krankheit

Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder

Inhalt:

Zwei Männer, die wie Brüder aufwachsen – bis ihre Leben ganz unterschiedliche Entwicklungen nehmen. Doch als eiiner der beiden stirbt, zeigt sich, wie tief die in der Kindheit geknüpfte Verbindung ist. Und als der Freund postum auf rätselhafte Weise zu Ruhm als genialer Maler kommt, erscheint die Beziehung der beiden plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Mit stiller Wucht erzählt Alain Claude Sulzer von einer ungewöhnlichen Freundschaft und einem kurzen Leben, das lange nachwirkt. (Klappentext)

Rezension:

Zumindest geografisch trennt das Leben zwei, die wie Brüder aufgewachsen sind, im jungen Erwachsenenalter. Während der eine sein Glück auf der anderen Seite des Ozeans sucht, findet der Ich-Erzähler seinen Lebensmittelpunkt in Frankreich. Der Kontakt aus der Kindheit, bleibt lose, verliert sich nicht. Erst nach dem Tod des Kunstsinnigen wird dem Erzähler klar, wie tief die Verbindung zueinander wirklich gewesen ist.

Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat mit „Fast wie ein Bruder“ nicht nur einen feinen Coming of Age-Roman geschrieben, sondern auch das Portrait einer sehr sonderbaren Zeit.

Sulzers Erzählung beginnt inmitten der 1970er Jahre, der Kindheit der Protagonisten, die zunächst alle Möglichkeiten für die beiden Jungen bereitzuhalten scheint, doch frühe Schicksalsschläge bereithält, die den weiteren Weg der Hauptfiguren bestimmen, Diesen folgen wir lesend bis in die Gegenwart hinein. Komprimiert auf der konträr zur erzählten Zeit überschaubaren Seitenzahl hat sich der Autor darauf konzentriert die beiden Figuren strahlen zu lassen.

Ihre Ecken und Kanten werden auserzählt, wie auch die Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sehen. Dabei nehmen sie so viel Raum ein, dass für Nebenfiguren kaum Platz bleibt. Die Leinwand ist voll. Eingenommen von den beiden, die in unterschiedlicher Entfernung, immer umeinander kreisen.

Dabei durchzieht den Roman ein vergleichsweise ruhiger Erzählstil, dessen Tempo gefühlsmäßig nicht der Autor, sondern die Figuren selbst bestimmen. Sulzer verliert dabei nie den Blick für Orte und Szenarien und behält in diesem Konstrukt die Fäden bis zum Schluss in die Hand. Was kann, was vermag Kunst und was bleibt, wenn der Erschaffende nicht mehr ist?

Solche fast philosophischen Fragen können sich beim Lesen aufdrängen. Man kann diesen Roman jedoch auch einfach als die Erzählung einer Freundschaft lesen. Beide Protagonisten sind dabei nachvollziehbar gestaltet. Auch ergeben sich in der Art und Weise keine Lücken oder unlogische Sprünge. Einzelne Momente lassen sich sehr stark nachfühlen.

Der Roman um Kunst ist selbst Kunst. Fast filmisch führt der Erzähler durch die Leben beider wie entlang von Bildern einer Galerie. Eingerahmt sind sie zwischen zwei weltumspannenden Epidemien, die zugleich Taktgeber sind. Für die Welt, die still steht und einer Entscheidung über Leben und Tod, die die Figuren nicht beeinflussen können.

Alain Claude Sulzers Roman über Kunst, Homosexualität und Aids, einer Freundschaft vor allem, vereint das alles, ohne ins Kitschige abzutriften, in die richtigen Worte. Keines ist hier zu viel oder zu wenig. Eine reduzierte Erzählung, die nachdenklich werden lässt. Allein, es fehlt da noch der Wow-Effekt. Trotzdem darf man empfehlen, in die Geschichte zu versinken.

Autor:

Alain Claude Sulzer wurde 1953 geboren und ist ein Schweizer Schriftsteller. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Bibliothekar und war später als Journalist tätig. Seit den 1980er Jahren veröffentlicht er seine eigenen Werke und ist zudem als Übersetzer aus dem Französischen tätig gewesen. Selbst Teilnehmer am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, saß er später in dessen Jury. Er ist Mitgründer des PEN Berlin, lebt zwischen Berlin und Basel. Sulzer wurde für seine Werke mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit den Solothurner Literaturpreis.

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Elsa Morante: La Storia

Inhalt:

La Storia ist die große Geschichte von Diktaturen, Weltkriegen und Menschheitsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber vor allem die Geschichte der verwitweten Lehrerin Ida und ihren zwei sehr unterschiedlichen Söhnen, vom Leben im faschistischen Rom, Trotz, Not und Hunger, rivalisierenden Partisanen. Manchmal in Gesellschaft, manchmal allein. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Die ewige Stadt im Ständigen Wandel, heruntergebrochen auf nur ein paar Geschichten, zu einer großen Erzählung miteinander verwoben, dies ist Elsa Morantes „La Storia“, welches bereits 1974 erschien und mit dieser Ausgabe in einer beeindruckenden Neuübersetzung vorliegt.

In dieser bewegen wir uns durch die Armenviertel Roms, aus derer die behutsam ausgestaltete Protagonistin Ida nie ausbrechen wird können, und den Weg ihrer beider Söhne, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Trotzdem oder gerade deswegen gelingt der Kampf eine lange Zeit, auch wenn alle Figuren immer wieder an gewisse Glasdecken gesellschaftlicher Schichten stoßen und nicht zu durchdringen vermögen. Ein Aufstieg ist kaum gegeben. Ida, Nino und Useppe und all die anderen, denen wir im Laufe der Erzählung begegnen, schlagen sich durch das Leben, welches sie immer wieder umstoßen wird, kaum dass sie Kräfte fassen, in einer Zeit, welche es wahrlich nicht gut mit den Menschen meint.

Dabei werden sehr umfangreich unterschiedlichste Themen aufgemacht, die in verschiedensten Handlungssträngen nicht immer mit aller Konsequenz bis zum Ende hin verfolgt werden. So ist La Storia zugleich ein Roman über eine Familie, Gesellschafts- und Systemkritik, eine Bestandsaufnahme, in der jede der Figuren, von denen einige wunderschön ausgestaltet sind, eine eigene Erzählung vedient hätte. Mit der gewählten Form hier jedoch hat sich die Autorin nur bedingt einen Gefallen getan.

Einzelne Ausarbeitungen von Figuren dürfen als gelungen bezeichnet werden, allen voran die der Hauptfigüre, die man ins Herz schließen mag. Bei Vernachlässigung anderer Handlungsstränge gäbe es hier alleine genug zu erzählen, ob nun der Konflikt zwischen den Generationen beleuchtet oder vererbte unverarbeitete Traumata, deren Auswirkungen sich erst sehr viel später zeigen werden. Aber La Storia ist eben auch Partisanengeschichte oder eben die Verhandlung einer gesellschaftlichen Systemfrage. Schwer zu bündeln und damit über manche Strecken ganz und gar nicht einfach zu lesen.

Erzählt wird dieses italienische Epos per Perspektivwechsel, dem man durchaus folgen kann. Selbst der tierische Begleiter Useppes, einer Figur, die man einfach nur liebhaben muss, bekommt da eine Stimme und der kleine Junge damit eine Form, was aber nicht darüber hinweg hilft, dass alleine durch die Länge es beim Lesen dazu kommt, dass man einzelnen Figuren gerne nachspürt, sich bei anderen Passagen über kurz oder lang erwischen tut, sie nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit verfolgen zu wollen. Da kommen sich Handlungsstränge in die Quere. Auch muss man sich des im Vergleich zu heutigen Zeit etwas gemächlicheren Erzähltempos bewusst sein, was dann ebenfalls zu ein paar Längen beiträgt.

Elsa Morante widmet sich kleinteilig der Kriegs- und Nachkriegszeit in den staubigen Gassen Roms und zeigt dabei Licht- und Schattenseiten. Jede Figur hat ihre Ecken und Kanten, auch deren Standpunkte werden immer wieder neu verhandelt, trotzdem schleicht sich immer wieder das Gefühl ein, hier von hätten es gerne ein paar Seiten weniger, hier unbedingt mehr sein können, da es Morante ja durchaus gelungen ist, für Detailschärfe zu sorgen.

Vielleicht ist das aber auch nur ein Empfinden in heutiger Zeit. Zum Erscheinen war La Storia in Italien ein großer Publikumserfolg, der vielerseits diskutiert wurde. Eines ist jedoch gelungen, eine Art Lebensgefühl zu transportieren, auch nicht immer nur auf eine Seite hin fokussiert.

An manchen Stellen übertrieben wirkende Reduzierungen, an anderen eine ewisse Üppigkeit, und ja, auch hin und wieder ruppiger Sprache, hinterlassen einen wechselhaften Eindruck, was streckenweise enervierend sein kann, vor allem auf einem bestimmten Monolog gegen Ende bezogen, ansonsten folgen hier Aktion und Reaktion der Figuren einer gewissen Logik. Die Beschreibungen der Schauplätze ist der Autorin gelungen. Man kann sich die Gassen des Armenviertels, das Flussufer, die Enge von Räumen gut vorstellen.

Der Konzentration fordernde Roman lässt sich in keinem Fall nebenher lesen und ist zumindest im Haupthandlungsstrang durchaus lesenswert. Wer dann noch die anderen mit etwa dem gleichen Interesse begegnet, entdeckt eine Geschichte über viele Geschichten.

Auch das ist ja irgendwie Rom.

Autorin:

Elsa Morante wurde 1912 in Rom geboren und war eine italienische Schriftstellerin. Nach der Schule begann sie ein Literaturstudium, welches sie aus Geldmangel vorzeitig beenden musste. Dennoch veröffentlichte sie Gedichte und Erzählungen, zunächst in Zeitschriften, gab nebenher Unterricht in Italienisch und Latein.

In ihrem Roman La Storia verarbeitete sie Erlebnisse aus ihrer eigenen Biografie, musste vorher zu Zeiten des Krieges aus Italien 1943 fliehen, kehrte aber 1944 bereits wieder nach Rom zurück. 1948 wurde ihr erster Roman veröffentlicht, dem weitere folgten. La Storia, 1974, welches in den 1980er Jahren verfimt wurde. 2023 entstand eine TV-Serie. Morante erhielt u. a. den Prix Medicis, 1984. Ein Jahr später starb die Autorin.

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Tatsuo Hori: Der Wind erhebt sich

Inhalt:

Die zwischen 1936 und 1938 entstandene Novelle „Der Wind erhebt sich“, betitelt nach einem Gedicht von Paul Valery, beschreibt die platonische Liebe des Ich-Erzählers zu seiner an Tuberkulose erkrankten Verlobten Setsuko. Ihre vom Tod überschattete, kurze Liason verleben sie größtenteils fernab der Gesellschaft in einem Lungensenatorium in den Bergen. Beruhend auf den persönlichen Erfahrungen schildert Tsatsuo Hori mit feinem Gespür die Psyche der beiden Protagonisten und ihre ambivalente Beziehung, was in der lyrischen Darstellung der Umgebung im Wandel der vier Jahreszeiten eine äußere Entsprechung findet.

Mit der Novelle „Der Wind erhebt sich“ kann das Lesepublikum hierzulande eine der wichtigsten japanischen Kostbarkeiten des 20. Jahrhunderts nun erstmals auf Deutsch für sich erlesen und eine Tür in eine fremde und doch seltsam nahe Gedankenwelt öffnen. (Klappentext)

Rezension:

Im Vergleich zu anderen Region begegnet uns Japan zumindest literarisch noch sehr dosiert. Um so interessanter sind Erst- und Neuübersetzungen, die jetzt nach und nach auch hier eine Leserschaft gewinnen. Darunter nun eine kleine zarte Novelle, die mit wenig Worten auskommt, jedoch eine sehr besondere Wirkung entfaltet. Die Rede ist von „Der Wind erhebt sich“, aus der Feder des japanischen Schriftstellers Tatsuo Hori, der sich auf sehr einfühlsame Art und Weise mit dem Loslassen und dem Tod beschäftigt.

Die kleine Novelle beginnt inmitten der Natur die Lesenden auf eine Reise durch das Jahr mitzunehmen. Zwei Menschen treffen aufeinander, vom Erzähler selbst erfährt man wenig, überhaupt werden Informationen sehr dosiert und gezielt eingestreut, dennoch hat man sofort ein klares Bild vor Augen. Das Glück der beiden Protagonisten scheint oberflächlich nur von kurzer Dauer, doch im Angesicht des Fortschreitens der Krankheit gewinnt der Zusammenhalt und das Beisammensein Konturen, die die kompakte Erzählung tragen.

Betont zurückhaltend baut Hori die Welt einer Beziehung auf, die, wären die Protagonisten gesund, nur ein Aufeinanderzustreben kennen würde, doch fühlt der Erzählende seine Liebe im Verlauf immer mehr entfliehen. Im Wissen um das baldige Ende versucht der Protagonist die gemeinsame Zeit festzuhalten und kann doch dem Schicksal nicht entkommen.

Sehr poetisch wirkt das zu weilen. Zeile für Zeile verrinnt zwischen den Fingern. Schnell ist man inmitten der Geschichte, fühlt sich als danebenstehender Beobachtende. Der erzählte Zeitraum umfasst dabei nur wenige Monate. Der Autor hat hier einen Spagat zwischen gemächlich wirkender Sprache und doch schnellem Erzähltempo geschaffen. Der Titel alleine lässt bereits zu Beginn den Ausgang erahnen.

Neben der Ausarbeitung der Protgaonisten, von denen man nur das Notwendige erfährt, liegt die Stärke der Novelle vor allem in Orts- und Landschaftsbeschreibungen, die sofort Bilder im Kopf entstehen lassen. Auch ein Fenster in die Gefühlswelt der sonst so zurückhalenden Japaner wird geöffnet, das bereits in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, was an sich schon hervorzuheben ist. Zudem bringt der Autor ein Teil seiner eigenen Biografie mit ein, nimmt seinen Weg vorweg.

Der Fokus liegt auf die zwei Hauptfiguren, die klar gezeichnet werden. Andere werden kaum erwähnt. Sie spielen schlicht und einfach fast keine Rolle im Zusammenspiel der Protagonisten, bleiben daher bewusst blass. Beschrieben werden eine Liebe ohne Zukunft, formvollendete Hingabe, Loslassen und Verarbeitung. Ziemlich viel für wenig Seiten, was leicht hätte misslingen können. Alleine, hier funktioniert es. Kein Wort ist zu viel, Auslassungen wurden bewusst gesetzt. Die behutsame Übertragung von Sabine Mangold ins Deutsche hat das Übrige dazu beigetragen, damit die Novelle auch bei uns ihre Wirkung entfalten kann.

Die erzählende Figur weiß von Beginn an um den Ausgang, während das Gegenüber gleichsam zum Symbol, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird, die einfach nur berührt. Die Erzählung in Form einer Art Tagebuch gehalten, wird dadurch aufgelockert und gewinnt zugleich an Bedeutung. Absätze zwingen einem, dies vergleichsweise langsam zu lesen, ab und an innezuhalten.

Der Aufbau einer persönlichen Katastrophe, die Beschreibung der Unausweichlichkeit ist das, was diese Novelle ausmacht, zudem die Zustandsbeschreibung der Abgeschiedenheit in Angesicht des Todes. Das kann nur berühren, zudem wenn man um die Geschichte des Autoren weiß, der selbst an Tuberkulose litt, jedoch aus der Position der Angehörigen heraus schrieb. Beinahe so, als wollte Hori etwas Tröstendes hinterlassen.

Sehr poetisch werden Bilder aufgebaut, die einem so schnell nicht mehr loslassen. Diesen Stil muss man mögen, eröffnet jedoch einen Blick in diese damals doch sehr geschlossen wirkende Gesellschaft Japans. Die beschriebene Zurückhaltung funktioniert in diesem Setting sehr gut, wäre verbunden mit anderen Ortsbeschreibungen nicht ganz so glaubwürdig. Die charakterliche Stärke beider Protagonisten tut ihr übriges dazu bei.

Nur ein paar kleine Szenen brechen den Lesefluss und wirken so, als hätte der Autor zwischendrin noch das Gefühl gehabt, noch ein paar Zeilen mehr füllen zu müssen. Das ist jedoch Jammern auf hohem Niveau. Nichts destotrotz kann ich jedem empfehlen, ein paar Stunden mit dieser schönen Novelle, die wohl auch als Anime verfilmt wurde, zu verbringen.

Autor:

Tatsuo Hori wurde 1904 in Tokio geboren und war ein japanischer Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Japanische Literatur, verfasste während seines Studiums Übersetzungen französischer Dichten und schrieb für die Literaturzeitschrift Roba. 1930 erhielt Hori Anerkennung für seine Kurzgeschichte Sei kazoku (wörtlich „Die heilige Familie“) und ließ eine Riehe von Novellen und Gedichten folgen, die sich oft mit dem Tod beschäftigten. Später erkrankte er an Tuberkulose. Diese Erfahrung verarbeitete er in einer weiteren Geschichte. Er starb 1953 in Tokio.

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Donald Antrim: An einem Freitag im April

Inhalt:

Ein schonungsloser ehrlicher Bericht über Todesnähe als Lebensbegleiter: Donald Antrim beleuchtet Tragödie und Stigma des Suizids und bietet Trost, der Leben retten kann. (Klappentext)

Rezension:

Hinterher weiß Donald Antrim nicht einmal mehr, was ihn diesmal angetrieben hat, die Feuertreppe seines Hauses hochzusteigen. Prüfend tritt er ans Geländer, um in den Abgrund zu schauen. Er hält sich fest, um loszulassen. zumindest mit einer Hand, die dann doch wieder den sicheren Halt sucht. Wie wird es sein, das Sterben? Wird es schmerzhaft werden? Spürt man nichts? Wird Antrim es bereuen, in den Sekunden zwischen Leben und Tod, diese Entscheidung getroffen zu haben? An diesem Tage wird er es nicht erfahren. Aus irgendeinem Grund entscheidet er sich um, geht zurück in seine Wohnung. Ein langer, steiniger Weg über Klinikaufenthalte und Therapien folgt diesem Ereignis, ebenfalls nur ein trauriger Punkt in seinem Leben, zudem der Suizid schon lange gehört.

Wir sagen auch, dass wir das wollen, aber stimmt das auch?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

In einer Mischung aus Essay und bericht beschäftigt sich der amerikanische Autor mit Suizid als Prozess. Als solchem sieht er das, was auch Freitod, Selbstmord oder Selbsttötung genannt wird und oft nur den eigentlichen Schlusspunkt meint. Doch ist es das oder vielmehr eine Krankheit, die die Betroffenen zu einer an sich selbst grausamen oder erlösenden, auch das je nach Blinkwinkel, Handlung bringt. Er stellt dar, wie es ist, mit diesem Gefühl zu leben, sich ein Ende zu wünschen oder darauf meinen hinwirken zu müssen. Doch durchzieht den Bericht auch Hoffnung.

Wenn man beispielsweise sagt, Suizidanten seien von Natur aus impulsive Menschen, unterschlägt man die Stunden, Monate und Jahre der Angst und des körperlichen Niedergangs, der Furcht und scheinbaren Resignation, mit denen wir in den Tod gehen. Oder vielleicht halten wir den Katatoniker für antriebslos und verstehen nicht die Qual, das Gefühl, dass der Körper irgendwie vibriert, die Paralyse. Der Mann auf der Brücke hockt vielleicht stundenlang am Geländer, starrt nach unten und hat zugleich Angst davor, hinzusehenn. Die Frau in den Wellen plantscht nicht ins Meer hinaus, sondern geht eher langsam, bis sie untertaucht.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Klar wägt Antrim ab. Es ist ein ruhiger Text, immer wieder sich selbst prüfend. Wenn ein steiniger Weg ins Unausweichliche führt, kann man auch abbiegen und den Teufelskreis durchbrechen? Der Autor hat das versucht, wollte sich helfen lassen. Dieser Weg ist noch mehr von klippen und spalten durchzogen, Umwegen und Rückschlägen. Er berichtet von seinem Weg, ohne außer Acht zu lassen, dass dieser ihm geholfen hat und für andere etwas anderes gelten mag.

Die Paralyse des Suizids ist keine Apathie oder Stille. Wir fühlen uns eingekapselt, irgendwie eingeengt. Unsere Körper könnten zerbrechen, oder etwas außerhalb von uns wird zerbrechen. Was wird zerbrechen?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Donald Antrim bricht das Schweigen über ein Tabuthema, welches viel öfter zur Sprache kommen sollte, um Zugang zu den Betroffenen zu finden, vielleicht einen Weg, sie aus diesem Teufelskreis herauszunehmen und in Sicherheit zu halten. In einer Mischung aus biografischen Rückblicken, Verarbeitung und nüchternen Bericht ist der Text keine leichte Kost.

Förmlich spürt man die bleierne Last, die dem Autoren die Luft zum Atmen genommen hat. Man muss dann beim Lesen innehalten, blättert zurück, liest einzelne Abschnitte nochmals und fragt sich unweigerlich, wie man selbst in dieser Situation gehandelt hätte. Wäre man stark genug für eine Therapie? Was passiert bei einem Rückschlag? Würde man sich helfen lassen (wollen)? Wann wäre der Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gäbe? Glücklich, wer sich damit noch nie beschäftigen musste. Für die an Suizid leidenden (bleiben wir bei der Betrachtung als Krankheit statt Schlusspunkt) ein tägliches Abwägen. Wann gewinnt was die Oberhand?

Ich bin der Überzeugung, dass Suizid eine Entwicklungsgeschichte ist, ein Krankheitsprozess, keine Handlung oder Entscheidung, kein Entschluss oder Wunsch. Ich verstehe Suizif nicht als Reaktion auf Schmerz oder als Botschaft an die Lebenden – zumindest nicht nur.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Als Teil der Verarbeitung und Enttabuisierung ein notwendiges und wichtiges Schriftstück, wirbt Antrim für diesen Blickwinkel. Vielleicht sollte man aber wirklich gefestigt sein, um diesen Text lesen zu können. Schließlich ist der so stark wie die Thematik selbst.

Autor:

Donald antrim wurde 1958 geboren und ist ein US-amerikanischer Autor. Nach einem Studium an der Brown University veröffentlichte er 1993 seinen ersten Roman, dem weitere folgten. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heyden Fellow for Fiction an der American Academy in Berlin. 2013 erhielt er den MacArthur Fellowship. Er lehrt Literatur an der Columbia University.

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Arne Kohlweyer: Ostkind

Inhalt:

1992 am östlichen Rand Berlins: Der neunjährige Marko hat es endgültig satt, wie ein kleiner Junge behandelt zu werden und will allen beweisen, wie erwachsen er sein kann. Er schreibt eine Liste mit Dingen, die man so macht als Erwachsener: Kaffee trinken, dicke Bücher lesen, den Walfang stoppen, rauchen und Anna heiraten. Anfangs läuft bei der Umsetzung noch alles nach Plan, doch das Erwachsensein stellt Marko zusehends vor große Probleme. (Umschlagstext)

Rezension:

Zunächst erscheint alles als heile Welt, in dem vorliegenden Romandebüt des Filmemachers Arne Kohlweyer, dessen Erzählung „Ostkind“ zwischen Coming of Age und Novelle pendelt. Wie jedes Jahr unternimmt die Familie des frisch neunjährigen Marko zu dessen Geburtstag einen Ausflug an den heimischen Badesee.

Mit seinem Geschenk, einem Schnorchel-Set, lässt sich der Protagonist fotografieren. Doch, die heile Welt bekommt bald Risse. 1992 steckt das ehemals geteilte Berlin noch inmitten der unmittelbaren Nachwirkungen der Wendezeit, in derer sich unzählige Biografien von einem Tag auf den anderen ändern. Markos Vater, zuvor Professor für Marxismus-Leninismus fährt nun Taxi. Der Junge registriert die Veränderungen um sich herum, ohne sie zu begreifen. Nur ernst genommen werden, möchte er und dafür so schnell wie möglich erwachsen werden.

Während er dafür eine Liste erstellt, mit Dingen, die man als Erwachsener eben so tut, brauen sich, ohne dass Marko es zunächst bemerkt, noch mehr dunkle Wolken am Himmel über die Familie zusammen. Dinge, die nicht einmal die wirklich Erwachsenen zu händeln wissen.

So viel zum Inhalt dieses zunächst sehr unscheinbaren, aber in allen Aspekten großartigen Romandebüts, welches die Lesenden auf eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle mitnimmt. Nichts ist, wie es scheint und so werden die zunächst kaum sichtbaren Risse bald unfassbar groß, zu groß für den liebevoll ausgestalteten Protagonisten, der sich nichts sehnlicher wünscht als wahr- und ernstgenommen zu werden, aber noch zu klein für die damit verbundenen Konsequenzen ist.

„Da war es wieder! Dieses ,Das verstehst du noch nicht‘, das sich manchmal als ein ,Dafür bist du noch zu jung‘ verkleidete. Je älter Marko wurde und je mehr er in der Schule lernte, desto häufiger schmetterten die Erwachsenen es ihm entgegen. Genau wie letztens auf seine Frage, wie denn eine Hand bitteschön treu sein könne …“

Arne Kohlweyer: Ostkind

Der behutsam ausgearbeitete Handlungsstrang deckt einen Zeitraum von gerade mal zwei Wochen ab. Trotz der sehr kompakten Art des Erzählens hat es der Autor geschafft, so viel an Themen hinein zu packen, dass es schwerfällt, die überschaubare Seitenzahl zunächst ernst zu nehmen. Das funktioniert jedoch wunderbar, können sich doch fast alle in die Hauptfigur hineinversetzen, die man einfach nur in den Arm nehmen und schützen möchte. Arne Kohlweyer hat Marko als wachen, intelligenten Jungen geschaffen, dessen Kindlichkeit feinfühlig ausgearbeitet, genauso wie die Hilflosigkeit der Erwachsenen ausgestaltet, die der Hauptfigur eine heile Welt erhalten wollen, ohne zu bemerken, dass nicht nur für sie die Situation immer mehr ins Unkontrollierbare kippt.

Die bereits angesprochene Themenvielfalt ist glaubhaft, ebenso wie das gesetzte Zeitkolorit, welches nur ein Hintergrundrauschen darstellt, und schafft einen eigentümlichen Roman, der sowohl als Jugendbuch, wenn bereits ein wenig Wssen vorhanden ist, gelesen werden kann als auch als Novelle, die es in sich hat. Kinder sehen, begreifen viel mehr, als das die Erwachsenen denken. Auch schmerzhafte Wahrheiten können sie erfassen. Die Katastrophe aber stellt sich dann an, wenn dieser Aspekt unberücksichtigt gelassen wird, zumal wenn es ein enges Familienmitglied betrifft.

Arne Kohlweyers liebevolles Plädoyer kann nicht gelesen werden, ohne zwischendurch tief durchzuatmen, die Seiten einmal kurz wegzulegen und lohnt sich dennoch. Auch szenemäßig umgesetzt ist dies hervorragend. Hier merkt man das Fachgebiet des Autoren an. Fast ist es so als hätte man eine Mini-Serie in Buchform vor sich. So komponiert ist das großartig.

Autor:

Arne Kohlweyer ist ein deutscher Regisseur und Drehbuchautor, der zunächst Filmregie in Prag studierte, ebenso Fotografie, Literaturwissenschaft und Filmtheorie. Er führte Regie bei mehreren TV-Auftragsproduktionen und wurde 2017 als Autor und Regisseur für den Grimme-Preis nominiert. Seit 2010 ist Kohlweyer Mitglied im Verband Deutscher Drehbuchautoren und arbeitet heute als freiberuflicher Autor, dramaturgischer Berater und Associate Producer. „Ostkind“, ist sein Romandebüt.

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Donato Carrisi: Ich bin der Abgrund

Inhalt:
Es ist zehn vor fünf morgens. Der Müllmann beginnt mit seiner Arbeit. Er mag sie – er weiß, dass in dem, was die Menschen wegwerfen, die größten Geheimnisse verborgen sind. Und auch er hat eines: den gelegentlichen denkwürdigen Abend, der seine Routine bricht. Was er nicht weiß, dass bald alles auf den Kopf gestellt werden wird.

Er wird in die unsägliche Geschichte eines Mädchens mit einer lila Haarsträhne verwickelt werden. Und noch etwas weiß der Müllmann nicht – da draußen sucht jemand nach ihm. Die Fliegenjägerin hat nur eine Mission: den Schatten im Herzen des Abgrunds zur Strecke bringen. (Klappentext)

Rezension:
Die alltägliche Routine gibt ihm Sicherheit, ihm, der sonst nicht viele Gewissheiten hat. Am Rande der Gesellschaft lässt er den Unrat der Anderen so unauffällig verschwinden, wie auch er unsichtbar scheint. Der Müllmann weiß, im Zurückgelassenen liegen die Geheimnisse der Menschen vor ihm ausgebreitet.

Auch er selbst ist ein Geheimnis, hat eines und sucht nach dessen Lösung. Gedankenversunken macht er sich an die Arbeit, bis dieses Ritual unterbrochen wird. Ein Mädchen droht zu ertrinken. Er rettet es und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die alle in seiner Umgebung, auch ihn selbst, in den Angrund reißen werden.

So viel zum Auftakt des nun vorliegenden Kriminalromans, des italienischen Schriftstellers Donato Carrisi, der inspiriert vom Fall des „Monster von Foligio“ Luigi Chiatti, erneut die finsteren Abgründe des Menschen seziert. Diesmal verlegt am geheimnisvollen Comer See, setzt die Geschichte den Protagonisten von Zeile zu Zeile so dermaßen zu, dass man sowohl mit Opfer, Ermittler und dem Täter selbst leidet, der sich von Beginn an erahnen lässt. Hier ist der Weg, die Ermittlungsarbeit das Ziel. Scham, Zweifel und nicht erfolgte Vergangenheitsbewältigung sind handlungstreibende Elemente.

Aus wechselnden Perspektive wird „Ich bin der Abgrund“ erzählt, was die Spannung hält, jedoch das eine oder andere Detail hinunterfallen lässt, welches später auch kaum mehr aufgegriffen wird. So wirkt mancher Wechsel zu abrupt, zu gewollt. Ausgeglichen wird dies jedoch dadurch, dass es Carrisi gelingt, hier mit der psychischen Verfassung der Beteiligten gekonnt zu spielen. Was macht uns zu dem, was wir sind? Welche Folgen hat dies, für uns und unsere Umgebung? Anfangs führt dies zu etwas chaotischen Sprüngen, die sich jedoch nach und nach zu einem klaren Gesamtbild fügen und einem beim Lesen komplett in diesen Kriminalfall eintauchen lassen. Zuletzt gelingt dem Autoren dann doch, keinen der Handlungsstränge aus den Augen zu verlieren. Hier hat, zumindest aus der Erinnerung heraus, Donato Carissi sich gegenüber „Enigmas Schweigen“ verbessern können.

Positiv ist hier hervorzuheben, im Gegensatz zu den Kriminalromanen aus dem englischsprachigen Raum herrschen hier nicht nur abgehakte oder sehr kurze Sätze vor. Sprachlich schafft der Autor hier eine unheilvolle Atmosphäre, der man sich nicht entziehen mag, auch wenn es durchaus Längen gibt, die ein wenig Durchhaltevermögen beim Lesenden erfordern.‘

Was der See nimmt, gibt er nicht so leicht wieder her. In ihm sind viele Geschichten verborgen. Diese immerhin, kann man durchaus lesen.

Autor:

Donato Carrisi wurde 1973 geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Zunächst studierte er Rechtswissenschaften in Rom, spezialisierte sich dabei auf Kriminologie und Verhaltensforschung und beschäftigte sich dabei mit Serienmördern, was ihn später zu seinem ersten Thriller inspirierte. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Anwalt, wandte sich jedoch der Schriftstellerei zu und schrieb diverse Drehbücher für Film und Fernsehen.

Sein erster Thriller wurde 2010 ins Deutsche übersetzt, ein Jahr zuvor wurde Carrisis Debütroman mit dem Premio Bancarella ausgezeichnet. Der Autor lebt frei arbeitend in Rom, schreibt zudem Kolumnen für den Corriere della Sera.

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Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Inhalt:

Wie fühlt sich ein junger, lebenshungriger Mann in Belarus? Eine hochaktuelle Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit. Eigentlich sollte Fransisk Cello üben fürs Konservatorium, doch lieber genießt er das Leben in Minsk. Auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt er schwer und fällt ins Koma. Alle, seine Eltern, seine Freundin, die Ärzte, geben ihn auf. Nur seine Großmutter ist überzeugt, dass er eines Tages wieder die Augen öffnen wird. Und nach einem Jahrzehnt geschieht das auch. Aber Zisk erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint. (Klappentext)

Rezension:

Immer mehr Menschen drängen Richtung U-Bahn-Schacht, als ein Unwetter über sie hereinbricht und schieben die anderen vor sich her. Schutz suchen sie. Immer enger wird es im Tunnel, immer weniger Luft bekommen jene, die sich schon im Inneren befinden. Noch, als der Schacht voll ist, bewegen sich die Massen, die ersten werden niedergetrampelt, förmlich zerquetscht. Am Ende des Tages wird es unzählige Verletzte geben und zu viele Tote. Auch der jugendliche Cello-Schüler Franzisk ist unter den Opfern und wird darauf hin zehn Jahre lang im Koma liegen. Als er wieder erwacht, ist die Welt eine andere und doch stehengeblieben.

Leise kommen die Romane von Filipenko daher, um die Lesenden dann in einem Strudel von Gefühlen zu werfen, dem man sich kaum entziehen kann. Dies ist so, auch im zweiten Roman aus der Feder des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko, der es auch hier versteht, seine Leserschaft mitzureißen. Er erzählt von Belarus damals und heute, von Trostlosigkeit und Tristesse, von der Hoffnungslosig- und Müdigkeit der Menschen und dem Glauben daran, was wäre, wenn doch noch das Unmögliche geschieht.

„… Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich bin, aber Sie sind schon ein wenig mühsam, das ist, verdammt nochmal das Leben. Ihr Enkel ist tot! Tot, verstehen Sie? Finden Sie sich damit ab. Er ist tot. Wenn Ihnen dieses Wort nicht in den Kopf hineingeht, dann vielleicht >krepiert<. Es ist aus mit ihm. Er ist gestorben. Das Gehirn ihres Enkels wird nie wieder funktionieren, nie, hören Sie mich?“ „Wissen Sie was, Herr Doktor? Lecken Sie mich am Arsch!“

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Dabei ist der Hauptteil des Romans sehr düster gehalten. Nur ganz wenige positiv besetzte Protagonisten begegnen hier vielen Unsympathen, denen man im realen Leben lieber ausweichen sollte. Wer in die Geschichte um Franzisk eingesogen wird, muss das über sehr weite Strecken aushalten können, wird immer nur kurz mit wenigen Funken Hoffnung für die Figuren entlohnt. Filipenko, der auf Russisch im Nachbarland über die Stadt seiner Kindheit schreibt, greift hier die brodelnde Stimmung seiner Heimat auf, beschreibt diese aus der Sicht des Ausgewanderten, des Entfernten und doch ganz nahen Beobachters.

Bevor er seine Leserschaft ins kalte Wasser einer Stadt wirft, deren Obere der dort lebenden Bevölkerung längst das Herz herausgerissen haben, stimmt er seine Leser im Vorwort darauf ein. Die Übersetzerin Ruth Altenhofer ordnet, sortiert und erklärt im Nachwort, wie viel Sasha Filipenko eigentlich an Themen gelungen ist, auch zwischen den Zeilen zu verarbeiten, egal ob dies geschichtliche und politische Ereignisse in Belarus betrifft oder die jenigen, die grausame Paten standen, für die Geschehnisse des Romans.

Die Angst floss aus seinem Körper ins Haus. Die Angst war in seiner Wohnung und in der Wohnung gegenüber, hier, überall, in der ganzen Stadt.

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Der Autor zeigt einem lebenshungrigen Protagonisten, der aus dem Alltag herausgerissen und umgeworfen wurde, aber auch, dass es sich lohnt, für sich selbst zu kämpfen, übertragen, dass vielleicht auch der Kampf der jungen Menschen in Belarus für eine Zukunft ihres Landes, für Freiheit und Demokratie, eines Tages Früchte tragen wird. Gäbe es das Nachwort nicht, müsste man vieles davon zwischen den Zeilen lesen, dort wird es denen, die das nicht können, erklärt.

Die Grundstimmung der Erzählung macht das fortlaufend geschriebene Werk nicht gerade zu einer einfachen Lektüre, zumal diese einem nachdenklich und bedrückt zurücklassen wird. Filipenko beeindruckt und legt im Gegensatz zu seinem Debüt, welches vergleichsweise leise daherkam, noch einmal eine Schippe drauf. Großartig ist das, gleichsam ein Cellospiel in Worten.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. Petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator.

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Hannes Stein: Der Weltreporter

Inhalt:

Ein nachgebautes München im Dschungel, ein Gespräch mit einem Yeti auf dem Mount Everest und ein Eingang zur Ewigkeit, an dem buddha, Christus und Mohammed Karten spielen. (Klapppentext)

Rezension:

Kurzgeschichten haben bei mir einen schweren Stand. Das liegt an den Gegebenheiten des Genres, welches kaum genug Raum lässt, damit Szenarien sich entfalten, Protagonisten sich vielschichtig entwickeln können. Zudem fehlt bei Sammlungen oft genug der rote Faden, der alle Erzählungen zusammenhält. So geraten einzelne, auch gelungene Geschichten in Vergessenheiten. „Short Stories“ sind daher zumeist Schall, Rauch und weiter nichts.

Und dann gibt es Hannes Stein. Der in New York lebende Korrespondent einer großen deutschen Zeitung legt nach „Nach uns die Pinguine“, eine zweite Sammlung kurioser und zu Teilen sich ins Absurde steigernde Sammlung von Kurzgeschichten vor, die die Leserschaft laut auflachen, dann wieder nachdenklich werden lässt.

Anders als beim „Vorgängerband“ gelingt hier dem Autoren es besser, einen roten Faden zu halten, die Verknüpfung zwischen den einzelnen Geschichten konstanter wirken zu lassen, andererseits stechen einzelne Ideen wirklich hervor. Ein Indianerstamm, der in weiter Zukunft den bis dahin immer noch schlechtesten US-Präsidenten als ihrem Messias verehrt, wir alle wissen, wer da gemeint ist, ein Schweizer Pendant in Afghanistan oder ein sozialistisches Utopia mitten in Sibirien. Das ist doch genial.

Natürlich bleiben auch hier einzelne Geschichten farblos, was zuweilen an der Schreibweise liegen mag. Punktuell wird hier augenzwinkender Humor mit krachender Gesellschaftskritik vermischt, ein moderner Münchhausen als Protagonist, aktuelle Ereignisse ohnehin auf’s Korn genommen. Im übertragenenen Sinne trifft sogar einen der Arbeitgeber des Autoren. Wozu gehört wohl die Zeitung „Welt“?! Kurzweilig liest sich das. fast muss man sich zwingen, das eine oder andere Mal inne zu halten, alleine schon, um die Geschichten genüsslich mit den realen Vorlagen abgleichen zu können.

Die Hauptprotagonisten, deren Geschichte die erzählten „Short Stories“ verbinden, bleiben jedoch, abgesehen von zumindest einem Teil, verhältnismäßig blass. Alleine die beiden sind einen eigenen Roman wert. Schon der Name „Bodo von Unruh“ ist großartig, der aktuelle Hintergrund, der beim Schreiben in seiner ganzen Wirken noch gar nicht so klar ersichtlich war, wie heute, tut sein Übriges. Einige der erzählten Kurzgeschichten wünscht man sich tatsächlich mehr Raum, sich zu entfalten, während andere schnell aus dem Gedächtnis fallen werden. Der Schreibstil wirkt zuweilen fahrig. Dennoch oder gerade, weil es Hannes Stein hier noch besser gelungen ist als bei seiner vorherigen Kurzgeschichtensammlung ein kurioses Gesamtpaket zu schnüren und eine Steigerung zu sehen ist, ist das Lesen nicht falsch. Nachdem Gesetz der Serie und Steigerungsfähigkeiten, müsste das nächste Buch dann im Vier-Sterne-Bereich anzusiedeln sein.

Autor:

Hannes Stein wurde 1965 in München geboren und ist ein Journalist und Schriftsteller. Aufgewachsen in Salzburg, begann er 1984 in Hamburg Amerikanistik, Anglistik und Philosophie zu studieren und lebte 1989 ein Jahr als Deutschlehrer in Schottland. Später arbeitete er für die FAZ, den Spiegel und der Zürcher Weltwoche, sowie den Merkur. Von 1997 an, lebte er in Jerusalem und schrieb dort seine erstes Buch, war dann als Literaturkorrespontdent und Redakteur für verschiedene zeitungen tätig.Seit 2012 lebt er in den USA. kurzzeitig ließ er sich als Republikaner registrieren, wechselte dann ins Lager der Demokraten. „Nach uns die Pinguine“, ist sein neuntes Buch.

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Volker Reinhardt: Die Macht der Seuche

Inhalt:

Die Große Pest der Jahre um 1348 war eines der einschneidendsten Ereignisse der europäischen Geschichte. Der Historiker Volker Reinhardt rekonstruiert den Verlauf der Epidemie von den Anfängen in Asien bis zu ihrem vorläufigen Erlöschen in Europa, beleuchtet die unterschiedlichen Verhältnisse in ausgewählten Städten und fragt, wie die Überlebenden politisch und wirtschaftlich, religiös und künstlerisch das große Sterben bewältigten.

Sein spannend geschriebenes Panorama führt eindringlich vor Augen, was wir dem medizinischen Fortschriftt verdanken – und wie verblüffend ähnlich wir heute trotzdem auf eine Pandemie reagieren. (Klappentext)

Rezension:

Den Umgang mit heute verlaufenden Pandemien betrachtend, lohnt sich mitunter ein Blick zurück in die Geschichte und eine vergleichende Betrachtung von Ereignissen mit ähnlich einschneidender Bedeutung. Für eine Fokussierung etwa, nur auf Corona ist es noch zu früh.

Allenfalls in den nächsten Jahren wird man das gesamte Ausmaß überblicken können, doch wie gingen unsere Vorfahren mit global sich verbreitenden Viren und ihren Folgen um, welche Schlüsse und Maßnahmen zogen sie, den damaligen Wissestand und medizinischen Kenntnisse natürlich berücksichtigt, daraus?

Welche Auswirkungen hatte etwa die um sich greifende Pest im sozialen und gesellschaftlichen, poltischen Gefüge, während diese um sich griff und vor allem, welche Nachwirkungen waren zu verzeichnen. Der Historiker Volker Reinhardt begab sich auf Spurensuche.

Anhand zahlreichen Kartenmaterials, welches der historischen Betrachtung voransteht, erläutert er die einzelnen Phasen der Pest, ihre Verbreitung im damaligen Europa und ihre Auswirkungen auf die einzelnen Regionen. bemüht, um vergleichende und vielschichtige Betrachtung, fokussiert der Autor sich dabei nicht auf einzelne Regionen, wenngleich etwa Italien und Frankreich einen großflächigen Anteil an seiner Betrachtung ausmachen.

Warum dies so ist, erläutert Reinhardt ebenso, wie er auch immer wieder anhand der Quellenlage verdeutlicht, wo beträchtliche Lücken eine ausführliche Auswertung beinahe unmöglich bzw. schwierig machen.

Detailliert geht er zunächst auf die Seuche als solches ein, und erläutert dann, was diese mit den damaligen Menschen machte und welche Auswirkungen in den Jahren danach Folge waren. Einzelne Abschnitte der Betrachtung lohnen einem Vergleich zur heutigen Situation. Schon damals erkannte etwa die obere Führung von Mailand die Bedeutung der Isolation. Auch die Quarantäne, wie wir sie heute kennen, nahm in der damaligen Zeit ihren Anfang. Reinhardt geht jedoch auch auf die Unterschiede ein, erläutert, weshalb die Pest wo welche Auswirkungen hatte, wie viele Menschen nach Quellenlage tatsächlich betroffen waren und dass sich auch damals schon die Hoffnungen nach einer besseren, anderen Gesellschaft nach der Seuche schnell zerschlugen.

Das alles ist in kompakter Form keine ausschweifende, jedoch leider um so mehr trockene Literatur, die zwar versucht anhand von Personengeschichte Interesse zu wecken, dies jedoch nicht vermag. Tatsächlich ist diese Sammlung an Wissen eine schnöde Aneinanderreihung von Fakten, die trocken daherkommt. Es wirkt in etwa so, als würde man heutige Nachrichten mit einem tiefen Seufzer kommentieren. mit zunehmender Seitenzahl muss man sich förmlich zwingen, die Fakten aufzunehmen und zu behalten. Da nützt dann auch eine sehr intensiv bewältigte Quellenlage und gute Recherchearbeit wenig.

Schade, aus diesem Stoff Geschichte hätte man viel mehr herausholen können. Genug Interessenten gäbe es bestimmt.

Autor:

Volker Reinhardt wurde 1954 in Rendsburg geboren und ist ein deutscher Historiker. Seit 1992 lehrt er als Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg. Zunächst jedoch studierte er Geschichte und Romanische Philologie in Kiel, Freiburg im Breisgau und in Roman, danach absolvierte er seine Staatsexamen in Geschichte 1975, und Romanistik 1976.

Nach einem Forschungsaufenthalt in Rom promovierte er über die Finanzen des Kardinals Borghese, war 1985-1991 Hochschulassistent in Freiburg im Breisgau, habilitierte dort 1989.

Als Hochschuldozent lehrt er an der Universität Freiburg in der Schweiz, ist zudem Vertrauensdozent der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er beschäftigte sich mehrfach mit der Geschichte der italienischen Renaissance, u.a. mit der Familie Medici, Borgia und verfasste eine Biografie Leonardo da Vincis. Reinhardt ist Mitherausgeber der WBG-Reihe „Geschichte kompakt“.

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Joe Biden: Versprich es mir

Inhalt:

Im November 2014 versammelten sich die Bidens in Nantucket, um gemeinsam Thanksgiving zu feiern – eine Familientradition seit vierzig Jahren. Aber diesmal fühlte sich alles ganz anders an. Bei Beau, dem ältesten Sohn von Joe Biden, war zuvor ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert worden, und sein Überleben war ungewiss. «Versprich es mir», bat der kranke Sohn seinen Vater. «Versprich mir, dass du klarkommst, ganz egal, was passiert.» Joe Biden gab ihm sein Wort. Das darauffolgende Jahr stellte ihn auf eine schwere Probe. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind die Gräben tief und die Aufgaben, denen sich ein Präsident Biden gegenüber sieht, könnten schwieriger kaum sein. Klimaschutz, Rassismus, die Spaltung zwischen Bevölkerungsgruppen, marode Infrakstruktur, geerbte Konflikte auf unserem Planeten.

Es gibt viele Baustellen für einen Präsidenten Biden, doch der langjährige Politiker sah sich 2014 vor der bis dato wohl größten Herausforderung in seinem Leben, und die stellte sowohl seines als auch das der Familie auf dem Kopf.

Bei uns anlässlich der Wahl des Demokraten Joe Bidens zum US-Präsidenten übersetzt, erschien dieser sehr persönliche Blick in den Vereinigten Staaten bereits 2017. Die Ära Obama, an der der Politiker einen nicht ganz unerheblichen Anteil hatte, gerade vorbei, die Auswirkungen der Regierungszeit dessen Nachfolgers nicht absehbar, gibt diese Rückschau einen Einblick in das politische Denken, aber vor allem auch in den Menschen Joe Biden.

Vorliegend ist dies keine Biografie, aber eine Rückschau, fokussiert auf bestimmte Ereignisse, die das Wirken Bidens als Senator und Vize-Präsidenten prägten, als auch dessen Verständnis von Familie, zumal der Autor schon 2016 die Chance hätte ergreifen können, sich als Kandidat für die US-Präsidentschaft aufstellen zu lassen.

Detailliert erläutert Biden in dieser, nennen wir es Denkschrift, wie der Schicksalsschlag seines Sohnes ihn einerseits vorantrieb, andererseits determinierte, zumal den Trauerprozess nach dem Verlust eines geliebten Menschens. Inszenierung von Politik, wie sie im amerikanischen Raum üblich ist, hin oder her, hier erläutert der Mensch Biden seine Beweggründe und dies in einer sehr nachvollziehbaren Art und Weise.

Große Politik spielt natürlich eine Rolle, so gibt Biden Einblick in die Ausgestaltung der Rolle eines Vize-Präsidenten. Dies jetzt zu lesen, lässt ahnen, was ein Präsident Biden anders machen würde als sein Vorgänger. Das ist jedoch nicht das, was hängen bleibt. Nachhaltig ist die Beschreibung seiner Selbst als Familienmensch, der trotz vollen Terminkalenders, immer auch den Biden-Clan im Blick behält, zumal in schweren Zeiten.

Natürlich weiß der Autor um die Wirkung seiner Worte, weiß bestimmte Formulierungen einzusetzen und das ist gewollt. Wie denn auch nicht, bei einem Politiker.

Die Schrift richtete sich hier an ein amerikanisches Lesepublikum, nach Obama und hat sicher für dieses einige offene Fragen geklärt, denn weder die Krebserkrankung seines Sohnes waren vor dessen Tod groß in der Öffentlichkeit bekannt, zurecht, noch die darauf fußende Entscheidung, nicht zu diesem Zeitpunkt nach dem Präsidentenamt zu streben, wo doch viele ihn neben Hillary Clinton für einen aussichtsreichen Kandidaten, schon 2016, gehalten haben.

So ist „Versprich es mir“, ein behutsames Puzzleteil, Denkschrift, Erklräungsversuch und Ausblick zugleich, und für einige Amerikaner, ja, vielleicht auch ein Stück Hoffnung.

Autor:

Joeseph „Joe“ Robinette Biden Jr. wurde 1942 in Scranton, Pennsylvania geboren und ist ein US-amerikanischer Politiker, Mitglied der Demokratischen Partei. Von 1973 an gehörte er bis 2009 dem Senat an und war 2009-2017 Vize-Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. 2021 wurde er zum 46. Präsidenten der USA gewählt.

Das Buch wurde im Rahmen des Sachbuchmonats Januar 2021 gelesen. #SachJan21 #sachjan2021

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