Coming of Age

Raquel J. Palacio: Pony

Inhalt:
Silas muss hilflos mit ansehen, wie eines Nachts drei Fremde auftauchen und seinen Vater entführen. Als am nächsten Tag ein geheimnisvolles Pony vor seiner Tür auftaucht, weiß Silas, was er zu tun hat: Er begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, um seinen Pa zu finden – eine Reise, auf der er es mit unerwarteten Gefahren, gut gehüteten Familiengeheimnissen und den Geistern der Vergangenheit zu tun bekommt. (Klappentext)

Rezension:

Vieles ist besonders an Silas, der allein mit seinem erfinderischen Vater auf einer Farm lebt. Der intelligente, aber zurückhaltende Junge hat einst einen Blitzschlag überlebt. Seit dem ist das Abbild eines Baumes auf seinem Rücken zu sehen, bei dem er vor dem Gewitter Schutz suchte. Auch sein einziger Freund ist besonders.

Ein Geist, den nur Silas selbst sehen kann. Lange sind es glückliche Tage, in denen Vater und Sohn für einen Wettbewerb versuchen, das beste Foto vom Mond zu schießen, doch eines Tages wird Silas’ Vater von zwei Männern entführt. Der Junge nimmt all seinen Mut zusammen und begibt sich auf eine Reise, nach der nichts mehr so sein wird, wie zuvor.

Der neue Roman der Jugendbuchautorin Raquel J. Palacio entführt uns in eine Zeit voller Pioniergeist, jedoch auch kurz vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs und in ein großes Abenteuer. Der mystisch angehauchte Roadtrip zu Pferde erzählt von einer Suche, auf der der kleine Protagonist nur eines finden wird. Sich selbst. Dabei verwebt die Schriftstellerin Fiktion und Realität, zusammen mit ihrer Liebe zur Fotografie. In spannend angehauchten Kapiteln erzählt die Autorin diese wundersame Geschichte, die eine gänzlich andere Tonalität anschlägt, als zuvor ihr fulminanter Debütroman.

Das muss man mögen, doch sind die Ansätze, in die Geschichte hineingezogen zu werden, von Beginn an vorhanden. Der kleine Hauptprotagonist, ein phantasiebegabtes und intelligentes Kind, hält sich nicht für mutig, wächst jedoch im Verlauf der Handlung immer wieder über sich hinaus. Palacio hat offenbar ein Händchen für sich wandelnde Kindercharaktere, mit denen sie ein Identifikationspotential schafft, welches über die gesamte Lektüre trägt.

Das ist auch notwendig. Immer wieder entstehen einzelne Längen, da Übergänge teilweise holprig wirken und die Verbindung zwischen Mystik und Realität, eingewoben in dieser fiktionalen Geschichte nicht immer stimmig daherkommt. Klar definierte Antagonisten stehen im Gegensatz zu Charakteren, die dem Zwölfjährigen im Verlauf der Handlung zu Verbündeten werden. Palacio hat mit dieser Mischung eine Geschichte geschaffen, die vom Über-sich-hinaus-wachsen ebenso erzählt, wie von der Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft, was einem mit Silas, dessen Gefühlswelten umhergeworfen werden, mitfühlen lässt.

Im Gegensatz zu “Wunder” behalten wir die Perspektive des Hauptprotagonisten bei, sein für die anderen Charaktere unsichtbarer Freund Mittenwool dient sowohl als Rat- als auch Impulsgeber. Natürlich ist, abgesehen von den mystischen Elementen, die Geschichte insgesamt sehr generisch erzählt. Wendungen wirken aus der erwachsenen Sicht heraus sehr gewollt, funktionieren jedoch im jüngeren Lesealter sicher besser. Trotzdem schafft es die Autorin sowohl Protagonisten als auch Schauplätze vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Eine Pferdegeschichte für Jungen hat man zudem ja auch nicht so häufig.

Sprachlich gibt es keinerlei Besonderheiten, dafür ganz viele Anspielungen auf Literatur oder die Geschichte der Fotografie, die die Autorin selbst im Nachwort erläutert. Jedes Kapitel wird zudem mit einem Foto eingeläutet, was das Ganze abrundet. Palacio hat mit ihrem Roman nicht das Level ihres Debüts halten können. Zu schnell verflüchtigt sich diese Geschichte, auch fehlt es diesem Western für Kinder etwas zu sehr an Tempo. Für die Zielgruppe ist dies jedoch vielleicht ausreichend.

Autorin:
Raquel J. Palacio ist das Pseudonym von Raquel Jaramillo, einer amerikanischen Verlegerin und Autorin. Sie wurde 1963 geboren und arbeitete zunächst als Art-Direktorin, Illustratorin und Buchcover Design und veröffentlichte verschiedene Kinder- und Jugendbücher, seit 2006 beim New Yorker Verlag Workman, für den sie seit dem in verschiedenen Positionen tätig war. 2013 war sie Jurymitglied des Kinder- und Jugendprogramms des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Ein Jahr zuvor veröffentlichte sie ihr erstes eigenes Werk “Wunder”, welches in mehreren Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. 2014 wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

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Sabrina Imbler: So weit das Licht reicht

Inhalt:
So weit das Licht reicht ist Naturbuch, poetisches Memoir und Coming-of-Age-Geschichte in einem – ein faszinierender Tauchgang von der Oberfläche bis zum Meeresgrund. (Klappentext)

Rezension:

Nature Writing ist ein schwieriges Genre, werden doch Naturbeziehungen oft genug romantisiert, Tiere manchmal gar vermenschlicht. Wird dieses jedoch in Kombination mit etwas völlig Gegensätzlichen gebracht, dazu noch Einsprengsel anderer Bereiche der Literatur, insbesondere des Sachbuchs, ist es schwierig ein passendes Zusammenspiel zu erzeugen, da alle Lesende mit unterschiedlicher Erwartungshaltung an die Lektüre herangehen und wahrscheinlich selten diese vollkommen getroffen finden werden.

Genau dies ist der Autorin Sabrina Imbler mit dem hier vorliegenden Werk passiert, welches zwischen Nature Writing, den Versuch eines Sachbuchs und einem Selbstfindungsprozess schwangt, der einer Nabelschau gleichkommt. Der beschworene Blick auf die Kreaturen der Tiefsee, welcher der Untertitel zunächst vorgibt, kommt jedenfalls zu kurz.

Diese Abschnitte sind interessant, wie auch die Abschnitte, das Nachdenken der Autorin über sich selbst, sich faszinierend lesen, doch hätte es hier bereits der Qualität der Lektüre gut getan, wenn man aus einem tatsächlich zwei Bücher gemacht hätte.

So kommen an der einen Stelle wirklich spannende Ausführungen zu Meereslebewesen viel zu kurz, an anderer die zum Thema Gender, durchaus gespickt mit interessanten psychologischen Ausführungen, am Beispiel Imblers selbst, welche ich einmal positiv hervorheben möchte. Zusammengestellt jedoch wirken Übergänge nicht so, wie sie es könnten, hat man zwei unterschiedliche Werke, die nichts Halbes und nichts Ganzes ergeben.

Ein anderer Kritikpunkt ist da nur noch augenrollend zur Kenntnis zu nehmen, den die Autorin als Wissenschaftsjournalistin eigentlich aus sich heraus beherzigen müsste. Man vermenschlicht keine wilden Tiere. Spätestens damit ist für mich die gesamte Lektüre gefallen.

Die kompakte Form der Ausführungen bringt es mit sich, dass dort, wo Ausführungen wünschenswert wären, diese zu kurz kommen, anderswo derer zu viele sind, so dass man ein permanentes Ungleichgewicht vor Augen hat. Auf Dauer ist dies sehr anstrengend, da man geneigt ist, zu den für sich selbst interessanteren Stellen zu springen. Das kann man häufig tun, da Abschnitte gut übersichtlich gehalten werden, was man jedoch eher der Formatierung des Verlags anrechnen dürfte. Positiv erwähnenswert bleiben noch die liebevollen Illustrationen von Simon Ban zu Beginn jedes Kapitels.

Möchte ich Nature Writing, Coming of Age, populärwissenschaftliches oder Gedanken zum Ich und zum Gender lesen, kann ich das hier alles bekommen, jedoch hätte hier eine eindeutige Entscheidung, gleich wofür, der Lektüre gut getan.

Autorin:

Sabrina Imbler ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin. Sie lebt in Brooklyn und veröffentlicht regelmäßig Essays und Reportagen in verschiedenen Zeitungen und Magazinen. Ihr Debüt “So weit das Licht reicht” wurde zu den zehn besten Nonfiction-Büchern des Jahres 2022 gewählt.

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Christian Linker: Boy from Mars

Inhalt:

Im Jahr 2099 lebt der dreizehnjährige Jonto mit seinem Großvater auf dem Mars. Als Opa Ben stirbt, muss Jonto sich auf den Weg zur Erde machen, zu seiner Mutter, die er seit zwölf Jahren nicht gesehen hat. Im Gepäck hat er das Tagebuch seines Opas voll rätselhafter Andeutungen auf eine spektakuläre Erfindung. Angeblich soll es eine Superwaffe zum Schutz des Klimas sein. Neugierig begeben Jonto und seine neuen Freunde sich auf die Suche danach. Doch sie sind nicht die Einzigen, die Interesse am Supergenerator haben … (Klappentext)

Rezension:

Das vorliegende Jugendbuch von des deutschen Autoren Christian Linker entführt uns in eine nicht allzu ferne Zukunft. Im Jahr 2099 leben Menschen nicht nur auf der Erde, auch der rote Planet ist besiedelt. In Kolonien auf den Mars leben die Pioniere und bauen dort eine neue Gesellschaft auf, nachdem die Zurückgebliebenen dabei sind, die Folgen der gerade erst beendeten Klimakriege zu überwinden. Jonto kennt kein anderes Leben als unter den Kuppeln der Marskolonien. Der Dreizehnjährige liebt seinen Großvater, mit dem er Wanderungen auf den Kratern des Planeten unternimmt und den populären Sport Gravity Dunk.

Doch als sein Opa stirbt, muss er zurück, zu seiner Mutter, die er, wie auch den Planeten Erde, nur von Bildern kennt, ohne zu ahnen, dass das größte Abenteuer ihn noch bevorsteht. Eines, welches das Leben aller verändern könnte.

In einer Mischung aus moderner Zukunftsvision und Abenteuerroman folgen wir den jungen Protagonisten Jonto auf seiner Reise zur Erde, die dort in ein rasantes Abenteuer mündet. Der Dreizehnjährige hadert dabei zunächst mit sich selbst und den Gegebenheiten, denen er zunächst nichts entgegensetzen kann und gibt damit eine perfekte Identifikationsfigur ab, wie auch die Erzählung selbst aus eine Aneinanderreihung vieler Punkte besteht, die Jugendliche beschäftigen. Der Schriftsteller Christian Linker hat damit eine interessante Mischung geschaffen, sowohl die Konfrontation mit der harten Realität der Welt der Erwachsenen darzustellen, als auch die Ängste und Befürchtungen der jungen Generation in Bezug auf Klimaveränderungen und dem Leben in der Zukunft aufzunehmen.

Ohne unlogische Brüche funktioniert die Erzählung, derer wir in kompakten Kapiteln folgen, die Vision eines Autoren, der ein Szenario erschaffen hat, dem man gerne folgen möchte, zudem immer auch ein Hauch optimistischen Untertons mitschwingt. Dazu tragen die Figuren bei, deren Weg und Handlung nachvollziehbar gestaltet ist, welche schnell Konturen bekommen. Hier ist klar, wer Sympathieträger ist. Positiv ist aber zu erwähnen, dass auch die Gründe für das Handeln der Antagonisten glaubwürdig dargestellt werden. Das erzeugt einen Sog, den man sich nicht entziehen kann. Die Ausgestaltung dieser Welt, sowohl des roten als auch des blauen Planeten, wirkt mit jeder einzelnen Zeile.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des Hauptprotagonisten, der erkennen muss, dass die Zukunft der Menschen in der Vergangenheit zu suchen ist und dabei mehr als einmal vor schwierigen Entscheidungen gestellt wird, die zu groß wirken für einen Dreizehnjährigen, selbst wenn einem eine Digi-Linse zum Durchblick verhilft. Linker hat seine Figur mit Ecken, Kanten, der rastlosigkeit und gelegentlichen Stimmungsschwankungen versehen, auch das macht Jonto zu einem glaubwürdigen Protagonisten.

Der Roman wirkt in sich schlüssig, die Welt greifbar. Linkers Stärken liegen nicht nur in der Ausgestaltung seiner Figuren, auch Landschaftsbeschreibungen erzielen ihre Wirkung. Actionreiche Szenen fühlen sich beim Lesen an, einstweilen wie im Film, trotzdem gibt es in “Boy from Mars”, auch sehr ruhige, einfühlsame Momente, die die Erzählung komplettieren.

Christian Linker hat mit diesen Roman für Jugendliche einen spannenden Einstieg in die Welt der Dystopien geschaffen, zugleich Ankerpunkte zu so vielen anderen Genres und einen sympathischen Protagonisten, dessen Weg mit seinen Freunden in diesem wirklich gut ausgestalteten Stand Alone man gerne verfolgt. Und vielleicht muss sich eines Tages wirklich ein Junge auf den Weg vom Mars zur Erde machen und dabei alles verändern.

Autor:

Christian Linker wurde 1975 in Leverkusen geboren und ist ein deutscher Jugendbuchautor. Zunächst studierte er Theologie in Bonn und arbeitete freiberuflich als PR-Redakteur und als Bildungsreferent in der außerschulischen Jugendbildung. Einige Jahre war er in Köln als hauptamtlicher Diözesanvorsitzender des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend tätig. Sein erstes Buch erschien 1999. Sein Roman “RaumZeit” wurde 2003 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Die Bücher wurden teilweise für das Theater adaptiert. Es folgte 2018 der Jugendbuchpreis Goldene Leslie.

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Alexander Häusser: Karnstedt verschwindet

Inhalt:

Wer in der Schule zu sehr aus der Masse heraussticht, wird schnell zum Außenseiter. Doch für Simon und Karnstedt, die beide gar keine andere Wahl haben, als aufzufallen, bedeutet die Ausgrenzung der Beginn ihrer besonderen Freundschaft. Über zwanzig Jahre später steht Simon vor dem Haus seines Jugendfreundes.

Nach der Schulzeit brach jeglicher Kontakt ab, bis Simon die Nachricht von Karnstedts Verschwinden erreichte. Nun soll sich ausgerechnet Simon um dessen Nachlass kümmern. Als er das Haus betritt, findet er ein heilloses Chaos vor. Und überall dazwischen: Erinnerungen. Von ihm, dem klein gewachsenen Simon, und dem kahlen Karnstedt, der mit seinem Anderssein den Klassenkameraden Tummer und dessen Clique provozierte. Beide teilten damals ein Geheimnis, das der Grund für die rätselhaften Ereignisse zu sein scheint. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung, gleichsam wie ein Schrei und doch ganz leise. Das ist “Karnstedt verschwindet” des Schriftstellers Alexander Häusser, dessen Roman sich keinem Genre ausschließlich zuordnen mag. In einer Verbindung einer Coming-of-Age-Geschichte mit einem Kriminalroman und Psychorama erleben wir die Geschichte einer Jungenfreundschaft aus der Sicht dessen, der zurückblicken muss.

Neugierig und ängstlich zu gleich, was er entdecken mag und über diese Verbindung und damit auch über sich selbst herausfinden wird. Der eher kompakt gehaltene Text kommt auf leisen Sohlen daher, wie der Protagonist selbst für sich anhand seiner Umgebung die Vergangenheit aufdröselt, die ihn vielleicht im übertragenen Sinne in den Abgrund führen wird. Genau weiß er das zunächst nicht, auch wir bleiben zu Beginn lesend unwissend.

Drei Handlungsstränge braucht es, die zwischen den Zeitebenen und der Genre wechseln. Nachvollziehbar ist das vor allem anfangs nicht immer, doch nach und nach wird zusammengeführt und es ergibt sich ein klares Bild der überschaubaren Hauptfiguren, die der Autor hier aufeinandertreffen lässt. Welche Figur hat auf wen größeren Einfluss? Wer ist wessen Spielball? Wie die Reaktion? So wird eine Gemenglage aufgebaut, die unweigerlich zum Ausbruch führen muss.

Die Geschichte spielt im Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Rückblenden sind die stärksten Elemente der Erzählung, in denen der Ich-Erzähler immer mehr eigene Konturen gewinnt, sein Konterpart im Wechsel zwischen Faszination und Abstoßen ein sehr differenziertes Bild abgibt. Auch der Antagonist bekommt seine Ecken und Kanten. Ruhige Sätze lullen ein, um mit einem lauten Knall zu überfallen. Einige dieser Momente wirken arg gewollt platziert, doch möchte man unbedingt weiterlesen, erfahren. Ein gewisser Sog ist über Strecken nicht abzusprechen.

Der Erzähler nimmt diese Perspektive dauerhaft ein und setzt in seine Erinnerungslücken einzelne Puzzleteile gleichsam den Überbleibseln seines verschwundenen Gegenübers ein, um sein eigenes Bild zu vervollständigen. Immer wieder gibt es zwischen den Zeilen verschiedene Ebene als verbindende Elemente zwischen den Handlungssträngen. Entstehende Längen durchbrechen dann zuweilen den Lesefluss, dem an einigen Stellen mancher Sprung nicht hilft. Mit dem nächsten Satz hat der Autor jedoch wieder packen können.

Eine unterschwellige Spannung ist die ganze Zeit über zu spüren, wenn auch die Wendungen nicht immer überraschen können. Gerade zum Ende hin, funktioniert dies jedoch gut, was daran liegen mag, dass man sich spätestens ab Mitte des Romans in den Erzählstil eingefunden hat. Der in der Vergangenheit liegende Handlungsstrang wird dabei zu Ende am stärksten in Erinnerung bleiben. Punktuell hätte der Geschichte etwas mehr Detailliertheit gut getan, zudem Häusser passagenweise durchaus filmisch zu beschreiben weiß.

Die Perspektive und Position des Erzählenden wird, außerhalb der Zeitebene, von Beginn an sich nicht ändern. Das Gefühlschaos des Protagonisten tut es dagegen stetig. Simon wächst einem ans Herz, ist nachvollziehbar. Karnstedt als zweite Hauptfigur bleibt wie vom Nebelschleier umhüllt. Glaubt man ihm fassen zu können, endgleitet er einem schon wieder.

Egal, welches Buch man lesen möchte, den nicht ganz einfachen Coming-of-Age-Roman, das Psychogram oder den Kriminalroman, mit “Karnstedt verschwindet”, wird man all das bekommen. Ist nur die Frage, was davon am besten funktioniert. Für mich hat sich das entschieden.

Autor:

Alexander Häusser wurde 1960 in Reutlingen geboren und studierte zunächst Germanistik, Philosophie und Geschichte. Für sein Werk, welches mehrere Romane umfasst, erhielt er Auszeichnungen, wie den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg. Häusser wirkt zudem im Rundfunk mit. Sein Roman “Zeppelin!” wurde für das Kino verfilmt.

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Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Inhalt:

Ein Sommer in der Normandie, in den 1980er Jahren. Der zehnjährige Erzähler verbringt die Ferien mit seiner Großmutter am Meer. Er ist noch in diesem Zustand der Kindheit, wo man alles intensiv erlebt, wo man noch nicht genau weiß, wer man ist oder wo der eigene Körper beginnt, wo eine Ameiseninvasion der Erklärung eines Kriegs gleichkommt, den man mit all seinen Kräften wird führen müssen. Eines Tages trifft er einen anderen Jungen am Strand, der ihm die Freundschaft anbietet, eine Freundschaft, die auf einem Ungleichgewicht beruht. Denn Baptiste ist ein »richtiger Junge«, hat eine »richtige Familie« – für den Erzähler der Inbegriff eines Glücks, das er dort erstmals findet und das er in jedem Moment wieder zu verlieren fürchtet.

Seine geliebte Großmutter, die den Holocaust überlebte und deren Schtetl-Akzent ihn vor den anderen Familien am Strand mit Scham erfüllt, und seine verhasste »monströse« Tante bedeuten für ihn zugleich widerwillige Geborgenheit und die beständige Gegenwart einer Vergangenheit, deren Trauma auf seinen Schultern liegt.

In so gefühlvoller wie genauer Sprache erzählt Hugo Lindenberg diesen Roman in einer Reihe von Szenen des Sommers, der Stille, des Lichts, der Begegnungen, in einer Stimmung sich dem Ende zuneigender Sommerferien und doch durchzogen von einer Unheimlichkeit und Bewegungslosigkeit, die unter die Haut gehen. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Es ist ein unbestimmtes, nicht zu erklärendes und doch alles beschreibende Gefühl im Inneren, welches der Junge besitzt, welches ihm besitzt und mit ihm unzähliger Nachfahren von jenen, die dem Schrecken nicht entkamen. Warum lebe ich? Warum haben es andere Linien meiner Familie nicht geschafft, konnten den Unheil nicht entkommen?

In der Psychologie spricht man da vom transgenerationalem Trauma, szenischem Erinnern, welches selbst jene erfasst, die die unmittelbaren Schläge aufgrund schon des Abstands zur Historie nicht erlebt haben können. Eine von vielen Problemstellungen, mit denen die Nachfahren Holocaust-Überlebender zu kämpfen haben. Was schon in der Theorie schwierig ist, zu erfassen, hat der französische Autor Hugo Lindenberg in eine Erzählung zu gießen versucht. Dabei herausgekommen ist ein erdrückender und zugleich berührender Debütroman.

Dieser wird aus der Sicht des Protagonisten erzählt, einen namenlosen Jungen, der seine Ferien am Strand verbringt, bei seiner Großmutter und Tante, jedoch zumeist sich selbst überlassen. Dort beobachtet er die Menschen, die ihn umgeben. Familien faszinieren ihn und er stellt sich vor, ein Teil von ihnen zu sein. Vollständige Familien sind für ihn, der das nicht hat, Inbegriff des Glücks und so denkt er sich in die Leben anderer hinein, bleibt dennoch unsichtbar.

Seit meiner Ankunft, eigentlich serit immer schon habe ich mit meiner Großmutter mit niemandem geredet.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Ein Junge, der keine Stimme findet, wie soll er auch, wird kaum auch von anderen bemerkt. Bis auf einem, der das Spiel unterbricht. Zusammen töten beide Quallen am Strand. Der Junge aber beginnt einen Sommer lang zu leben.

Nichts ist mir fremder als Jungen in meinem Alter.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Sätze, die sich in die Netzhaut einbrennen, sind es, die der Autor gekonnt setzt, um seine Geschichte und die unzähliger Menschen zu erzählen. Selten wurde Leere so schön beschrieben, doch erreichen die Worte hier auch die Lesenden. Können sie auch nicht anders, doch diese Traurigkeit, Melancholie, die im nächsten Moment in die Unsicherheit des Jungen zu kippen droht, muss man aushalten können. Da die Gefühlswelt für diesen kaum zu beschreiben ist, verlegt er sich aufs Sachliche und versucht doch eine Normalität zu erreichen, die ihm nicht gegeben ist.

Ich muss mich konzentrieren, damit man mir meine Aufregung nicht anmerkt, damit ich wie ein kleiner Junge wirke, der Zärtlichkeit gewohnt ist.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Der kleine Protagonist gewinnt so, mit zunehmender Seitenzahl an Ecken und Kanten, derer viele. Die sich aufbauende Jungenfreundschaft symbolisiert das Durchbrechen. Es scheint, als wäre gefühlsmäßig zum ersten Mal für den Jungen etwas greifbar. Die Angst, das zu verlieren, schimmert Zeile für Zeile durch. Leuchtet hell.

Beschrieben wird ein unbestimmter Zeitraum von wenigen Tagen bis ein paar Wochen. Genauer wird es nicht, ist auch nicht wichtig, in der Kindheit verläuft die Wahrnehmung von Zeit ohnehin anders. Dieses Gefühl wiederzugeben ist Hugo Lindenberg gelungen, wie auch der Aufbau der anderen Figuren, von denen nur zwei, die der Großmutter und der Tante, Konturen bekommen. Sie umkreisen den Jungen, sind nah und doch so fern. Baptiste ist hingegen das, was der Junge sich wünscht, der seinerseits die Ferienbekanntschaft ebenso faszinierend findet.

Der Gegensatz ist folglich keine Gegenüberstellung aus Gut und Böse, eher unterschiedlicher Vorstellung von Leben. Was wäre, wenn? Was ist mit mir? Was mit meiner Familie? Große Fragen, versammelt in diesem sehr kompakt gehaltenen Roman. Kein Wort ist hier zu viel.

Der kleine Hauptprotagonist lässt uns seinen Gedanken folgen. Gesprochene Sätze fallen auf, da sie so rar gesät sind. Wie Nadelstiche oder Sandkörner auf der Haut fühlt sich das an. Nach und nach enthüllt sich die Traurigkeit der Hauptfigur, die nur in Rollen lebt, die sie zu spielen zu müssen meint. Was aber genau macht das mit einem? Diese Frage seziert der Autor und lässt sie den Jungen ergründen. Oberflächlich passiert nicht viel. Aus Kindersicht um so mehr. Zu viel für die schmalen Schultern der Hauptfigur?

Normalerweise fragten die anderen, wo ist denn deine Mutter, und ich wusste, dass sie es wussten, abver sie wollten den Tod hören, wegen dem Nervenkitzel. […] Sie blieben, solange der Nervenkitzel anhielt, dann wandten sie sich leicht angeekelt ab.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Nur in Bruchstücken erfährt man Hintergründe, wie auch der Junge nur lose Fetzen Erinnerungsstücke festhält. Der Vater abwesend, keine Mutter mehr vorhanden und die ihn direkt umgebenden Erwachsenen haben ja auch keine Worte. Für ihn, das Kind, ohnehin nicht. Der Protagonist ahnt nur, weshalb er leidet.

Ich kenne meine Rolle genau. Zehn Jahre alt, hasenzähne, große schwarze Locken und lange Wimpern, Sommersprossen auf der Nase, ziemlich schüchtern, brave Kleider, einen kleinen Strauß Magnolien in der Hand. Ich bin das Leben.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

In beinahe poetischer, dann wieder ins Nüchterne wechselnde Sprache hat Hugo Lindenberg diese Erzählung, gleichsam eine Novelle aufgebaut, die einem auch nach Umblättern der letzten Seite kaum loslassen wird. Zunächst wird man hineingesogen in die Geschichte, spürt den Sand unter die Zehen knirschen, den Lärm der Umgebung, der ausgeblendet wird, wenn sich der Protagonist fokussiert. Mit dieser Dichte die hintergründige Thematik veranschaulicht zu bekommen, ist selten in dieser Form zu lesen.

Dieses Bild von mir würde ich nicht mehr loswerden, das wusste ich. Und tatsächlich bin ich es bis heute nicht losgeworden.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Sowohl sprachlich, damit ist nicht gemeint, dass man praktisch jeden zweiten Satz sich anstreichen und herausschreiben möchte, als auch erzählerisch zieht einem die Lektüre hinein und wirft die Lesenden dann um. Heftiger kann eine ruhige Erzählung kaum wirken. Nur im ersten Moment meint man eine Coming of Age Geschichte vor sich zu haben, doch entdeckt darunter noch so viel mehr. Sachbücher gibt es wohl einige, die sich mit dem Übertragen von Traumata in die nachfolgenden Generationen beschäftigen. In Romanform ist zumindest mir dies so noch nicht untergekommen.

Von der sich dadurch umgebenden Heftigkeit sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen. Es ist ja gerade dadurch auch eine wunderbare Lektüre. Hier ist Hugo Lindenberg ein tolles Debüt gelungen, auf Grundlage dessen, was sich in vielen Familiengeschichten wieder findet. Ungesagtem eine Stimme zu geben, hat hier wunderbar funktioniert.

Eine absolute Lese-Empfehlung.

Autor:
Hugo Lindenberg wurde 1978 gebopren und ist ein französischer Journalist. “Eines Tages wird es leer sein”, iost sein erster Roman, der bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Der Autor lebt in Paris.

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Barbara Constantine: Kleiner Tom, was nun?

Inhalt:

Tom ist elf Jahre alt. Mit seiner viel zu jungen Mutter Joss wohnt er in einem alten Wohnwagen, und weil Joss abends gerne ausgeht, sich verliebt und mit Freunden wegfährt, ist Tom oft allein. Sein Essen klaut er in den Gemüsegärten der Nachbarschaft. Hier rupft er eine Karotte aus der Erde, dort eine Kartoffel. Aber er ist sehr vorsichtig.

Sorgfältig beseitigt er seine Spuren, steckt die Pflanzen zurück in die Erde und buddelt die Löcher wieder zu. Eines Abends, als er einen neuen Garten betritt, um etwas zu essen zu suchen, stolpert er beinahe über die dreiundneunzigjährige Madeleine, die zwischen ihren Kohlköpfen liegt und weint. Tom nimmt sich ihrer an, denn ehrlich gesagt: Zusammen ist man weniger allein … (Klappentext)

Rezension:

Wie schön sind doch Erzählungen, in denen nichts aber eigentlich ganz viel passiert. Als solche entpuppt sich der Roman der französischen Autorin Barbara Constanine, den man nichtsahnend aufschlägt, um sofort in eine liebevolle Geschichte hinein zu geraten.

Lesend folgt man den Fußspuren des kleinen Hauptprotagonisten, der eine viel zu große Last auf seinen schmalen Schultern tragen muss. Tom streift durch die Gärten der Nachbarschaft, um die für seine Mutter und sich ohnehin unregelmäßigen und kargen Mahlzeiten zu ergänzen. Ohne es zu wissen, sind seine Erkundungsgänge schon längst entdeckt. Nicht dies, auch nicht gefundene Möhren oder die Katze der Nachbarn lassen ihn eines Abends aufschrecken. Eine ältere Frau liegt hilflos in ihrem Garten. Tom hilft ihr auf und setzt damit unwissentlich Veränderungen in Gang.

Diese Geschichte ist unter den Deckmantel einer reinen Erzählung zum Wohlfühlen mehr als es Klappentext oder Verlagsinhaltsangabe hergeben, hat es die Autorin doch geschafft auf wenigen Seiten so viel anderes umzubringen. Die Entwicklung einer Mutter-Sohn-Beziehung in vertauschten Rollen, hier ist eindeutig der Kleine der Große, ebenso wie eine anrührende Coming-of-Age-Geschichte sind hier zu finden, ein Roman über Freundschaft und Familie, Veränderungen.

Der Roman spielt in einem nicht näher benannten Zeitfenster, doch dürfte der Handlungsstrang nicht mehr als über ein paar Wochen hinausgehen. Das reicht der Autorin dennoch, um vor allem ihren Hauptprotagonisten Konturen zu geben. Andere Figuren werden im Laufe der Handlung nur soweit ausgearbeitet, wie es zur Erzählung beiträgt, doch hat man gegen Ende das wohltuende Gefühl, nichts zu vermissen. Hier ist weniger mehr, stattdessen Konzentration aufs Wesentliche. Antagonisten braucht Constantine nicht, um zu zeigen, was der Titel des Werks impliziert, welches Susanne van Volxem liebevoll ins Deutsche übersetzt hat.

“Kleiner Tom, was nun?”, wird innerhalb der Kapitel per Perspektivwechsel zwischen den Figuren erzählt. Misslungene Sprünge oder störende Wechsel fehlen, auch das Erzähltempo bleibt nahezu die gesamte Geschichte über unverändert. Vielleicht kann man, außer die Gefahr in Kauf zu nehmen, ins Kitschige zu geraten, was die Autorin umgangen hat, bei dieser Art von Erzählung auch nicht viel falsch machen. Man bleibt dabei, nicht weil es so sehr spannend wäre, was man da vor sich hat, es ist einfach wie etwas, was man konsumiert, um sich hinterher besser zu fühlen. Ohne dafür negative Seiten in Kauf nehmen zu müssen.

Sprachlich ist das alles kein großer Wurf, ein Roman für Zwischendurch ohne besonderen Anspruch. Es genügt, dass man sich in den Hauptprotagonisten hineinversetzen, die Tomaten, die er mopst, förmlich greifen kann, den Hunger spürt, aber auch das Wechselspiel zwischen den Figuren beobachtet. Mehr möchte man dann auch nicht. Vielleicht ein wenig von der Tom Tomatensoße? Das würde schon reichen.

Es ist eine einfache Geschichte für Zwischendurch, um den Kopf frei zu bekommen, aber auch sich berühren zu lassen. Die Welt durch Kinderaugen ist nicht immer einfach, aber manchmal dadurch ein wenig besser.

Autorin:

Barbara Constantine wurde 1955 geboren und ist eine französische Drehbuchautorin, Töpferin und Schriftstellerin.

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Arne Kohlweyer: Ostkind

Inhalt:

1992 am östlichen Rand Berlins: Der neunjährige Marko hat es endgültig satt, wie ein kleiner Junge behandelt zu werden und will allen beweisen, wie erwachsen er sein kann. Er schreibt eine Liste mit Dingen, die man so macht als Erwachsener: Kaffee trinken, dicke Bücher lesen, den Walfang stoppen, rauchen und Anna heiraten. Anfangs läuft bei der Umsetzung noch alles nach Plan, doch das Erwachsensein stellt Marko zusehends vor große Probleme. (Umschlagstext)

Rezension:

Zunächst erscheint alles als heile Welt, in dem vorliegenden Romandebüt des Filmemachers Arne Kohlweyer, dessen Erzählung “Ostkind” zwischen Coming of Age und Novelle pendelt. Wie jedes Jahr unternimmt die Familie des frisch neunjährigen Marko zu dessen Geburtstag einen Ausflug an den heimischen Badesee.

Mit seinem Geschenk, einem Schnorchel-Set, lässt sich der Protagonist fotografieren. Doch, die heile Welt bekommt bald Risse. 1992 steckt das ehemals geteilte Berlin noch inmitten der unmittelbaren Nachwirkungen der Wendezeit, in derer sich unzählige Biografien von einem Tag auf den anderen ändern. Markos Vater, zuvor Professor für Marxismus-Leninismus fährt nun Taxi. Der Junge registriert die Veränderungen um sich herum, ohne sie zu begreifen. Nur ernst genommen werden, möchte er und dafür so schnell wie möglich erwachsen werden.

Während er dafür eine Liste erstellt, mit Dingen, die man als Erwachsener eben so tut, brauen sich, ohne dass Marko es zunächst bemerkt, noch mehr dunkle Wolken am Himmel über die Familie zusammen. Dinge, die nicht einmal die wirklich Erwachsenen zu händeln wissen.

So viel zum Inhalt dieses zunächst sehr unscheinbaren, aber in allen Aspekten großartigen Romandebüts, welches die Lesenden auf eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle mitnimmt. Nichts ist, wie es scheint und so werden die zunächst kaum sichtbaren Risse bald unfassbar groß, zu groß für den liebevoll ausgestalteten Protagonisten, der sich nichts sehnlicher wünscht als wahr- und ernstgenommen zu werden, aber noch zu klein für die damit verbundenen Konsequenzen ist.

“Da war es wieder! Dieses ,Das verstehst du noch nicht’, das sich manchmal als ein ,Dafür bist du noch zu jung’ verkleidete. Je älter Marko wurde und je mehr er in der Schule lernte, desto häufiger schmetterten die Erwachsenen es ihm entgegen. Genau wie letztens auf seine Frage, wie denn eine Hand bitteschön treu sein könne …”

Arne Kohlweyer: Ostkind

Der behutsam ausgearbeitete Handlungsstrang deckt einen Zeitraum von gerade mal zwei Wochen ab. Trotz der sehr kompakten Art des Erzählens hat es der Autor geschafft, so viel an Themen hinein zu packen, dass es schwerfällt, die überschaubare Seitenzahl zunächst ernst zu nehmen. Das funktioniert jedoch wunderbar, können sich doch fast alle in die Hauptfigur hineinversetzen, die man einfach nur in den Arm nehmen und schützen möchte. Arne Kohlweyer hat Marko als wachen, intelligenten Jungen geschaffen, dessen Kindlichkeit feinfühlig ausgearbeitet, genauso wie die Hilflosigkeit der Erwachsenen ausgestaltet, die der Hauptfigur eine heile Welt erhalten wollen, ohne zu bemerken, dass nicht nur für sie die Situation immer mehr ins Unkontrollierbare kippt.

Die bereits angesprochene Themenvielfalt ist glaubhaft, ebenso wie das gesetzte Zeitkolorit, welches nur ein Hintergrundrauschen darstellt, und schafft einen eigentümlichen Roman, der sowohl als Jugendbuch, wenn bereits ein wenig Wssen vorhanden ist, gelesen werden kann als auch als Novelle, die es in sich hat. Kinder sehen, begreifen viel mehr, als das die Erwachsenen denken. Auch schmerzhafte Wahrheiten können sie erfassen. Die Katastrophe aber stellt sich dann an, wenn dieser Aspekt unberücksichtigt gelassen wird, zumal wenn es ein enges Familienmitglied betrifft.

Arne Kohlweyers liebevolles Plädoyer kann nicht gelesen werden, ohne zwischendurch tief durchzuatmen, die Seiten einmal kurz wegzulegen und lohnt sich dennoch. Auch szenemäßig umgesetzt ist dies hervorragend. Hier merkt man das Fachgebiet des Autoren an. Fast ist es so als hätte man eine Mini-Serie in Buchform vor sich. So komponiert ist das großartig.

Autor:

Arne Kohlweyer ist ein deutscher Regisseur und Drehbuchautor, der zunächst Filmregie in Prag studierte, ebenso Fotografie, Literaturwissenschaft und Filmtheorie. Er führte Regie bei mehreren TV-Auftragsproduktionen und wurde 2017 als Autor und Regisseur für den Grimme-Preis nominiert. Seit 2010 ist Kohlweyer Mitglied im Verband Deutscher Drehbuchautoren und arbeitet heute als freiberuflicher Autor, dramaturgischer Berater und Associate Producer. “Ostkind”, ist sein Romandebüt.

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Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau

Inhalt:

Was tut ein vierzehnjähriger Pariser Vorstadtjunge aus prekären Verhältnissen abends in der Bibliothek? Er hilft seinem Vater, der den Lebensunterhalt der Familie als Putzkraft verdient, und wischt Staub von den Büchern. Hin und wieder schlägt er eines auf, lernt neue Wörter und lacht sich kaputt.

Saphia Azzeddine erzählt leichthändig und schnell eine liebevolle Vater-Sohn-Geschichte voller Situationskomik und Galgenhumor. Ein unterhaltsamer, ironischer Bildungsroman über das bittere Leben am gesellschaftlichen Rand, der fest daran glaubt, dass nichts verloren ist, so lange es Bücher gibt. (Klappentext)

Rezension:

Gesellschaftskritik, Bildungsroman, Coming of Age, dieses Kurzstück ist irgendwie alles, soweit das möglich ist in dieser kompakten Form, die zwischen den Fingern zerrinnt, gleichsam eines Arthouse-Films, wie Fäden geschmolzenen Käses. Zunächst, das muss nichts schlechtes sein, funktioniert es unter der Feder Saphia Azzeddines’ im Großen und Ganzen gut.

Wir begleiten den Jungen Paul, von seiner Familie Polo genannt, durch die Pubertät bis hinein ins junge Erwachsenenalter. In einer Zeit, die für die meisten seiner Altersgenossen ohnehin schon anstrengend genug ist, unterstützt er seinen Vater dabei, den Lebensunterhalt für die Familie als Reinigungskraft zu verdienen. Auch in einer Bibliothek finden sich die beiden wieder. Die Welt der Wörter wird für den Jungen fortan Flucht- und Mittelpunkt, nicht zuletzt auch, um mit der realen Welt klarzukommen.

Im Laufe der Zeit entdeckt der Junge immer neue Wörter und macht sie zu seinen eigenen, vergrößert damit gleichsam seinen Horizont. Doch, hilft das, sich ein besseres, ein anderes Leben als das seines Vaters aufzubauen? Seiner Schicht zu entfliehen? Emotional an der Grenze zur Nüchternheit erleben wir Lesende die Welt aus den Augen eines Jungen, der außerhalb der beinahe zum Ritual für Vater und Sohn werdenden Ausflüge kaum aus seinem Stadtviertel herauskommt und nebenbei den ganzen Ballast von Problemen, mit denen er jonglieren muss.

Beachtung, Nichtbeachtung, Wut und Verzweiflung, Melancholie, die erste Liebe. Die Autorin packt die großen Themen, reißt sie an, lässt sie offen. Nicht alle wird der Protagonist auflösen können. Das Leben ist nicht perfekt. Ein paar kluge Gedankengänge verlieren sich zwischen den Buchstaben. Andere Handlungsstränge werden weiter verfolgt.

Nur so hat es die Autorin geschafft, fast die Novellenform zu halten, trotz des umfassend beschriebenen Zeitraums. Um Gegensätze streift die Figur, berührt sie ab und an, durchbricht sie selten. Die Konzentration auf Dreh- und Angelpunkt wird beinahe stoisch gehalten. Kürzen kann man hier kaum mehr etwas. Ein paar Seiten mehr, dazu Tempo und weniger Melancholie hätten dem Roman gut getan.

Neben der Hauptfigur gewinnt nur der Vater des Protagonisten, zwangsläufig durch die Handlung bedingt, an Kontur, alles andere verblasst vor den Grautönen der Banlieue.

Wo es Paul fehlt, mangelt es auch dem Lesenden, wenn auch nicht an Schlüssigkeit und Konsequenz. Die wird fast bis zum Ende durchgehalten. Ohne näher darauf einzugehen, das ist weder zu klischeehaft, noch raffiniert gelöst. Die leichteste aller Varianten wurde da gewählt.

Da fehlt die sprichwörtliche Sahne auf den Kuchen, der auch ohne die sonst obligatorische Kirsche auskommen muss. Das entspricht ungefähr diesem Text. Man wird satt, bleibt das auch, weil’s nicht schlecht war, aber eben Standardessen. Man spürt den Staub, von dem Polo die Bücher befreit förmlich in den eigenen Atemwegen, stirbt aber auch nicht daran. Große Überraschungen darf man hiervon nicht erwarten, zumal nur Details erzählt werden, wenn sie das Interesse der Hauptfigur auf sich ziehen. Da sich daran von Beginn an nichts ändert, merkt man schnell, wohin die Geschichte führt, oder eher, wo sie stehenbleibt.

Es verstört geradezu, dass die Autorin ihrer Hauptfigur so gar keine Ambitionen verschrieben hat, sich, die Beziehung zu dem Vater einmal ausgenommen, da herauszuarbeiten, ansonsten jedoch kann man sich die Tristesse gut vorstellen, wie auch das Gefühlschaos des Jugendlichen. Der Funke, dass der Roman einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird, ist aber schlichtweg nicht vorhanden.

Für wen ist dann dieser Durchschnitt französischer Literatur gedacht? Bitte nicht für jene, die damit noch nie in Berührung gekommen sind. Die fassen doch danach kaum mehr als ein Asterix-Heft an? Wobei dort ja auch Staub aufgewirbelt wird, wenn auch nicht über Worte.

Autorin:

Saphia Azzeddine wurde 1979 in Agadir, Marokko, geboren und ist eine französisch-marokkanische Schriftstellerin und Journalistin. Sie wuchs in Frankreich auf, arbeitete als Diamantenschleiferin und studierte anschließend Soziologie. 2008 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, zudem schrieb sie mehrere Drehbücher. Sie arbeitet zudem als Journalistin.

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Empfehlung: Christian Duda – Gar nichts von allem

Vorab: Außerhalb der ausführlich rezensierten Werke gibt es natürlich noch andere empfehlenswerte Literatur, die sicher in dem einen oder anderen Bücherschrank gehört und seine Fans sucht. Für diese gibt es die Kategorie -Empfehlungen- auf diesem Blog.

Der 11-jährigen Madi ist ein glühender Fan des Boxers Mohammed ali. Denn Ali ist stark, fair und unbesiegbar. Ganz anders als Magdis Vater. Was den arabischen Vater und die deutsche Mutter eint, ist der Wille, nicht unangenehm aufzufallen. Deshalb müssen Magdi und seine drei Geschwister besser sein als die anderen. Und wenn nicht, dann hilft Vater nach. Christian Duda erzählt von einem Jungen in der Zange zwischen Vorurteilen und Erwartungen und vom Mut, den eigenen Weg zu gehen. (Klappentext)

Hier haben wir mal eine kleine Geschichte für vielleicht Fast-nicht-mehr-Kinder und angehende Jugendliche, die sich schnell einmal weglesen lässt und darüber hinaus viel Diskussionsstoff bietet, alleine schon deshalb eine Empfehlung wert. Ein kleiner Junge mit viel Phantasie und guter Beobachtungsgabe, einen schlagkräftigen Vater und nicht zuletzt der Herausforderung des Größerwerdens und wie man alles unter einem Hut bringt. Das liest sich amüsant, zuweilen nachdenklich, ernst und doch nicht ohne Hoffnungsschimmer. Erwähnenswert, das kleine witzige Glossar am Ende der Geschichte.

Titel: Gar nichts von allem
Autor: Christian Duda
Seiten: 159
Taschenbuch
Erschienen am: 15.08.2019
Verlag: Gullover (Beltz & Gelberg)
ISBN: 978-3-407-78995-2

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Trent Dalton: Der Junge, der das Universum verschlang

Inhalt:

Brisbane, 1983: Wie wird man zu einem guten Menschen? Diese Frage treibt den 11-jährigen Eli Bell um. Auf den ersten Blick hat er nicht gerade die besten Vorbilder um sich herum: Die Mutter und der Stiefvater dealen mit Heroin, sein großer Bruder Gus spricht nicht mehr, sein Vater glänzt durch Abwesenheit, und sein Babysitter ist ein hartgesottener Ex-Häftling. Doch zwischen den Drogen und den Schmutz erfährt Eli zärtliche Liebe, aufrichtige Freundschaft und die Magie seiner Fantasie. Und je älter er wird, desto relevanter wird die Frage: Kann Brutalität durch Zärtlichkeit überwunden werden? (Klappentext)

Rezension:

Ein kleiner Teil dieser Erzählung entspricht zumindest in Ansätzen wahrer Begebenheiten, viel mehr Zeilen sind jedoch der großartigen Phantasie des australischen Journalisten Trent Dalton entsprungen, der mit “Der Junge, der das Universum verschlang”, ein beeindruckendes Debüt geschaffen hat.

Der Roman entführt seine Leserschaft in eine australische Sozialsiedlung am Rande Brisbanes, zu Beginn der 1980er Jahre und beginnt aus der Sicht des anfangs elf- oder zwölfjährigen Eli Bell, hier sind sich Klappentext und Erzählung uneinig, eine zunächst sperrige Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, die sich nach und nach zu einem gesellschaftskritischen Kriminalroman mausert.

Der kleine Junge stellt sich schon sehr früh Fragen, die schon von den ihn umgebenden Erwachsenen kaum zu beantworten sind. Wie wird man eigentlich ein guter Mensch? Wie bleibt man es? Können gute Menschen böse werden? Böse Menschen gut?

Eli, mit einer unglaublichen Phantasie ausgestattet, sucht nach Antworten und beobachtet seine Umgebung sehr intensiv, ohne die entsprechenden Vorbilder greifbar zu haben. Das Elternhaus ist verkorkst, der Bruder verweigert sich der Worte.

August kritzel etwas in die Luft. Das Jugendamt lehrt August schaudern.
August schreibt weiter: Lehrt Eli, nie was auszuplaudern

Trent Dalton: Der Junge, der das Universum verschlang

Der Drogenhandel hat nicht nur seine Familie, sondern auch seinen Babysitter im Griff, den einzigen, zu dem er dennoch wenigstens etwas aufschauen kann. Eli versucht in dieser Umgebung aufrichtig zu bleiben, doch auch von ihm verlangt das Leben mit den Jahren Entscheidungen, die nicht nur sein Schicksal bestimmen werden.

“Ich glaube, ich verliere den Verstand, Gus”, sage ich. “Ich glaub, ich werde verrückt. Ich muss schlafen. Ich fühl mich, als würde ich in einem Traum herumgeistern, und das hier ist der Schluss, kurz vor dem Aufwachen, der Teil, der sich so richtig echt anfühlt.”
Er nicht.
“Glaubst du, ich werde verrückt, Gus?”

Trent Dalton: Der Junge, der das Universum verschlang.

Schon mit den ersten Zeilen wirkt das beinahe zu viel. Schon so einige Schreibende sind daran gescheitert, so viele Themen wie handlungen in ihren Texten unterbringen zu wollen und am Ende kaum die Auflösung eines Handlungsstrangs zu schaffen. Doch Trent Dalton bündelt, schafft Atempausen in seiner Erzählung, die Konzentration erfordert. Journalistische Knappheit wechselt sich ab mit großflächigen Umschreibungen.

So gelingt ein Roman, der nicht nur auf die Kulissen hinter dem Trugbild der Vorstadtidylle aufmerksam macht, sondern gleichsam Slim Halliday, dem Houdini der Boggo Road, ein Denkmal setzt, der sich in Australien einen Namen als Ausbrecherkönig aus einem berüchtigtem Gefängnis machte und viel später tatsächlich Babysitter in der Kindheit des Autoren wurde.

“Hast du dich nie gefragt, warum du so leicht weinst, Eli?”
“Weil ich ein Weichei bin?”
“Du bist kein Weichei. Du darfst dich nie für deine Tränen schämen. Du weinst, weil es dir eben nicht scheißegal ist. Viel zu viele Leute auf dieser Welt haben Angst zu heulen, weil sie nicht zugeben wollen, dass ihnen etwas wichtig ist.”

Trent Dalton: Der Junge, der das Universum verschlang

Und hier wandelt sich der Text. Aus dem nachdenklichen Kind, wird ein sinnsuchender Jugendlicher, dessen Leben in einem Abwärtsstrudel zu versinken droht, aus dem es nur ein langsames Auftauchen geben wird. Feinfühlig wandelt sich hier Coming of Age Anteil zur Gesellschaftskritik hin, zu einem packenden Kriminalroman unter der australischen Sonne. Die Erzählung selbst ist schon das Universum, dafür sogar vergleichsweise kompakt.

Der Roman wird aus der Sicht des Hauptprotagonisten erzählt. Mit ihm steht und fällt die Geschichte. Trent Dalton schafft es, dass man den Jungen greifen kann. Um ihn dreht sich alles, auch die anderen Protagonisten, von denen besonders Slim und Elis älterer Bruder mit besonders scharfen Konturen gezeichnet sind.

Dennoch reichen nur zwei größere Gegenparts aus, um der Geschichte eine stetige Dynamik zu verleihen. Dazu wunderbare Sätze, die zum Schmunzeln anregen, ein Lachen, was im Halse stecken bleibt und dann nachdenklich uns Lesende zurücklässt. Das, zudem die Sprünge muss man mögen. Ohne zu wissen, wie sich das im Original liest, in der Übersetzung wirkt der Schreibstil zumindest etwas gewöhnungsbedürftig. Es ist eben kein Roman, um sich einfach berieseln zu lassen. Dazu ist: “Der Junge, der das Universum verschlang”, zu schade.

Gleichsam seines Protagonisten erweißt sich auch der Autor als großer farbenschreiber. Schon der Untertitel im Deutschen sticht hervor. Es regt jedoch zumindest auch die Phantasie der Lesenden an.

Unser Weihnachtsbaum ist eine Zimmerpflanze namens Henry Bath. Henry Bath ist ein Ficus benjamini.

Trent Dalton: Der Junge, der das Universum verschlang

Man kann den Staub der Straße schmecken, sieht den Schein, der das Sein überdeckt und die Ausweglosigkeit, die einem realen Kind wahrscheinlich alle Chancen auf ein besseres Leben verbaut hätte, wenn auch hier wieder Schicksal vom Schreibenden und Protagonisten miteinander verschmelzen. Auch mit dem Lesen der letzten Zeile wird der Text einem noch eine ganze Weile beschäftigen, wenn auch ein zwei inhaltliche Punkte wohl der Erfüllung aller Klischees dienen, was aber nicht weiter ins Gewicht fällt, wenn der Rest so großartig ist.

Dieser Roman verlangt Konzentration, regt Phantasie und Gedanken an und lädt ein, die wahren Hintergründe einmal zu recherchieren, die zur Inspiration Trent Daltons gedient haben. Man wird also doch ein wenig beschäftigt sein. Und sei es nur, um den Zaunkönig zu finden.

Autor:

Trent Dalton ist ein australischer Journalist und Autor aus Brisbane. Er gewann mehrmals den “Walkley Award für Excellence in Journalism” und weitere Preise, wurde viermal zum australischen Journalisten des Jahres ernannt. “Der Junge, der das Universum verschlang”, ist sein erster Roman.

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