Erzählung

Anna Seghers: Transit

Inhalt:
Marseille im Sommer 1940: Am Rande Europas versammeln sich die von den Nazis Verfolgten und Bedrohten. Sie hetzen nach Visa, Bescheinigungen und Stempeln, um nach Übersee ins rettende Exil zu entkommen. Im Chaos der stadt, in den Cafes, auf dem Gang von Behörde zu Behörde kreuzen sich ihre Wege – und für kurze Zeit sind fremde Leben durch Hoffnungen, Träume und Leidenschaften miteinander verbunden. (Klappentext)

Rezension:
Gegenübersitzend in einer Pizzeria entfaltet der Ich-Erzähler seine Geschichte und all jener, denen er auf seinen Wegen durch die quirlige Hafenstadt begegnet ist. Alles drängt dort Richtung Hafen. Nur raus aus Europa, sich in Sicherheit bringen vor den Nazis, die Europa längst ins Unglück gestürzt haben. Nicht einmal hier, in Marseille kann man aufatmen, denn bleiben darf nur, wer auch gehen darf.

Gehen darf nur, wer Visa, Transitvisa und Billets beisammen hat. Doch die Wege sind lang zwischen Botschaften und Behörden, zumal zwischen den Kontinenten, ein zermürbender Kraftakt und doch Antrieb aller Anwesenden. In Anna Seghers‘ Entwicklungsroman „Transit“ entfaltet sich dieses Panorama.

Immer drängender weichen die beschaulichen Ansichten den Ängsten der Protagonisten, zu spät alle Papiere vollständig in den Händen halten zu können. Immer bedrohlicher zeichnen sich dunkle Wolken am Horizont. Nur der namenlose Hauptprotagonist, der sich an den Trubel langsam gewöhnt, möchte bleiben.

Das Unterfangen erweist sich als schwierig in einer Umgebung, die ihren ganz eigenen Gesetzen gehorscht. Die Schriftstellerin Anna Seghers beschreibt sie in ihrer kompakt gehaltenen Erzählung sehr feinfühlig. Zunächst begegnen wir auch hier, wie etwa in „Das siebte Kreuz“ einem im Vergleich zu heute erscheinenden Romanen, vergleichsweise langsamen Erzähltempo, welches sich hier behutsam steigert und entsprechende Akzente setzt.

Zwischen den Zeilen erfährt man viel. Anspielungen über Walter Benjamin und Ernst Weiß bilden den Handlungsrahmen, durchsetzt von den Erfahrungen, die die Schriftstellerin selbst machen durfte, gehörte sie doch zu denen, die 1940 Mittel und Wege suchten, den Nazis zu entkommen. In zahlreichen Figuren verarbeitet sie die Schicksale bekannter und derer, die zwangsweise unerkannt bleiben müssen.

Schnell stellt sich die Frage, nach dem eigentlichen Vorhaben des Protagonisten, der seiner unmittelbaren Umgebung mal hilft, dann wieder unerkannt Steine in den Weg legt. Nur langsam wird seine Vergangenheit und der Bezug zum Inhalt des Koffers aufgerollt, der mit ihm seinen Weg nach Marseille gefunden hat. Der Erzähler öffnet sich den Lesenden in all seinen Grau-Schattierungen, doch wirkt es nicht nur für die ihn umgebenden Figuren so, als würde man versuchen Rauch zu greifen, mit bloßen Händen. Dieser Weg, eigene Ziele zu verfolgen, gleichzeitig sich unentbehrlich zu machen, macht ihm nicht gerade zu einem Sympathieträger.

Dennoch verfolgt man atemlos seinem Weg, der nur wenige Monate umfasst, in denen ständig etwas passiert. Die Stadt hängt den Gerüchten nach, dem Wohlwollen der Beamten und Diplomaten, die mal Gegenspieler, mal nur Rädchen im Getriebe sind, welches sich trotz sich radikal verändernder Umstände immer weiter dreht. Der Kontrast der mit der idyllischen Umgebung entsteht, wirkt damit um so mehr.

Die Perspektive bleibt beim Protagonisten, aus dessen Beobachtung wir alles erfahren. Das Treiben in den Cafes, miserablen Unterkünften, in denen sich alle drängen, den langen Schlangen vor den Konsulaten. Zuweilen eröffnet sich damit ein Verwirrspiel, den man manchmal überdrüssig zu werden droht, wenn wieder einmal über die Art und Beschaffenheit der Papiere diskutiert wird.

Zum vierten, fünften, sechsten Mal. Die dichte Abfolge erschwert den Lesefluss, bei den man dann trotzdem immer wieder innehalten muss, mit dem Gefühl, etwas Entscheidendes überlesen zu haben. Hat man jedoch nicht, sondern nur ein weiteres Puzzleteil aufgenommen. Dabei lassen einem nicht einmal kurze Rückblenden Zeit, einmal durchzuatmen.

Anna Seghers hat es hier verstanden, Eile und Drängen zu verschriftlichen, aber auch sehr detaillierte Ortsbeschreibungen vor dem inneren Auge auferstehen zu lassen. Trotz mancher Distanz, die gewollt aber gekonnt konstruiert ist, hilft dies sich in die Geschehnisse der damaligen Zeit und ihre Protagonisten hineinzuversetzen.

In Bezug auf heutige Lesegewohnheiten funktioniert die Erzählung nicht durchgehend, aber doch in soweit, dass man unbedingt die Hintergründe des Protagonisten erfahren möchte, und wie die Auflösung sich gestaltet. Das klappt auch in der Gegenwart, zumal die Gründzüge des Romans sich hervorragend in das Heute adaptieren lassen, werden Städte wie Marseille wieder zu Drehpunkten von Menschen, die einen Ort zum Leben suchen. Nur eben in umgekehrter Richtung.

Gerade deshalb ist dieser Roman, wenn auch nicht immer in zugänglicher Sprache gehalten, heute noch lesenswert und zu empfehlen.

Autorin:
Anna Seghers wurde 1900 in Mainz gebohren und war eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie, bevor sie 1924 ihre erste Erzählung veröffentlichte. Verheiratet mit dem ungarischen Soziologen Laszlo Radvanyi wandte sie sich der Kommunistischen Partei zu, der sie 1928 beitrat.

Eine Reise in die Sowjetunion folgte im Jahr 1930, bevor sie über die Schweiz nach Frankreich, zusammen mit ihren Kindern flüchten musste. Im Exil war sie eine der Mitgründerinnen des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller und schaffte es 1942 über Marseille nach Mexiko zu reisen, von wo sie 1947 zurückkehrte. Dort erschien 1942 ihr Roman „Das siebte Kreuz“, mehrere Jahre danach auch in Deutschland. 1947 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen. 1952 wurde sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR und blieb es bis 1978. 1981 wurde ihr die Ehrenbürgerwürde der Stadt Mainz verliehen. 1983 starb sie in Berlin.

Ihre Werke wurden mehrfach verfilmt und ausgezeichnet.

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Anna Seghers: Das siebte Kreuz

Inhalt:
„Das siebte Kreuz“ machte Anna Seghers mit einem Schlag berühmt und wurde zu einem bis heute anhaltenden Welterfolg. Die dramatische Geschichte einer Flucht vor den Nazis ist durchdrungen von Seghers‘ eigenen Fluchterfahrungen: Aus sieben gekappten Platanen werden im Konzentrationslager Westhofen Folterkreuze für sieben geflohene Häftlinge vorbereitet. Sechs der Männer müssen ihren Ausbruchsversuch mit dem Leben bezahlen. Das siebte Kreuz aber bleibt frei. (Klappentext)

Rezension:
In vielerlei Hinsicht besonders ist der im französischen Exil geschriebene und 1942 erstmals in Mexiko von Anna Seghers veröffentlichte Roman „Das siebte Kreuz“, der die Geschichte nicht nur einer Flucht, eben auch einer Gesellschaft in zahlreichen Facetten erzählt. Die konkrete Einordnung des Romans fällt dabei zunächst nicht leicht.

In einer Art Rückschau beginnt zunächst ein namenloser Erzähler von Ereignissen zu berichten, die einem lesend in den Strang der Haupthandlung einführen. Der Flucht von Georg Heisler aus dem fiktiven Konzentrationslager Westhofen, zusammen mit weiteren sechs, die nach und nach auf ihren Weg umkommen. Nur der Hauptprotagonist entgeht der sich immer enger zuziehender Schlinge, immer wieder. Der Weg ist die Geschichte, und die Menschen, die ihn säumen. Anna Seghers hat sich dafür Zeit genommen, diese zu beschreiben.

Ungewohnt langsam eröffnet sich die Erzählung, die sich nach und nach in mehrere parallel zueinander verlaufende Handlungen auffächert. Jede in ihrer ganz eigenen Tonalität und im dazu passenden Erzähltempo gehalten. Als wäre das nicht genug, kommt ein riesiges Figurentableau zum Tragen, welches nicht nur als Handlungstreiber funguiert, sondern auch all die unterschiedlichsten Schichten und Positionen innerhalb des Dritten Reiches darstellen soll.

Dies gelingt vortrefflich, auch wenn die Art und Weise des Erzählens für heutige Lesende zunächst ungewohnt wirken mag. Erst hineinfinden muss man sich in die Geschichte, die eingebettet im Frankfurter Umland dort geschieht, wo zuvor sich schon so einiges ereignet hat. Schon diese Punkte rechtfertigen mehr Seiten, doch ist der Roman vergleichsweise kompakt gehalten. Man kann darüber froh sein. Es ist nicht immer leicht, den Überblick zu behalten.

Wechselnde Perspektiven schildern das Fluchtgeschehen. Die grausame und bürokratische NS-Diktatur, die den Flüchtlingen unbedingt habhaft werden muss, ansonsten ihrerseits im Inneren Köpfe rollen zu drohen, die Flüchtigen, deren Vergangenheit nur zwischen den Zeilen durchscheint, die auf die Reaktionen ihrer Umgebung angewiesen sind oder durch sie ins entgültige Verderben stürzen werden.

Aus dem Exil heraus hat es Anna Seghers mit „Das siebte Kreuz“ geschafft, ein mögliches Portrait des Dritten Reiches zu schreiben, wie es Erich Kästner, der im Gegensatz zu ihr bleiben konnte, wenn auch mit Einschränkungen, hinterher nicht mehr schreiben konnte. Trotzdem beschränkt sich auch ihre Perspektive oder gerade deswegen auf einen herausstechenden Aspekt, den sie in ein Zeitraum von wenigen Wochen, mehr werden es kaum sein, erzähltet.

Seghers‘ Hauptprotagonist ist durchaus vielschichtig, nicht in allen Regungen seines Handelns sympathisch. Die Hintergründe Georg Heislers entsprechen dabei den ideologischen Idealvorstellungen der Autorin, zumindest zwischen den Zeilen. Trotzdem lässt sich die Erzählung auch heute noch gut lesen. Wenn man gewillt ist, den Roman die Hintergründe seiner Entstehungszeit zu Gute zu halten. Natürlich lässt es sich nicht vermeiden, das einige Passagen sprachlich angestaubt wirken. Der gesellschaftliche Wandel hat es zudem mit sich gebracht, dass das dargestellte Frauenbild ebenso antiquiert wirkt.

Im Rahmen des ihnen zugestandenen Raumes haben die Nebenfiguren einen durchaus umfangreichen Spielraum zwischen Schwarz und Weiss. Anna Seghers hat ihnen ebenso Ecken und Kanten verpasst, so dass auch die Beweggründe der Antagonisten diese natürlich nicht sympathisch, aber gut nachvollziehbar machen. Die Atmosphäre indes bleibt dagegen die ganze Zeit über aufs Äußerste gespannt. Auch bei denen, die „Das siebte Kreuz“ heute lesen. Die von der Autorin gesetzten Stellschrauben funktionieren heute noch.

An den steten Perspektivwechsel muss man sich, ebenso wie an die verschiedenen Erzähltempo zunächst gewöhnen. Wer einmal da hinein gefunden hat, entdeckt nicht nur eine vielschichtige Fluchtgeschichte, sondern auch einen Roman, der von Symbolik nur so strotzt. Sieben Flüchtige, sieben Kreuze, sieben Kapitel und sicher mehr als genug Anspielungen, die man innerhalb der entfachten Sogwirkung überliest. Passend wirken bewusst gesetzte Leerstellen. Nicht alles offenbart sich sofort. Einiges muss man sich zwischen den Zeilen erzählen. Das Kopfkino spielt mit. Der Detailreichtum ist trotz mancher Auslassung atemraubend.

Ein Roman, der einem so in den Bann zieht, dass es zuweilen wirkt, als würde man praktisch neben den Figuren stehen, ist lesenswert, wenn die Handlung auch zuweilen schwergängig wirkt. Hier merkt man dann doch die Jahrzehnte, die die Erzählung auf den Buckel hat, was jedoch nur Jammern auf höchstem Niveau bedeutet.

Ein Klassiker der Literatur, der auch die Wendezeit überdauern und zuvor bereits in Starbesetzung verfilmt wurde, beiderseits der ideologischen Bruchlinie zweier Systeme so Fuß fassen konnte, ist „Das siebte Kreuz“, den man konzentriert lesen sollte. Schon der Thematik wegen ist dies keine leichte Kost, zudem wenn man die Punkte erkennt, die Anna Seghers aus ihrem eigenen Ereben in ihre Geschichte mit eingebracht hat.

Eine gewisse Trennung von Autorin und Werk ist erforderlich oder zumindest eine entsprechende Einordnung im Zeitgeschehen und in Bezug zur Biografie der Autorin. Wer sich darauf einlässt, bekommt eine vielschichte Lektüre zur Hand, nicht nur literaturgeschichtlicht interessant.

Media: Kein Transit ins gelobte Land – Anna Seghers aus Mainz (SWR 2021)

Autorin:
Anna Seghers wurde 1900 in Mainz gebohren und war eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie, bevor sie 1924 ihre erste Erzählung veröffentlichte. Verheiratet mit dem ungarischen Soziologen Laszlo Radvanyi wandte sie sich der Kommunistischen Partei zu, der sie 1928 beitrat.

Eine Reise in die Sowjetunion folgte im Jahr 1930, bevor sie über die Schweiz nach Frankreich, zusammen mit ihren Kindern flüchten musste. Im Exil war sie eine der Mitgründerinnen des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller und schaffte es 1942 über Marseille nach Mexiko zu reisen, von wo sie 1947 zurückkehrte. Dort erschien 1942 ihr Roman „Das siebte Kreuz“, mehrere Jahre danach auch in Deutschland. 1947 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen. 1952 wurde sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR und blieb es bis 1978. 1981 wurde ihr die Ehrenbürgerwürde der Stadt Mainz verliehen. 1983 starb sie in Berlin.

Ihre Werke wurden mehrfach verfilmt und ausgezeichnet.

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Joachim B. Schmidt: Moosflüstern

Inhalt:
Im Juni 1949 brachte der Dampfer „Esja“ rund 200 Frauen aus Deutschland nach Island, wo sie sich als Dienstmädchen auf Bauernhöfen verdingten. Darunter auch Heinrich Liebers Mutter, von der er immer geglaubt hatte, sie sei nach seiner Geburt gestorben. 40 Jahre später ist Heinrich Bauingenieur, verheiratet, doch sein Leben gerät auf einmal ins Wanken. Der sonst so korrekte Mann fasst einen überstürzten Entschluss und reist nach Island, wo er sich auf die Suche nach seiner Herkunft macht. (Klappentext)

Rezension:
Ein Einsturz verändert alles. Doch auch so, ohne den Zusammenbruch der Lagerhalle, den Heinrich über seine Bauzeichnungen brütend, sich zunächst nicht erklären kann, gerät sein Leben aus den Fugen, als seine Adoptiveltern ihn vom erst kürzlichen Tod der schon länger verstorben geglaubten Mutter erzählen. Zwei Tropfen, die das Fass zum Überlaufen, das Gedankenkarussel in Bewegung setzen und in Joachim B. Schmidts Roman „Moosflüstern“ vom beschaulichen Zürich in die raue Landschaft Islands führen.

In seiner Erzählung folgen wir zwei Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen. In der Gegenwart folgen wir den von Selbstzweifeln und Unsicherheiten befangenen Hauptprotagonisten auf Spurensuche nach seiner Vergangenheit, sowie im Wechsel der jungen Anna, die sich kurz nach Kriegsende aus dem gebeutelten Europa auf dem Weg nach Island macht. Nach und nach führen beide Handlungen zueinander, wenn auch der Rahmen unterschiedlicher gefasst nicht sein könnte. Joachim B. Schmidt erzählt von Polartagen, die sich wie Wochen anfüllen und von Jahren, die verstreichen.

Dabei liest sich „Moosflüstern“ gleichermaßen melancholisch wie leichtgängig, was sowohl an den wenigen Hauptfiguren liegt, mit deren Ecken und Kanten man sich schnell identifizieren mag, als auch an kunstvollen Orts- und Landschaftsbeschreibungen, die einem ganz für das Geschehen einnehmen vermögen. Das vollkommene Ausbleiben eines kompletten Antagonisten tut sein Übriges. Nein, beide Hauptfiguren stehen sich selbst im Weg und finden doch immer wieder auf die Spur zurück. Ähnlichkeiten zueinander sind hier unverkennbar, wunderbar ausgestaltet durch den Autoren. Das macht es leicht, sich in die Protagonisten beider Handlungsstränge hineinzuversetzen.

Mit seiner Erzählung bringt Joachim B. Schmidt ein hierzulande kleines, jedoch fast vergessenes Kapitel Geschichte zum Vorschein und lässt sie einfühlsam lebendig werden. Die eine Protagonistin ist ihr ausgesetzt, der andere macht sich nach und nach ein Bild. In der rauen Landschaft setzt sich ein Puzzle zusammen, was Heinrich auch mit der eigenen Verantwortung für sein Tun konfrontieren wird. Hier eröffnen sich feine Unterschiede, Risse, die Seite für Seite feinsinnig herausgearbeitet werden.

Daraus ist ein in sich abgeschlossener Roman entstanden, der ohne großspurige Wendungen auskommt, jedoch auch keine Lücken aufweist und trotzdem streckenweise spannend zu lesen ist. Genau im richtigen Maße, ohne alles in Eiskristalle gehüllte Melancholie ersticken zu lassen, lässt der Autor Perspektiven und Beschreibungen wechseln. Zeile für Zeile durchzieht den Text eine fast filmische Sprache, die beide Handlungsstränge sehr plastisch wirken lassen. Ein wenig Kitsch wird sich hier und da dennoch erlaubt.

Weder zu heiter noch düster ist die Erzählung, deren Hintergründe man gerne nachspüren möchte. Das liegt nicht zuletzt an Joachim B. Schmidts der seine Gespräche mit Menschen hat einfließen lassen, die die hier am Anfang stehende Überfahrt nach Island tatsächlich gemacht haben. Der Sprung ins kalte Fjordwasser ist hier gelungen.

Wer andere Werke des Autoren kennt, wie etwa „Kalmann“ oder „Tell“ wird hier erneut überrascht werden, von seiner Vielseitigkeit des Erzählens. Wieder liest es sich anders als das aus seiner Feder bekannte, wobei, dies sei auch erwähnt, der Eindruck leider nicht ganz so nachhaltig wirkt. Das jedoch ist Meckern auf hohem Niveau, ergibt allerhöchstens Abzüge in der B-Note. Joachim B. Schmidts Figuren folgt man dann doch zu gerne.

Autor:
Joachim B. Schmidt ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller, der zunächst eine Ausbildung zum diplomierten Hochbauzeichner absolvierte. Mit einer Kurzgeschichte gewann er einen Schreibwettbewerb und veröffentlichte erstmals 2013 seinen ersten Roman. Als Journalist und Touristenquide arbeitet er in Reykjavik, Island, wohin er 2007 ausgewandert ist. Sein Roman „Kalmann“, dem weitere folgten, erschien 2020 bei Diogenes. Er ist ausgezeichnet mit dem Crime Cologne Award und dem Glauser Preis.

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Serhij Zhadan: Keiner wird um etwas bitten

Inhalt:
Erstmals seit Beginn des großen Krieges erzählt Serhij Zhadan vom Alltag seiner Leute in Charkiw, die sich in einer radikal neuen Realität zurechtfinden müssen. Lakonische, wortkarge Geschichten von untröstlicher Liebe, von Freundschaft und Tapferkeit, komisch, absurd und herzzerreißend. Eine unvergessliche Lektüre. (Klappentext)

Rezension:
Der Lehrer, der als Übriggebliebener regelmäßig im durch den Krieg beschädigten Schulgebäude nach dem rechten sieht, Schüler kommen längst keine mehr, eine Frau die aus einem Wohngebiet evakuiert werden muss, der Tanzpartner des Abiballs, der im Krankenhaus liegt … Sie alle sind Opfer, leben in der von der zerstörerischen Gewalt des Gegners gezeichneten Stadt, kämpfen mit Verletzungen, Depressionen und den Bombardierungen, die gewaltige Krater geschaffen haben.

Charkiw ist keine Stadt wie jede andere. Hier sind die Folgen des Angriffkrieges sichtbar und zu spüren. Wer noch nicht aus dem geflohen ist, was von der Stadt übrig ist, lebt mit den Folgen. Vom unwirklichen „Alltag“ der Bewohner seiner Heimat schreibt Serhij Zhadan. Kurzgeschichten, von denen jede einzelne unter die Haut geht.

Zwölf Geschichten, deren Protagonisten so unterschiedlich sind, wie die Stadt vielfältig selbst jetzt noch ist, die dem Ausmaß physischer und psychischer Gewalt trotzen, die sich kreuzen, begegnen, miteinander und doch mit sich selbst kämpfen müssen. Was macht das mit einem, wenn alles, was einst galt, in Trümmern liegt. Schon an der Oberfläche kratzen, erschüttert. Zhadans Schreibstil ist beinahe nüchtern. Er beobachtet. Manches Stück liest sich so, als müsse der Autor sich selbst vor dem Geschilderten schützen, zwingen, dies aufzuschreiben. Hinter all den Fiktionalen stecken, so ahnt man, echte Schicksale. Menschen.

In diesen kleinen Stücken, die Serhij Zhadan „Arabesken“ nennt, sind sie die Helden, alleine dadurch, dass es sie gibt, dass sie leben. In Charkiw. Ihnen, die sonst keine Beachtung finden, Nachrichtenbilder verflüchtigen sich schnell, setzt der Autor hier ein Denkmal. In knapp formulierten Schilderungen. Für einen kurzen Augenblick legt der Autor den Fokus auf eine bestimmte Szene, um dann zu der nächsten überzugehen. Ein Bürogebäude ist hier die Kulisse, im nächsten Kapitel wohnen wir einer Unterhaltung zweier im Auto bei. Der Krieg schwingt immer mit, offensichtlich, dann wieder nur als Hintergrundrauschen.

Serhij Zhadan ist selbst derzeit als Soldat in seiner Heimat tätig. Schon das ist bewundernswert. Die Geschichten dazwischen praktisch aufs Papier gebracht zu haben, die jede für sich stehen und doch unverkennbar zusammen gehören, ist mit diesem Hintergrund noch erstaunlicher. Und sicher auch ein Akt der Verarbeitung. Im Krieg ist jeder für sich allein, und doch hält man zusammen. Eine Wahl hat man nicht.

Die Protagonisten selbst sind vor ihren Hintergründen verschieden, gegensätzlich. Mit wenigen Worten gelingt es dem Autoren, Sympathien zu schaffen, sie nachvollziehbar zu machen. Mehr als die wenigen Sätze, jede Kurzgeschichte findet nur einige Seiten Platz, braucht es nicht. Die innerhalb der kleinen Versatzstücke verstreuten Skizzen, verdeutlichen das Grauen, den Schrecken, die Melancholie. Zhadan verliert sich nicht in Details, beschränkt sich auf das Wesentliche. Jeder einzelne Text scheint einem förmlich anzuspringen. Seht her, so ist es gerade für uns. So, nicht anders. Es braucht halt nicht viel, um diesen Zugang zu schaffen.

Man kann sich das alles gut vorstellen. Manches fast zu gut. Abstand halten möchte man, doch kommt man sich lesend zuweilen vor, wie ein Voyeur, ein Gaffer. Der Autor legt den Finger in die Wunde, die nicht verheilen kann. Der Krieg ist in jeder Szene allgegenwärtig. Schauplätze wie Protagonisten werden mit wenigen Worten sehr plastisch beschrieben. Manchmal muss man innehalten. Ein seltenes Schmunzeln, Lächeln bleibt sofort im Halse stecken, wenn es denn mal vorkommt.

Es mögen einige durch die Fernsehbilder abgestumpft sein, solche kleinen Alltagsbeschreibungen aber betrüben zu tiefst und lassen nicht los. Für Zhadan und all jene, die sich in den von Krieg gezeichneten Regionen und Städten aufhalten, gar an der Front kämpfen, wie muss es erst für die sein, fragt man sich während des Lesens und ahnt, dass noch viel mehr unerzählbar bleibt, da es dafür keine Worte gibt. Die wenigen, die wie diese hier gesehen werden können, sind es wert und wichtig.

Autor:
Serhij Zhadan wurde 1974 geboren und ist ein ukrainischer Schriftsteller, Dichter und Übersetzer. Nach der Schule studierte er zunächst Literaturwissenschaften, Ukrainistik und Germanistik. Er organisiert Literatur- und Musikfestivals und verfasst Rocksong-Texte. 2007 erschien sein erster Roman. 2006 wurde er mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet, Zhadan war zudem Aktivist der Orangenen Revolution.

2014 schilderte er in der FASZ seine Erfahrungen der Erstürmung der Gebietsverwaltung von Charkiw, wurde dafür von prorussischen Kräften krankenhausreif geschlagen. Seine Werke wurden mehrfach ins Deutsche übersetzt, und zahlreich ausgezeichnet. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er lebt in Charkiw und ist seit 2024 Soldat.

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Jessica Lind: Kleine Monster

Inhalt:
Pia und Jakob sitzen im Klassenzimmer der 2B, ihnen gegenüber die Lehrerin ihres Sohnes. Es habe einen Vorfall gegeben, mit einem Mädchen. Pia kann zunächst nicht glauben, was ihrem siebenjährigen Kind vorgeworfen wird. Denn Luca ist ein guter Junge, klug und sensibel. Sein Vater hat daran kein Zweifel. Aber Pia kennt die Abgründe, die auch in Kindern schlummern, das Misstrauen der anderen erinnert sie an ihre eigene Kindheit.

Also lässt sie ihren Sohn nicht mehr aus den Augen und sieht einen Menschen, der ihr von Tag zu Tag fremder wird. Bis Pia bei dem Versuch, ihre Familie zu schützen, schließlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert wird. Ein fesselndes psychologisches Drama über die Illusion einer heilen Kindheit. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:
Die Abgründe in unser engsten Umgebung scheinen tiefe Gräben zu sein. Zugeschüttet, vernarbt sind sie, doch gibt es Ereignisse, die sie wieder schmerzlich aufbrechen lassen. In Jessica Linds Erzählung „Kleine Monster“ treten die Dämonen vergangener Tage hervor und scheinen sich in der Gegenwart zu spiegeln.

Doch hält eine Eltern-Kind-Beziehung dies aus, wenn dem eigenen Nachwuchs scheinbar nicht mehr zu trauen ist und noch weniger, sich selbst?

Feine Risse bekommt das Idyll in dem kompakt gehaltenen Roman, als die Hauptfiguren zu einem Gespräch in der Schule ihres Sohnes geladen werden. Ein Vorfall hätte es gegeben, genaues wisse man nicht. Der kindliche Protagonist schweigt sich darüber aus, währenddessen Fragen sich im Kopfe der Hauptfigur zu bilden beginnen und die Geschichte ins Rollen bringen.

Vieles spielt sich im Inneren von Pia ab, die durch ihre Gedankenwelt Konturen bekommt und zur Handlungstreibenden der Erzählung wird. Nach und nach bekommen sie und die anderen Figuren somit ihre Konturen. Eine ganz eigene Dynamik entfacht sich durch das Hinzuziehen weiterer Protagonisten und Pias Reaktionen darauf, die schon bald die Dämonen der eigenen Vergangenheit zu Tage treten lassen.

Zunächst hat sie damit alle Sympathien auf ihrer Seite, entwickelt sich jedoch nach und nach zu einer Protagonisten, die in ihrem Reagieren immer distanzierter wirkt und so auch handelt. Die Liebe von Eltern zu einem Kind hat bedingungslos zu sein. Doch was, wenn dieses Ideal in Frage gestellt wird. Dieses Gedankenkonstrukt wird sowohl anhand einer Vergangenheits- und auch einer Gegenwartsebene erzählt. Besonders die Hauptfigur ist damit doppelt belastet, aber auch ihre Umgebung ist davon nicht unbedingt unberührt.

Man leidet mit den Kind, den Eltern innerhalb dieser kompakten Erzählung, die über einen Zeitraum von wenigen Wochen spielt und durch zusätzlich beschriebene Ortswechsel noch kontrastreicher wirkt. Auch die Handlungsorte werden so zum Spiegelbild der Figuren, die allesamt ihr Gepäck zu tragen haben. Pias Perspektive bleibt jedoch die hauptsächliche, doch verursacht gerade diese Beibehaltung im Mittelteil für ein Absenken des Spannungsbogens, der nicht konsequent bis zum Ende durchgehalten wird.

Überraschende Wendungen sucht man in diesem Roman vergebens. Trotz teilweise fast filmischer Beschreibungen, den Hauptberuf der Autorin merkt man durchaus die gesamte Zeit über, liest man ein durchdachtes Konstrukt, was nur hin und wieder für einen gewissen Aha-Effekt sorgt. Dennoch ist eine gewisse Sogwirkung dem Text nicht abzustreiten, auch wird man sich manche Abschnitte atemlos zu Gemüte führen.

Je nach Erfahrungswerte und Stellung innerhalb eigener Familienkonstellationen kann dabei die Positionierung zu den einzelnen Figuren durchaus unterschiedlich sein. Die Handlungsorte dabei sind sehr plastisch geschildert, nachvollziehbar dargestellt, auch wenn sich ein gewisser Mehltau wie ein Schleier über die Erzählung legt.

Das Ende wirkt dabei nicht ganz rund. Halboffen ist hier der richtige Weg gewesen. Nicht alle offenen Fragen werden geklärt. Einiges findet im Kopf der Lesenden statt, doch irgendwie scheint das richtige Maß nicht getroffen worden zu sein. Zudem stößt man während des Lesens auch auf sprachliche Gegebenheiten, die eventuell regional verschieden gehandhabt werden. Kleinere Stolperfallen also, die aber nicht allzu sehr ins Gewicht fallen.

Die Schwächen einmal außer Acht gelassen, ergibt sich jedoch eine durchaus interessante Lektüre.

Autorin:
Jessica Lind wurde 1988 in St. Pölten geboren und ist eine österreichische Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Zunächst studierte sie an der Filmakademie Wien Drehbuch und Dramaturgie, bevor sie mit einem Literaturstipendium zu Schreiben begann. 2010 erhielt sie einen Förderpreis der Stadt St. Pölten, sowie 2012 das BMUKK Startstipendium für Literatur. Nach einer Teilnahme in einer Schreibwerkstatt erschienen einige ihrer Texte in Anthologien und Literaturzeitschriften. 2021 erschien ihr Autorinnendebüt. Zudem ist sie Autorin des Films „Rubikon“.

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Colin Niel: Darwyne

Inhalt:
In einem Slum am Rande des Amazonasdschungels lebt der zehnjährige, körperlich leicht beeinträchtigte Darwyne mit seiner Mutter Yolanda, die er über alles liebt. Eine Meldung bei der Kinderschutzbehörde veranlasst die Sozialarbeiterin Mathurine, den Fall von Darwyne wiederaufzunehmen, obwohl Yolanda, die von vielen Männern in der Region begehrt wird, eine tadellose Mutter zu sein scheint … (Klappentext)

Rezension:
Nichts ist wie es scheint und alles ist anders, am Rande des städtischen Slums, der stets droht von der Flora des angrenzenden Dschungels vereinnahmt zu werden. Ein steter Kampf ist für die Bewohner, dagegen anzukommen. Alle versuchen sich irgendwie durchzuschlagen. In diese eigentümliche Welt entführt uns der Schriftsteller und Forstingenieur Colin Niel in seinem Werk „Darwyne“, und folgt den gleichnamigen Hauptprotagonisten, dessen Verbindung zur Natur bezeichnend ist. Ebenso wie die Einkategorisierung des Textes nach verlegerischen Maßstäben.

Ein Thriller ist dies nämlich nicht, gleichwohl dies der Untertitel behaupten möchte. Ein Roman liegt hier vor, mit leichten Spannungselementen, die im Verlauf der Handlung ebenso zart Mystische übergehen. Für einen komplett sich durchziehenden Spannungsbogen reicht es nicht und so plätschert die Handlung nur so dahin.

Hierbei wird viel Potenzial verschenkt, denn die Grundidee sticht heraus unter der Vielzahl, welche diverse Büchertische zu bieten haben. Da wären zunächst einmal die Handlungsorte, welche im wesentlichen die Behausung innerhalb des Slums und der angrenzende Dschungel darstellen, als auch die im Vergleich dazu cleane und triste Büro- und Lebenswelt der zweiten Hauptfigur Mathurine aus deren Sicht die Handlung, abwechselnd zu Darwynes eigenem Blickwinkel erzählt wird.

Dadurch schälen sich Kontraste gut heraus, doch tritt die Handlung einem Großteil des Verlaufs auf die Stelle. Wenn wie hier, nicht gerade ausschweifend erzählt wird, wirkt dies schnell ermüdend.

Dabei umfasst der Handlungszeitraum wenige Wochen, in denen wir die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten kennenlernen. Vor allem die Hauptprotagonisten sind so ausgestaltet, dass man diesen ihre Wahrnehmung der Dinge abnimmt. Nebenfiguren dienen „Darwyne“ als Antagonisten und Handlungstreiber, könnten jedoch an der einen oder anderen Stelle noch stärker zu Tage treten. Mit fortschreitender Seitenzahl wird dabei die Beziehungsebene von Yolanda und Darwyne immer weniger nachvollziehbar, was sich wiederum auf die Spannungsebene erheblich auswirkt.

Lücken in der Erzählung werden dabei bis zu einem gewissen Grad zum Ende hin geschlossen. Überraschende Wendungen sind dagegen kaum vorhanden. Das liegt an den bereits beschriebenen Punkten, keinesfalls an die eingebrachte Sachkenntnis des Autoren über das Leben in Slums einerseits, andererseits über Flora und Fauna des Dschungels in Französisch-Guayana. An manchen Stellen fühlt es sich so an, als würde man eine Natur-Doku schauen.

Trotzdem vermag es die Geschichte nicht, einem lesend in diese Welt hinein zu ziehen. Auch wenn man sich Schauplätze und Figuren durchaus bildlich vorstellen kann, bleibt am Ende nichts Entscheidendes an Eindrücken zurück.

Und irgendwie geht es ja gerade beim Lesen immer darum.

Autor:
Colin Niel wurde 1976 in Clamart geboren und studierte zunächst Evolutionsbiologie und Ökologie, bevor er als Agrar- sowie Forstingenieur arbeitete. In Französisch-Guayana beschäftigte er sich u. a. im Bereich Biodiversität. Er veröffentlichte mehrere Werke, die u. a. aumit dem Prix Polar en series ausgezeichnet wurden. Für „Darwyne“ erhielt er den Prix L’usage du Monde 2023 und den Prix Joseph. Niel lebt in Marseille.

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Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind

Inhalt:
Ben Oppenheim balanciert zwischen Ex-Frau, zwei Kindern und seiner Liebe zu Julia. er hat Rückenschmerzen und Geldsorgen, aber was ihn wirklich ängstigt, ist der Krieg in osteuropa. Getrieben vom jüdischen Fluchtinstinkt steigt er eines Morgens kurzerhand in ein Flugzeug nach Brasilien. Mitsamt Ex-Frau und Kindern, aber ohne Julia. Im Krisenmodus läuft Benn zur Hochform auf. Nur der Atomkrieg lässt auf sich warten. Ben dämmert, dass er sich ändern muss, wenn sich etwas ändern soll. (Klappentext)

Rezension:
Eine Geschichte voller Misstrauen gegen sich selbst, eingebettet im kriselnden Weltgeschehen und transgenerationalen Trauma liegt mit Micha Lewinskys Erzählung „Sobald wir angekommen sind“ vor. Der Roman führt uns vom beschaulichen Zürich einmal um den halben Globus und zeigt sehr eingängig, dass auch vermeintliche Kurzschlussreaktionen ihre Hintergründe haben und das deren Folgen gewaltig sein können.

Düster erscheint die Welt dem Protagonisten, der sich von Beginn an von allen Seiten gedrängt sieht. Der berufliche Erfolg bleibt schon länger aus, im Leben seiner Familie hat er keinen sicheren Stand, ebenso schwebend ist die Beziehung zu seiner Geliebten, zu deren Sohn er keinen rechten Zugang finden möchte. Die immer bedrohlicheren Nachrichten aus Osteuropa tun ihr Übriges.

Nur noch weg möchte Ben, der sich als Getriebener sieht, schon qua der Historie seiner jüdischen Vorfahren, deren Schicksal er bereits zu Anfang so sehr verinnerlicht hat, dass nur noch die Flucht nach vorne bleibt. Mit Kindern und Ex-Frau macht Ben sich auf nach Brasilien, wo er mit der Zeit feststellen muss, dass es leicht ist, einem geografischem Ort zu entfliehen, sich selbst und seinen Problemen jedoch fast unmöglich ist zu entkommen.

„Je schlechter es dir geht, desto lustiger bist du.“
„Danke“, sagte Ben. „Ohne deine Hilfe könnte ich das nicht.“

Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind

Der temporeiche Roman, der eine Flucht auf mehreren Ebenen erzählt, behandelt wichtige Themen, ohne dabei die Hauptfigur zu schonen, die mit ihren Umgang nicht gerade nervenschonend seinen Mitmenschen und, das sei hier schon mal festgestellt, mit uns Lesenden umgeht. Transgenerationales Trauma wurde erstmals im Blick auf Überlebende der Shoah und deren Nachfahren beschrieben, nur wandelt sich dieses Getriebenensein im übertragenden Sinne für Ben zu einer selbsterfüllenden Prophezeihung.

Flucht natürlich, sagte Bens Nervensystem. Flucht, Flucht. Flucht.
Renn!, riefen die Ahnen.

Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind

Die Hauptfigur tut sich bis an die Schmerzgrenze selbst leid, auch wenn der gezeichnete Gegenpart, hier die Ex-Frau, sich kaum sympathischer anstellt. Nur schütteln möchte man den gehetzt wirkenden Protagonisten, dessen Familie sich mit und wegen ihm mehrfach am Rande des Abgrundes bewegt. Alle scheinen, so sieht es Ben, nicht die Tragweite der Geschehnisse zu erfassen, machen es mit ihren Anforderungen an ihm nur noch schlimmer. Und er sieht sich folgerichtig mit den Rücken zur Wand.

Abgesehen vom weinerlichen, sich selbst bemitleidenden Hauptprotagonisten kann man auch an kaum einer anderen Figur ein gutes Haar lassen, wobei die Sympathien mit steigender Entfernung zu Ben zunehmen. Lewinsky spielt dabei mit unzähligen Grauschattierungen, die da aufeinanderprallen und mit zahlreichen Kontrasten. Letztere geben schon die Handlungsorte wieder.

Sie hatten sich so an ihre Privilegien gewöhnt, dass sie sich bedroht fühlen mussten, sobald sich etwas veränderte. Sie standen ganz oben in der Nahrungskette, aber stark waren sie dennoch nicht. Eigentlich konnten sie sich kaum noch rühren, so satt lagen sie in ihren bewachten Wohntürmen. Unfähig zu fliegen, unfähig, sich zu wehren. Sie mussten sich verbarrikadieren und bewaffnen. Mit der Kuchengabel in der Hand […]

Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind

Ein Exil soll es sein, so hofft es der Protagonist, doch entpuppt sich das gewählte Ziel als Ferienort, in welchem im übertragenen Sinne all die Herausforderungen der Heimat warten. Diese Irritation im Gegenspiel zum geografischen Raum darzustellen, gelingt dem Autoren, der mit seinem Roman auch Stefan Zweig gedenkt, der seinerseits vor den Nazis ins südamerikanische Exil geflohen war und stellt Ben dem gegenüber.

Ben hatte sich die Südamerikaner immer dunkler vorgestellt. Gut gelaunt. Und im Grunde tanzend. Nun musste er sich eingestehen, dass er sein zukünftiges Zuhause vor allem von Bildern des Karnevals kannte.

Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind

Die Frage, wann der richtige Moment zur Flucht ist, scheint da durch, ebenso, wann es eine unverhältnismäßige Kurzschlossreaktion wäre. Wo da der Protganist zu verorten ist, beantwortet sich schon in den ersten Kapiteln der Erzählung.

Diese ist in sich schlüssig ohne Lücken und mutet zuweilen wie ein Fernsehspiel an. Zwar sind die Handlungen nachvollziehbar, die Zeichnung des Protagonisten geht einem jedoch nicht sonderlich nahe. Gerade, wenn man sich eher rational denkend verortet. Hier ist die Figur auch gegenüber sich selbst im ständigen Widerspruch. Und da kann man wie auch immer geartete Traumta gelten lassen, im Gegensatz zum Jammertal, in dem sich Ben ständig zu befinden scheint. Schauplätze sind indes nachvollziehbar beschrieben.

Ein Roman mit einer fast unsympathischen Hauptfigur muss man mögen zu lesen. Dann aber eröffnet sich eine Erzählung, die auf so vielen Ebenen wirkt. Transgenerationales Trauma, Unsicherheiten in einer sich den Krisenherden ausgesetzten Welt, Flucht- und Schutzinstinkt hat Micha Lewinsky zu einem Dschungel nicht nur für Ben verwoben. Ob dies aber reicht, um den Wald vor lauter Bäumen am Ende des Tages zu sehen?

Autor:
Micha Lewinsky wurde 1972 in Kassel geboren und ist ein Schweizer Drehbuchautor, Regisseur und Schriftsteller. Mit seiner Regiarbeit „Herr Goldstein“ wurde er 2005 mit dem Pardino d’Oro ausgezeichnet, für sein Spielfilm-Regiedebüt erhielt er 2008 den Schweizer Filmpreis in der Kategorie Bester Spielfilm. 2022 erschien sein erstes Buch.

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Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner

Inhalt:
Der Wolf ist zurück in der Lüneburger Heide. Und während Jannes – wie schon sein Vater und sein Großvater – täglich seine Schafe über die Heideflächen treibt, kochen die Emotionen im Dorf hoch. Kann Heimatschutz Gewalt rechtfertigen? Wo es vordergründig um Wolfspolitik geht, stößt er bald auf Hass, völkische Ideolofie – und auf ein tiefes Schweigen. „Von Norden rollt ein Donner“ ist eine Spurensuche in der westdeutschen Provinz, die Geschichte eines brüchigen „urdeutschen“ Idylls. (Klappentext)

Rezension:

In der Lüneburger Heide hat die Schafszucht und Weidebewirtschaftung Tradition, doch mehren sich die Zeichen einer Veränderung, die einen Riss in der Gesellschaft offenbart. Der Wolf ist zurück in der Region und so fürchten die Hirten um ihr Vieh und damit um ihre Existenz. Der Schriftsteller Markus Thielemann zeichnet in seinem Roman „Von Norden rollt ein Donner“das Psychogramm einer ländlichen Gemeinschaft, die in Angesicht einer kommenden Bedrohung vereinnahmt wird und in der Vergangenes wieder zu Tage tritt.

Schnell ist man in der atmosphärischen Beschreibung der kompakt gehaltenen Erzählung gefangen, die uns schnell Teil des Alltags von Jannes, den Protagonisten, teilhaben lässt, der in einer Linie von Schäfern seine Herde auf die Weiden treibt, während sein Stiefvater mit Sorge die sich nähernden Wolfsrisse mit Stecknadeln auf eine Karte markiert. Ein jeder geht in der Familie mit der für alle neuen Situation anders um. Als wäre dies nicht genug, nehmen Wahnvorstellungen und Vergessen mehr Raum ein, als ein Mensch in der Lage ist, zu ignorieren.

Dabei zeichnet der Autor eine ursprüngliche Landschaft, sowie verwobene Gemeinschaft nach, deren Idyll nicht nur von den Gegebenheiten der Natur bedroht wird. Zahlreiche Anspielungen in die eine, wie andere Richtung durchziehen die Kapitel, so dass sich mehrere Ebenen innerhalb der Handlungsstränge auftun, die jedoch nicht in all ihren Konsequenzen auserzählt werden. Eine mögliche Variante des Erzählens, die man mögen muss, jedoch ein etwas unrundes Ende ergibt.

Dabei spürt der Roman einen Zeitraum von wenigen Monaten nach, in denen ein überschaubares Personentableau agiert, auch einer Gefahr nach, die von einer ganz anderen Ecke kommt. Dies geschieht so feinfühlig, anfangs kaum wahrnehmbar, so dass einem dies beim Lesen fast entgeht, wenn man nicht aufmerksam genug liest. Die Hauptfigur ist dabei fein gezeichnet, mit Ecken und Kanten gezeichnet. Markus Thielemann erzählt über die anderen weniger, gerade jedoch genug, um Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen.

Das Gute und Böse ist hier nicht immer klar, vielmehr überwiegen Grauschattierungen die Charakterzeichnungen. Leider jedoch so, dass man überwiegend kaum eine Beziehungseben zu diesen herstellen mag, die die gesamte Lektüre über anhält. Traum und Wirklichkeit, Vorahnung; Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen dabei. Übergänge wirken nicht immer glatt, auch ein paar eingebaute Klischees tragen jetzt nicht unbedingt dem Lesevergnügen bei.

Fast filmisch wirken dagegen Ortsbeschreibungen. Schauplätze sind eine Stärke dieses Romans. Auch die Beschreibung eines im städtischen Leben nicht vorkommenden Handwerks führt der Autor gelungen vor Augen, ob das jedoch ausreichend ist, ist fraglich. Eine Konzentration auf eine der Ebenen oder Handlungsstränge hätte hier gut getan.

Der schleichende Rechtsruck einer Gesellschaft, einmal handelnd in westdeutschen Gefilden, zu lesen, funktioniert aber gut, zudem wer in der Lage ist, bestimte Anspielungen zu entdecken. Immerhin laden diese zum selbstständigen Recherchieren ein. Ansonsten bleibt dies leider ein Heimatroman mit den entsprechenden Schwächen.

Markus Thielemann hat mit „Von Norden rollt ein Donner“ einen interessanten zweiten Roman hingelegt, der an der einen oder anderen Stelle etwas runder hätte sein können, insbesondere im letzten Kapitel. Wer darüber hinweglesen kann, für den eröffnet sich eine vielschichtige Lektüre.

Autor:

Markus Thielemann wurde 1992 in Ludwigsburg geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Geografie und Philosophie in Osnabrück, gefolgt von Kreatives Schreiben am Hildesheimer Literaturinstitut. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 2021. 2024 stand er mit „Von Norden rollt ein Donner“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

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Eva-Martina Weyer: Tabakpech

Inhalt:

„Tabakpech“ erzählt eine Familiengeschichte aus den Jahren 1930 bis 1995 im unteren Odertal, wo die Grenzen von Preußen und Pommern, von Hochdeutsch und Platt verwischen. Das Leben der Menschen ist vom Tabakanbau und von Traditionen geprägt.

Tabakpech, der Saft, der beim Ernten aus der Pflanze tritt, klebt schwarz an den Händen, hält die Familien fest auf ihren Höfen, auch wenn dabei mancher Traum zugrunde geht. (Klappentext)

Rezension:

Nur eine Bewegung ist es, die über Glück und Unglück der Menschen im Odertal entscheidet. Das Eintauchen der Arme des Aufkäufers, mit dem dieser die Qualität der Ernte prüft, zwischen die Tabakbunde, entscheidet, ob es ein erfolgreiches Jahr gewesen ist oder alle Mühen umsonst waren.

Die Region ist hart zu den Menschen, doch die Nachfahren hugenottischer Einwanderer haben auch ihr Glück im Tabak gefunden. Und so entspannt sich eine Geschichte vom Wandel der Landwirtschaft über mehrere Familiengenerationen, eindrücklich erzählt von Eva-Martina Weyer.

Der Rhythmus der Jahreszeiten, die Erntefolge bestimmt den Takt, in dem Einwohner des kleinen Ortes denen die Autorin in ihrem kompakt gehaltenen Roman verfolgt, um eine Familiengeschichte von Beständigkeit und Veränderung zu erzählen, wie sie dort auch tatsächlich stattgefunden haben könnte.

Dabei werden der gesellschaftliche und persönliche Wandel innerhalb von wenigen Jahrzehnten thematisiert, sowie die sich verändernde Rolle und Stellung von Frauen, die auf den Feldern so manchen Traum abhanden kommen lassen müssen und dann in entscheidenden Momenten selbstbewusst das Heft in die Hand nehmen. Erzählt wird ein Strukturwandel in vielerlei Hinsicht.

Hauptsächlich aus dem Blick von Elfi betrachten wir das Geschehen, die als Waisenkind von Wilmine aufgenommen, ihren Weg zwischen den Tabakpflanzen gehen wird. Beeindruckend hat die Autorin eine Hauptprotagonistin mit Ecken und Kanten versehen, die handlungstreibend wirken. Einerseits ist da die Träumerin, phantasiebegabt, manchmal unsicher, andererseits jene, die mit zunehmenden Jahren immer selbstbewusster auftreten kann. Auch die anderen Figuren wurden feinfühlig ausgestaltet. Eine Gemeinschaft, in der ein jeder zwischen Hoffnungen und Zwängen und dem Gesspür für Veränderung und Tradition agieren muss.

Das strukturschwache Odertal mit seiner landwirtschaftlichen Prägung, war einst eines der größten Tabakanbaugebiete der Welt. Dieser Schauplatz, viel mehr das Dorf, in dem die Hauptprotagonistin aufwächst, wird anhand sehr detaillierter Beschreibungen greifbar. Auch die Handlungen der Protagonisten, die in all ihren Grauschattierungen gezeichnet werden, werden teilweise plastisch beschrieben. Manchmal sehr hart an der Grenze zum Kitsch, gerade wenn es gefühlig wird. Rentnerhafte ARD-Wohlfühlatmosphäre braucht dennoch niemand zu befürchten.

Werden andere Perspektiven eingenommen, als die der Hauptprotagonistin, kündigt sich eine handlungstreibender Wandel an. Das Erzähltempo bleibt dabei gleichförmig. Eva-Martina Weyer lässt dabei keine unlogischen Wendungen oder gar Lücken zu und bleibt im Gegensatz zu anderen Autor:innen von Familien-Epen bodenständig in ihrer kompakten Erzählung.

Diese bleibt bis zum Ende nachvollziehbar. Nicht nur zwischen den Zeilen merkt man, dass die Autorin die Gegend gut kennt. Man bekommt durchaus Lust, der wahren Geschichte des Tabakanbaus in der Region nachzuspüren, wo man doch in die Handlung hineingezogen wird. Nicht nur für Lesende, die das Odertal und ihre Menschen gut kennen, wird hier ein Kulturerbe verschriftlicht, welches diese über Jahrhunderte prägte.

Der Roman lässt einem die körperlichen Anstrengungen, das Hoffen und Bangen förmlich selbst spüren, wenn auch an mancher Stelle ein schnelleres Erzähltempo vermissen. Der Tupfen auf dem I versinkt dabei leider im Tabakpech. Bis zum Schluss bleibt er lesenswert, eben nicht nur der hervorzuhebenden grafischen Gestaltung wegen.

Tabakmuseum:

Wer dem Tabak nachspüren möchte, kann das tun. In Vierraden, Schwedt/Oder.

Autorin:

Eva-Martina Weyer wurde 1961 in Anklam geboren und ist eine deutsche Journalistin und Autorin. Sie wuchs in Schwedt/Oder auf und studierte Journalismus, arbeitete in diesem Beruf für eine große Regionalzeitung Berlins. Als selbstständige Journalistin recherchierte sie zum Tabakanbau in der Uckermark. „Tabakpech“ ist ihr erster Roman.

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Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder

Inhalt:

Zwei Männer, die wie Brüder aufwachsen – bis ihre Leben ganz unterschiedliche Entwicklungen nehmen. Doch als eiiner der beiden stirbt, zeigt sich, wie tief die in der Kindheit geknüpfte Verbindung ist. Und als der Freund postum auf rätselhafte Weise zu Ruhm als genialer Maler kommt, erscheint die Beziehung der beiden plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Mit stiller Wucht erzählt Alain Claude Sulzer von einer ungewöhnlichen Freundschaft und einem kurzen Leben, das lange nachwirkt. (Klappentext)

Rezension:

Zumindest geografisch trennt das Leben zwei, die wie Brüder aufgewachsen sind, im jungen Erwachsenenalter. Während der eine sein Glück auf der anderen Seite des Ozeans sucht, findet der Ich-Erzähler seinen Lebensmittelpunkt in Frankreich. Der Kontakt aus der Kindheit, bleibt lose, verliert sich nicht. Erst nach dem Tod des Kunstsinnigen wird dem Erzähler klar, wie tief die Verbindung zueinander wirklich gewesen ist.

Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat mit „Fast wie ein Bruder“ nicht nur einen feinen Coming of Age-Roman geschrieben, sondern auch das Portrait einer sehr sonderbaren Zeit.

Sulzers Erzählung beginnt inmitten der 1970er Jahre, der Kindheit der Protagonisten, die zunächst alle Möglichkeiten für die beiden Jungen bereitzuhalten scheint, doch frühe Schicksalsschläge bereithält, die den weiteren Weg der Hauptfiguren bestimmen, Diesen folgen wir lesend bis in die Gegenwart hinein. Komprimiert auf der konträr zur erzählten Zeit überschaubaren Seitenzahl hat sich der Autor darauf konzentriert die beiden Figuren strahlen zu lassen.

Ihre Ecken und Kanten werden auserzählt, wie auch die Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sehen. Dabei nehmen sie so viel Raum ein, dass für Nebenfiguren kaum Platz bleibt. Die Leinwand ist voll. Eingenommen von den beiden, die in unterschiedlicher Entfernung, immer umeinander kreisen.

Dabei durchzieht den Roman ein vergleichsweise ruhiger Erzählstil, dessen Tempo gefühlsmäßig nicht der Autor, sondern die Figuren selbst bestimmen. Sulzer verliert dabei nie den Blick für Orte und Szenarien und behält in diesem Konstrukt die Fäden bis zum Schluss in die Hand. Was kann, was vermag Kunst und was bleibt, wenn der Erschaffende nicht mehr ist?

Solche fast philosophischen Fragen können sich beim Lesen aufdrängen. Man kann diesen Roman jedoch auch einfach als die Erzählung einer Freundschaft lesen. Beide Protagonisten sind dabei nachvollziehbar gestaltet. Auch ergeben sich in der Art und Weise keine Lücken oder unlogische Sprünge. Einzelne Momente lassen sich sehr stark nachfühlen.

Der Roman um Kunst ist selbst Kunst. Fast filmisch führt der Erzähler durch die Leben beider wie entlang von Bildern einer Galerie. Eingerahmt sind sie zwischen zwei weltumspannenden Epidemien, die zugleich Taktgeber sind. Für die Welt, die still steht und einer Entscheidung über Leben und Tod, die die Figuren nicht beeinflussen können.

Alain Claude Sulzers Roman über Kunst, Homosexualität und Aids, einer Freundschaft vor allem, vereint das alles, ohne ins Kitschige abzutriften, in die richtigen Worte. Keines ist hier zu viel oder zu wenig. Eine reduzierte Erzählung, die nachdenklich werden lässt. Allein, es fehlt da noch der Wow-Effekt. Trotzdem darf man empfehlen, in die Geschichte zu versinken.

Autor:

Alain Claude Sulzer wurde 1953 geboren und ist ein Schweizer Schriftsteller. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Bibliothekar und war später als Journalist tätig. Seit den 1980er Jahren veröffentlicht er seine eigenen Werke und ist zudem als Übersetzer aus dem Französischen tätig gewesen. Selbst Teilnehmer am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, saß er später in dessen Jury. Er ist Mitgründer des PEN Berlin, lebt zwischen Berlin und Basel. Sulzer wurde für seine Werke mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit den Solothurner Literaturpreis.

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