Erzählung

Sophie Hardach: Unser geteilter Sommer

Inhalt:

Die achtjährige Ella wohnt mit ihren beiden Brüdern, den Eltern und Großeltern nah an der innerdeutschen Grenze in Berlin, doch davon bekommt sie wenig mit. Ihr Leben besteht aus Sommertagen in der Datsche und Abenden in orangenen Ziehbadewannen. Bis ein Urlaub an der ungarisch-österreichischen Grenze ihrer Kindheit ein jähes Ende setzt und die Familie für immer auseinanderreißt.

Zwanzig Jahre später führt das Tagebuch ihrer Mutter Ella zurück nach Berlin. Mithilfe der Stasi-Akten versucht sie zu rekonstruieren, warum die Flucht damals so verheerend gescheitert ist. Und was mit ihrem kleinen Bruder Heiko geschah, den sie in all den Jahren niemals vergessen hat. (Klappentext)

Rezension:

Nur wenige handbeschriebene Seiten sind es, ein paar Notizen und ein Bild, die Ella zurück in eine längst verschüttet geglaubte Vergangenheit katapultieren. Plötzlich lassen die noch immer kaum verständlichen Ereignisse jener Tage sie nicht mehr los, die ihre Kindheit schlagartig beendeten. Bilder von der gescheiterten Flucht kommen wieder hoch, Erinnerungen an den kleinen Bruder, der von der Familie getrennt wurde, von dem es seit dem keine Spuren gibt. Die nun junge Frau sucht nun, mit den wenigen Anhaltspunkten, die ihr die Mutter hinterlassen hat, nach ihm. Noch immer stößt sie auf Mauern.

So beginnt die Handlung dieses Romans, der sich in die gute alte Tradition großer Familiengeschichten einreiht, sowie die Geschichte der Metropole an der Spree als Kulisse nimmt. Erfolgsgaranten, die allzu oft ins Kitschige abstürzen. Der Journalistin und Autorin Sophie Hardach ist der Spagat gelungen, Ereignisse zu erzählen, wie sie tatsächlich vor dem Hintergrund der Historie hätten stattfinden können.

Die Erzählung besteht aus einem klug zusammengestellten Puzzle der Handlungsstränge und Zeitebenen. Von beiden gibt es nicht zu viele. Wir begleiten einen jungen Archivaren, dem Zweifel an seine Arbeit kommen, über seinen Tisch gebeugt Papierstreifen zusammenklebend, um die Vergangenheit zu rekonstruieren. Sollen und möchten die Menschen wirklich wissen, dass der Freund, mit dem sie heute vielleicht noch Abende am Gartentisch verbringen, sie früher einst bespitzelt hat? Ist es nicht besser, bestimmte Punkte zurückzuhalten, zu verändern?

Wir begegnen dem Kind, dessen Leben sich schlagartig ändert, der späteren jungen Frau, die versucht, die Vergangenheit zu ergründen und zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Die Eltern, die im Wechselbad sich gezwungen sehen, sich zwischen relativer Sicherheit und ungewisser Freiheit, aber eben Freiheit, zu entscheiden. Die Großmutter, die einst für ihre Überzeugungen nach Buchenwald verbracht wurde, den neuen Staat begrüßte und erst mit seinem Ende beginnt, Illusionen zu hinterfragen.

„Ich sage dir, meine Parteifreunde wären entsetzt, wenn sie das alles wüssten. Das ist einfach irgendein Abschaum, der sich hier so was mit uns erlaubt. Ich werde mich beschweren, Horst. Ich lasse mir das nicht bieten, ich sorge dafür, dass die zur Ordnung gerufen werden.“ „Du meinst, in der Partei weiß man nichts davon? Das ist die Partei, Trude.“

Sophie Hardach: Unser geteilter Sommer

Ineinander verschachtelt baut sich eine immer rasanter verlaufende Geschichte auf, deren Ende man ahnt, zumal die tatsächlichen Ereignisse bekannt sind, doch bringt die Autorin Themen zur Sprache, mit denen nicht wenige heute noch hadern dürften, unter deren Folgen zu leiden haben. Desillusionierung ebenso, wie Risse zwischen Familien, gescheiterten Fluchten und der Trennung von Familien sind in der Erzählung verwoben, ebenso die heute wichtigen Fragen der Aufarbeitung und Konfrontation mit der Vergangenheit.

Viele Themen sind das für einen vergleichsweise kompakt wirkenden Roman, der kein Wort zu viel verliert. Neben der Entwicklung der zwei Hauptcharaktere ist vor allem die Ausgestaltung der schon erwähnten Großmutter interessant. Viele Grautöne gibt es, jedoch auch klare Gegenpole.

Auch die sind glaubwürdig und nachvollziehbar. Die Geschichte selbst wird aus mehreren Perspektiven heraus erzählt, durchbrochen von Ausschnitten aus Akten, die Ella und Aaron, der junge Archivar, mit der Vergangenheit konfrontieren und immer wieder Momente der Unruhe und Anspannung einflechten. An manchen Stellen hätte der Text mehr Kühle und Härte ertragen können. Einiges wirkt fast zu sanft. Vielleicht kann man das aber auch nur so machen, wie von Sophie Hardach erdacht? Ist die Wirklichkeit nicht manchmal zu grob, zu unerträglich? Der Erzählung haben jedoch die Hintergrundrecherchen sehr gut getan.

Hier ein paar Zeilen weniger, dort ein paar mehr Ausführungen fehlen vielleicht, doch ist die Geschichte in sich schlüssig und gut zu lesen. Ruhige und Spannungsmomente wechseln sich im richtigen Maße ab. Wirklich überraschende Wendungen gibt es kaum. Man ahnt sehr schnell, worauf die Handlung hinauslaufen wird. Trotzdem werden Zeit und Geschehen sehr lebendig vor Augen geführt. Gerade wenn man Berlin kennt oder gar die letzten Jahre der DDR miterlebt hat (Das wiederum kann ich mir nur vorstellen.), für jene gibt es einige gelungene Verknüpfungspunkte.

Wer sich gerne in Familiengeschichten verliert und sucht, was Schicksalsschläge mit Menschen macht, wer Romane vor zeithistorischer Kulisse sucht, dennoch einen zum Großteil eher ruhig gehalten Schreibstil bevorzugt, für jene ist diese Erzählung. Figuren und darum gewobene Geschehnisse sind erfunden. Alleine, sie hätten so passieren können.

Autorin:

Sophie Hardach wurde 1979 in Deutschland geboren und ist Autorin und Journalistin. Sie schreibt für The New York Times und den Guardian. Ihr Roman „Unser geteilter Sommer“ war für den Costa Novel Award“ nominiert. Mit ihrer Familie lebt sie in London.

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Eric Vuillard: Die Tagesordnung

Inhalt:

20. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten.

Mit virtuoser Eindringlichkeit und satirischem Biss seziert Vuillard die Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten und macht deutlich: Die Deals, die an den runden Tischen der Welt geschlossen werden, sind faul, unser Verständnis von Geschichte beruht auf Propagandabildern. (Klappentext)

Rezension:

Nach Anhören oder Lesen einiger Rezensionen riet mir ein erster Impuls damals von der Lektüre ab, doch fiel mir später die Taschenbuchausgabe in die Hände. Meine Gedanken zu diesem Werk hatte ich dato längst verdrängt. Manchmal ist das Vergessen von Sachverhalten ja etwas Wunderbares, kann man sich doch so, in diesem Falle dem Text, einmal unbefangen nähern. Und so griff ich „Die Tagesordnung“ aus meinem Regal heraus und begann zu lesen.

Schon mit dem Lesen der ersten Abschnitte stellt sich die Frage, was dieses Werk eigentlich sein will? Sein soll? Ein Roman ist das nicht, dafür wirkt die Form zu starr. Die Kategorisierung Sachbuch trifft hier ebenso wenig zu. Vielleicht hat uns Eric Vuillard hier eine Mischform aufgetischt? Im Fernsehen würde man wohl Doku-Spiel dazu sagen. Tatsächliches Geschehen noch einmal nachgespielt. Hier eben in Textform. Bekannte Szenen aus der Anfangszeit des NS-Regimes als Postkartenmotiv in Hochglanzform.

Und das ist ein Problem. Das Ausgangsmaterial hat beinahe Jeder bereits in aller Ausführlichkeit im Geschichtsunterricht serviert bekommen. Auch die Ergebnisse sind bekannt. Nichts Neues an Erkenntnissen gewinnt man, wenn das alles noch einmal umgeschrieben zu lesen ist.

Der rote Faden, der Lauf der Geschichte, den hat Vuillard hier ausgefranzt. Mal passen Szenen nicht zueinander, Übergänge, die diese schleichende Machtergreifung noch mehr verdeutlichen könnten, wie sie die Nationalsozialisten fabrizierten, fehlen zu Teilen gänzlich. Das ist handwerklich schlecht gemacht und trägt der Brisanz nicht unbedingt Rechnung.

Zudem darf sich der Autor die Frage gefallen lassen, warum mitten im Geschehen der Text endet. Und der Verlag, warum man nicht nochmals über den Klappentext geschaut hat. Letzterer beschreibt eine Szene von vielen, leider von zu wenigen, die in diesem Werk vorkommen könnten.

Bei Ersteren, ja, es wird die Vereinnahmung Österreichs beschrieben, der Anklang der Münchener Konferenz, der die Tschechoslowakei zum Opfer fallen sollte, aber mehr eben auch nicht. Warum nicht? Warum hat Vuillard nicht mehr aus den Stoff herausgeholt, dem ihn die Geschichte bietet? Keine Lust, weiterzuschreiben, wenn wir einmal bei dem Text an sich sind, sich wenigstens zu entscheiden, ob man einen Roman, eine Novelle vielleicht oder doch ein literarisches Sachbuch machen möchte?

Nun liegt das Werk eben so vor. Es lässt sich auch leicht lesen, zumal alles jedem darin bekannt sein dürfte. Danach bleibt jedoch auch nichts mehr übrig. Nicht mehr als ein Vergleich zumindest. Zu Pandemie-Zeiten haben einige von uns erfahren müssen, wie es ist, zu essen und nichts zu schmecken. Man wird vielleicht satt, aber das war es dann halt auch.

Vielleicht demnächst wieder ein Sachbuch oder einen richtigen Roman.

Autor:

Eric Vuillard wurde 1968 in Lyon geboren und ist ein französischer Schriftsteller und Filmemacher. Er studierte Jura, Politikwissenschaften, Philosophie, Anthropologie und Geschichte an der Elitehochschule EHESSS und veröffentlichte 1999 erste Erzählungen. Dem folgten weitere Texte, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Im Jahr 2017 erhielt er den Prix Goncourt für „Die Tagesordnung“.

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Ian McEwan: Lektionen

Inhalt:

Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1958 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat. Sowohl episch als auch intim – ein bewegender, zutiefst menschlicher Roman über Liebe, Verlust, Kunst und Versöhnung. (Klappentext)

Rezension:

Wer sich in eine Geschichte hinein begibt, kommt darin um. Zumindest manchmal. Zumindest dann, wenn Erwartungshaltung und, in diesem Falle, Gelesenes weit auseinanderklaffen. Dabei beginnt diese Erzählung aus der Feder des britischen Schriftstellers Ian McEwan recht vielversprechend, beinhaltet sie doch alle Elemente, die für sich genommen und in mancherlei Zusammenspiel gut funktionieren.

Der Roman ist eine Mischung aus zunächst Coming of Age, im Rahmen einer Internatsgeschichte nach alter englischer Tradition, wandelt sich dann zu einer Geschichte über Missbrauch und Vereinnahmung, um zu einer fiktionalen Biografie, einem Familienepos vor zeithistorischer Kulisse, gewürzt mit einer gehörigen Portion Gesellschaftskritik, zu werden. Eingebettet in einem fast zu ruhigen Erzählstil passiert zu Beginn nicht viel, um dann jedoch unerwartet zu zuschlagen, womit in dieser sehr ausufernden Erzählung schon bald eine Kerbe eingeschlagen wird, die wir Lesenden für den Rest der Geschichte im Hinterkopf behalten und nicht wieder loswerden.

Das liegt nicht an der Ausgestaltung der wichtigen beiden Hauptprotagonisten. Diese ist dem Autor gelungen, weißt doch der zunächst Elfjährige Ecken und Kanten auf, die er die gesamte Handlung über behalten wird, verstärkt und noch stärker in den Fokus gerückt, durch seinem Gegenpart, deren Handeln Ursache für alles ist, was folgt. An diesen beiden Figuren hat Ian McEwan eine Missbrauchsgeschichte erarbeitet, wie man sie seltener liest. Hier ist das Opfer ein Junge, der Täter eine Frau, die so berechnend wie perfide ihren Schüler zuerst unsittlich berühren, dann vereinnahmen wird, was Auswirkungen auf das gesamte Leben von Roland.

Der erkennt den Missbrauch erst spät als solchen oder kann ihn nach Jahrzehnten erst als solchen benennen, hat die Chance, seine Peinigerin nach Jahrzehnten zur Rechenschaft zu ziehen und vertut diese Chance. Beide Protagonisten haben ja schließlich damit ihre Leben verpfuscht und dennoch gelebt, wozu also die Vergangenheit noch einmal aufrollen?

Das ist nur ein Teil dieser noch über mehrere hundert Seiten gehenden Erzählung, doch überdeckt er alles andere. Natürlich sind Geschichten mit dieser Thematik immer schwierig zu entwickeln und irgendjemanden wird, egal wie die Geschichte gedreht und gewendet wird, sich daran stoßen, aber alleine das Gefühl zu erzeugen, zu sagen, Missbrauch ist okay, wenn er von Frauen ausgeht, ist die Ahndung auch nach Jahrzehnten nicht wert, selbst wenn das nicht vom Schreibenden so beabsichtigt ist, schafft ein Geschmäckle. Wäre die Figurenkonstellation eine andere, der Missbrauchende ein Mann, das Opfer ein Mädchen, mit dieser Schlussfolgerung, der Aufschrei des Feuilletons wäre dem Roman sicher.

Und da nützt es auch nichts, dass dies nur ein, zumindest hier so empfundener, Aspekt dieser Erzählung ist und der Rest zähflüssig vor der Kulisse beinahe aller historischer Kulisse verläuft, die die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu bieten hat. Ian McEwan fährt von Kubakrise über Tschernobyl und Mauerfall bis hin zur Pandemie wirklich alles auf. Natürlich, ein langes Leben nimmt halt vieles mit, aber hier hätten noch mehr persönliche Spannungsformulier ausformuliert gereicht, um die Tragweite der Handlung voran zu bringen.

Die Stärke des Autoren liegt in der Ausarbeitung der Charaktere, wenn auch konsequent nur die Perspektive der Hauptfigur dominiert. Nebenfiguren nehmen diese Rolle immer dann ein, wenn es um Rückblenden und Zeitsprünge geht, diese zu verdeutlichen. Aber eben auch das hilft nicht gerade, wenn die ganze Zeit wirklich alles eben auf diesen Missbrauchsmoment heruntergebrochen werden kann und letztlich keine Konsequenzen folgen.

Schauplätze dagegen werden sehr plastisch beschrieben und für die Lesenden zum Leben erweckt. Auch sei zu erwähnen, dass der Autor einen winzig kleinen Teil seiner eigenen Biografie mit eingewoben hat. Die Antagonistin ist dies jedoch nicht.

Und so bleibt ein Werk, welches ich aufgrund eines Aspekts und wenn ich damit Geisterfahrer zu anderen Rezensenten bin oder ich das „falsch“ verstanden habe (Wenn dem so ist, dann hätte man diesen Fallstrick beim Schreiben des Romans bemerken müssen.), einfach nicht empfehlen kann. Für Sprache und Figurenausarbeitung möchte ich hier jedoch die Pluspunkte sehen.

Autor:

Ian McEwan wurde 1948 geboren und ist ein britischer Schriftsteller. Zunächst studierte er englische und französische Philologie und schloss das Studium anschließend mit einem Bachelor of Arts in englischer Literatur ab. Während des Studiums besuchte er einen Kurs für Kreatives Schreiben und unterrichtete später selbst.

1975 veröffentlichte er eine Kurzgeschichtensammlung, danach weitere Erzählungen und Romane. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt und vielfach übersetzt. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, im deutschsprachigen Raum u. A. mit dem Deutschen Buchpreis und der Goethe-Medaille.

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Benjamin Heisenberg: Lukusch

Inhalt:

Als Anton Lukusch 1987 aus der Ukraine nach Westdeutschland kommt, ahnt niemand, was sich hinter dem stillen Dreizehnjährigen verbirgt. Nur durch Zufall wird er kurze Zeit später als überragendes Schachtalent entdeckt. Die Bundesrepublik stürzt sich auf „ihr“ neues Wunderkind. Doch wo Erfolg Geschichte schreibt, da tummeln sich die Profiteure schon.

Benjamin Heisenbergs „Lukusch“ ist eine wilde und witzige Fahrt durch die unfassbare Geschichte des jungen Schachgenies Anton und seines grobschlächtigen Sidekicks Igor. klug und lässig zugleich spielt dieser Roman mit den Möglichkeiten des Erzählens und sprengt dabei seine eigenen Grenzen. (Klappentext)

Rezension:

Den Gegner seine Bewegungsfreiheit zu nehmen, ihn Zug für Zug auszumanövrieren, dies ist das Spiel der Könige, welches mit den Gegensätzen spielt. Schwarze und weiße Figuren werden gleichsam zweier Völker wie eine Armee über ein Spielfeld bewegt. Immer weniger Möglichkeiten auf Aktion Reaktion folgen zu lassen, gibt es bald für eine der beiden Seiten, während die andere Oberhand gewinnt. Zumindest meistens.

Übertragen auf große gesellschaftliche Ereignisse und Umbrüche, ist dies meist nicht ganz so einfach. Zu viele Schattierungen befinden sich zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Der Regisseur und Autor Benjamin Heisenberg hat es dennoch versucht, im übertragenen Sinne aus den einzelnen Figuren einen Roman herauszuarbeiten. Ist ihm eine moderne Version der „Schachnovelle“ nach Art Stefan Zweigs gelungen oder doch noch mehr und etwas ganz anderes?

Wir Lesende steigen in die Geschichte gegen Ende der 1980er Jahre ein, als sich die Risse im System hinter dem Eisernen Vorhang immer deutlicher zeigen. Das Unglück von Tschernobyl, 1986, lässt die Welt still stehen. Wenig später werden zahlreiche Kinder und Jugendliche zur Genesung und Erholung außer Landes geschickt. Auch in Westdeutschland nimmt man sie auf. Anton Lukusch, der titelgebende unscheinbare Protagonist, ist eines dieser Kinder. Erst als er ein Schachspiel beobachtet, taut er ein wenig auf.

Schnell wird deutlich, der Junge hat Talent. Fortan wird das Wunderkind herumgereicht, spielt gegen den Bundeskanzler, beeindruckt bei Tests und Untersuchungen. Schnell jedoch verdunkeln Wolken den Erfolg. Eine zweifelhafte Organisation möchte sich die Begabung des Jungen zu Nutze machen, der das alles über sich ergehen lässt, immer begleitet von einem noch undurchsichtigeren Schatten, Igor, als er selbst einer ist. Erfolg folgt auf Erfolg, bis der Junge urplötzlich verschwindet. In der Gegenwart begibt sich der erwachsene Sohn seiner Gastfamilie auf Spurensuche, ohne zu ahnen, dass das Spiel noch lange nicht beendet ist.

So viel zur Geschichte, die gleichsam eines Schachspiels aus unwirklich vielen Elementen besteht, aufgrund derer man zeitweilig an der Genre-Zuordnung zweifeln mag. Roman heißt es da, aber genau so haben wir Ebenen eines packenden Thrillers, Gesellschaftskritik, zeithistorisches Porträt und ein Dokuspiel. Es ist ein experimenteller Film in Schriftform, der hier vorliegt, in den man sich einfinden muss, um nicht zwischen den Zügen zerrieben zu werden. Was eindeutig erscheint, wird im nächsten Moment ad absurdum geführt. Erzählstränge gehen nahtlos ineinander über, genauso wir nicht immer sofort ersichtlich zwischen Zeitebenen gewechselt wird.

Passend dazu eingewoben finden sich Fotografien, durchaus mit Realbezug, Fahndungsplakate, Protokolle und Zeitungsausschnitte, die kurzzeitig Zweifel aufkommen lassen, ob man es hier nicht doch mit einem kuriosen Sonderfall der Schachgeschichte, die genug Anlässe für Dramatik bietet, zu tun hat, um dann wieder ins Epische hineinzufinden. Diesen Zugang benötigt man. Wer den Protagonisten folgen will, benötigt Konzentration und Geduld.

Die Figuren sind in ihren Gegensätzen nicht immer nachzuvollziehen oder zu erklären, wie sich auch jeder Zug erst im Kontext eines Spiels erschließt, was manchmal dazu führt, dass eine gewisse Distanz besteht, die erst viel später aufgebrochen wird. Alle Protagonisten spielen um ihr Leben, Zusammenhänge, Sieger und Besiegte stehen erst spät fest. Niemand ist hier allwissend.

Die ungewöhnliche Art des Erzählens ist erst gegen Ende schlüssig. In dieser Art und Weise ist eine Geschichte selten zu lesen, wenn man den Zugang dazu findet. Lange bleibt unklar, welcher der Protagonisten die Oberhand gewinnen wird. Das Verwirrspiel ist gleichsam ein Puzzle aus Auslassungen und Wendungen, die ebenfalls im Nachhinein einen Sinn ergeben.

Wir bleiben einmal bei der Zuordnung Roman, der sicherlich nicht für jeden geeignet ist, zumindest nicht, wenn man liest, um den Kopf frei zu bekommen. Eher werden sich hieran die Geister scheiden, dennoch werden alle Zugang zumindest zu einigen Elementen finden. Davon hat die Geschichte einfach so viele, und sei es nur das zeithistorische Porträt. Man kann sich das gut vorstellen, diese Welt in Umbruch, Ängste, nicht zuletzt durch die Bezüge zur heutigen Zeit. Tschernobyl ist ein Symbol für vieles, das Schachspiel ohnehin.

Beim Schreiben merkt man den Hintergrund des Autoren, die Freude am Konstruieren und Schichten. Das gelingt nicht zuletzt durch einen klug ausgestalteten Hauptprotagonisten. Nur, wer spielt die Figuren? Wer wird am Ende matt gesetzt?

Autor:

Benjamin Heisenberg wurde 1974 in Tübingen geboren und ist ein deutscher Regisseur, Autor und Künstler. Nach der Schule studierte er Bildhauerei und erhielt 2000 sein Diplom an der Akademie der Bildenden Künste München, arbeitete anschließend als Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie. 2000 erhielt er den Debütantenpreis und studierte parallel, seit 1997, zudem Spielfilmregie, welches er 2005 abschloss. Zudem veröffentlichte er mehrere schriftstellerische Werke, Kurzfilme und nahm an zahlreichen Ausstellungen teil. Für seine Arbeit wurde Heisenberg mehrfach ausgezeichnet.

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Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau

Inhalt:

Was tut ein vierzehnjähriger Pariser Vorstadtjunge aus prekären Verhältnissen abends in der Bibliothek? Er hilft seinem Vater, der den Lebensunterhalt der Familie als Putzkraft verdient, und wischt Staub von den Büchern. Hin und wieder schlägt er eines auf, lernt neue Wörter und lacht sich kaputt.

Saphia Azzeddine erzählt leichthändig und schnell eine liebevolle Vater-Sohn-Geschichte voller Situationskomik und Galgenhumor. Ein unterhaltsamer, ironischer Bildungsroman über das bittere Leben am gesellschaftlichen Rand, der fest daran glaubt, dass nichts verloren ist, so lange es Bücher gibt. (Klappentext)

Rezension:

Gesellschaftskritik, Bildungsroman, Coming of Age, dieses Kurzstück ist irgendwie alles, soweit das möglich ist in dieser kompakten Form, die zwischen den Fingern zerrinnt, gleichsam eines Arthouse-Films, wie Fäden geschmolzenen Käses. Zunächst, das muss nichts schlechtes sein, funktioniert es unter der Feder Saphia Azzeddines‘ im Großen und Ganzen gut.

Wir begleiten den Jungen Paul, von seiner Familie Polo genannt, durch die Pubertät bis hinein ins junge Erwachsenenalter. In einer Zeit, die für die meisten seiner Altersgenossen ohnehin schon anstrengend genug ist, unterstützt er seinen Vater dabei, den Lebensunterhalt für die Familie als Reinigungskraft zu verdienen. Auch in einer Bibliothek finden sich die beiden wieder. Die Welt der Wörter wird für den Jungen fortan Flucht- und Mittelpunkt, nicht zuletzt auch, um mit der realen Welt klarzukommen.

Im Laufe der Zeit entdeckt der Junge immer neue Wörter und macht sie zu seinen eigenen, vergrößert damit gleichsam seinen Horizont. Doch, hilft das, sich ein besseres, ein anderes Leben als das seines Vaters aufzubauen? Seiner Schicht zu entfliehen? Emotional an der Grenze zur Nüchternheit erleben wir Lesende die Welt aus den Augen eines Jungen, der außerhalb der beinahe zum Ritual für Vater und Sohn werdenden Ausflüge kaum aus seinem Stadtviertel herauskommt und nebenbei den ganzen Ballast von Problemen, mit denen er jonglieren muss.

Beachtung, Nichtbeachtung, Wut und Verzweiflung, Melancholie, die erste Liebe. Die Autorin packt die großen Themen, reißt sie an, lässt sie offen. Nicht alle wird der Protagonist auflösen können. Das Leben ist nicht perfekt. Ein paar kluge Gedankengänge verlieren sich zwischen den Buchstaben. Andere Handlungsstränge werden weiter verfolgt.

Nur so hat es die Autorin geschafft, fast die Novellenform zu halten, trotz des umfassend beschriebenen Zeitraums. Um Gegensätze streift die Figur, berührt sie ab und an, durchbricht sie selten. Die Konzentration auf Dreh- und Angelpunkt wird beinahe stoisch gehalten. Kürzen kann man hier kaum mehr etwas. Ein paar Seiten mehr, dazu Tempo und weniger Melancholie hätten dem Roman gut getan.

Neben der Hauptfigur gewinnt nur der Vater des Protagonisten, zwangsläufig durch die Handlung bedingt, an Kontur, alles andere verblasst vor den Grautönen der Banlieue.

Wo es Paul fehlt, mangelt es auch dem Lesenden, wenn auch nicht an Schlüssigkeit und Konsequenz. Die wird fast bis zum Ende durchgehalten. Ohne näher darauf einzugehen, das ist weder zu klischeehaft, noch raffiniert gelöst. Die leichteste aller Varianten wurde da gewählt.

Da fehlt die sprichwörtliche Sahne auf den Kuchen, der auch ohne die sonst obligatorische Kirsche auskommen muss. Das entspricht ungefähr diesem Text. Man wird satt, bleibt das auch, weil’s nicht schlecht war, aber eben Standardessen. Man spürt den Staub, von dem Polo die Bücher befreit förmlich in den eigenen Atemwegen, stirbt aber auch nicht daran. Große Überraschungen darf man hiervon nicht erwarten, zumal nur Details erzählt werden, wenn sie das Interesse der Hauptfigur auf sich ziehen. Da sich daran von Beginn an nichts ändert, merkt man schnell, wohin die Geschichte führt, oder eher, wo sie stehenbleibt.

Es verstört geradezu, dass die Autorin ihrer Hauptfigur so gar keine Ambitionen verschrieben hat, sich, die Beziehung zu dem Vater einmal ausgenommen, da herauszuarbeiten, ansonsten jedoch kann man sich die Tristesse gut vorstellen, wie auch das Gefühlschaos des Jugendlichen. Der Funke, dass der Roman einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird, ist aber schlichtweg nicht vorhanden.

Für wen ist dann dieser Durchschnitt französischer Literatur gedacht? Bitte nicht für jene, die damit noch nie in Berührung gekommen sind. Die fassen doch danach kaum mehr als ein Asterix-Heft an? Wobei dort ja auch Staub aufgewirbelt wird, wenn auch nicht über Worte.

Autorin:

Saphia Azzeddine wurde 1979 in Agadir, Marokko, geboren und ist eine französisch-marokkanische Schriftstellerin und Journalistin. Sie wuchs in Frankreich auf, arbeitete als Diamantenschleiferin und studierte anschließend Soziologie. 2008 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, zudem schrieb sie mehrere Drehbücher. Sie arbeitet zudem als Journalistin.

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Norris von Schirach: Beutezeit

Beutezeit von Norris Schirach

Inhalt:

Als Wladimir Putin im Januar 2000 Staatspräsident wird, verlässt der reich gewordene Rohstoffhändler Anton fluchtartig Moskau. Hinter ihm liegen acht atemberaubende Jahre im postsowjetischen Raubtier-Kapitalismus, vor ihm die gähnende Langeweile im gutsituierten Milieu New Yorks. Doch auch mit vierzig ist Anton noch immer ein unverbesserlicher Romantiker auf der Suche nach dem nächsten Kick. Da macht ihm ein Headhunter ein verlockendes Angebot in Zentralasien.

Beutezeit ist ein beeindruckend aktueller Roman über eine postsowjetische Gesellschaft, die im Sumpf aus Korruption und Terror versinkt. Norris von Schirach beschreibt meisterhaft, was wirtschaftliche Macht, Korruption und autokratische Hybris bedeuten können. (Klappentext)

Rezension:

Die flirrende Zeit des Tanzes auf den Vulkan, kurz vor dessen Ausbrauch. Antons Leben gleicht einem Drahtseilakt und so flüchtet er aus Moskau, als ein neuer Machthaber im Kreml sein Amt antritt. Im fernen Amerika herrscht Tristesse vor, da locken Abenteuer und die Möglichkeit nach viel Geld den reich gewordenen Rohstoffhändler ins zentralasiatische Kasachstan. Mit finanziellen Mitteln aus anonymer Quelle soll er ein Stahlwerk aufbauen. Vor Ort entwickeln die Geschehnisse jedoch ihre ganz eigene Dynamik, deren Strudel Anton kaum kontrollieren kann.

Dies ist die gut, unabhängig vom ersten Roman Norris‘ von Schirach zu lesende Erzählung, die ein Jahrzehnt später ansetzt und zu einem viel zu wenig beachtenden Schauplatz führt, jedoch ein Szenario von erschreckender Aktualität darstellt. Die temporeiche Geschichte, die die Dynamik solcher Orte sehr gut herausarbeitet, funktioniert, ebenso wie die Herausarbeitung des Protagonisten, der mit zunehmender Seitenzahl an Statur gewinnt.

Nichts ist schwarz oder weiß, die handelnde Hauptfigur agiert im Graubereich zwischen staatlicher Willkür, Korruption, Kapitalismus in seinen Extremen, Clan-Kriminalität und Seilschaften inklusive. Sehr viel Gesellschaftskritik bringt der Autor, der Land und Leute aus eigenem Erleben gut kennt, mit hinein, positioniert sich mit dem Wandel seiner Geschichte, ohne den Zeigefinger zu erheben. Fast immer ist es die Sicht des Hauptprotagonisten, aus der erzählt wird, wobei gezielt ruhige Momente Atempausen zwischen rasanten Szenarien eingesetzt werden. Lesend befindet man sich mitten im Geschehen. Man kann sich das gut als Vorlage für ein Drehbuch vorstellen.

Die Geschichte wird über einen Zeitraum von mehreren Jahren erzählt, der Wandel dargestellt vor allem aus der Sicht des Protagonisten auf sein eigenes Handeln, welches sehr flexiblen Denken unterliegt. Die Dynamik zwischen skrupellosen und trickreichen Geschäftsmann sowie Schöngeist mit moralischen Zweifeln, die der Autor hier geschaffen hat und bis zum Ende durchhält, ist faszinierend zu lesen. Andere Figuren dienen nur dazu, das Tempo der Erzählung zu erhalten oder nach ruhigen Momenten neu zu befeuern. Deren Hintergründe bleiben jedoch, zumindest in Teilen im Dunklen.

Durchweg spannend erzählt, mit einigen Momenten zum Durchatmen, sieht sich der Protagonist ständig neuen Ereignissen und Wendungen ausgesetzt, die glaubwürdig dargestellt werden, wenn auch an der einen oder anderen Stelle Logikfehler durchschimmern. Vielleicht erscheint das jedoch auch nur so, da für unser westliches Verständnis derart beschriebene Ungeheuerlichkeiten außerhalb des Möglichen erscheinen, kommen wir durch Medienberichte auch nur mit den Spitzen dieser Eisberge in Berührung und müssen nicht mit den Alltäglichkeiten solcher Systeme leben.

Ausschweifend ist allein die Anzahl der Dreh- und Angelpunkte, ansonsten beherrscht Norris von Schirach eine Erzählweise, die einen schnellen und spannenden Film im Kopf entstehen lässt. Zudem werden viele Problematiken zur Sprache gebracht, die schlicht Realität sind. Korruption, Machterhalt, Geldwäsche, der Rohstoffhunger Chinas, Gier … Noch mehr zusammenfassen als der Autor dies hier getan hat, ist kaum möglich. Dargestellt wird ein großes Puzzlespiel, dessen Teile wie Zahnräder einer Maschine ineinander greifen. Immer folgt auf eine Aktion eine Reaktion. Und auf einen Band der nächste. Der ist in den letzten Seiten angelegt.

Das ist das einzige Mal, dass ein Cliffhanger so mit einem derartigen Zeigefinger in der Geschichte platziert wird.

Autor:

Norris Benedikt von Schirach wurde 1963 in München geboren und ist ein deutscher Geschäftsmann und Schriftsteller. Er war zunächst kaufmännisch in London tätig, bevor er in Konstanz Verwaltungswissenschaften studiert, und anschließend in den USA, Kasachstan und Russland, 1993 – 2003, gearbeitet hat. 2018 veröffentlichte er seinen ersten Roman, zunächst unter Pseudonym, welches jedoch schnell enttarnt wurde. Sein Roman „Beutezeit“ erschien 2022.

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Grete Weil: Der Weg zur Grenze

Inhalt:

Eine Entdeckung: Grete Weils bisher unveröffentlichter, 1944 im Amsterdamer Versteck entstandener, großer Roman über Alltag und Widerstand in NS-Zeiten, über die Flucht aus Deutschland 1936 und eine große Liebe, die tödlich endet. Ein bedeutendes, zum ersten Mal zugängliches Werk der deutschen Literatur, eindrücklich und hellsichtig. (Klappentext)

Rezension:

Es ist eine Geschichte, die Grenzen überwindet, nicht nur wörtlich genommen im Sinne der handelnden Figuren, auch die Autorin hat damit eine Vielzahl von Barrieren überwunden. Nun liegt Grete Weils Erzählung „Der Weg zur Grenze“ erstmalig einem größeren Publikum vor. Worum geht’s? Als das NS-Regime gefestigt, immer schärfer die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden organisiert, entschließt sich Monika Merton zur Flucht über die Berge an der österreichischen Grenze, nachdem ihr Lebensgefährte bereits im Konzentrationslager Dachau umgekommen ist.

Auf den Weg begegnet sie per Zufall dem Lyriker Andreas von Cornides. Ihm erzählt sie ihre Geschichte. An deren Ende angelangt, trifft dieser eine Entscheidung mit Folgen.

In diesen Rahmen teilweise holzschnittartig eingearbeitet, tauchen wir ein in die eigentliche Handlung und verfolgen den Weg der Hauptprotagonistin, von ihrer Jugend an, bis zu diesem Zeitpunkt, auf dem alles hinauslaufen wird. Teilweise sehr ausschweifende Beschreibungen großer Gefühle wechseln mit anfangs kleinen Nadelstichen, die sich zu einer immer größeren Bedrohung ausweiten. Das liest sich mitunter sehr holprig. Im Erzählstil eingefunden, kann man jedoch mit zunehmender Seitenzahl die Geschichte genießen.

Erzählt wird ein Zeitraum über mehrere Jahrzehnte, entlang der Biografie der Autorin, die sehr viel Persönliches in ihre Hauptfigur eingearbeitet hat. Tatsächlich ist Grete Weil die Monika Merton dieses Romans, deren Stationen auch die ihre sind, welches die erste Ebene neben der eigentlichen Erzählung darstellt. Die Orte der Handlung scheinen einem zuweilen durch die Finger zu gleiten, doch spürt man das langsame Aufbäumen der Katastrophe, die Unsicherheiten, die erst nur diffus erscheinen, dann jedoch greifbar für jene zu werden, die erst daran nicht hatten glauben wollen, nun sich dem ausgesetzt sehen und jenen, die nach und nach die Machenschaften willentlich unterstützen oder zumindest hinnehmen.

Das Ensemble wechselt leicht mit den in den jeweiligen Jahren spielenden Handlungen, doch bleiben die Hauptfiguren die gleichen, deren Wandlung Grete Weil nur behutsam vorangetrieben hat. Wenige gewinnen ein umfassendes Profil. Andere bekommen gerade einmal so viel Kontur, wie es der Handlung dienlich ist. Die Aufstellung ist klar. Es gibt wenig weiß, überschaubar schwarz und ganz viele Grautöne dazwischen. Die Hauptprotagonisten sind in ihrem Handeln nachvollziehbar, manchmal jedoch an der Grenze des Erträglichen, den Dreh- und Angelpunkt des Romans nicht ausgenommen.

„An diesen Greueln trägt nicht ein einzelnes Volk die Schuld. Seitdem Klaus tot ist, weiß ich es besser als jemals zuvor. Denn keine Nation besteht nur aus Bösewichten. Doch wenn Mörder an der Spitze stehen und Prämien für Morde ausschreiben, wird aus jedem Volk die Hefe hervorbrechen und Schreckliches anrichten.“
„Und wir anderen schweigen still dazu und wollen dies alles nicht sehen.“
„Was sollt ihr schon machen? Angst schließt euch die Augen, Angst bringt euch dazu, dem Terror zuzustimmen, Angst macht euch grausam. Wann handeln denn je die Menschen aus sich selbst? Es ist die Situation, die sie bestimmt, zu ihren guten Taten. Es gibt hierzulande, wie überall in der Welt, nicht viele Helden.“
„Ich gehöre jedenfalls nicht dazu“, sagte Andreas mit niedergeschlagenen Augen-

Grete Weil: Der Weg zur Grenze

Wenige Figuren sind wichtig für die Handlung. Aus noch weniger Perspektiven wird die Geschichte erzählt, jedoch gerade genug, um eine gewisse sich einstellende Eintönigkeit zu unterbrechen und die Handlung voranzutreiben. Viel davon ist vorhersehbar, gerade, wenn man mehrere Geschichten dieser Art bereits sich zu Gemüte geführt hat.

Interessant wird der Roman durch das bereits erwähnte Einbringen biografischer Abschnitte der Autorin, die diese ihren Figuren zu eigen macht, sowie die Entstehungsgeschichte selbst. Den Roman hat die Autorin im Amsterdamer Exil geschrieben, versteckt vor dem NS-Regime, wie auch einige andere Werke, etwa einem Theaterstück, welches sie mit Freunden für eine Widerstandsgruppe schrieb, derer sie angehörte.

Nach dem Krieg bekam die Autorin, deren Werke in den Niederlanden erfolgreich waren, in ihrer ursprünglichen Heimat wenig Anerkennung. Erst nach Jahrzehnten gelang ihr mit „Meine Schwester Antigone“ in Deutschland der Durchbruch. Das nun vorliegende, erst kürzlich entdeckte Werk, holt noch mal andere Facetten hervor, lt. editorischer Notiz und einem ausführlichen Vor- und Nachwort, in denen die Geschichte eine Einordnung erfährt. Obwohl zu Teilen Liebesgeschichte, diese Ebene kann zuweilen als sehr anstrengend empfunden werden, ist dies ein großes Stück Exilliteratur. Wer sich einmal in Schreib- und Erzählstil eingefunden hat, wird dies durchaus mit Gewinn lesen können.

Autorin:

Grete Weil wurde 1906 geboren und studierte zunächst Germanistik, bevor sie eine Lehre als Fotografin begann. 1935 folgte sie ihrem Mann ins Exil nach Amsterdam, wo sie ein Fotostudium übernahm, nach der Besetzung durch das NS-Regime im Judenrat arbeitete.

Sie baute die Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland“ mit auf und kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück. Ihre Romane waren zunächst in ihrer Heimat weniger erfolgreich als in den Niederlanden, mit „Meine Schwester Antigone“ erlangte sie jedoch auch hier eine größere Bekanntheit. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet und war Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. 1999 starb sie in Grünwald bei München.

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Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Inhalt:
Der zwölfjährige Bird lebt mit seinem Vater in Harvard. Seit einem Jahrzehnt wird ihr Leben von Gesetzen bestimmt, die nach Jahren der wirtschaftlichen Instabilität und Gewalt die »amerikanische Kultur« bewahren sollen. Vor allem asiatisch aussehende Menschen werden diskriminiert, ihre Kinder zur Adoption freigegeben. Als Bird einen Brief von seiner Mutter erhält, macht er sich auf die Suche.

Er muss verstehen, warum sie ihn verlassen hat. Seine Reise führt ihn zu den Geschichten seiner Kindheit, in Büchereien, die der Hort des Widerstands sind, und zu seiner Mutter. Die Hoffnung auf ein besseres Leben scheint möglich. Eine genauso spannende wie berührende Geschichte über die Liebe in einer von Angst zerfressenen Welt. (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Wenn es ein dystopischer Roman geschafft hat, mich in seinem Bann zu ziehen, ist es die Erzählung „Unsre verschwundenen Herzen“ aus der Feder der amerikanischen Schriftstellerin Celeste Ng, gerade weil sie zahlreiche Parallelen zu Geschehnissen rund um den Globus aufweist, die bereits in Ansätzen brutale Realität geworden sind.

Ein Jahrzehnt nach einer die Wirtschaft erschütternden Krisensituation haben die Vereinigten Staaten ihr weltoffenes Gesicht gewandelt. Ein, abweichende Meinung unterdrückendes Land steht nun an dessen Stelle und es sind vor allem Menschen mit asiatischen Hintergrund, die für die wirtschaftlichen Spannungen verantwortlich gemacht und nun mit allen politischen Mitteln ausgegrenzt werden.

Schon ein von der Mehrheit abweichendes Aussehen reicht, um in Verdacht zu geraten, Aufrührer zu sein. Menschen verschwinden, nicht zuletzt Kinder werden von ihren Eltern getrennt. In dieser Welt nun wächst Bird auf, der zusammen mit seinem Vater auf dem Gelände des Harvard-campus lebt.

Der arbeitet in der dortigen Bibliothek und schärft seinem Sohn ein, nur ja nicht aufzufallen, denn auch Bird hat das asiatische Aussehen seiner Mutter geerbt, die kurz nach Beginn der Wirtschaftskrise die Familie verließ, um ihn zu schützen. Doch dem Jungen begegnen im Laufe der Zeit nicht nur eine Geschichte aus seiner frühen Kindheit, so dass dieser sich auf eine Suche begibt, die einem Lauf auf einem Drahtseil gleicht. Wohin wird sie führen?

Allmählich verstand sie, wie es ablief. Man sagte etwas, und jemanden gefiel es nicht. Man tat etwas, und jemanden gefiel es nicht, aber vielleicht tat man auch nichts, und jemanden gefiel auch das nicht.

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Dies ist das Grundgerüst der Geschichte, die zunächst etwas sperrig, fast unnahbar daherkommt und dann doch schnell zu fassen ist. Düster die Tonalität schon zu Beginn sehen wir ein Szenario, welches in Ansätzen bereits Wirklichkeit ist. Parallelen etwa zu Trumps Trennung von Eltern und Kindern, die illegal über die mexikanisch-amerikanische Grenze geflüchtet waren und dann aufgegriffen wurden, sind nicht rein zufällig. Auch anderswo auf der Welt passiert ähnliches.

So ist die Geschichte, die einen Zeitraum von wenigen Tagen umfasst, mit Rückblenden in die Vergangenheit, sehr greifbar. Tragende Hauptfigur ist der junge Protagonist, der zwischen den Stühlen der Erwachsenen steht, und nicht zuletzt seine eigene Geschichte verstehen möchte. Die Gegenseite bleibt dabei unscharf. Ein Nebel, der nicht zu fassen ist. Eine stets präsente Bedrohung, die kein Gesicht braucht, nur durch brutale Konsequenzen definiert wird.

Da war etwas. Man hatte etwas getan, man hatte etwas gesagt, man hatte nichts getan, man hatte nichts gesagt.

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Der Handlungsstrang wird dominiert durch den Blickpunkt des Protagonisten, während in Rückblicken die Perspektiven anderer Figuren dominieren. Erst daraus ergibt sich das Gesamtbild, welches in sich schlüssig erzählt wird.

Trotz der ruhigen Erzählweise gelingt es der Autorin ein interessanteres, da noch mehr zur Realität möglich werdendes Szenario aufzubauen, als zum Beispiel Margaret Atwood oder etwa, im Jugendbuch-Bereich, Suzanne Collins. Dabei passiert, über die Zeilen gepeilt, eigentlich nicht viel. Celeste Ng versteht es jedoch, Nadelstiche an der richtigen Stelle zu setzen, die es einem kalt über den Rücken laufen lassen. Auch funktioniert hier das Stilmittel des halboffenen Endes, ohne so zu wirken, als wüsste die Autorin sonst nicht, wie sie die Handlungsstränge hätte auslaufen lassen sollen.

Wahrscheinlich ist gar nichts, aber –
Ich dachte nur, ich sollte etwas sagen, falls –
Natürlich, ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist aber –
Dann tauchten überall in der Stadt die ersten Plakate auf. Im ganzen Land.
Vereinte Nachbarn sind friedliche Nachbarn, wir passen aufeinander auf.

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Diese Dystopie, die in einigen Fascetten bereits an verschiedenen Schauplätzen Realität geworden ist, kommt sehr plastisch daher. Es ist zugleich eine Darstellung von Verbotskultur und dem, was Literatur in schweren Zeiten an Hoffnung geben kann, um zumindest eine aufhellende Komponente zu haben. Man kann sich das alles sehr gut vorstellen.

Auch die Recherche und Einarbeitung asiatischer Diskriminierungserfahrungen haben der Erzählung gut getan, zumal die Autorin eventuell sicher auch Beispiele aus eigenem Erleben bringen könnte. Diese Verflechtung wirkt und hat eine Erzählung geschaffen, die so schnell nicht loslässt und zugleich eine Warnung ist, sollte wieder einmal ein Bauernopfer für eine bestimmte Situation gesucht werden.

„Unsre verschwundenen Herzen“, sollten einen Platz auf jeder Leseliste haben.

Autorin:

Celeste Ng wurde 1980 in Pittsburgh geboren und ist eine US-amerikanische Schriftstellerin. Zunächst studierte sie Englisch und Kreatives Schreiben in Harvard und Michigan und gewann für eine Kurzgeschichte den Hopwood Award, sowie den Pushcart Prize, 2012. Ihr erster Roman erschien 2014, 2020 eine Miniserie basierend auf ihrem zweiten Werk, welches 2017 veröffentlicht wurde. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Cambridge.

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Karine Tuil: Diese eine Entscheidung

Inhalt:

In einem Hochsicherheitstrakt des Pariser Justizpalastes muss die charismatische Untersuchungsrichterin Alma Revel über die Festsetzung oder Freilassung eines blutjungen Mannes entscheiden, gegen den ein Terrorismusverdacht vorliegt. Doch nicht nur beruflich ist Alma extrem gefordert.

Ihre Ehe ist am Ende und sie stürzt sich Hals über Kopf in eine Affäre, ausgerechnet mit dem Anwalt, der nun den Terrorverdächtigen verteidigt. Alma trifft eine folgenschwere Entscheidung, die ihr Leben und ihr Land auf den Kopf stellen wird. Was sind wir bereit aufzugeben, um unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten? (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung wie ein französischer Film möchte man meinen, ganz so schlimm verhält sich der Roman der Schriftstellerin Karine Tuil jedoch nicht. Dennoch steht hier ebenso eine zentrale Frage über die Geschichte, an deren Ende wir einsteigen, um dann dem eigentlichen Weg dorthin zu verfolgen. Ein Attentäter hat in einem Pariser Nachtclub mehreren jungen Menschen das Leben genommen. Videoaufnahmen von der Tat sind das, was davon übrig bleibt. Und die Frage nach der Schuld, die sich vor allem Alma Revel stellt. Hat ihre Entscheidung dazu geführt, dass dies geschehen konnte?

Verhältnismäßig ruhig wirkt der Roman schon zu Beginn, wenn er zwischen den Gegebenheiten, beinahe, eines Justizthrillers und der gesellschaftlichen Bestandsaufnahme schwankt, die die Autorin in ihrer Geschichte verpackt. wie weit müssen wir gehen, um einer möglichen zukünftigen Bedrohung schon im Vorfeld Herr zu werden, sie gar zu verhindern, wenn dies auch heißt, die Freiheit des Einzelnen einzuschränken? Wie weit sollten wir gehen, um uns und andere zu schützen und wie gehen wir mit den Konsequenzen eines ungewissen Ergebnisses um?

Karine Tuil lässt diese Fragen allesamt auf ihre Hauptprotagonistin einstürzen, deren zwei Seiten, wie Ecken und Kanten wir im Verlauf der Geschichte kennenlernen. Zum Einen, wenn es darum geht, wie diese, als Untersuchungsrichterin, den Angeklagten zu vernehmen, zum anderen, wenn die Konsequenzen des Beruflichen das eigene Privatleben grundsätzlich in Frage stellen. In kompakter Erzählweise wird dabei ein Zeitraum von wenigen Wochen erzählt, der zwangsläufig in die vorweg genommene Katastrophe münden muss. Vielleicht interessant zu erwähnen, dass in Europa vor allem die französische Literatur sich gefühlsmäßig so mit diesen Fragen auseinandersetzt.

Im Fokus steht hier neben der Hauptprotagonistin die vernommene Person, die den gesamten Verlauf gewollt kaum fassbar sein wird, sowie als Gegenüber dessen charismatischer Anwalt, der die Gegenseite vertritt und damit das Prinzip der Rechtstaatlichkeit, dass alle vor Gericht gleich sein sollen. Es ist natürlich jedoch auch der Part, der die Prinzipien der Hauptfigur in Frage stellen muss und somit eine gewisse Dynamik ins Handlungsgeschehen hineinbringt.

Das beschränkte Figurenensemble, sowie die wenigen Handlungsorte lassen die Erzählung sehr konzentriert erscheinen, zumal die wenigen Perspektivwechsel klar erkennbar voneinander getrennt werden. Moralische Fragen werden immer wieder auf das Tableau gebracht. Die Handlung wirkt dabei in sich schlüssig. Gewollt lenkt Karine Tuil die Gedanken und Sympathien der Lesenden in eine ganz bestimmte Richtung, um natürlich eine gewisse Wirkung gen Ende zu erzielen.

Was den Anteil des Justizthrillers an dem Roman angeht, so ist hier kein Verständnis des französischen Rechtssystems von Nöten. Grundlegende Kenntnisse des Selbstverständnisses des französischen Wertesystems, welches man im Allgemeinen schon im Geschichtsunterricht mitbekommt, sollten die meisten ohnehin aufgrund von Allgemeinbildung besitzen. Alles andere ergibt sich. Die Autorin lässt dabei nicht nur die Figuren und derer Denken lebendig werden, auch die Schauplätze sind fassbar. Das liegt vor allem in der Bezugnahme oder Assoziation zu realen Ereignissen. Jedem etwa dürften die Anschläge auf die Zeitungsredaktion von Charlie Hebdo ein Begriff sein, ebenso wie die um das Bataclan-Theater, auch in anderen französischen Romanen ein Thema der Verarbeitung.

In diesem Roman werden Grundsatzfragen einer Gesellschaft thematisiert, die ständig zwischen Sicherheit und Freiheit, Recht und Gerechtigkeit, Chancen und Schuld, sowie Verantwortung abwägen muss. Bleibt nur zu sagen, dass es darauf keine eindeutige Antwort geben kann.

Antworten darauf können nur teilweise gegeben werden und sind in Teilen immer unbefriedigend. Sowie das Ende der Erzählung. Muss man einer Tragödie noch Kitsch folgen lassen, der zwangsläufig etwas aufgesetzt wirken muss? Hier hätte ein halb offenes Ende der Geschichte gut getan oder die Streichung der letzten Abschnitte, wenn dies auch nur Abzug in der B-Note bedeutet.

Ansonsten lohnt sich das zu lesen.

Autorin:

Karine Tuil wurde 1972 in Paris geboren und ist eine französische Schriftstellerin. Sie studierte Kommunikations- und Informationswissenschaften, sowie Recht. Sie gewann einen Kurzgeschichtenwettbewerb und veröffentlichte im Jahr 2000 ihren Debütroman „Pour le pire“, dem weitere Werke folgten. Seit dem veröffentlichte sie weitere Romane, die vielfach nominiert und ausgezeichnet sowie in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

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Elke Lorenz: Machtworte

Inhalt:

Die Geschichte eines Mädchens und ihrer Familie im Osten Deutschlands. Sie wächst nach dem Krieg als Tochter eines der neuen Gesellschaft kompromisslos dienenden Staatsanwalts auf. Immer ist sie konfrontiert mit seiner Wortmacht, seinen Forderungen, seinen Anklagen und Urteilen, seinem Krieg der Worte. Der Mann weiß alles, hört alles, er hat immer recht. Irrte er, war das notwendig gewesen für einen höheren Zweck. Und das Mädchen hat zu folgen, muss vieles durchleben und verstehen. Verletzendes, Böses, Komisches, bis bei ihr aus dem Nachreden ein Nachdenken wird, bis sie als junge Frau andere Worte hat als der Vater für ihr Leben sucht und findet. (gekürzter Klappentext)

Rezension:

Nach dem Tod des Mannes erinnert sich das einstige Kind, inzwischen längst erwachsen, zurück, spürt der über allem schwebenden Frage nach dem Warum nach. Warum dachte, warum handelte der Mann, der ihr Vater gewesen war, so und warum sah er das Leid der ihn umgebenden und ausgelieferten Menschen nicht, die Differenzen zwischen aus einer Ideologie heraus entstandenen Wunschvorstellung und dem Unglück derer, die sich dem nicht fügen konnten oder wollten? Nicht zuletzt seiner eigenen Familie.


Elke Lorenz beschreibt in „Machtworte“, ihrem neuen zeithistorischen Roman, der fiktives Geschehen mit eigenen Lebenserfahrungen verbindet, wie ein vorgegebenes gesellschaftliches Bild nicht nur eine Gesellschaft zerbrechen lässt, sondern auch jene auseinanderbringt, die sich eigentlich am nächsten stehen sollten. Diese Elemente sind hier verbunden mit einer eindrücklichen Coming-of-Age-Geschichte, einer kompakt formulierten Familienhistorie, die sich so oder ähnlich, im übertragenen Sinne, in vielen Familien Ostdeutschlands abgespielt haben dürfte.

Die Autorin, die sich in der Rolle des Mädchens begibt, erste Arbeiten entstanden dabei bereits Mitte der 1980er Jahre, als noch längst nicht abzusehen war, dass ein paar Jahre später ein komplettes Staatensystem in sich zusammenfallen würde, beschreibt dabei nüchtern den sich wandelnden Denkprozess. Zunächst möchte das Mädchen gerne glauben, doch schon da ist Angst das bestimmende Gefühl. Noch nicht vor den langen Armen eines Landes seinen Feinden gegenüber, hier noch in der Gestalt des Vaters, der von Beginn an unnahbar erscheint. Mit den Jahren schlägt Glaube in Erkennen um. Reife macht das Loslösen, nicht zuletzt vom Weltbild des Mannes möglich. Probleme folgen auf den Fuß. Wie integer und selbst bestimmend bleiben, in einem Land, welches alles unter Kontrolle haben möchte?

Trotz dem die Geschichte vor allem aus einer Perspektive heraus erzählt wird, werden die Sichtweisen der elterlichen Figuren vorangestellt, um einen Teil des Rahmens zu bilden, der erst gegen Ende geschlossen wird und in dem sich die Protagonistin bewegt. Lorenz gelingt damit der Versuch, die Erzählung nicht einseitig verkommen zu lassen, sondern eine Erklärung zu liefern, warum die dem Mädchen umgebenden Erwachsenen so handeln, gleichzeitig wird die charakterliche Stärke ihrer Hauptfigur um so besser herausgearbeitet. Der Tonfall. der die sich über Jahre abspielenden Handlung erzählt, ist nüchtern gehalten, stellenweise arg kalt. Die Autorin verliert kein Wort zu viel und versteht es schnörkellos ohne Ausschweifungen zu erzählen.

Elke Lorenz gibt nicht vor, wie ihre Leserschaft die beschriebene Zeit zu werten haben, zeigt jedoch, warum bestimmte Personen so handelten, wie sie gehandelt haben und was dies mit jenen machte, die darin eben nicht ihr Glück sahen. Sie zeigt im Kleinen die Differenzen einer Gesellschaft auf, die mit den Jahren immer mehr nur nach Außen eine Einheit darstellte, am Ende nicht einmal das vermögen konnte.

Die Sympathiepunkte liegen klar auf Seite der erzählenden Protagonistin, auf alle anderen Figuren muss diese nur reagieren. Mal sind die dunklen Flecke größer, mal ist die Weste tiefschwarz. Oder eben rot, wenn wir bei dem Zeitstrang bleiben. Man kann eigentlich nicht anders, als mit der Hauptfigur mitzufühlen, zu leiden, zu kämpfen. Da die Geschichte aus einer Art Rückblende heraus erzählt wird, ist von Anfang an klar, dass die erzählende Perspektive allwissend ist, auch den Lesenden sollte schnell bekannt werden, wohin das alles führt, zumal wenn der zeitliche Kontext bekannt ist. Die Autorin verklärt nichts, gibt jedoch Einblicke auch in jene, die wirklich an bestimmte Mechanismen dieses Systems glaubten. Das ist teilweise sehr beklemmend zu lesen, zumal aus ostdeutscher Perspektive. Hier wären noch andere Lese-Perspektiven interessant.

Die Autorin beschreibt vor allem die Mechanismen einer Gefühlswelt, die sich nach allen Seiten eingeschränkt sieht. So was muss man mögen, um in die Erzählung komplett eintauchen zu können. Dann jedoch werden Figuren und Schauplätze lebendig. Nicht nur die beschriebene Wohnung ist plötzlich beengend.

Der Roman zeigt ganz klar eine Perspektive von vielen und spricht damit nicht nur ostdeutsche Lesende an, sondern alle, die verstehen und begreifen wollen. Den zeitlichen Kontext ausgetauscht, dazu bestimmte Begrifflichkeiten und schon könnte die Erzählung in jedem anderen autoritären Staatswesen spielen. Dabei wirkt das Ende der Erzählung dann doch eine Spur zu einfach. Ansonsten ist Elke Lorenz, nicht zuletzt durch eigene, eingearbeitete Erfahrungen, mit „Machtworte“ eine abgerundete Geschichte gelungen.

Autorin:

Elke Lorenz, geb. 1950, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete danach drei Jahre lang in einer Kreisredaktion. Es folgten erste literarische Arbeiten. Nach der Wende war sie verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Bautzen. Seit 2009 widmet sie sich wieder vermehrt ihrer schriftstellerischen Arbeit. „Machtworte“ ist ihr Debütroman. Elke Lorenz lebt in Wuischke am Czorneboh bei Bautzen.

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