Inhalt:
Die sowjetische und postsowjetische Zeit erzeugt mit ihren verdrängten Verbrechen fortwährend neue Ungeheuer und Gespenster. Sergej Lebedew folgt in seinen Erzählungen dem vergifteten Erbe der Sowjetunion und seinen unheimlichen Spuren in der Gegenwart.
Obwohl seine Geschichten jeweils für sich stehen, verbindet sie ein gemeinsames Thema, ein gemeinsamer poetischer Raum. In diesem Raum ziehen die Schatten der Vergangenheit ruhelos umher, und die Toten rufen fortwährend nach Gerechtigkeit. (Klappentext)
Rezension:
So groß wie das Land, so einengend ist der Raum, in dem sich die Menschen bewegen. Russland hat das Lebensglück der Menschen verspielt, in der Vergangenheit, in der Gegenwart.
Die Schreibenden finden ihren Platz für Kritik fast nur noch im Exil und so lebt auch Sergej Lebedew schon längst nicht mehr in Moskau, sondern in Potsdam, doch die Gespenster der Vergangenheit lassen auch ihn nicht los und so sind in diesem Band eine Reihe seiner Erzählungen versammelt, die tief blicken lassen, in das, was dieses riesige und zu den Menschen garstige Land immer noch dominiert.
Kurzgeschichten reihen sich aneinander, wie an einer Kette, deren Perlen man scheinbar ohne System aneinander gereiht hat. Tatsächlich springen wir durch die Zeit und erleben Protagonisten, deren Schicksale vielfach übertragbar sind auf Dinge, die passieren, passiert sind. Der Richter etwa, der genau das Urteil fällt, welches von ihm erwartet wird, um den nächsten Schritt der Karriereleiter zu erklimmen, weit davon entfernt, was die Gerechtigkeit eigentlich verlangen würde.
Der Bahnwärter, der in der Einöde, auf den Spuren ehemaliger Häftlinge des Straflagersystems Stalins sitzt und auf das einzige Signal wartet, welches der Grund ist, überhaupt dorthin versetzt wurden zu sein, der Offizier, der hinter der Fassade die Risse an dem Gebäude erkennt, dem er dient, Bestandteil eines Systems, bestehend aus eben vielen Fassaden. Viel ist Schein im Russland der Vergangenheit und Gegenwart. Die Wirklichkeit ist grausam.
Trocken ist die Tonalität der Texte, die jeder für sich stehen und einzeln gelesen werden können. Immer springt man zwischen den Zeiten. Oft ist erst auf den zweiten Blick klar, welcher Epoche eine Erzählung zuzuordnen ist, lassen sich doch viele Elemente sowohl in die eine als auch in die andere übertragen. Die Protagonisten sind scharf gezeichnet. Manche Konturlosigkeit wird als Stilmittel bewusst eingesetzt.
Das Bewusstsein der Menschen suchte nach Bildern, nach einer Sprache zur Beschreibung der Tragödie – und griff dafür auf mystische Anspielungen zurück, die die unheilvolle Vergangenheit real werden ließen und sie gleichzeitig verfremdeten, sie zu einem Phänomen aus einer anderen Welt, einer anderen Realität werden ließen.
Sergej Lebedew: Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit
Jede einzelne Zeile wirkt dennoch wie ein Nadelstich gegenüber der russischen Gesellschaft und Politik. Diesen Stil muss man mögen. Wer sich einmal eingefunden hat, entdeckt viele Parallelen und Ebenen. Gebäude stehen für Lebensläufe mit Brüchen, wie auch die Menschen selbst sich vielfach anpassen mussten, an sich praktisch über Nacht verändernde Bedingungen. Lebedew erzählt von jenen, die in diesem Spiel gelernt haben zu überleben und denen, die darin zerrieben wurden und werden.
Das Format der Kurzgeschichte ist ihre Kompaktheit, bringt es jedoch mit sich, dass einige der übergreifend durchdachten Texte direkt nach dem Lesen in Vergessenheit geraten, andere hätte man gerne ausführlicher gehabt und den Weg, die Strategien der handelnden Figuren verfolgt. Mit der Treffsicherheit Lebedews in Formulierungen möchte ich Romane lesen. Das könnte großartig werden.
Autor:
Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren und ist ein russischer Schriftsteller. Er entstammt einer Geologenfamilie und suchte in seiner Schulzeit in aufgelassenen Minen nach Mineralien und Bergkristallen, wobei er auf Reste ehemaliger Lager des GULAG stieß. Lebedew studierte Geologie und arbeitete später als Journalist, veröffentlichte in einer Literaturzeitschrift Gedichte und Essays.
Sein erster Roman war 2011 auf der Vorschlagsliste zum Nationalen Bestsellerpreis Russlands und erschien zwei Jahre später in deutscher Übersetzung. 2013 erhielt er ein Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin. Sein 2015 in deutscher Übersetzung erschienener dritter Roman wurde in Russland erst 2016 veröffentlicht. Er äußerte sich mehrfach kritisch gegenüber Putin und lebt derzeit in Potsdam.