtet. So verfolgen wir auch die ersten Schritte auf den Weg zur Atombombe, ebenso wie Leben in ihrem Exil, sowie nur scheinbar fernab aller Fronten die Auswirkungen des Krieges spürend.

Peter Englund beschreibt die Auswirkungen des Krieges auf die von ihm gewählten Protagonisten. Fast nüchtern verfolgt er deren Weg, nimmt sich Zeit, ohne Fäden und Biografien aus den Augen zu verlieren. Eine Karte, die das Innere der beiden Buchdeckel verkleidet, verdeutlicht Dimensionen, zwei Bildteile visualisieren das Erzählte. Die Gefahr, ausschweifend zu werden, ist der Autor durch ständige Perspektivwechsel umgangen, die jedoch zuweilen zum Innehalten zwingen, da zu viele Personen es mit sich bringen, durcheinander gebracht zu werden.

Der erzählte Zeitraum ist übersichtlich, doch ist in den Wochen des November 1942 so viel passiert, dass es sich lohnt, diesen gesondert zu betrachten, wie man es mit ähnlichen zeitlichen Abschnitten des Zweiten Weltkrieges bereits getan hat, oft beschränkt auf nur einem geografischen Raum, Land oder Personenkreis.

Diese Art der Betrachtung so geführt ist dagegen nicht so häufig und kann jene ansprechen, die sonst vor Mammutwerken nüchterner Sachliteratur zurückschrecken, zugleich werden auch in Europa eher unbekanntere Ereignisse zur Sprache gebracht. Wie viel wissen wir denn tatsächlich von den Kriegsgeschehen im asiatischen Raum und dem dadurch beeinflussten Alltag der Menschen, etwa in Shanghai oder Burma, wie viel von den Kämpfen auf den Inseln im Pazifischen Ozean?

So bringt der Autor bekannte und unbekanntere neue Facetten zusammen und gibt einen Überblick, der zwar genug detailschärfe besitzt, sich jedoch nicht im Klein-Klein verliert. Dies ist eine Schwäche seines Werks, zugleich jedoch dessen größte Stärke. Anders erzählt, müsste man sich auf nur einen Schauplatz beschränken oder diese Art des Erzählens zu Gunsten eines sachlicheren Stils aufgeben. Peter Englund ist der Spagat gelungen.

Autor:

Peter Englund wurde 1957 im schwedischen Ort Boden geboren und ist ein skandinavischer Historiker und Schriftsteller. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Archäologie, theoretische Philosophie und Geschichte, arbeitete danach im Nachrichtendienst der schwedischen Armee. 1988 veröffentlichte er ein Buch über die Schlacht bei Poltawa, ein Jahr danach promovierte er mit einer Untersuchung des Weltbilds des schwedischen Adels im 17. Jahrhundert.


Danach war er als Journalist und Korrespondent für verschiedene Zeitungen in Kriegs- und Krisengebieten tätig, veröffentlichte zahlreiche historische Werke und war u.a. Kommentator für Dokumentationen im schwedischen Fernsehen. Seit 2009 war er Mitglied der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis vergibt. Ein Amt, welches er is 2015 innehatte. Mehrere seiner Werke wurden in rund zwanzig Sprachen übersetzt.

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Rudi van Dantzig: Der verlorene Soldat

Inhalt:

Erzählt wird die Geschichte eines elfjährigen Jungen, der -im letzten Kriegsjahr mutterseelenallein in ein winziges friesisches Fischerdorf evakuiert- nach der Befreiung durch die Amerikaner von einem jungen Soldaten in eine sexuelle Beziehung hineingezogen wird. Selten sind Kinderängste und verwirrte Gefühle so eindringlich, so offen und so einfühlsam beschrieben worden, und zwar aus der Sicht des Kindes. (Ausschnitt aus Klappentext)

Rezension:

Es gibt autobiografisch angehauchte Erzählungen, die so kompakt wie schwer lesbar sind, dass sie schon mit Erscheinen kontrovers diskutiert und dann beiseite gelegt werden. So muss es auch mit dieser des niederländischen Choreografen und Tänzers Rudi van Dantzig gewesen sein. “Der verlorene Soldat”, 1988 erschienen, ist heute in der Übersetzung von Helga van Beuningen nur mehr antiquarisch zu erwerben.

Worum geht es? Ein Amsterdamer Junge wird gegen Ende des Krieges auf’s Land geschickt, da in der Stadt ein Mangel an Lebensmittel herrscht und die Familie Sorgen hat, über die Runden zu kommen. Die Niederlande leiden unter dem Besatzungsregime, doch gibt es außerhalb der Stadt immer noch Möglichkeiten, so dass sich der kleine Jeroen bald bei einer friesischen Familie untergebracht findet.

Auf sich gestellt, hat er Probleme sich in die Gegebenheite, Sitten und Gebräuche seiner neuen Umgebung einzufinden. Nicht besser wird es, als der Ort von kanadischen Soldaten befreit wird. Einer der neuen Herren nimmt sich Jeroen an, ist beinahe zärtlich, doch schnell rutscht die bekanntschaft in ein Missbrauchsverhältnis ab, welches Jeroen kaum einzuordnen weiß. Instinktiv ahnt er, dass nicht richtig ist, was da passiert, doch mit jedem Kontakt wird die Verwirrung größer, die Grenze durchlässiger.

Die Beschreibung des Inhalts ist geschönt, wird der Autor in der Erzählung doch sehr explizit. Das Entstehen des Abhängigkeitsverhältnisses, explizite Missbrauchsszenen muss man lesen können, um den Roman durchhalten zu können.

Dies ist einer der Gründe, warum das Werk heute als problematisch angesehen werden kann, zudem, wenn bewusst ist, dass Rudi van Dantzig dies zu Teilen am eigenen Leib erfahren musste.

Die andere Fascette des jungen Protagonisten kommt jedoch eben so zum Tragen, wenn der Autor die Verwirrungen Jeroens herausstellt, der mit seinen eigenen Gefühlen und der aufkommenden Pubertät zu kämpfen hat, um am Ende nicht einmal mehr selbst zu wissen, vielleicht nur noch instinktiv, was gerade richtig ist und was definitiv falsch läuft. Der kleine Hauptprotagonist wird dadurch greifbar, für den Gegenpart, der den Jungen so ausnutzt, kann man nichts mehr als Unverständnis, Ekel und Verachtung empfinden.

Wer zu körperlich negativen Reaktionen neigt, sollte von der Geschichte Abstand nehmen, nicht einmal die kurz darauf erfolgte Verfilmung sich ansehen, die sehr viele explizite Szenen abschwächt.

Beschrieben wird ein fassbarer Zeitraum von etwa zwei Jahren aus einer einzigen Perspektive. Der unverstellte Blick des Kindes ist es, der die Handlung vorantreibt und selbst zum Getriebenen wird, ist maßgebend. Der Autor schildert zudem eine Umgebung, in der man nicht anders konnte, als schneller erwachsen zu werden, einfach nur, um zu überleben. Hier gelang Rudi van Dantzig ein Kniff, der diese Differenz zwischen Kindsein und dem nicht Begreifen, sowie der Konfrontation mit der schrecklichsten aller Seiten, die Erwachsene gegenüber Schwächeren zeigen können, noch einmal besonders herauszustellen.

Handlungsorte und Schauplätze sind überschaubar, treten ob der eigentlichen Thematik in den Hintergrund und stellen diese zur Diskussion. So weit gehen wie einige Rezensionen, die meinen, der Autor verherrliche Pädophilie, würde ich nicht gehen, konzentriert sich van Dantzig doch auf die Gefühlswelt des Jungen, der nicht einordnen kann, was da mit ihm gemacht wird und passiert, der eigentlich vertrauen möchte, aber doch jedes Mal aufs Entsetzlichste enttäuscht wird, der kaum einen Weg aus diesem Abhängigkeitsverhältnis weiß, in das er hinein manöviert wird. Einige Passagen sind dennoch mehr als bedenklich zu bezeichnen.

Für wen ist diese Erzählung nun? Für den Autoren selbst, der damit einen Teil seiner Kindheitserinnerungen wohl verarbeitet, vor allem? Den Lesenden, denen eine nahezu unbekannte, vielleicht nicht massenhafte aber doch mögliche Facette des Krieges oder der Nachkriegszeit vor Augen geführt werden soll? Eine Ergänzung zu den vielen Perspektiven, die damals schon veröffentlicht wurden und noch erscheinen sollten? Diskussionsstoff ist damit in jedem Fall gegeben.

Autor:

Rudi van dantzig wurde 1933 in Amsterdam geboren und war ein niederländischer Tänzer, Choreograf und Schriftsteller. Er debütierte 1952 beim “Nederlands Ballet”, schrieb drei Jahre später seine erste Choreografie. Im späteren “Dutch National Ballet” wurde er 1968 Co-Direktor, von 1971-1991 alleiniger Chef. 1986 veröffentlichte er seinen autobiografisch angehauchten Roman “Voor een Verloren Soldaat”, welcher 1992 verfilmt wurde. Er starb 2012.

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Vanessa Nakate: Unser Haus steht längst in Flammen

Inhalt:

Vanessa Nakate wächst in Uganda auf und erlebt, wie es Jahr für Jahr heißer wird, die Ernten immer kleiner werden, Armut und Hunger zunehmen. Als sie sich 2019 mit dem Klimawandel auseinandersetzt, wird ihr klar: Wenn sie nicht handelt, wer dann?

Doch während die Schulstreiks von Fridays for Future in Europa einem farbenfrohen Happening gleichkommen, droht Streikenden in Uganda Gefängnisstrafe. Vanessa schweigt nicht! Entgegen aller Widerstände nimmt sie den Kampf gegen die Klimaerhitzung auf.

(Inhaltsangabe Kurzform)

Rezension:

Als Vanessa Nakate die Berichte über die Klima-Proteste vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2020 zu Gesicht bekommt, traut sie ihren Augen kaum. Neben all den Aktivist*innen, die sich mit ihr für Klimagerechtigkeit und -schutz einsetzen, hätte sie auf den Bildern einer großen weltweit tätigen Presseagentur zu sehen sein müssen, doch wurde sie aus dem Bild getilgt, eine Praxis, wie man sie nur mehr von Diktaturen kennt. Wieder einmal ist Afrikas Stimme unter den Klimaprotesten damit unhör- und unsichtbar gemacht wurden.

Ein Jahr zuvor hat die Uganderin zum ersten Mal von den Protesten in der westlichen Welt erfahren, um sich daraufhin selbst über den Klimawandel zu informieren, und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, in ihrer Heimat sich für den Klimaschutz einzusetzen und die Menschen darauf aufmerksam zu machen. In Uganda ist dies mit vielen Hürden verbunden. Die Meinungsfreiheit ist eingeschränkt, Proteste nur bedingt möglich und der Willkür des Regimes ausgeliefert. Die traditionelle Rolle, die Frauen zugestanden wird, lassen kaum Entfaltungsmöglichkeiten zu. Dennoch wagt es die Autorin, zunächst nur mit Unterstützung einiger Familienmitglieder, auch in Uganda auf den Klimawandel aufmerksam zu machen und ahnt dabei nicht, welche Steine sie ins Rollen bringt.

Inzwischen gibt es ganze Bücher und reihen über den Klimawandel und Porträts der bekanntesten Gesichter der Klimabewegung, was ungemein wichtig ist und den Regierungen allerorts immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden muss. Doch Stimmen aus anderen als den westlichen regionen der Erde, sind kaum hörbar. Woran liegt das?

Die Autorin berichtet von ihrem eigenen Weg hin zu den Protesten selbst, über die Situation der Menschen in ihrem Land und die Auswirkungen, die der Klimawandel schon jetzt in Uganda hat. Nakate ist dabei durchaus kritisch mit sich selbst, stellt jedoch auch dar, was selbst vermeindlich kleine Schritte bewegen können und wie vielgestaltig Aktivismus eben auch sein kann, in Gegenden, in denen man vorsichtig mit der eigenen Meinung hausieren gehen muss.

Nun in Buchform ist diese Stimme sichtbar und damit im Fokus der westlichen Welt, , was sich manchmal spannend wie ein Krimi liest, jedoch immer wieder vor Augen führt, dass es eben auch in Afrika Menschen gibt, die sich für den Klimawandel interessieren und dagegen kämpfen wollen, dass dies jedoch teilweise anders aussehen muss, als wir dies zuweilen auf den Schirm haben, jedoch nicht aus unserem Blickfeld geraten darf.

So ist dieses Werk teils Biografie, Handreichung dafür, wie man selbst sich für Klima- und Umweltschutz einsetzen kann, egal, wie vermeintlich klein Mittel und Wege sind, aber auch Bericht der Entwicklung einer jungen Frau, die man für ihren Mut und Zielstrebigkeit nur bewundern kann. An mancher Stelle rutscht dies sehr ins Emotionale ab, was vielleicht nicht falsch ist, mich aber aus dem Lesefluss herausgebracht hat. Ich hätte mir zudem noch eine ausführlichere Erläuterung von Beispielen des Einsetzens von Klimaaktivist*innen in Afrika gewünscht, als sie die Autorin in ihrem Buch ausführt.

Dennoch ist es gut und richtig, jetzt auch diese Perspektive für alle sichtbar zu haben.

Autorin:

Vanessa Nakate wurde 1996 in Uganda geboren und ist eine ugandische Klimaschutzaktivistin, die sich u. a. für Fridays for Future engagiert. Sie wuchs in der ugandischen Hauptstadt Kampala auf und studierte Betriebswirtschaftslehre an der Makerere-Universität, seit 2019 setzt sie sich für Klimaschutz ein und nahm an mehreren Aktionen der Klimaschutzbewegung teil, zudem initierte sie eigene Projekte, wie dem Ausstatten von Schulen in Uganda mit Solarzellen, sie hält zudem Vorträge und hilft anderen sich für den Klimaschutz vernetzen.

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Wolfgang Kaes: Das Lemming-Projekt

Inhalt:

Frigiliana, ein idyllisches Dorf in Andalusien. Hier säubert Alejandro im Auftrag der Firma CleanContent das Internet vom digitalen Giftmüll, von Pornographie, Hass und Gewalt. Als sich seine Kollegin Maria von einer Brücke stürzt, wird Alejandro klar, dass sein Job nicht nur brutal, sondern lebensgefährlich ist. Dann tauchen auf seinem Bildschirm Fotos auf, die verschüttete Erinnerungen wecken und seine Mutter in Panik versetzen.

Jemand will ihm Angst machen. Doch Alejandro lässt sich nicht einschüchtern. Bald steht er vor einem Grab auf einem Friedhof aus der Zeit der Franco-Diktatur, als die katholische Kirche noch allmächtig war, und damit beginnt die Suche nach der Wahrheit. Sie wird mit jedem Tag gefährlicher, denn Alejandros unsichtbarer Gegner hat die Macht, in die Seelen der Menschen zu dringen… (Klappentext)

Rezension:

Im Süden Spaniens gibt es nicht viele Perspektiven für junge Menschen. Die Jugend-Arbeitslosigkeit ist hoch. Wer kann, zieht weg und die wenigen, die bleiben, nehmen jeden Job an, der sich bietet, um über die Runden zu kommen. So kommt Alejandro dazu, das Internet vom Dreck zu säubern, der sich ansammelt.

Fragwürdige Bilder, Videos von Folter, Gewalt und Pornografie. Er tut dies für ein internal agierendes Firmengeflecht, nicht ahnend, dass er selbst bald in Abgründe hineingezogen wird, die ihn nicht nur in die grausame Vergangenheit seiner Familie blicken lassen, sondern auch ihn selbst mitreißen zu drohen.

Der vorliegende Thriller von Wolfgang Kaes führt uns zu einem der Abgründe unserer modernen Gesellschaft. Es gibt sie wirklich, die Menschen, die im Auftrag der Firmen des Silicon Valley das Internet vom größten Schmutz säubern, denen wir sonst in Gefahr laufen, zu begegnen. Gewaltverherrlichende Videos, Pornografie, abscheulichste Bilder. Sie, die meist keinen anderen Job als diesen bekommen können, ruinieren für uns ihre psychische Gesundheit und müssen, von der Mehrheit der Menschen unbeachtet, mit den Folgen leben.

In diesem Szenario hat der Autor seine Geschichte angesiedelt, was alleine schon für einen spannenden Thriller gereichtet hätte. Doch noch mehr Themen hat Wolfgang Kaes mit der Handlung verknüpft. Verkappte Vergangenheitsbewältigung einer Familie, ebenso wie der sie umgebenden Gesellschaft bilden eben so einen Rahmen, in dem sich “Das Lemming-Projekt” und die handelnden Protagonisten bewegen, denen man trotz Ecken und Kanten manchmal vor die Köpfe stoßen möchte.

Diese haben allesamt Ecken und Kanten, doch der Handlungsverlauf bewegt sich zuweilen schleppend, wird an einigen stellen durch abrupte Wechsel aufgebrochen. Die dadurch entstehende Dynamik sorgt dafür, dass man dabei bleibt, dies zu lesen, zumal Kaes zum Recherchieren einlädt. Große Überraschungen erbgeben sich dennoch nicht. Auch wenn sich die Handlung in Richtung Psychothriller oder Kriminalthriller, so fern es dieses Genre gibt, bewegt, so ist diese Geschichte eher in den Bereich Kriminalroman einzuordnen.

Zentrales Element sind die, hier unfreiwillig, ermittelnden Personen, auch ist die Handlung nicht ganz so eng getaktet, wie dies in den meisten modernen Thrillern der Fall ist. Wolfgang Kaes hat sich Zeit gelassen, in das heutige Spanien, vor allem die für junge Leute eher trübsinnige Seite, einzuführen, was leider ein paar Längen hat entstehen lassen.

Wer einen etwas ruhigen, wir bleiben bei der Einordnung des Verlags, “Thriller” lesen möchte, ist dennoch gut bedient und wird fortan anders über einige der schrecklichen Auswirkungen unserer vernetzten Welt denken.

Autor:

Wolfgang Kaes wurde 1958 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Zunächst studierte er Politikwissenschaft, Kulturanthropologie in Bonn und war freiberuflich als Polizeireporter für den Kölner Stadt-Anzeiger tätig.

Für diverse Magazine und Zeitschriften schrieb er Reportagen, bevor er die Leitung des Bonner Büros der Koblenzer Rhein.-Zeitung übernahm. Als Redakteur und Chefreporter arbeitet er bis heute beim Bonner General-Anzeiger. Im Jahr 2004 veröffentlichte er seinen ersten Roman, weitere folgten. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. erhielt er 2013 den Henri-Nannen-Preis.

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