Leben

Christian Bommarius: Im Rausch des Aufruhrs – Deutschland 1923

Inhalt:

Franzosen und Belgier besetzen das Ruhrgebiet. Tucholsky wirft hin und geht zur Bank. Hemingway wird nicht bedient. Das Rheinland will sich vom Reich abspalten. Anita Berber hat sie alle in der Hand, Joseph Roth steht vor dem Durchbruch. In Hamburg proben Kommunisten den Aufstand und Hitlers Bierkellerputsch scheitert in München blutig. Ein Brot kostet 399 Milliarden Mark.
(Klappentext)

Rezension:

Die neue Demokratie steht auf wackligen Beinen, akzeptiert wird sie nur von wenigen. Die Niederlage des Ersten Weltkriegs ist noch nicht zu lange her. Einen Weg zur Stabilisierung hat man noch nicht gefunden, gefundenes Fressen für radikale Kräfte. Das Geld verliert immer mehr an Wert. Bald schon wird der Lohn in Schubkarren ausgegeben werden müssen.

Für Banken arbeitende Druckereien suchen händeringend Angestellte. Auch ein späterer Propagandaminister, sowie ein kranker Schriftsteller finden sich hinter Bankschalter wieder. Es ist das Jahr 1923, kurz bevor der deutsche Staat sich zu stabilisieren beginnt und zugleich auch Risse bekommt, die ihn später mit zu Fall bringen sollten. Der Journalist Christian Bommarius hat sich mit der rührigen Zeitspanne von zwölf ereignisreichen Monaten beschäftigt.

Ein Sachbuch als historischer Kalender, dies ist die Aufmachung, in der jedem Monatskapitel zunächst eine Übersicht der zu den Zeitpunkt stattfindenden Ereignisse vorangestellt wird, eingeführt durch jeweils mehrere bezeichnende Fotos. Fast literarisch wird die Zusammenfassung danach aufgefächert. Wir begleiten Politiker und solche, die es einmal werden, Putschisten, Künstler und Literaten durch dieses flirrende Jahr und einen geschassten Monarchen, der von seiner Rückkehr träumt.

Die Fakten sind bekannt. Beiderseits der Grenze des Ruhrgebiets, welches von den Franzosen besetzt wird, nichts Neues. Trotzdem wirken die Texte zuweilen hölzern. Leichtgängig ist etwas anderes. Ein Lesefluss entsteht alleine nicht durch den vielseitigen Wechsel der beschriebenen Ereignisse, die zwar ausgiebig recherchiert wurden, aber für Sprunghaftigkeit wirken. Es gilt, Überblickswissen zu erlangen. Wer dieses bereits hat, sollte sich spezialisierter Lektüre zuwenden. Hier wird Grundlagenwissen aufgefrischt.

Eine gute Ergänzung ist das Personenverzeichnis hintenan, welches einen Ausblick auf den weiteren Verlauf der im Text aufgeführten Biografien gibt, deren Weichen auch und besonders im Jahr 1923 gestellt wurden.

Was sehr interessant dargestellt wird, sind die Auswirkungen der Inflation auf die einzelnen Wege der jeweiligen Personen, doch immer dort, wo es spannend wird, erfolgt der Wechsel zum nächsten Momentum. Dabei hat der Autor ein umfangreiches Detailwissen vorzuweisen. Vielleicht wäre hier die Konzentration auf einen Bereich, etwa Kunst und Kultur, nur Wirtschaft oder nur Politiker, vorteilhafter gewesen? Eine Einführung und Übersicht ist es jedoch allemal.

Autor:

Christian Bommarius wurde 1958 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Nach der Schule studierte er Rechtswissenschaften und Germanistik, bevor er als Korrespondent beim Bundesverfassungsgericht arbeitete. Er war von 1998 bis 2017 Redakteur bei der “Berliner Zeitung”, anschließend Kolumnist der “Süddeutschen Zeitung”. Er arbeitet zudem als freier Autor und wurde bereits mit dem otto-Brenner-Preis (2018) und den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste, Berlin, ausgezeichnet.

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Tete Loeper: Barfuß in Deutschland

Inhalt:

Mutoni, eine junge, gebildete Frau aus ruanda, beschließt nach dem Tod ihrer Mutter auszuwandern. Über eine ehemalige Mitschülerin erhält sie das Angebot, nach Hamburg zu ziehen und dort einen Mann zu heiraten. Voller Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres Leben begibt sie sich auf den Weg nach Deutschland. Entgegen ihren Erwartungen findet sie sich jedoch schon bald in unterdrückenden, teils gewaltvollen Arbeitsverhältnissen wieder. Die Erfahrungen, die sie als Schwarze Migrantin in Deutschland alltäglich macht, führen sie schließlich zu einer unerwarteten Entscheidung… (Klappentext)

Rezension:

Als alle Fäden in ihrer Heimat förmlich zerreißen, entschließt sich die junge und lebensfrohe Mutoni ihr Heimatland Ruanda zu verlassen. In der Stadt, in der sie aufgewachsen ist, hält sie nichts mehr, nachdem mehrere Familienmitglieder ebenfalls den Schritt in die Ferne gewagt haben, die Mutter gestorben ist und das Bild, welches sie von Europa im Kopf hat, immer verführerischer wird.

Ein Angebot, in Deutschland einen Mann zu heiraten, den sie kaum kennt, zu arbeiten und Fuß zu fassen, kommt da gerade recht. Doch, nicht nur Temperaturen und Kleidung sorgen schnell für einen Kulturschock. Mutoni erkennt schnell, dass sie unter falschen Versprechungen hergelockt wurde. Ihr gelingt es, sich davon zu befreien, doch auch alltäglichere Nadelstiche setzen ihr zu, gerade wenn den Verursachern contra gegeben wird.

Sie stoppte augenblicklich in ihrer Bewegung und warf mir einen skeptischen Blick zu. Es hatte ihr wohl die Sprache verschlagen, denn wortlos verließ sie die Küche und schloss demonstrativ die Wohnzimmertür hinter sich.

Tete Loeper: Barfuß in Deutschland

So beginnt die Geschichte, die die Autorin und Journalistin Tete Loeper anhand ihrer und die Anderer Erfahrungen entlang aufgeschrieben und zu einem berührenden Roman gewoben hat, der einen nachdenklich zurücklassen wird. In kompakter Form schafft sie es, all die Hoffnungen und Enttäuschungen, die Gewalterfahrungen unterzubringen, seien sie nun physischer oder psychischer Natur, dass es einem beim Lesen kalt den Rücken hinunter laufen wird. Unweigerlich wird man sich zudem fragen, wie viel Härte das Lektorat herausnehmen musste, gerade zu Beginn, damit der Text gerade zu Beginn noch für Lesende zu verarbeiten ist.

Dieses Gefühl wird nach und nach durch zwar immer kleinere aber auch spür- und sichtbare Nadelstiche ersetzt, die die Protagonistin verspürt, ob nun durch ihre Umgebung ungewollt oder gewollt hervorgerufen. Loeper gibt hier einen Ansatz von Vorstellungen weiter, die niemand aktiv erleben möchte, der leider jedoch immer noch Alltag für viele ist. Gleichzeitig ist es der Autorin in prägnanter Sprache gelungen, auf wenigen Seiten ihrer Protagonistin eine gewisse Wandlungsfähigkeit angedeien zu lassen, die weit über das hinaus geht, was sich anfangs erahnen lässt.

Das setzt dann auch eine gewisse Fähigkeit beim Lesenden voraus, sich selbst zu hinterfragen. Wie bestimmen Klischees unser Denken und Handeln, auch unbewusst? Wie kommentieren und beobachten wir, wie wirkt dies nach außen und wie ist es gemeint, im Guten oder auch im Schlechten? Was macht das mit jenen, die dann im Fokus stehen? Was macht es mit uns, als Gesellschaft? Wenn man sich diese Punkte einmal nach dem Lesen des Romans durch den Kopf gehen lässt, hat dieser sehr viel erreicht.

Autorin:

Divine Gashugi Umulisa, bekannt unter ihrem Pseudonym Tete Loeper, wurde 1990 in Ruanda geboren. Sie lebte während des Völkermords an den Tutsi in Burundi und im Kongo im Exil. Nach ihrem Studium des Journalismus arbeitete sie in verschiedenen Forschungsprojekten mit gefährdeten Mädchen und jungen Frauen, leitete Workshops für Kreatives Schreiben. Seit 2016 lebt sie in Deutschland und arbeitet als Autorin, Schauspielerin, Bildungsreferentin für interkulturellen Austausch und globales Lernen.

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Sasha Filipenko: Die Jagd

Inhalt:

Ein Journalist, der zu viel weiß. Ein Sohn, der seinen Vater verrät. Ein Oligarch, der keine Gnade kennt. Ein korrupter Schreiberling ohne jeden Skrupel. Medien, die auf Bestellung einen Ruf ruinieren. Sasha Filipenko erzählt die Geschichte des idealistischen Journalisten Anton Quint, der sich mit einem Oligarchen anlegt. Worauf dieser den Befehl gibt, Quint fertigzumachen. Die Hetzjagd ist eröffnet. (Klappentext)

Rezension:

Wer Belarus und Russland verstehen möchte, sollte sich einmal aufmerksam die Biografie Sasha Filipenkos anschauen. Zunächst nach St. Petersburg ausgewandert, um über sein Geburtsland unbehelligt schreiben, damit gleichzeitig aber auch unangreifbar das russische politische und gesellschaftliche System auf’s Korn zu nehmen, lebt der Autor inzwischen in Deutschland, um ohne Einschränkungen leben und schreiben zu können.

Er tut dies auf Russisch und nahm in seinem Roman “Rote Kreuze” die Umdeutung der Geschichte vor, im Nachfolgeband dann das belarussische Gesellschaftssystem. In “Die Jagd” beschreibt er, brandaktuell, den Einfluss der Oligarchen, Russlands Superreiche und das Dilemma derer, die versuchen, ehrlich zu bleiben.

Sperriger als die anderen, bereits auf Deutsch erschienenen Romane, gelingt der Einstieg in zwei parallel verlaufende Geschichten, die sich erst mit zunehmender Seitenzahl in einander verketten und auf die unvermeidbare Katastrophe zusteuern. Der Erzählstil ist gewöhnungsbedürftig, doch zunächst schaffen wechselnde Perspektiven eine Übersicht über die handelnden Protagonisten, die unterschiedlich zum gesellschaftlichen System stehen. Parallelen zu realen Personen sind hier nicht unbeabsichtigt.

“[…] Anton, für eure Zeitung kann man einen eigenen Friedhof aufmachen!”

Sasha Filipenko: Die Jagd

Tatsächlich lassen sich existierende Pendants im russischen Raum ausmachen, was der Erzählung eine ungeheure Brisanz verleiht, zumal jetzt in diesen Zeiten. Filipenko beschreibt familiäre Machtstrukturen nahe der großen Politik, nebst käuflichen und ideellen Medienjournalismus und die Unterschiedlichkeit des Umgangs der Menschen, die damit gelernt haben, zu leben. Ob sie das so akzeptieren oder eben nicht.

Im Gegensatz zu “Der ehemalige Sohn” ist die Tonalität nicht gleich und überwiegend deprimierend, sondern steuert von einer, vielleicht nicht optimistischen Haltung, so doch Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, zumindest von Seiten der Hauptfigur Anton Quints, erst langsam, dann immer schneller gen Abgrund zu.

“Es ist mein Beruf, an die anderen zu denken!” “Aber denk doch auch einmal an uns. Oder sollen sich doch deine Opfer, die du andauernd rettest, wenigstens ein einziges Mal für dich einsetzen. Sollen sie mal dir helfen. […]”

Sasha Filipenko: Die Jagd

Filipenko zeigt, wenn auch nicht ganz so stimmig, dass es durchaus auch innerhalb der mächtigen Familien verschiedene Sichtweisen geben mag, zumindest auf einige Themenbereiche bezogen. Der Autor vergisst nicht die Zwischentöne, die vielen Wahrheiten, in denen man in einem System, wie dem russischen, leben kann und das ist großartig, zumal quasi aus dem Exil heraus geschrieben. Hier machen die Protagonisten beider Seiten eine nachvollziehbare Entwicklung durch.

Natürlich ist auch klar, bei welcher Figur die Sympathien liegen müssen, doch zeigt der Schreibende auch, welche Konsequenzen Idealisten in einem solchen Gesellschaftssystem zu tragen bereit sind. Es muss die Frage gestellt werden, ob dies notwendig ist, zumal wenn es darum geht, nicht nur aufzuzeigen, wo die kritischen Punkte liegen, sondern irgendwann auch darum, den eigenen Kopf aus der sich selbst angelegte Schlinge zu ziehen.

“[…] Die ganze Geschichte dieses Landes läuft darauf hinaus, dasss das Geschmeiß Menschen wie dich hinausekelt, und du erwartest, dass sich das plötzlich ändert.”

Sasha Filipenko: Die Jagd

Gegen Ende hat man dem Autoren den zu Beginn etwas hölzernen und unnahbaren Erzählstil verziehen und schaut gebannt auf das dargestellte Szenario, welches reale Vorbilder hat. Vielleicht hilft das zu verstehen, wie Russland funktioniert. Gerade aktuell ist dies bezeichnend. Das System ist hart im Umgang mit dem Lebensglück der Menschen. Filipenkos Roman zeigt, dass das durchaus für beide Seiten der russischen Gesellschaft gilt.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. Petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator. Aktuell lebt Filipenko in Deutschland.

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Vladimir Vertlib: Zebra im Krieg

Inhalt:

In der Geschichte von Paul Sarianidis verbindet Vladimir Vertlib meisterhaft Ironie, Ernst, Menschenfreundlichkeit und politischen Scharfblick zu einem beklemmend aktuellen Roman: Paul lebt mit seiner Familie in einer vom Bürgerkrieg heruntergewirtschafteten osteuropäischen Stadt am Meer. Als er arbeitslos wird, verstrickt er sich immer tiefer in die wüsten Debatten, die in den Sozialen Medien toben.

Doch eines Tages wird Paul von Boris Lupowitsch, einem Rebellenführer, den er im Internet bedroht hat, verhaftet. Lupowitsch rechnet mit ihm vor laufender Kamera ab. Paul wird verhöhnt und gedemütigt, das Video millionenfach gesehen. Wie kann er mit dieser Schande weiterleben? Wird seine Familie ihm verzeihen? Und wird es ihm gelingen, einmal das Richtige zu tun? (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Überschaubar ist die Anzahl der Romane, die von den aktuellen realen Geschehnissen überrollt werden und dennoch nichts von ihrer Brisanz verloren, ja, dadurch viel mehr hinzu gewonnen haben. Die vorliegende Erzählung des österreichischen Autoren Vladimir Vertlib veranschaulicht das in beeindruckender Art und Weise.

Wer liest, taucht in die wirren Tage einer von Bürgerkrieg gebeutelten osteuropäischen Stadt ein, die nicht näer benannt wird, deren reales Vorbild sich jedoch direkt in der Beschreibung der ersten Zeilen aufdrängt. Dort begleiten wir Paul, der in seiner durch Jobverlust erzwungenen Taten- und Perspektivlosigkeit einen an den Unruhen beteiligten Rebellenführer beleidigt, dieser anschließend sich rächt und damit nicht nur dessen Leben komplett auf den Kopf stellt.

Hier setzt die Geschichte an, deren Protagonist gefährlich oft zwischen den Polen schwankt, einerseits Sympathieträger zu sein, andererseits sein Kontingent an Wohlwollen der Lesenden zu schnell zu vebrauchen. Gleichzeitig ist dies eines der handlungstreibenden Elemente, an denen wir uns entlang der doch etwas umfangreicheren Kapitel entlang hangeln,, wobei der Autor den Hang zum Abstrusen hat.

Einmal davon abgesehen, was im beschriebenen Setting als normal gelten kann, hat der Schreibende besonders gen Ende damit über das Ziel hinausgeschossen, wie die Bürgerkriegsparteien auch den städtischen Zoo in Mitleidenschaft ziehen und der Streichelzoo, nun ja, im Nebensatz alles andere als gestreichelt wird. Abgesehen davon, dass Vertlib ebenso eine gehlörige Portion Ironie und Sarkasmus eingebracht hat.

Zuweilen wirkt das komisch, doch das Lachen bleibt einem noch, bevor man dies zulässt, im Halse stecken. Vladimir Vertilb hat es hier verstanden, seine Finger in die Wunden zu legen und schafft es, sprachlich die Extreme eines Bürgerkriegs, seine Absurditäten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Einzelnen auf den Punkt zu bringen.

Der Charakterwandel des Hauptprotagonisten wirkt dabei an manchen Stellen zu glatt, in der nächsten Zeile wieder folgerichtig. Von der Tonalität her ist “Zebra im Krieg” zwar auch erdrückend, jedoch nicht ganz so deprimierend wie etwa Serhij Zhadans Erzählung “Internat”, die etwas konsequenter wirkt.

Vertlib geht da etwas sanfter, aber ebenso bestimmt mit seinen Lesenden um, was sich in seiner Gesamtheit lohnt.

Autor:

Vladimir Vertlib wurde 1966 in Leningrad geboren und ist ein österreichischer Schriftsteller. Mit seiner Familie emigirerte er 1971 aus Russland und lebt seit 1981 in Österreich, wo er Volkswirtschaft studierte. Zunächst veröffentlichte er verschiedene Beiträge in Literaturzeitschriften. Sein erstes Buch erschien 1995. Vier Jahre später erhielt er den Österreichischen Förderungspreis für Literatur, sowie 2001 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis.

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Hendrik Bolz: Nullerjahre

Inhalt:

Ein Plattenbauviertel in Stralsund um die Jahrtausendwende, der nordöstlichste Winkel Deutschlands. Eine Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr “DDR” heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind die selben Nullerjahre.

Während die großen Brüder mit Glatze und Bomberjacke den Ton angeben, die Eltern mit eigenen Sorgen beschäftigt sind, stellen sich Hendrik und seine Freunde zwei Herausforderungen: Wie vertreiben sie sich die Zeit – und wie bekommen sie möglichst nicht auf die Fresse? Die Lösung findet sich: hart werden, stumpf werden. Die Mittel auch: Kraftsport, Drogen, Rap. (Klappentext)

Rezension:

Nach der großen Euphorie folgt zunächst die Ernüchterung. Arbeitsplätze brechen weg, wo blühende Landschaften versprochen wurden und so verlieren Hendriks Eltern und die seiner Freunde im Plattenbauviertel Knieper West den Anschluss an die Nachwendegesellschaft, während sich die Kinder und Jugendlichen ihren Platz erkämpfen. Der Weg bis ins Erwachsenenalter hinein ist steinig und voller Hindernisse. Da sind die im Viertel bekannten Schlägertypen noch das geringste Übel, immer öfter jedoch auch große Idole, denen es nachzueifern gilt, möchte man selbst nicht am unteren Ende der Rangordnung stehen. Oder am Boden liegen.

Hendrik Bolz’ biografischer Roman nimmt uns mit durch seine Kindheit und Jugend im Plattenbauviertel, in welchem sich zunächst die Probleme häufen, aber auch die Heranwachsenden ihren Weg erst finden müssen, bevor das Leben in geregelten Bahnen verlaufen kann. Bis dahin wird viel ausprobiert und so befindet sich des Autoren alter Ego hin und hergerissen zwischen Verlockungen, den ältere Jugendliche ihm aufzeigen, bis zu Versuchen, sich durchzusetzen und zwischen Richtig und Falsch zu unterschieden.

Erzählt wird dies in derber Sprache, kurze prägnante Sätze wechseln mit wirren Gedankengängen, Rückblenden und Vorausschauen. Das ist nicht leicht zu lesen, zumal, wenn man vielleicht in der gleichen Zeit, aber in einem etwas anderen Rahmen aufgewachsen ist. Wer etwas behüteter seine Kindheit und Jugend verbracht hat, wird nur bestimmte Dinge nachvollziehen können, denen sich der Protagonist ausgesetzt sieht, teilweise von der einen oder anderen Episode wirklich abgestoßen sein.

Den ersten Alkoholrausch, die erste Prügelei mag man vielleicht noch nachempfinden. Die Gewaltexzesse, die Null-Bock-Mentalität und Perspektivlosigkeit sind dem jugendlichen Ich des Schreibers der Rezension (Mir!) dagegen unbekannt. Vielleicht hatte ich diese damals nur bei anderen aus den Augenwinkeln heraus registriert.

Doch, der Protagonist beweist nicht nur Anpassungs- sondern auch eine gewisse Wandlungsfähigkeit, mausert sich. Das ist bereits zu Beginn klar, anderenfalls wäre die Lektüre stellenweise kaum zu ertragen und man hätte nichts weniger als eine zeitlich nähere Variante der “Kinder vom Bahnhof Zoo”. Wer möchte schon so etwas nochmals lesen?

Im gleichen Genre ist es jedoch angesiedelt. Die Bestsellerliste sagt Sachbuch, Elemente sind jedoch auch aus den Bereichen Biografie oder Roman zu finden. Die Wahrheit liegt da wohl irgendwo in der Mitte, ebenso wie es mehrere Wege der Generation Nullerjahre gibt. Hendrik Bolz beschreibt nur (s)eine Variante von vielen.

Autor:

Hendrik Bolz wurde1988 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Rapper. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Stralsund und zog nach dem Abitur nach Berlin, wo er u. a. ein Praktikum bei einem Online-Portal absolvierte und nebenbei die Musik für sich entdeckte. Ein erstes Album erschien 2011, zwei Jahre später die erste EP. 2022 erschien sein erstes literarisches Werk.

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Kerstin Apel: Der Kreuzworträtselmord

Inhalt:

Die Berliner Journalistin Shiva ist alles andere als begeistert, als ihr Chef sie aus dem lang ersehnten Urlaub in Oberhof reißt, um einen uralten, längst gelösten Kriminalfall neu zu recherchieren. Und damit will der die miese Auflage steigern?

1981 hatte der Kreuzworträtselmord die ganze Republik wochenlang in Atem gehalten und eine der größten Fahndungsaktionen der DDR ausgelöst. Aber der Täter wurde gefasst und hat seine Strafe abgesessen. Lustlos beginnt Shiva, Zeugen zu befragen und die Fakten zu rekonstruieren. An eine Story glaubt sie nicht so recht.

Nur, warum gibt sich die Polizei so zugeknöpft und wer versucht, den Täter zu verstecken? Als Shiva eine Zeugin ausfindig macht, wird sie angegriffen. Was ist damals wirklich geschehen? (Klappentext)

Rezension:

In der Kriminalgeschichte Ostdeutschlands gehören die Ermittlungen im Fall des Verschwindens und der Ermordung des siebenjährigen Lars Bense zu den bekannteren unter den Fällen der ehemaligen DDR. Als ein Langstreckenläufer entlang der Bahngleise den Koffer mit der Kinderleiche findet, tappen die Ermittler der Volkspolizei zunächst im Dunkeln.

Erst später führt eine beispiellose Sammlung von Schriftproben zur Ergreifung und schließlich zur Verurteilung des Täters, wie sie so unter dem rechtstaatlichen System der Bundesrepublik nicht möglich gewesen wäre.

So viel zur Geschichte selbst, die bereits in mehreren Fernsehserien zur Grundlage genommen, sowie in einigen Dokumentationen verarbeitet wurde. Bis zum Erscheinen des True Crime Romans galt der Fall als aufgeklärt, ohne offene Fragen. Die stellten sich jedoch 2013 der Staatsanwaltschaft, als Kerstin Apel im Sutton Verlag die Fiktionalisierung der Geschichte veröffentlichte. Das brisante, die Autorin war als junge Erwachsene 1981 mit dem Täter befreundet.

In “Der Kreuzworträtselmord – Die wahre Geschichte” wird die Geschichte zunächst aus der Sicht der Lokaljournalistin Shiva erzählt, die diesen Fall noch einmal nachrecherchieren soll, um eventuell Details zu finden, die bislang noch unentdeckt geblieben sind, um ihren Beitrag dafür zu leisten, die kränkelnde Auflage ihrer Zeitung zu retten. Nicht ahnend, in welches Wespennest sie stochert, begibt sie sich auf Spurensuche, auf eine Zeitreise in die jüngere Kriminalgeschichte und in menschliche Abgründe hinein.

So viel zur Geschichte, deren Grundgerüst mit dem realen Fall hinlänglich bekannt sein dürfte und abgesehen von der blaß bleibenden Hauptprotagonistin keine neuen Facetten einbringt. Wer diesen Krimi liest, bekommt ein flüssig zu lesenden, aber nach Schema F ausgearbeiteten Roman, den man ebenso wie die Ermittlungsbehörden sich nur zu Gemüte führt, da die Autorinschaft Detailwissen vermuten lässt, welches sonst so nicht möglich ist.

Jedoch wird gleich zu Beginn durch den Verlag klar gestellt, dass hier reales Geschehen hinreichend verfremdet wurde, so dass sich hieraus nicht wirklich Aussagen ziehen lassen. Die Staatsanwaltschaft hatte daraufhin auch ihre Ermittlungen 2014 wieder eingestellt.

Die Handlung, wenn auch absolut vorhersehbar, kommt dennoch schnell voran. Schreiben kann Kerstin Apel, auch ihr alter Ego, die Protagonistin, in der sie sich, wie auch immer, wiederfindet, ist nachvollziehbar dargestellt. Mit ihr kommt im zweiten Teil des Romans auch genug Tempo hinein, wenn auch der Abschluss im Blick auf die Rolle der Shiva nicht ganz rund wirkt. Da kommt das Autorinnendebüt dann doch zu sehr durch und die Schwächen in der nicht sehr tiefgehenden Ausarbeitung der Figuren.

Flüssig erzählt ist das alles, aber eben ohne wirkliche Überraschungen, immerhin ist keine Verklärung der Tat und auch sonst zu finden.

Bleibt die Frage, was wollte die Autorin mit diesen Kriminalroman erreichen? Ist die Fiktionalisierung eines schrecklichen Geschehens ausreichend, um dieses zu verarbeiten, vorausgesetzt, es ginge darum? Hat sie mit diesem zeitlichen Abstand verdeckt Wissen preisgeben wollen, was ihr damals aus verschiedenen Gründen nicht möglich gewesen ist?

Wollte sie einfach einmal sich im Schreiben ausprobieren und hat dafür Ereignisse verwendet, zu denen sie Berührungspunkte hat? Gehen wir davon aus, ist es ihr gelungen, wenn auch der ganz große Wurf ausgeblieben ist.

Autorin:

Kerstin Apel wurde 1963 geboren und lernte als Schülerin in Halle-Neustadt den Täter kennen, dessen Verbrechen in die deutsche Kriminalgeschichte eingehen sollte. Dies ist ihr erster Roman, mit dem sie das Erlebte 30 Jahre später zu verarbeiten suchte.

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Rebiya Kadeer, Alexandra Cavelius: Die Himmelsstürmerin

Inhalt:

Rebiya Kadeer zählte einst zu den reichsten Frauen im Reich der Mitte. Nach einer beispiellosen Karriere begann sie schließlich, ihren politischen Einfluss zu nutzen und sich für die Rechte ihrer uigurischen Landsleute einzusetzen, einer muslimischen Volksgruppe im Nordwesten Chinas, die von Peking ihre religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Grundrechte einfordert. Damit wurde sie zur meistgehassten Frau des Regimes, das Gegner gnadenlos verfolgt, foltert und tötet.

Die chinesische Führung rächte sich an ihr und sperrte Rebiya Kdeer für fünf Jahre ins Gefängnis, wo sie Zeugin von Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen wurde. Nachdem sich Menschenrechtsorganisationen aus der ganzen Welt für ihre Freilassung aus dem Gefängnis eingesetzt hatten, durfte sie in die USA ausreisen, wo sie ihren leidenschaftlichen Kampf für freiheit und Menschenrechte weiterführt. Ihr bewegtes Leben ist spannender als jeder Roman. (Klappentext)

Rezension:

Lange leugnete die chinesische Führung die Existenz der Internierungslager, deren Innenleben der raren Erzählungen Überlebender direkt der Hölle entsprungen zu schienen. Als sich aufgrund von Satellitenbildern deren Bestehen nicht mehr leugnen ließ, sprach die Kommunistische Partei beschönigend von Bildungsstätten, doch die Realität im Reich der Mitte sieht anders aus.

Im modernsten Überwachungsstaat werden jene unterdrückt, die es wagen könnten, den Führungsanspruch Pekings zu hinterfragen, allen voran Minderheiten, deren bloße Existenz schon als Bedrohung angesehen wird. D

Doch während die Bedrohung der Tibeter nicht zuletzt durch ihr religiöses Oberhaupt, des Dalai-Lama immer wieder in den Blick der Weltöffentlichkeit gerät, tut dies die Unterdrückung der im Nordwesten Chinas lebenden Uiguren erst seit kurzen. Die Journalistin Alexandra Cavelius hat mit der Menschenrechtsaktivistin, der Uigurin Rebiya Kadeer mehrfach gesprochen. daraus entstanden, ist dieses Werk.

Es erzählt die Lebensgeschichte dieser beeindruckenden Frau, deren außergewöhnliche Persönlichkeit schon von den Eltern so gesehen und in diese Richtung gefördert wurde. Kadeer erzählt von einem Leben zwischen den Kulturen und für ein Volk, ihre Erfolge, die sie zu einer angesehenen Person innerhalb der Region machten, wo sie lebte, aber auch in Gefahr brachten und schließlich zu Fall.

In beeindruckenden Bildern schildert sie die negativen Auswirkungen einer Geopolitik, die einem brutalen Eroberungsfeldzug gleicht und zusammengehalten wird, u. a. durch Folter und Gewalt, die sie am eigenen Leib erdulden musste, beginnend mit ihrem Aufwachsen, wirtschaftlichen Erfolgen und schließlich dem versuchten Brechen ihrer Persönlichkeit, was ihren Peinigern glücklicherweise nie vollständig gelang.

Beim Lesen stockt der Atem, ob der nächsten Schikane, des nächsten Rückschlags, aber auch vor einem nahezu unerschütterlichen Mut, der seines Gleichen sucht. Zunächst noch optimistisch, ihren Platz suchend, mehren sich die negativen Schläge, die bald keine Auswege mehr zulassen und schließlich in den Abgrund führen.

Die beiden Autorinnen legen dabei den Fokus auf dem Weg Kadeers in China und zeigen, wie ein System die unter ihm lebenden Menschen frisst. Die Gliederung orientiert sich dabei anhand der verschiedenen Lebensabschnitte Kadeers, ein Bildteil zeigt Fotos von wichtigen Lebensstationen. Nur eine geografische Karte ist nicht vorhanden, welche noch eine zusätzliche sinnvolle Ergänzung gewesen wäre.

Einfach zu lesen ist dies nicht. Der Text erfordert unbedingte Konzentration und Aufmerksamkeit, ob der gesellschaftlichen Befindlichkeiten, der Nuancen familiärer und kultureller Traditionen etwa, die aus heutiger Sicht einige Entscheidungen und Reaktionen Kadeers seltsam erscheinen lassen oder zumindest wagemutig.

Die Geschichte von Rebiya Kadeer und damit auch die Unterdrückung einer einst stolzen Volksgruppe muss unbedingt bekannter werden, in sofern ist Cavelius’ Buch eines dieser modernen Werke gegen das Vergessen, die noch mehr Aufmerksamkeit verdienen.

Wer die Unruhe beim Lesen nicht scheut, wird hier bleibende Eindrücke erhalten.

Ausschnitt eines externen Interviews aus dem Jahr 2015: https://www.youtube.com/watch?v=ceJ5RjM1QjY , hier 2009: https://www.youtube.com/watch?v=pw2U1304IFE

Autorinnen:

Rebiya Kadeer wurde 1946 im Gebirge von Altay, im ehemaligen Ostturkestan geboren und ist Chinas bekannteste Menschenrechtlerin. Seit 2005 lebt sie im amerikanischen Exil und setzt sich dort für ihre uigurischen Landsleute ein. Sie wurde bereits mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert.

Alexandra Cavelius ist freie Autorin und Journalistin und schreibt für verschiedene zeitungen und Magazine. Auf Basis mehrerer Interviews entstand in Zusammenarbeit mit Sayragul Saytbay deren Biografie “Die Kronzeugin, sowie das Sachbuch “Die China-Protokolle”.

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Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters

Inhalt:

Das kürzlich entdeckte, hier erstmals publizierte Tagebuch des Jan Bazuin ist das ergreifende Zeugnis eines Rotterdamer Jugendlichen, der während des Zweiten Weltkriegs zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurde. Die renommierte Zeichnerin Barbara Yelin hat die knappen, schnörkellosen Notizen einfühlsam illustriert und macht so das Geschehen auf unheimliche Weise präsent. Ein wichtiges, ein fesselndes Buch nicht nur für junge Leser. (Klappentext)

Rezension:

Im Nachhinein aufgeschriebene Erinnerungen sind nicht selten überlagert von durch das kollektive Gedächtnis aufoktroyierte Erinnerungen, die die Geschichtswissenschaft trennen muss, vom tatsächlichen Geschehen und den damaligen wirklichen Empfindungen. Nicht immer ist es einfach, das zeithistorische Fundament freizulegen, zumal, nur natürlich, auch den Zeitzeugen die Erlebnisse verschwimmen oder diese vor geschichtlichen Ereignissen einfach besser stehen möchten oder Geschehnisse so erschreckend waren, dass sie verdrängt waren und nur langsam wieder an die Oberfläche kehren.

Am Genauesten sind hier noch Tagebücher, die nicht im Nachhinein verändert wurden. Sie geben einen unverfälschten Eindruck wieder. Ein solches über ein noch zu selten beleuchtetes Kapitel der deutschen Geschichte wurde nun neu aufgelegt.

Es handelt sich um den schriftlichen Nachlass des Rotterdamer Jugendlichen Jan Bazuin, der aufgrund der familiären Enge und der Auswirkungen des NS-Besatzungsregimes sich gezwungen sah, sich für einen Arbeitseinsatz in Deutschland zu melden, um der häuslichen Situation zu entgehen. Das aus drei Heften bestehende, hier zusammengelegte Tagebuch, zeigt in nüchterner Sprache die Auswirkungen der NS-Zwangsarbeit auf die Biografie eines Jugendlichen, der sich mit seiner Deportation nach deutschland vom regen in die Traufe gehen sah, genau und nüchtern all das notierte, was er beobachtete und empfand.

Anfangs optimistisch verschärft sich bald der Ton. Jugendlicher Tatendrang wechselt mit Resignation und Verzweiflung. Der Wechsel längerer “Alltagsbeschreibungen” zu kurzen Notizen erfolgt oft abrupt. Gleichwohl wird schnell klar, und dies ist es auch dem Schreibenden selbst, dass es mehrere “Klassen” der Zwangsarbeit gegeben hat und Bazuin es vergleichsweise gut getroffen hat, dennoch schildert auch er Situationen der menschlichen Entgrenzung, die unter die Haut gehen. Unterstrichen wird dies durch die einfühlsamen Zeichnungen von Barbara Yelin, die die bedrückende Wirkung des Geschriebenen hervorheben.

Historisch eingeordnet wird dies durch ein ausführlich erläuterndes Nachwort, welches über die beschriebenen Orte der NS-Zwangsarbeit aufklärt, zudem durch ein Begriffe-Glossar, der dies auch für weniger fachlich versierte Lesende zugänglich macht. Das Werk ist zugleich eine Veröffentlichung des NS-Dokumentationszentrums München und damit ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen, ohne die Schwere eines allzu umfassenden Sachbuchs zu besitzen. Unbedingt lesenswert.

Autor:

Jan Bazuin wurde 1925 in Rotterdam geboren und arbeitete zunächst in der familieneigenen Druckerei. Aufgrund der familiären Situation und des von Hungersnot und Besetzung gebeutelten Lands meldete er sich Anfang 1945 zum “Arbeitseinsatz” im Deutschen Reich und schrieb währenddessen mehrere Tagebücher über Leben und Überlebenunter den Deutschen. Im Zuge der aufarbeitung zur NS-Zwangsarbeit im früher zum RAW Neuaubing gehörigen Barackenlager wurden diese wieder entdeckt und neu aufgearbeitet.

Ausarbeitung:

Barbara Yelin wurde 1977 in München geboren und ist eine deutsche Comiczeichnerin. Zunächst studierte sie Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und zeichnete mehrere in Deutschland und Frankreich erschienene Anthologien. Für mehrere Zeitungen erarbeitete sie Comic-Strips. 2016 wurde aus einem von ihnen ein Buch.- 2018 veröffentlichte sie in Carlsenverlag, zudem 2020 ein Kinderbuch in Zusammenarbeit mit Alex Rühle.

Sie unterrichtete an der Hochschule der Bildenden Künste Saar und als Dozentin im Comic-Seminar Erlangen, seit 2018 zudem an der Universität für Angewandte Kunst, Wien. Für ihre Arbeit erhielt sie den Bayrischen Kunstförderpreis für Literatur, 2015, sowie den Max-und-Moritz-Preis als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin, 2016.

Paul-Moritz-Rabe wurde 1984 in Erlangen geboren und ist ein deutscher Historiker. Er leitet die wissenschaftliche Abteilung des NS-Dokumentationszentrums Münschen sowie des Erinnerungsortes auf dem Gelände des ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlagers Neuaubing. Sein Buch “Die Stadt und das Geld”, welches 2017 erschien, zur Haushalts- und Finanzpolitik Münchens während der NS-Zeit wurde mit mehreren Förderpreisen ausgezeichnet.

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Erri de Luca: Das Meer der Erinnerung

Inhalt:

Ein Sommer auf Ischia in den fünfziger Jahren. Während sich die anderen Jugendlichen aus der Stadt am Strand vergnügen, fährt der Ich-erzähler jeden Morgen hinaus aufs Meer. Von dem Fischer Nicola lernt er das Handwerk des Fischens, und Nicola ist auch der Einzige, der ihm vom Krieg erzählt. Die Abende verbringt er oft mit der Clique seines älteren Cousins. Dort lernt er Caia kennen, und ein überwältigendes Begehren ergreift den Sechszehnjährigen. Er ist überzeugt, dass Caia ein Geheimnis besitzt, und entschlossen, es in stiller Intimität ans Licht zu bringen. (Klappentext)

Rezension:

Längst ist das Salz in der Luft mit der Haut eins geworden. Die Netze haben Striemen hinterlassen und vom Bisss der Muräne bleibt eine eindrucksvolle Narbe auf der Handfläche zurück. Es ist Sommer auf der italienischen Insel Ischia und der zunächst, über weite Strecken namenlose Stadtjunge verwildert zusehens. Es sind die Beschreibungen solcher Szenen, die Erri de Luca besonders gelingen und einem in seine Geschichten eintauchen lassen.

Wer liest, nimmt in “Das Meer der Erinnerung” die Perspektive des Jungen ein, der beobachtet und wird damit selbst zum Beobachter des Insellebens. Das Meer ist einer der Handlungsorte und steht zugleich für die nicht verarbeitete Vergangenheit, das Ungesagte, auf dessen Spurensuche sich der Ich-Erzähler begibt. Sehr schnell wird der Beobachtende zum Handelnden.

Feinfühlig verweb der Autor verschiedene Themen mithilfe kunstvoller Sprache. Ruhig, fast melancholisch ist der Sprachstil, so unerbittlich ist das Nicht-mehr-Kind und der Noch-nicht-Erwachsene zu sich selbst. Nicht geschehene Vergangenheitsbewältigung thematisiert Erri de Luca ebenso wie das Verstehen-wollen und das Nicht-begreifen-können.

Das ist sehr viel in dieser kompakten Form, wird jedoch genügend auserzählt. Das halb offene Ende wirkt hier etwas holzschnittartig und passt nicht wirklich zum Rest der Novelle. An den Themen, des vielschichtig ausgearbeiten Protagonisten liegt es nicht. Nur der Tupfen auf dem I fehlt, vielleicht versunken auf den unerreichbaren Gründen des Meeres.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Pieter van Os: Versteckt vor aller Augen

Inhalt:

Wie es der polnischen Jüdin Mala Rivka Kizel mit Intelligenz, Charme und einer außergewöhnlichen Portion Wagemut gelang, nicht nur der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen, sondern sogar die Liebe einer Nazifamilie zu gewinnen, das erzählt Pieter van Os in dieser verblüffenden und kraftvollen Geschichte, die niemanden unberührt lässt.

Dieses Buch ist eine atemberaubende Suche nach der Wahrheit und ihrer Moral und zugleich eine tiefschürfende Meditation darüber, was uns antreibt, den “anderen” zu fürchten, aber auch, was uns erlauben könnte, Mitgefühl zu empfinden. (Inhalt lt. Umschlagsseite)

Rezension:

Es ist die Geschichte einer immer kleinteiliger werdenden Suche nach den Spuren einer Biografie, deren Inhaberin sich so wandlungsfähig zeigen musste, wie die Zeit sich unstetig und voller Gefahren gab, in der sie lebte. Hinein in eine jüdisch-orthodoxe Familie geboren, erblickt 1926 Mala Rivka Kizel das Licht der Welt, noch nicht wissend, wie oft sie umdenken, sich verstellen werde müssen, um ihren Häschern zu entkommen.

Auf Grundlagen mehrerer Interviews mit ihr, begibt sich Jahrzehnte später der niederländische Journalist Pieter van Os auf Spurensuche quer durch Europa.. Herausgekommen dabei ist ein sehr detaillierter, dadurch um so erschütternder Bericht gegen das Vergessen.

Zunächst beginnt der Autor, der von der Geschichte Mala Rivka Kizels zum ersten Mal in einer Warschauer Bar hörte, mit der Beschreibung einer seiner vielen Suchen, die sich im Laufe seiner Recherchen stellten. Hier merkt man van Os seinem Beruf an, der gründliche Journalist, der jedes Puzzleteil aufdecken und zu bereits vorhandenen legen möchte, um sich so der Biografie zu nähern, die in Interviews aufgrund des zeitlichen Abstands nur umrissen werden kann, auch von der realen Protagonistin selbst.

Der Schreibende ist zugleich der Suchende, der es nicht lassen kann, jede noch so winzige Spur zu verfolgen, um Wahrheit von nachträglich hinzugefügten Bildern zu unterscheiden. In der polnischen Hauptstadt ist das bereits eine Herausforderung des Gedankenspiels, da es kaum noch historische Bausubstanz gibt.

Nur einen kleinen Rest der Ghettomauer etwa, findet man noch in einem unscheinbaren Hinterhof. In Dörfern und anderen Kleinstädten des heutigen Polens, der Ukraine oder in Ostdeutschland, welche ebenso mehrere Zeitenwenden durchgemacht haben, ist es mancherorts nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.

Nach und nach schält Pieter van Os jedoch die beeindruckende Lebensgeschichte einer mutigen Frau heraus, die ihre Biografie mehrfach vor den Augen ihrer Mitmenschen verändern musste, um zu überleben. Durchsetzt ist der Bericht zusätzlich mit mehreren Querverweisen. Wer die Geschichte einer Person erzählt, kommt nicht umhin, auch das Drum-Herum zu durchleuchten. So kreuzt der Autor beispielsweise auch den Weg Salomon “Sally” Perels, des Hitlerjungen Salomon, als er den Weg Kizels versucht hat, zu konstruieren.

Die Überlebensgeschichte der jungen Frau liest sich so beeindruckend wie ein Spannungsroman, zeigt, warum und wie es Kizel gelang, ihren Häschern zu entkommen. Es läuft einem beim Lesen kalt den Rücken herunter, alleine sich vorzustellen, wie es ist, gezwungen zu sein, sich zu verstellen. Ein Tanz auf dem Vulkan. Einem Schritt zu viel folgt nur der Tod.

Pieter van Os hält sich an den geografischen Wegepunkten bei der Gliederung seiner Kapitel, nutzt Zeitsprünge, und stellt jedem dieser ausführliche Anmerkungen hinten an. ein Familienstammbaum, eine geografische Karte und ein umfangreiches Personenregister ergänzen das Werk, welches auf Grundlage jahrelanger Recherchen entstand.

Es ist eine dieser Geschichten, die unbedingt in Erinnerung bleiben müssen und nicht unbeeindruckt zurücklassen. Was macht es mit uns Menschen, wenn wir gezwungen sind, uns permanent zu verstellen? Wie viel Mut, Wille und auch Glück ist notwendig zum Überleben. Wie prägen uns die jenigen, denen wir uns anvertrauen müssen, um zu leben, aber nicht offenbaren können, da dies sonst der Tod bedeuten könnte?

Ein Buch und eine Geschichte gegen das Vergessen, welche unter die Haut geht.

Autor:

Pieter van Os, geb. 1971, ist ein niederländischer Autor und Journalist. Er schreibt für “NRC Handelsblad” und “De Groene Amsterdammer”. Unter anderem erschien von ihm das Buch “We Understand Each Other Perfectly” über seine Tätigkeit als parlamentarischer Berichterstatter.

Mit der Originalausgabe von “Versteckt vor aller Augen” gewann er im Jahr 2020 den Brusse-Preis für das beste journalistische Buch in niederländischer Sprache sowie den Libris-Geschiedenis-Preis. Nach einigen Jahren in Warschau lebte er in Tirana, Albanien, und derzeit wieder in den Niederlanden.

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