Erzählung

Birge Tetzner: Fred im alten Rom

Inhalt:
Mit dem Nachtzug nach Rom! Gleich nach ihrer Ankunft begeben sich Fred und Opa Alfred auf die Spuren der alten Römer. Auf dem Forum Romanum beginnt die Tour. Über Jahrhunderte war dieser Platz der Nabel der Welt. Wie sah es damals hier aus, als die Caesaren sich mit prunkvollen Triumphzügen feiern ließen?

Im Kolosseum führt die Bauforscherin Flavia die beiden hinter die Kulissen ins Untergeschoss. Fred darf sogar mit einem nachgebauten Aufzug in die Arena fahren. Doch plötzlich ist alles anders: Er hört Wildkatzen fauchen und Bären brüllen. Als der Aufzug wieder nach unten fährt, weiß Fred, dass er im alten Rom gelandet ist! Er wird der Gehilfe des Medicus und zieht sogar in die Gladiatorenschule ein. Der fiese Imperator Commodus hat sich für die Festspiele eine besondere Attraktion ausgedacht. Da hat Fred eine Idee. Wird sie funktioinieren? (Klappentext)

Rezension:
Kaum, dass Fred aus der Wikingerzeit zurückgekehrt ist, steht schon die nächste Reise an. Der Junge und sein Großvater wollen die Stadt von Romulus und Remus erkunden und auf den Spuren der Cesaeren wandeln. Mit den Nachtzug geht es in die ewige Stadt, die schon so viel gesehen hat und auch die beiden wollen auf historischen Pfaden wandeln. Doch wieder einmal taucht Fred überraschend tiefer in die Geschichte ein als er eigentlich wollte, und erlebt die Zeit der Gladiatorenkämpfe hautnah.

Ein spannender Blick in die Vergangenheit und ein großes Abenteuer, dies sind die Kinderbücher der Schriftstellerin Birge Tetzner. Auch diesmal entführt die Autorin ihre junge Leserschaft hinein in eine faszinierende Epoche und zeigt mit dem Blick eines Jungen eine der faszinierenden aber auch harten Seiten der antiken Metropole.

Einer vergleichsweise ruhigen Einführung in die Gründungslegende Roms folgt eine spannende und temporeiche Zeitreise für den jungen Protagonisten, während der es viel zu entdecken gibt. Wie lebte es sich in und unweit des Kolosseums? Wie bereiteten sich die Glaidatoren für ihren Auftritt und ihre Kämpfe vor und welches Schicksal wartete auf Sieger und Besiegte? Mit Unterstützung zahlreicher kräftiger Illustrationen von Karl Uhlenbrock wird auch in diesem Teil, welchen man wie gewohnt von den anderen losgelöst lesen kann, Geschichte lebendig. Dabei ist die Hauptgeschichte sanft in eine fassbare Rahmenhandlung eingebettet.

Fred selbst dient, zusammen mit den ihnen umgebenden Protagonisten, in derer man sich gut hineinversetzen kann, als Identifikationsfigur. Neugier, Ideenreichtum, Mut über sich selbst hinauszuwachsen und etwas zu wagen, zeichnet den Protagonisten aus, den man gerne folgen muss. Auch werden wieder ohne hoch erhobenen Zeigefinger Werte wie Freundschaft und Vertrauen vermittelt. Zusätzlich vermitteln zahlreiche Infoboxen zahlreiches Wissen, unterstützt durch diesmal einen sehr umfassenden Informationsteil zum Römischen Reich und einen ebenso detaillierten Begriffe-Glossar. Auch hier erweist sich wieder, die Zielgruppe wird ernstgenommen, was sich auch an den Figuren festmachen lässt, die einem mit ihren Gegensätzen konfrontieren.

„Fred im alten Rom“, gibt es auch als Hörspiel. (Quelle: ultramar media)

Neben den Hauptprotagonisten erscheinen die für die Handlung wichtigen Figuren mit Ecken und Kanten, auch gibt es wieder eine junge Identifikationsfigur im Alter Freds, sozusagen als Äquivalent. Nur mit den Gegenspieler wird der Junge diesmal nicht direkt konfrontiert, doch schwebt dieser als latente ständige Bedrohung über die Köpfe der Protagonisten. Dies auszubalancieren ist der Autorin gelungen, zudem eingebettet in eine Welt, die allein durch derer Beschreibungen lebendig wird. Orte und Figuren sind gleichermaßen detailreich beschrieben. Gerade wer die antike Stätte kennt, kann dem nachspüren. Auch als Reiselektüre für die Zielgruppe lohnt sich das sehr.

Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt, jedoch hauptsächlich mit dem Blick des titelgebenden Protagonisten. Ohne Lücken oder unlogischen Wendungen, wenn man einmal die kindliche Phantasie zulässt, ist das Eintauchen in die Zeit, in die Erzählung eingebettet und dabei grundehrlich. Trotzdem oder gerade deswegen wechseln sich spannungsreiche Momente regelmäßig mit ruhigen ab. Wer liest, bekommt Zeit durchzuatmen.

In dieser Mischung aus Erzählung und Abenteuergeschichte, Lexikon und Sachbuch funktioniert auch „Fred im alten Rom“, welches nicht nur eine spannende Zeitreise bietet, sondern auch gleich Ausgflugstipps zu römischen Stätten und darauf basierenden Museen in Europa. Eine ganze Epoche, und mit Freds Reise ein Teil davon besonders, wird so erleb- und beinahe fassbar. Hörbar auch, wenn man da möchte. Noch viel mehr Reisen in die Geschichte, so auch diese, können die Kleinsten auch als Hörspiel erleben.

Das Kolosseum bei Nacht. (Quelle: Privatarchiv)

Neben den zahlreichen Illustrationen, die in leuchtenden kräftigen Farben gehalten sind, ist auf den Innenseiten der Buchdeckel eine Karte des Römischen Reiches zur Zeit seiner größten Ausdehnung in der Antike zu finden, was das Leseerlebnis ebenfalls noch einmal abrundet. Die Liebe und das Interesse zur Geschichte, wird bei der Lektüre ebenso deutlich, wie die vorangegangene Recherche-Lust. Es wird sehr akkurat erzählt, anhand von Figuren, die es tatsächlich so gegeben haben könnte, und macht damit sicher nicht nur der Zielgruppe Spaß und Lust, das Kolosseum und das Forum Romanum selbst zu entdecken.

Für Groß und Klein auch hier wieder eine unbedingte Empfehlung.

Autorin:
Birge Tetzner ist Kunsthistorikerin, Autorin und Sprecherin. Sie spricht Reportagen, erstellt Interviews und verfasst Nachrichten, ist Autorin für Museen, Ausstellungen und Kinder(hörbüchern. Im Verlag ultramar media erscheinen von ihr Bücher und Hörbücher für Kinder.

Illustrationen:
Karl Uhlenbrock ist Illustrator und Designer für Kinderbücher, Museen und Unternehmen.

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Theodoros Iatridis: Das weiße Haus mit den weißen Dachziegeln

Inhalt:
Irgendwann werden wir aufwachen und nichts wird mehr so sein, wie es gewesen ist.

Ich schaue nach links und dort steht ein türkisfarbenes Haus mit türkisfarbenen Dachziegeln und blauen Fensterläden. Ich verlasse meinen Trampelpfad und öffne die türkisfarbene Tür und trete ein. Es ist ein Cafe und es fühlt sich an, als wäre das Heute ein Gestern und alles, was ich gerade tue, ist bereits vollbracht worden.

Folgt Thomas auf seiner absonderlichen Abenteuerreise und werdet Zeugen einer grotesken Welt.

Eine Geschichte über die Liebe eines Mannes, an einem bizarren Tag, der kein Ende zu finden scheint.
(Klappentext)

Rezension:
Einmal im Monat betrinkt Thomas sich. In einem Rausch durchlebt er den Tag. heute hat ihn sein Chef freigegeben, nicht ohne das Problem anzusprechen. Doch jetzt ist er allein mit sich und seinen Gedanken. Oder ist er gar nicht allein? Ein Spaziergang wird vermutlich helfen, den Kopf frei zu bekommen. Auf seinem Spaziergang verliert er sich in bizarren Begegnungen. Ist das alles wirklich? Thomas beginnt Vergangenes zu verarbeiten. Ob es ihm gelingen wird?

„Das weiße Haus mit den weißen Dachziegeln“, ist eine kleine Novelle aus der Feder von Thodoros Iatridis, der damit eine Erzählung über Trauer und Verarbeitung, dem Begreifen und Erfassen geschrieben, dies in einem sehr poetischen Ton verfasst hat. Beim Lesen des kompakten Textes begleiten wir den Protagonisten, erfahren zunächst wenig über den Hintergrund, der sich nur langsam erschließen wird. Der Protagonist selbst ist ebenfalls lange Zeit nicht wirklich zu greifen. Was treibt ihn an, was treibt ihn um? Warum begibt er sich in einem Zustand, in der die Phantasie überhand nimmt und die reale Welt in den Hintergrund rücken lässt.

Surrealistisch und abstrakt wirkt der Text. Fast ist es so, als würde man von Gemälde zu Gemälde springen. Wer liest bekommt viel Zeit zur Interpretation. Das Erzähltempo ist langsam. Ein wirklicher Lesefluss mag sich dabei nicht einstellen. Vielmehr reihen sich Momente zum Innehalten aneinander, wie auf eine Perlenkette. Der Protagonist, so begreift man dann, ist in einer Phase der Trauer, noch nicht bereit loszulassen, aber kurz davor. Was zuvor passiert ist, bleibt länger im Dunkeln.

Sehr poetisch ist der Ton. Die Sprache wirkt zuweilen sehr geschliffen. Und erreicht nur, wenn man in der richtigen Stimmung für diese Art von Literatur ist, ansonsten bleibt man davon merkwürdig unberührt. Das fühlt sich falsch an, wo man doch weiß, dass es einem nahegehen müsste, gerade wenn man die Ebenen dahinter erfasst hat. Die Mischung aus Erzähltempo und Tonalität ist jedoch sehr besonders und macht den Einstieg nicht gerade leicht.

Kurz und kompakt sind die Kapitel gestaltet. Der Protagonist wird in ihnen mit seinen Gedanken und Gefühlen konfrontiert. Ständige Wiederholungen unterstreichen die tiefen Narben, deren Herkunft sich erst spät erschließen wird. Der Takt der Wiederholungen von Sprachbildern lässt den Text sehr kantig wirken. Das ist nur den sehr geduligen Lesenden zuträglich. Alle anderen bleiben leider auf der Strecke. Innerhalb der Ebenen, wenn es um Trauer und Verarbeitung geht, um das sich Erinnern, ist die Erzählung dennoch schlüssig, auf seine eigen bizarre Art und Weise. Manchmal wirkt es so, als hat der Autor sich hier nicht entscheiden können, ob er nun ausschweifend oder detailliert formulieren wolle. Das merkt man durchaus an der einen oder anderen Stelle.

Lücken erschließen sich gegen Ende des kleinen Romans, dessen Phantasiewelten im Kopf des Protagonisten man sich durchaus plastisch vorstellen kann. Schauplätze vermag Iatridis vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Reicht das aber aus? Wer keinen Zugang zum Surrealen findet, dem wird dies leider nicht genügen. Eventuell wirkt das anders, wenn man selbst schon trauern musste? Das möchte ich dem Autoren gerne zugestehen, habe mich selbst zum Glück aber bisher noch nie in dieser Lage befunden.

Definitiv keine leichtgängige Lektüre ist „Das weiße Haus mit den weißen Dachziegeln“, die man unbedingt in der richtigen Stimmung lesen sollte, um sie wirken zu lassen. Anders funktioniert es hier nicht. Zu abstrakt ist da der Text und damit auch nicht wirklich greifbar. Und das ist schade, denn manches sprachliches Bild darin ist durchaus schön.

Autor:
Theodoros Iatridis ist 1984 geboren und ein deutscher Schriftsteller. Mit seinem Debüt „klein ist die Seele“ durfte er an der Veranstaltungsreihe „das erste Buch“ vom Raabe-Haus, Literaturzentrum Braunschweig, teilnehmen. Er ist Autor mehrerer Erzählungen.

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Michaela Göhr: Fantastische Abenteuer 1 – Ein unglaubliches Band

Inhalt:
Timo findet sich eigentlich ganz normal. Und mal ehrlich – kann er was dazu, dass er zufällig blind ist? Eines Tages zieht im Nachbarhaus eine Familie mit einem Jungen in seinem Alter ein. Und der ist nun echt nicht normal! Alles, was Simon sich vorstellt, wird wirklich – egal, ob es sich um Schokotorte, Inline-Skates oder einen megastarken Riesen handelt. Schnell freunden sich die beiden ungleichen Jungen an und erleben aufregende Abenteuer zusammen. Eigentlich läuft alles perfekt – bis finstere Gestalten aus Simons Vergangenheit auftauchen und sowohl die Freunde als auch ihre Familien in große Gefahr bringen. (Klappentext)

Reihe:
Dies ist der erste Band der Kinderbuchreihe „Fantastische Abenteuer“, von Michaela Göhr. Parallel dazu gibt es eine Jugend-/Erwachsenenbuchreihe „Der Fantast“, die im Bereich Urban Fantasy den Protagonisten Simon durch sein Leben begleitet. Beide Reihen können unabhängig von einander gelesen werden.

Rezension:
Parallel zu der Urban-Fantasy-Reihe „Der Fantast“, ist aus der Feder von Michaela Göhr eine andere entstanden, die sich mehr an jüngere Leserinnen und Leser richtet. Mit „Fantastische Abenteuer“ sprengt die Autorin jede Einsortierung von sich selbst, in den Grenzen von Genres bis zu Zielgruppen und hat hier für Kinder eine ganz wunderbare Erzählung geschaffen, die die Kindheit der bereits in den Bänden für eine, nur etwas, ältere Leserschaft, noch einmal näher beleuchtet. Entstanden dabei ist eine Reihe über Freundschaft, Mut, Zusammenhalt und des über sich Hinauswachsens.

Nicht ganz so rasant wie in „Der Fantast“, lässt die Autorin hier die Geschichte aus Sicht des Freundes von Timo erzählen, der mit seiner Begabung, Dinge aus seiner Vorstellung heraus Wirklichkeit werden zu lassen, nicht nur das Zusammensein und Spielen zur Herausforderung werden lässt. Auch Begehrlichkeiten bei finsteren Menschen hat Simon längst geweckt, die seine Fantasie für ihre Zwecke einspannen wollen. Dies ist der Grund, warum der Junge und seine Familie in Timos Nachbarschaft ziehen.

Und Timo hat mit einer ganz eigenen Herausforderung zu kämpfen. Er ist blind und muss sich daher auf seine anderen Sinne verlassen. Doch sein neuer Freund wird ihn helfen, über sich hinauszuwachsen, sich auch mal etwas zu trauen, dabei jedoch als gleichrangig angesehen wird. Schon damit ist die Erzählung ungeheuer stark. Einw Einschränkung erzählt Michaela Göhr in ihrem kurzweiligen Roman nicht als Schwäche, sondern als Chance, zudem auch Timo sehr schnell die Rolle sowohl als Simons Korrekturat einnimmt. Zudem wird der Junge sehr schnell entdecken, dass auch der scheinbar perfekte Freund mit ganz eigenen Grenzen zu kämpfen hat.

Dies ist hier etwas anders herausgearbeitet als in der Jugendbuch- und Erwachsenenreihe. Eine Spur behutsamer. Während in „Der Fantast“, Simon, aus dessen Sicht heraus dort die Geschichte erzählt wird, manchmal eine Spur zu egositisch und sich selbst überschätzend, rüberkommt, wirkt hier der Wechsel der Perspektive sich wohltuend aus. Die Kindheit beider wird hier auf mehrere Bände gestreckt erzählt, in kompakten Kapiteln, immer wieder aufgelockert durch kleine Zeichnungen und im Anschluss mit einem kleinem Glossar, in denen vorkommende Begriffe, wie die Braille-Schrift, kindgerecht erklärt werden.

Nicht zuletzt die beiden Hauptprotagonisten sind auch hier feinsinnig ausgearbeitet, mit all ihren Schwächen und Stärken. Wie Inklusion funktioniert, natürlich im Sinne der Geschichte, zeigt die Autorin sehr unaufgeregt, ohne erhobenen Zeigefinger. Alle Figuren haben so ihre Ecken und Kanten. Selbst die Antagonisten sind nachvollziehbar gestaltet. Gegensätze, schon in Bezug der beiden Hauptfiguren zueinander, fügen sich in die Erzählung ein, ohne Lücken oder unerklärliche Wendungen entstehen zu lassen.

Insbesondere Timo ist als Identifikationsfigur gut herausgearbeitet. Nicht nur, dass man die Welt einmal aus einer gänzlich anderen Perspektive wahrnimmt, sondern auch seinen Gefühlen ob der Sprunghaftigkeit und Abenteuerlust, was milde ausgedrückt ist, seines Freundes gegenüber. Er ist schon ob seiner Voraussetzungen der ruhigere, überlegende nachdenkliche Part der beiden. Auch das ist hier als Plus-Punkt anzusehen, einmal einen solcher Art gestalteten Hauptcharakter zu haben.

Die Erzählung selbst ist nachvollziehbar und in sich schlüssig gestaltet. Rasante Momente wechseln sich hier etwas regelmäßiger als in „Der Fantast“, mit etwas ruhigeren ab. Diese gehören auch mit den darin formulierten Beschreibungen zu den stärkeren der Geschichte. Diese lebt insbesondere von kleinen Details, die ab und an eingestreut werden. Wie fühlt sich das an, wenn man, wortwörtlich, den Boden unter den Füßen verliert, den Grund dafür vielleicht zu wissen, aber eben nicht zu sehen? Das und anderes wird hier so ganz nebenbei kindgerecht erzählt und schafft „Einblick“ in eine sonst nicht oft zur Sprache gebrachten Welt.

Und trotzdem oder gerade deswegen kann man sich das Beschriebene bildlich gut vorstellen, sowohl was Orte als auch Figuren und ihre Handlungen angeht. Die Reihe funktioniert dabei für sich alleine, ebenso auch in Ergänzung zum parallel existierenden „Fantasten“. Hier ist Mitwachsen möglich. Wer Erzählungen für Kinder sucht, die unaufgeregt, Themen wie Inklusion und Freundschaft, Zusammenhalt, näherbringen, liegt hier in jedem Fall richtig. Auch die Einbindung fantastischer Elemente in die reale Welt funktioniert hier im Übrigen.

Michaela Göhr, die auch hier wieder Erfahrungen aus ihrer Arbeit in der Sonderpädagogik eingebracht hat, hat es mit diesem Buch noch einmal mehr geschafft, sich schriftstellerisch zu steigern und auch den Spagat zwischen Kinder- und Jugend- oder junger Erwachsenenliteratur hinzubekommen. Den fünften Stern möchte ich einmal offen lassen, um zu sehen, was da noch kommt.

Autorin:
Michaela Göhr ist eine deutsche Schriftstellerin und wurde 1972 im Sauerland geboren. Zunächst studierte sie Sonderpädagogik und arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen. Mit dem Schreiben von Geschichten begann sie bereits in ihrer Kindheit. Ihren ersten Roman verfasste sie 2014. Seitdem schreibt sie Urban Fantasy für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

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Sidonie-Gabrielle C. Colette: Cheri

Inhalt:
Colettes bekanntester Roman „Cheri“, der 1920 veröffentlicht wurde, handelt von der alternden Halbweltdame Lea, die sich in den Sohn einer Freundin verliebt. Sie beginnt eine Liebesbeziehung mit dem nicht einmal halb so alten Cheri. Und das Verhältnis geht gut, bis Cheris Mutter beschließt, ihn zu verheiraten. In einem poetisch-erotischen Stil beschreibt Colette die gegenseitige Zuneigung des Paars in seiner luxuriösen Umgebung – die Abhängigkeit des jungen Mannes von der älteren Frau, die sich stolz gegen das Altwerden wehrt und am Ende doch ihren Frieden damit schließt. (Klappentext)

Rezension:
Ein Gesellschaftsroman wie ein Kammerspiel, das ist die Erzählung „Cheri“, der französischen Autorin Sidonie-Gabrielle Claudine Colette, die für ihr Leben und Werk als zweite Frau Frankreichs mit einem Staatsbegräbnis geehrt wurde. Erschienen ist der Text erstmals zu Beginn der 1920er Jahre und sorgte zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung durchaus für Stoff zur Diskussion. Wie aber wirkt die Geschichte heute? Ist sie immer noch genau so gut lesbar und einprägsam?

Schon zu Beginn der Erzählung wähnt man sich als Zuschauer eines Theaterstücks. Das Figurentableau wie auch die Anzahl der Schauplätze sind überschaubar. Ersteres ist auf zwei Hauptprotagonisten beschränkt, die alleine schon durch ihren Dialog an Konturen gewinnen. Wenige Nebenfiguren runden das Ensemble ab. Alleine Lea und Cheri, die sich miteinander und ihrer beider Leben auseinandersetzen müssen, reichen vollkommen aus, um die Handlung voranzutreiben. Diese plätschert so dahin, was zur Umgebung beider Personen passt, die sich um nichts auf der Welt Sorgen machen müssen.

Die Finanzen sind gesichert, woher das Geld kommt ist über weite Strecken nicht ganz klar. Man lebt in den Tag hinein, füreinander gegeneinander. Der Altersunterschied beider zueinander ist Antriebsfeder, Konfrontationspunkt und Ablenkung zugleich. Die Autorin nutzt dies als Spannungsmoment. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war dies durchaus ein Aufreger.

Wie gehen die Figuren damit, wie die Umgebung damit um? Was haben beide einander zu geben? Steckt Liebe dahinter? Zeitvertreib gegen die Langeweile eines gesellschaftlich sonst nicht aufregenden Lebens? Fragen, die man sich mit den ersten Zeilen stellt, wenn die Figuren an Konturen gewinnen. Der Konflikt indes lässt nicht lange auf sich warten. Als der jüngere Cheri verheiratet werden soll, gehen beide mit der Situation unterschiedlich um, was Folgen haben wird.

Mehr passiert im Grunde nicht. Tatsächlich kommt die Geschichte, die im Grunde nur aus inneren Gedankengängen und Dialogen besteht, ziemlich ruhig daher. Die Autorin behält ein ruhiges Erzähltempo beinahe durchgängig bei, auch unser gesellschaftliches Frauenbild oder das von Beziehungen trägt dazu bei, dass am Ende gesagt werden kann, dass eigentlich nichts passiert. Versetzen wir uns aber in die damalige Leserschaft, können wir erahnen, welche Sprengkraft dieses damals sehr aufrührende Bild hatte.

Alleine dafür lohnt es sich, diesen kleinen lieben Roman wieder zu entdecken.

Autorin:
Colette, eigentlich Sidonie-Gabrielle Claudine Colette wurde 1873 geboren und war eine französische Schriftstellerin, Varietekünstlerin und Journalistin. In ihren Romanen beschrieb sie vor allem Frauenschicksale, setzte sich mit Tabuthemen ihrer Zeit auseinander, später arbeitete sie auch als Journalistin, zuvor als Varietekünstlerin. Sie starb 1954 in Paris.

Zur Autorin: Hier klicken.

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Anna Seghers: Transit

Inhalt:
Marseille im Sommer 1940: Am Rande Europas versammeln sich die von den Nazis Verfolgten und Bedrohten. Sie hetzen nach Visa, Bescheinigungen und Stempeln, um nach Übersee ins rettende Exil zu entkommen. Im Chaos der stadt, in den Cafes, auf dem Gang von Behörde zu Behörde kreuzen sich ihre Wege – und für kurze Zeit sind fremde Leben durch Hoffnungen, Träume und Leidenschaften miteinander verbunden. (Klappentext)

Rezension:
Gegenübersitzend in einer Pizzeria entfaltet der Ich-Erzähler seine Geschichte und all jener, denen er auf seinen Wegen durch die quirlige Hafenstadt begegnet ist. Alles drängt dort Richtung Hafen. Nur raus aus Europa, sich in Sicherheit bringen vor den Nazis, die Europa längst ins Unglück gestürzt haben. Nicht einmal hier, in Marseille kann man aufatmen, denn bleiben darf nur, wer auch gehen darf.

Gehen darf nur, wer Visa, Transitvisa und Billets beisammen hat. Doch die Wege sind lang zwischen Botschaften und Behörden, zumal zwischen den Kontinenten, ein zermürbender Kraftakt und doch Antrieb aller Anwesenden. In Anna Seghers‘ Entwicklungsroman „Transit“ entfaltet sich dieses Panorama.

Immer drängender weichen die beschaulichen Ansichten den Ängsten der Protagonisten, zu spät alle Papiere vollständig in den Händen halten zu können. Immer bedrohlicher zeichnen sich dunkle Wolken am Horizont. Nur der namenlose Hauptprotagonist, der sich an den Trubel langsam gewöhnt, möchte bleiben.

Das Unterfangen erweist sich als schwierig in einer Umgebung, die ihren ganz eigenen Gesetzen gehorscht. Die Schriftstellerin Anna Seghers beschreibt sie in ihrer kompakt gehaltenen Erzählung sehr feinfühlig. Zunächst begegnen wir auch hier, wie etwa in „Das siebte Kreuz“ einem im Vergleich zu heute erscheinenden Romanen, vergleichsweise langsamen Erzähltempo, welches sich hier behutsam steigert und entsprechende Akzente setzt.

Zwischen den Zeilen erfährt man viel. Anspielungen über Walter Benjamin und Ernst Weiß bilden den Handlungsrahmen, durchsetzt von den Erfahrungen, die die Schriftstellerin selbst machen durfte, gehörte sie doch zu denen, die 1940 Mittel und Wege suchten, den Nazis zu entkommen. In zahlreichen Figuren verarbeitet sie die Schicksale bekannter und derer, die zwangsweise unerkannt bleiben müssen.

Schnell stellt sich die Frage, nach dem eigentlichen Vorhaben des Protagonisten, der seiner unmittelbaren Umgebung mal hilft, dann wieder unerkannt Steine in den Weg legt. Nur langsam wird seine Vergangenheit und der Bezug zum Inhalt des Koffers aufgerollt, der mit ihm seinen Weg nach Marseille gefunden hat. Der Erzähler öffnet sich den Lesenden in all seinen Grau-Schattierungen, doch wirkt es nicht nur für die ihn umgebenden Figuren so, als würde man versuchen Rauch zu greifen, mit bloßen Händen. Dieser Weg, eigene Ziele zu verfolgen, gleichzeitig sich unentbehrlich zu machen, macht ihm nicht gerade zu einem Sympathieträger.

Dennoch verfolgt man atemlos seinem Weg, der nur wenige Monate umfasst, in denen ständig etwas passiert. Die Stadt hängt den Gerüchten nach, dem Wohlwollen der Beamten und Diplomaten, die mal Gegenspieler, mal nur Rädchen im Getriebe sind, welches sich trotz sich radikal verändernder Umstände immer weiter dreht. Der Kontrast der mit der idyllischen Umgebung entsteht, wirkt damit um so mehr.

Die Perspektive bleibt beim Protagonisten, aus dessen Beobachtung wir alles erfahren. Das Treiben in den Cafes, miserablen Unterkünften, in denen sich alle drängen, den langen Schlangen vor den Konsulaten. Zuweilen eröffnet sich damit ein Verwirrspiel, den man manchmal überdrüssig zu werden droht, wenn wieder einmal über die Art und Beschaffenheit der Papiere diskutiert wird.

Zum vierten, fünften, sechsten Mal. Die dichte Abfolge erschwert den Lesefluss, bei den man dann trotzdem immer wieder innehalten muss, mit dem Gefühl, etwas Entscheidendes überlesen zu haben. Hat man jedoch nicht, sondern nur ein weiteres Puzzleteil aufgenommen. Dabei lassen einem nicht einmal kurze Rückblenden Zeit, einmal durchzuatmen.

Anna Seghers hat es hier verstanden, Eile und Drängen zu verschriftlichen, aber auch sehr detaillierte Ortsbeschreibungen vor dem inneren Auge auferstehen zu lassen. Trotz mancher Distanz, die gewollt aber gekonnt konstruiert ist, hilft dies sich in die Geschehnisse der damaligen Zeit und ihre Protagonisten hineinzuversetzen.

In Bezug auf heutige Lesegewohnheiten funktioniert die Erzählung nicht durchgehend, aber doch in soweit, dass man unbedingt die Hintergründe des Protagonisten erfahren möchte, und wie die Auflösung sich gestaltet. Das klappt auch in der Gegenwart, zumal die Gründzüge des Romans sich hervorragend in das Heute adaptieren lassen, werden Städte wie Marseille wieder zu Drehpunkten von Menschen, die einen Ort zum Leben suchen. Nur eben in umgekehrter Richtung.

Gerade deshalb ist dieser Roman, wenn auch nicht immer in zugänglicher Sprache gehalten, heute noch lesenswert und zu empfehlen.

Autorin:
Anna Seghers wurde 1900 in Mainz gebohren und war eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie, bevor sie 1924 ihre erste Erzählung veröffentlichte. Verheiratet mit dem ungarischen Soziologen Laszlo Radvanyi wandte sie sich der Kommunistischen Partei zu, der sie 1928 beitrat.

Eine Reise in die Sowjetunion folgte im Jahr 1930, bevor sie über die Schweiz nach Frankreich, zusammen mit ihren Kindern flüchten musste. Im Exil war sie eine der Mitgründerinnen des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller und schaffte es 1942 über Marseille nach Mexiko zu reisen, von wo sie 1947 zurückkehrte. Dort erschien 1942 ihr Roman „Das siebte Kreuz“, mehrere Jahre danach auch in Deutschland. 1947 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen. 1952 wurde sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR und blieb es bis 1978. 1981 wurde ihr die Ehrenbürgerwürde der Stadt Mainz verliehen. 1983 starb sie in Berlin.

Ihre Werke wurden mehrfach verfilmt und ausgezeichnet.

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Anna Seghers: Das siebte Kreuz

Inhalt:
„Das siebte Kreuz“ machte Anna Seghers mit einem Schlag berühmt und wurde zu einem bis heute anhaltenden Welterfolg. Die dramatische Geschichte einer Flucht vor den Nazis ist durchdrungen von Seghers‘ eigenen Fluchterfahrungen: Aus sieben gekappten Platanen werden im Konzentrationslager Westhofen Folterkreuze für sieben geflohene Häftlinge vorbereitet. Sechs der Männer müssen ihren Ausbruchsversuch mit dem Leben bezahlen. Das siebte Kreuz aber bleibt frei. (Klappentext)

Rezension:
In vielerlei Hinsicht besonders ist der im französischen Exil geschriebene und 1942 erstmals in Mexiko von Anna Seghers veröffentlichte Roman „Das siebte Kreuz“, der die Geschichte nicht nur einer Flucht, eben auch einer Gesellschaft in zahlreichen Facetten erzählt. Die konkrete Einordnung des Romans fällt dabei zunächst nicht leicht.

In einer Art Rückschau beginnt zunächst ein namenloser Erzähler von Ereignissen zu berichten, die einem lesend in den Strang der Haupthandlung einführen. Der Flucht von Georg Heisler aus dem fiktiven Konzentrationslager Westhofen, zusammen mit weiteren sechs, die nach und nach auf ihren Weg umkommen. Nur der Hauptprotagonist entgeht der sich immer enger zuziehender Schlinge, immer wieder. Der Weg ist die Geschichte, und die Menschen, die ihn säumen. Anna Seghers hat sich dafür Zeit genommen, diese zu beschreiben.

Ungewohnt langsam eröffnet sich die Erzählung, die sich nach und nach in mehrere parallel zueinander verlaufende Handlungen auffächert. Jede in ihrer ganz eigenen Tonalität und im dazu passenden Erzähltempo gehalten. Als wäre das nicht genug, kommt ein riesiges Figurentableau zum Tragen, welches nicht nur als Handlungstreiber funguiert, sondern auch all die unterschiedlichsten Schichten und Positionen innerhalb des Dritten Reiches darstellen soll.

Dies gelingt vortrefflich, auch wenn die Art und Weise des Erzählens für heutige Lesende zunächst ungewohnt wirken mag. Erst hineinfinden muss man sich in die Geschichte, die eingebettet im Frankfurter Umland dort geschieht, wo zuvor sich schon so einiges ereignet hat. Schon diese Punkte rechtfertigen mehr Seiten, doch ist der Roman vergleichsweise kompakt gehalten. Man kann darüber froh sein. Es ist nicht immer leicht, den Überblick zu behalten.

Wechselnde Perspektiven schildern das Fluchtgeschehen. Die grausame und bürokratische NS-Diktatur, die den Flüchtlingen unbedingt habhaft werden muss, ansonsten ihrerseits im Inneren Köpfe rollen zu drohen, die Flüchtigen, deren Vergangenheit nur zwischen den Zeilen durchscheint, die auf die Reaktionen ihrer Umgebung angewiesen sind oder durch sie ins entgültige Verderben stürzen werden.

Aus dem Exil heraus hat es Anna Seghers mit „Das siebte Kreuz“ geschafft, ein mögliches Portrait des Dritten Reiches zu schreiben, wie es Erich Kästner, der im Gegensatz zu ihr bleiben konnte, wenn auch mit Einschränkungen, hinterher nicht mehr schreiben konnte. Trotzdem beschränkt sich auch ihre Perspektive oder gerade deswegen auf einen herausstechenden Aspekt, den sie in ein Zeitraum von wenigen Wochen, mehr werden es kaum sein, erzähltet.

Seghers‘ Hauptprotagonist ist durchaus vielschichtig, nicht in allen Regungen seines Handelns sympathisch. Die Hintergründe Georg Heislers entsprechen dabei den ideologischen Idealvorstellungen der Autorin, zumindest zwischen den Zeilen. Trotzdem lässt sich die Erzählung auch heute noch gut lesen. Wenn man gewillt ist, den Roman die Hintergründe seiner Entstehungszeit zu Gute zu halten. Natürlich lässt es sich nicht vermeiden, das einige Passagen sprachlich angestaubt wirken. Der gesellschaftliche Wandel hat es zudem mit sich gebracht, dass das dargestellte Frauenbild ebenso antiquiert wirkt.

Im Rahmen des ihnen zugestandenen Raumes haben die Nebenfiguren einen durchaus umfangreichen Spielraum zwischen Schwarz und Weiss. Anna Seghers hat ihnen ebenso Ecken und Kanten verpasst, so dass auch die Beweggründe der Antagonisten diese natürlich nicht sympathisch, aber gut nachvollziehbar machen. Die Atmosphäre indes bleibt dagegen die ganze Zeit über aufs Äußerste gespannt. Auch bei denen, die „Das siebte Kreuz“ heute lesen. Die von der Autorin gesetzten Stellschrauben funktionieren heute noch.

An den steten Perspektivwechsel muss man sich, ebenso wie an die verschiedenen Erzähltempo zunächst gewöhnen. Wer einmal da hinein gefunden hat, entdeckt nicht nur eine vielschichtige Fluchtgeschichte, sondern auch einen Roman, der von Symbolik nur so strotzt. Sieben Flüchtige, sieben Kreuze, sieben Kapitel und sicher mehr als genug Anspielungen, die man innerhalb der entfachten Sogwirkung überliest. Passend wirken bewusst gesetzte Leerstellen. Nicht alles offenbart sich sofort. Einiges muss man sich zwischen den Zeilen erzählen. Das Kopfkino spielt mit. Der Detailreichtum ist trotz mancher Auslassung atemraubend.

Ein Roman, der einem so in den Bann zieht, dass es zuweilen wirkt, als würde man praktisch neben den Figuren stehen, ist lesenswert, wenn die Handlung auch zuweilen schwergängig wirkt. Hier merkt man dann doch die Jahrzehnte, die die Erzählung auf den Buckel hat, was jedoch nur Jammern auf höchstem Niveau bedeutet.

Ein Klassiker der Literatur, der auch die Wendezeit überdauern und zuvor bereits in Starbesetzung verfilmt wurde, beiderseits der ideologischen Bruchlinie zweier Systeme so Fuß fassen konnte, ist „Das siebte Kreuz“, den man konzentriert lesen sollte. Schon der Thematik wegen ist dies keine leichte Kost, zudem wenn man die Punkte erkennt, die Anna Seghers aus ihrem eigenen Ereben in ihre Geschichte mit eingebracht hat.

Eine gewisse Trennung von Autorin und Werk ist erforderlich oder zumindest eine entsprechende Einordnung im Zeitgeschehen und in Bezug zur Biografie der Autorin. Wer sich darauf einlässt, bekommt eine vielschichte Lektüre zur Hand, nicht nur literaturgeschichtlicht interessant.

Media: Kein Transit ins gelobte Land – Anna Seghers aus Mainz (SWR 2021)

Autorin:
Anna Seghers wurde 1900 in Mainz gebohren und war eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie, bevor sie 1924 ihre erste Erzählung veröffentlichte. Verheiratet mit dem ungarischen Soziologen Laszlo Radvanyi wandte sie sich der Kommunistischen Partei zu, der sie 1928 beitrat.

Eine Reise in die Sowjetunion folgte im Jahr 1930, bevor sie über die Schweiz nach Frankreich, zusammen mit ihren Kindern flüchten musste. Im Exil war sie eine der Mitgründerinnen des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller und schaffte es 1942 über Marseille nach Mexiko zu reisen, von wo sie 1947 zurückkehrte. Dort erschien 1942 ihr Roman „Das siebte Kreuz“, mehrere Jahre danach auch in Deutschland. 1947 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen. 1952 wurde sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR und blieb es bis 1978. 1981 wurde ihr die Ehrenbürgerwürde der Stadt Mainz verliehen. 1983 starb sie in Berlin.

Ihre Werke wurden mehrfach verfilmt und ausgezeichnet.

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Joachim B. Schmidt: Moosflüstern

Inhalt:
Im Juni 1949 brachte der Dampfer „Esja“ rund 200 Frauen aus Deutschland nach Island, wo sie sich als Dienstmädchen auf Bauernhöfen verdingten. Darunter auch Heinrich Liebers Mutter, von der er immer geglaubt hatte, sie sei nach seiner Geburt gestorben. 40 Jahre später ist Heinrich Bauingenieur, verheiratet, doch sein Leben gerät auf einmal ins Wanken. Der sonst so korrekte Mann fasst einen überstürzten Entschluss und reist nach Island, wo er sich auf die Suche nach seiner Herkunft macht. (Klappentext)

Rezension:
Ein Einsturz verändert alles. Doch auch so, ohne den Zusammenbruch der Lagerhalle, den Heinrich über seine Bauzeichnungen brütend, sich zunächst nicht erklären kann, gerät sein Leben aus den Fugen, als seine Adoptiveltern ihn vom erst kürzlichen Tod der schon länger verstorben geglaubten Mutter erzählen. Zwei Tropfen, die das Fass zum Überlaufen, das Gedankenkarussel in Bewegung setzen und in Joachim B. Schmidts Roman „Moosflüstern“ vom beschaulichen Zürich in die raue Landschaft Islands führen.

In seiner Erzählung folgen wir zwei Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen. In der Gegenwart folgen wir den von Selbstzweifeln und Unsicherheiten befangenen Hauptprotagonisten auf Spurensuche nach seiner Vergangenheit, sowie im Wechsel der jungen Anna, die sich kurz nach Kriegsende aus dem gebeutelten Europa auf dem Weg nach Island macht. Nach und nach führen beide Handlungen zueinander, wenn auch der Rahmen unterschiedlicher gefasst nicht sein könnte. Joachim B. Schmidt erzählt von Polartagen, die sich wie Wochen anfüllen und von Jahren, die verstreichen.

Dabei liest sich „Moosflüstern“ gleichermaßen melancholisch wie leichtgängig, was sowohl an den wenigen Hauptfiguren liegt, mit deren Ecken und Kanten man sich schnell identifizieren mag, als auch an kunstvollen Orts- und Landschaftsbeschreibungen, die einem ganz für das Geschehen einnehmen vermögen. Das vollkommene Ausbleiben eines kompletten Antagonisten tut sein Übriges. Nein, beide Hauptfiguren stehen sich selbst im Weg und finden doch immer wieder auf die Spur zurück. Ähnlichkeiten zueinander sind hier unverkennbar, wunderbar ausgestaltet durch den Autoren. Das macht es leicht, sich in die Protagonisten beider Handlungsstränge hineinzuversetzen.

Mit seiner Erzählung bringt Joachim B. Schmidt ein hierzulande kleines, jedoch fast vergessenes Kapitel Geschichte zum Vorschein und lässt sie einfühlsam lebendig werden. Die eine Protagonistin ist ihr ausgesetzt, der andere macht sich nach und nach ein Bild. In der rauen Landschaft setzt sich ein Puzzle zusammen, was Heinrich auch mit der eigenen Verantwortung für sein Tun konfrontieren wird. Hier eröffnen sich feine Unterschiede, Risse, die Seite für Seite feinsinnig herausgearbeitet werden.

Daraus ist ein in sich abgeschlossener Roman entstanden, der ohne großspurige Wendungen auskommt, jedoch auch keine Lücken aufweist und trotzdem streckenweise spannend zu lesen ist. Genau im richtigen Maße, ohne alles in Eiskristalle gehüllte Melancholie ersticken zu lassen, lässt der Autor Perspektiven und Beschreibungen wechseln. Zeile für Zeile durchzieht den Text eine fast filmische Sprache, die beide Handlungsstränge sehr plastisch wirken lassen. Ein wenig Kitsch wird sich hier und da dennoch erlaubt.

Weder zu heiter noch düster ist die Erzählung, deren Hintergründe man gerne nachspüren möchte. Das liegt nicht zuletzt an Joachim B. Schmidts der seine Gespräche mit Menschen hat einfließen lassen, die die hier am Anfang stehende Überfahrt nach Island tatsächlich gemacht haben. Der Sprung ins kalte Fjordwasser ist hier gelungen.

Wer andere Werke des Autoren kennt, wie etwa „Kalmann“ oder „Tell“ wird hier erneut überrascht werden, von seiner Vielseitigkeit des Erzählens. Wieder liest es sich anders als das aus seiner Feder bekannte, wobei, dies sei auch erwähnt, der Eindruck leider nicht ganz so nachhaltig wirkt. Das jedoch ist Meckern auf hohem Niveau, ergibt allerhöchstens Abzüge in der B-Note. Joachim B. Schmidts Figuren folgt man dann doch zu gerne.

Autor:
Joachim B. Schmidt ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller, der zunächst eine Ausbildung zum diplomierten Hochbauzeichner absolvierte. Mit einer Kurzgeschichte gewann er einen Schreibwettbewerb und veröffentlichte erstmals 2013 seinen ersten Roman. Als Journalist und Touristenquide arbeitet er in Reykjavik, Island, wohin er 2007 ausgewandert ist. Sein Roman „Kalmann“, dem weitere folgten, erschien 2020 bei Diogenes. Er ist ausgezeichnet mit dem Crime Cologne Award und dem Glauser Preis.

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Serhij Zhadan: Keiner wird um etwas bitten

Inhalt:
Erstmals seit Beginn des großen Krieges erzählt Serhij Zhadan vom Alltag seiner Leute in Charkiw, die sich in einer radikal neuen Realität zurechtfinden müssen. Lakonische, wortkarge Geschichten von untröstlicher Liebe, von Freundschaft und Tapferkeit, komisch, absurd und herzzerreißend. Eine unvergessliche Lektüre. (Klappentext)

Rezension:
Der Lehrer, der als Übriggebliebener regelmäßig im durch den Krieg beschädigten Schulgebäude nach dem rechten sieht, Schüler kommen längst keine mehr, eine Frau die aus einem Wohngebiet evakuiert werden muss, der Tanzpartner des Abiballs, der im Krankenhaus liegt … Sie alle sind Opfer, leben in der von der zerstörerischen Gewalt des Gegners gezeichneten Stadt, kämpfen mit Verletzungen, Depressionen und den Bombardierungen, die gewaltige Krater geschaffen haben.

Charkiw ist keine Stadt wie jede andere. Hier sind die Folgen des Angriffkrieges sichtbar und zu spüren. Wer noch nicht aus dem geflohen ist, was von der Stadt übrig ist, lebt mit den Folgen. Vom unwirklichen „Alltag“ der Bewohner seiner Heimat schreibt Serhij Zhadan. Kurzgeschichten, von denen jede einzelne unter die Haut geht.

Zwölf Geschichten, deren Protagonisten so unterschiedlich sind, wie die Stadt vielfältig selbst jetzt noch ist, die dem Ausmaß physischer und psychischer Gewalt trotzen, die sich kreuzen, begegnen, miteinander und doch mit sich selbst kämpfen müssen. Was macht das mit einem, wenn alles, was einst galt, in Trümmern liegt. Schon an der Oberfläche kratzen, erschüttert. Zhadans Schreibstil ist beinahe nüchtern. Er beobachtet. Manches Stück liest sich so, als müsse der Autor sich selbst vor dem Geschilderten schützen, zwingen, dies aufzuschreiben. Hinter all den Fiktionalen stecken, so ahnt man, echte Schicksale. Menschen.

In diesen kleinen Stücken, die Serhij Zhadan „Arabesken“ nennt, sind sie die Helden, alleine dadurch, dass es sie gibt, dass sie leben. In Charkiw. Ihnen, die sonst keine Beachtung finden, Nachrichtenbilder verflüchtigen sich schnell, setzt der Autor hier ein Denkmal. In knapp formulierten Schilderungen. Für einen kurzen Augenblick legt der Autor den Fokus auf eine bestimmte Szene, um dann zu der nächsten überzugehen. Ein Bürogebäude ist hier die Kulisse, im nächsten Kapitel wohnen wir einer Unterhaltung zweier im Auto bei. Der Krieg schwingt immer mit, offensichtlich, dann wieder nur als Hintergrundrauschen.

Serhij Zhadan ist selbst derzeit als Soldat in seiner Heimat tätig. Schon das ist bewundernswert. Die Geschichten dazwischen praktisch aufs Papier gebracht zu haben, die jede für sich stehen und doch unverkennbar zusammen gehören, ist mit diesem Hintergrund noch erstaunlicher. Und sicher auch ein Akt der Verarbeitung. Im Krieg ist jeder für sich allein, und doch hält man zusammen. Eine Wahl hat man nicht.

Die Protagonisten selbst sind vor ihren Hintergründen verschieden, gegensätzlich. Mit wenigen Worten gelingt es dem Autoren, Sympathien zu schaffen, sie nachvollziehbar zu machen. Mehr als die wenigen Sätze, jede Kurzgeschichte findet nur einige Seiten Platz, braucht es nicht. Die innerhalb der kleinen Versatzstücke verstreuten Skizzen, verdeutlichen das Grauen, den Schrecken, die Melancholie. Zhadan verliert sich nicht in Details, beschränkt sich auf das Wesentliche. Jeder einzelne Text scheint einem förmlich anzuspringen. Seht her, so ist es gerade für uns. So, nicht anders. Es braucht halt nicht viel, um diesen Zugang zu schaffen.

Man kann sich das alles gut vorstellen. Manches fast zu gut. Abstand halten möchte man, doch kommt man sich lesend zuweilen vor, wie ein Voyeur, ein Gaffer. Der Autor legt den Finger in die Wunde, die nicht verheilen kann. Der Krieg ist in jeder Szene allgegenwärtig. Schauplätze wie Protagonisten werden mit wenigen Worten sehr plastisch beschrieben. Manchmal muss man innehalten. Ein seltenes Schmunzeln, Lächeln bleibt sofort im Halse stecken, wenn es denn mal vorkommt.

Es mögen einige durch die Fernsehbilder abgestumpft sein, solche kleinen Alltagsbeschreibungen aber betrüben zu tiefst und lassen nicht los. Für Zhadan und all jene, die sich in den von Krieg gezeichneten Regionen und Städten aufhalten, gar an der Front kämpfen, wie muss es erst für die sein, fragt man sich während des Lesens und ahnt, dass noch viel mehr unerzählbar bleibt, da es dafür keine Worte gibt. Die wenigen, die wie diese hier gesehen werden können, sind es wert und wichtig.

Autor:
Serhij Zhadan wurde 1974 geboren und ist ein ukrainischer Schriftsteller, Dichter und Übersetzer. Nach der Schule studierte er zunächst Literaturwissenschaften, Ukrainistik und Germanistik. Er organisiert Literatur- und Musikfestivals und verfasst Rocksong-Texte. 2007 erschien sein erster Roman. 2006 wurde er mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet, Zhadan war zudem Aktivist der Orangenen Revolution.

2014 schilderte er in der FASZ seine Erfahrungen der Erstürmung der Gebietsverwaltung von Charkiw, wurde dafür von prorussischen Kräften krankenhausreif geschlagen. Seine Werke wurden mehrfach ins Deutsche übersetzt, und zahlreich ausgezeichnet. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er lebt in Charkiw und ist seit 2024 Soldat.

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Jessica Lind: Kleine Monster

Inhalt:
Pia und Jakob sitzen im Klassenzimmer der 2B, ihnen gegenüber die Lehrerin ihres Sohnes. Es habe einen Vorfall gegeben, mit einem Mädchen. Pia kann zunächst nicht glauben, was ihrem siebenjährigen Kind vorgeworfen wird. Denn Luca ist ein guter Junge, klug und sensibel. Sein Vater hat daran kein Zweifel. Aber Pia kennt die Abgründe, die auch in Kindern schlummern, das Misstrauen der anderen erinnert sie an ihre eigene Kindheit.

Also lässt sie ihren Sohn nicht mehr aus den Augen und sieht einen Menschen, der ihr von Tag zu Tag fremder wird. Bis Pia bei dem Versuch, ihre Familie zu schützen, schließlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert wird. Ein fesselndes psychologisches Drama über die Illusion einer heilen Kindheit. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:
Die Abgründe in unser engsten Umgebung scheinen tiefe Gräben zu sein. Zugeschüttet, vernarbt sind sie, doch gibt es Ereignisse, die sie wieder schmerzlich aufbrechen lassen. In Jessica Linds Erzählung „Kleine Monster“ treten die Dämonen vergangener Tage hervor und scheinen sich in der Gegenwart zu spiegeln.

Doch hält eine Eltern-Kind-Beziehung dies aus, wenn dem eigenen Nachwuchs scheinbar nicht mehr zu trauen ist und noch weniger, sich selbst?

Feine Risse bekommt das Idyll in dem kompakt gehaltenen Roman, als die Hauptfiguren zu einem Gespräch in der Schule ihres Sohnes geladen werden. Ein Vorfall hätte es gegeben, genaues wisse man nicht. Der kindliche Protagonist schweigt sich darüber aus, währenddessen Fragen sich im Kopfe der Hauptfigur zu bilden beginnen und die Geschichte ins Rollen bringen.

Vieles spielt sich im Inneren von Pia ab, die durch ihre Gedankenwelt Konturen bekommt und zur Handlungstreibenden der Erzählung wird. Nach und nach bekommen sie und die anderen Figuren somit ihre Konturen. Eine ganz eigene Dynamik entfacht sich durch das Hinzuziehen weiterer Protagonisten und Pias Reaktionen darauf, die schon bald die Dämonen der eigenen Vergangenheit zu Tage treten lassen.

Zunächst hat sie damit alle Sympathien auf ihrer Seite, entwickelt sich jedoch nach und nach zu einer Protagonisten, die in ihrem Reagieren immer distanzierter wirkt und so auch handelt. Die Liebe von Eltern zu einem Kind hat bedingungslos zu sein. Doch was, wenn dieses Ideal in Frage gestellt wird. Dieses Gedankenkonstrukt wird sowohl anhand einer Vergangenheits- und auch einer Gegenwartsebene erzählt. Besonders die Hauptfigur ist damit doppelt belastet, aber auch ihre Umgebung ist davon nicht unbedingt unberührt.

Man leidet mit den Kind, den Eltern innerhalb dieser kompakten Erzählung, die über einen Zeitraum von wenigen Wochen spielt und durch zusätzlich beschriebene Ortswechsel noch kontrastreicher wirkt. Auch die Handlungsorte werden so zum Spiegelbild der Figuren, die allesamt ihr Gepäck zu tragen haben. Pias Perspektive bleibt jedoch die hauptsächliche, doch verursacht gerade diese Beibehaltung im Mittelteil für ein Absenken des Spannungsbogens, der nicht konsequent bis zum Ende durchgehalten wird.

Überraschende Wendungen sucht man in diesem Roman vergebens. Trotz teilweise fast filmischer Beschreibungen, den Hauptberuf der Autorin merkt man durchaus die gesamte Zeit über, liest man ein durchdachtes Konstrukt, was nur hin und wieder für einen gewissen Aha-Effekt sorgt. Dennoch ist eine gewisse Sogwirkung dem Text nicht abzustreiten, auch wird man sich manche Abschnitte atemlos zu Gemüte führen.

Je nach Erfahrungswerte und Stellung innerhalb eigener Familienkonstellationen kann dabei die Positionierung zu den einzelnen Figuren durchaus unterschiedlich sein. Die Handlungsorte dabei sind sehr plastisch geschildert, nachvollziehbar dargestellt, auch wenn sich ein gewisser Mehltau wie ein Schleier über die Erzählung legt.

Das Ende wirkt dabei nicht ganz rund. Halboffen ist hier der richtige Weg gewesen. Nicht alle offenen Fragen werden geklärt. Einiges findet im Kopf der Lesenden statt, doch irgendwie scheint das richtige Maß nicht getroffen worden zu sein. Zudem stößt man während des Lesens auch auf sprachliche Gegebenheiten, die eventuell regional verschieden gehandhabt werden. Kleinere Stolperfallen also, die aber nicht allzu sehr ins Gewicht fallen.

Die Schwächen einmal außer Acht gelassen, ergibt sich jedoch eine durchaus interessante Lektüre.

Autorin:
Jessica Lind wurde 1988 in St. Pölten geboren und ist eine österreichische Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Zunächst studierte sie an der Filmakademie Wien Drehbuch und Dramaturgie, bevor sie mit einem Literaturstipendium zu Schreiben begann. 2010 erhielt sie einen Förderpreis der Stadt St. Pölten, sowie 2012 das BMUKK Startstipendium für Literatur. Nach einer Teilnahme in einer Schreibwerkstatt erschienen einige ihrer Texte in Anthologien und Literaturzeitschriften. 2021 erschien ihr Autorinnendebüt. Zudem ist sie Autorin des Films „Rubikon“.

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Colin Niel: Darwyne

Inhalt:
In einem Slum am Rande des Amazonasdschungels lebt der zehnjährige, körperlich leicht beeinträchtigte Darwyne mit seiner Mutter Yolanda, die er über alles liebt. Eine Meldung bei der Kinderschutzbehörde veranlasst die Sozialarbeiterin Mathurine, den Fall von Darwyne wiederaufzunehmen, obwohl Yolanda, die von vielen Männern in der Region begehrt wird, eine tadellose Mutter zu sein scheint … (Klappentext)

Rezension:
Nichts ist wie es scheint und alles ist anders, am Rande des städtischen Slums, der stets droht von der Flora des angrenzenden Dschungels vereinnahmt zu werden. Ein steter Kampf ist für die Bewohner, dagegen anzukommen. Alle versuchen sich irgendwie durchzuschlagen. In diese eigentümliche Welt entführt uns der Schriftsteller und Forstingenieur Colin Niel in seinem Werk „Darwyne“, und folgt den gleichnamigen Hauptprotagonisten, dessen Verbindung zur Natur bezeichnend ist. Ebenso wie die Einkategorisierung des Textes nach verlegerischen Maßstäben.

Ein Thriller ist dies nämlich nicht, gleichwohl dies der Untertitel behaupten möchte. Ein Roman liegt hier vor, mit leichten Spannungselementen, die im Verlauf der Handlung ebenso zart Mystische übergehen. Für einen komplett sich durchziehenden Spannungsbogen reicht es nicht und so plätschert die Handlung nur so dahin.

Hierbei wird viel Potenzial verschenkt, denn die Grundidee sticht heraus unter der Vielzahl, welche diverse Büchertische zu bieten haben. Da wären zunächst einmal die Handlungsorte, welche im wesentlichen die Behausung innerhalb des Slums und der angrenzende Dschungel darstellen, als auch die im Vergleich dazu cleane und triste Büro- und Lebenswelt der zweiten Hauptfigur Mathurine aus deren Sicht die Handlung, abwechselnd zu Darwynes eigenem Blickwinkel erzählt wird.

Dadurch schälen sich Kontraste gut heraus, doch tritt die Handlung einem Großteil des Verlaufs auf die Stelle. Wenn wie hier, nicht gerade ausschweifend erzählt wird, wirkt dies schnell ermüdend.

Dabei umfasst der Handlungszeitraum wenige Wochen, in denen wir die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten kennenlernen. Vor allem die Hauptprotagonisten sind so ausgestaltet, dass man diesen ihre Wahrnehmung der Dinge abnimmt. Nebenfiguren dienen „Darwyne“ als Antagonisten und Handlungstreiber, könnten jedoch an der einen oder anderen Stelle noch stärker zu Tage treten. Mit fortschreitender Seitenzahl wird dabei die Beziehungsebene von Yolanda und Darwyne immer weniger nachvollziehbar, was sich wiederum auf die Spannungsebene erheblich auswirkt.

Lücken in der Erzählung werden dabei bis zu einem gewissen Grad zum Ende hin geschlossen. Überraschende Wendungen sind dagegen kaum vorhanden. Das liegt an den bereits beschriebenen Punkten, keinesfalls an die eingebrachte Sachkenntnis des Autoren über das Leben in Slums einerseits, andererseits über Flora und Fauna des Dschungels in Französisch-Guayana. An manchen Stellen fühlt es sich so an, als würde man eine Natur-Doku schauen.

Trotzdem vermag es die Geschichte nicht, einem lesend in diese Welt hinein zu ziehen. Auch wenn man sich Schauplätze und Figuren durchaus bildlich vorstellen kann, bleibt am Ende nichts Entscheidendes an Eindrücken zurück.

Und irgendwie geht es ja gerade beim Lesen immer darum.

Autor:
Colin Niel wurde 1976 in Clamart geboren und studierte zunächst Evolutionsbiologie und Ökologie, bevor er als Agrar- sowie Forstingenieur arbeitete. In Französisch-Guayana beschäftigte er sich u. a. im Bereich Biodiversität. Er veröffentlichte mehrere Werke, die u. a. aumit dem Prix Polar en series ausgezeichnet wurden. Für „Darwyne“ erhielt er den Prix L’usage du Monde 2023 und den Prix Joseph. Niel lebt in Marseille.

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