Coming of Age

Kris/Vincent Bailly: Ein Sack voll Murmeln – Graphic Novel

Inhalt:

Die Memoiren „Ein Sack voll Murmeln“ erschienen 1973, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, zweimal verfilmt und sind längst zum literarischen Klassiker geworden. Darin erzählt Josef Joffo (1931-2018) über seine Kindheit in Paris während der deutschen Besatzung, der Flucht seiner jüdischen Familie und seinen unbändigen Willen im Untergrund zu überleben.

Ein Klassiker, adaptiert als packendes und einfühlsames Comic von Kris und Vincent Bailly.

(Klappentext)

Rezension:

Erinnerungen auf eine komplett andere Form zu übertragen, weit weg vom Ursprungsmedium, ist wagemutig. Dennoch gibt es einige positive Beispiele, neben ganz vielen, die unter die Tische fallen dürfen, wo dies gelungen ist. Bei den Kindheitsmemoiren von Josef Joffo ist dies in beiden Richtungen der Fall.

Ist die erste Verfilmung noch beim Autoren durchgefallen, gilt die zweite als gelungen, was nicht zuletzt großartigen Kinder- und Erwachsenendarstellern, einem klugen Drehbuch und einer nicht minder begabten Regie zu verdanken ist. Auch die hier vorliegende, auf die Biografie fußende Graphic Novel darf als positives Beispiel gelten.

Dabei ist es gar nicht so einfach, eine Geschichte in ein anderes Medium zu übersetzen. Was nimmt man auf, verdichtet man, welche Szenen und Dialoge bleiben? Was lässt man, zwangsweise, außer Acht. Platz ist begrenzt, wird in dieser Erzählform durch die Größe der Panels vorbestimmt.

Auch die Wahl der Farbpalette und des Zeichenstils spielen für die Wirkung eine maßgebliche Rolle. Daraus folgt die Frage, ob die Adaption des Erzählstoffes am Ende als gelungen gelten darf. So möchte ich nicht weiter auf die Geschichte selbst eingehen, die bereits rezensiert wurde, sondern auf die Besonderheiten des vorliegenden Werkes.

Paris ist bunt gehalten, wie alle Szenen, die Hoffnung verkörpern. Ein schneller Strich ins Urban Sketching hinein, manches Panel wirkt beinahe wimmelbildhaft. Temporeich gebietet sich die Graphic Novel, die mit hohem Erzähltempo schnell ins Düstere kommt. Erdtöne dominieren da plötzlich. Einige Panels wirken gedrungen, der Hintergund verschwimmt des Öfteren. Das Auge ruht auf den Vordergrund.

Den Betrachtenden stockt der Atem. Gerade zur rechten Zeit kommen die Momente, die einem durchatmen lassen, nur um im nächsten Moment wieder über den Haufen geworfen zu werden.

Dies gelingt in dieser Adaption, die ein Stück Lebensgeschichte einer neuen Zielgruppe zugänglich und begreiflich machen kann, ohne das Original zu verraten. Tatsächlich hat man nicht das Gefühl, dass wichtige Szenen vergessen wurden, gerade wenn man den Ausgangstext kennt. Der Geist des Originals bleibt erhalten und so kann diese Graphic Novel neben Buch und der zweiten Verfilmung bestehen.

Autor/Illustrationen:

Vincent Bailly wurde 1967 in Nancy geboren und ist ein französischer Comic-Zeichner. Er studierte 1986 an der Kunsthochschule Straßburg und arbeitet seit 1991 für verschiedene Verlage als Illustrator und veröffentlicht seine Zeichnung in Zeitungen und Kinderbüchern. Sein Zeichenstil gilt als düster, so dass ihn der Durchbruch erst spät gelang. Er veröffentlichte in Zusammenarbeit mit anderen Autor/innen mehrere Graphic Novels und unterrichtete von 2000 bis 2009 an der Kunsthochschule ENAAI in Bourget-du-Lac.

Kris ist das Pseudonym des französischen Comic-Autoren Christophe Goret, welcher 1972 in Brest geboren wurde. Zunächst studierte er Geschichte und arbeitete als Buchhändler, bevor er ein Atelier gründete. Im Anschluss schrieb er Drehbücher und arbeitete für die Zeitschrift Spirou. Seine Arbeit, die mehrere Alben und Drehbücher umfasst, wurde mehrfach ausgezeichnet.

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Saneh Sangsuk: Gift

Inhalt:

In einem Dorf mitten im thailändischen Dschungel träumt ein Junge davon, ein berühmter Puppenspieler zu werden. Versunken in die Magie seines Schattentheaters, bemerkt er zu spät, dass er sich über dem Nest einer Kobra niedergelassen hat. Als die zornige Schlange auf ihn zuschießt, beginnt ein gnadenloser Kampf, der die ganze Nacht dauern wird.

Eine existenzielle Parabel über Tradition und Macht, Schönheit und Schrecken, Leben und Tod. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung, die einem schier den Atem nimmt, ist sicherlich die vorliegende Parabel aus der Feder des thailändischen Schriftstellers Saneh Sangsuk. In „Gift“ erzählt er nicht nur die Geschichte eines Kampfes, sondern nimmt damit gleichzeitig traditionelle Strukturen und Willkür innerhalb einer Gemeinschaft aufs Korn. Oberflächlich hier die Konfrontation, das Ringen ungleicher Gegner. Beinahe David gegen Goliath auf thailändischen Boden. Ein Junge setzt sich unbeabsichtigt auf das Nest einer Kobra, diese will sich wehren und der Gefahr für ihre Eier ein für alle Mal ein Ende setzen. Dem Hauptprotagonisten ist schnell klar, nur einer von beiden wird überleben.

So beginnt ein Ringen, welches Sangsuk mit wenigen Worten, zielgerichtet wie Schlangenbisse, zu erzählen weiß. Abwechselnd erzählt aus der Perspektive des Jungen und des Tieres erleben wir einen Zeitraum von nur wenigen Stunden, die beiden Protagonisten ihre ganze Kraft abverlangen wird. Nur ihnen beiden. Dem Jungen, ohnehin durch eine körperliche Beeinträchtigung Außenseiter innerhalb der traditionellen Strukturen seines Dorfes, wird keine Hilfe zuteil werden. Auf einer anderen Ebene geht es damit auch um klare, sich gegenüberstehende Pole. Kind gegen Erwachsene. Unschuld gegen Korruption und Willkür. Hier kompakt in Konfrontation.

Schon mit den ersten Seiten werden wir für den kleinen Hauptprotagonisten eingenommen, der reinen Herzens für seine Umgebung isst, der die Ungerechtigkeiten seiner Welt kaum klarer wahrnehmen könnte als er dies in Sangsuks Erzählung tut. Der indirekte Gegenspieler, versinnbildlicht durch die Schlange, ist der Erwachsene, der die Strukturen des Ortes nutzt, um diesen sich untertan zu machen. Wie könnte man da nicht klar mit dem Kinde mitfühlen? Hoffen und bangen, es möge im ungleichen Kampf bestehen?

Mit wenigen Worten in klarer Sprache, hier hervorzuheben ist die wunderbare Übersetzung durch Sabine Herting, gelingt ein beinahe filmischer Spannungaufbau. Jeden einzelnen Schweißtropfen meint man selbst auf der Haut zu spüren. Innerlich angespannt, nach Atem ringend wird man kaum von der Erzählung loslassen können und diesen Kampf bis zum Ende verfolgen.

Der Perspektivwechsel ist ein Kunstgriff, in dem auch das Tier seinen berechtigten Platz erhält. Beide Gegner mit klaren Blick, dazu eine Umgebung, die der Autor kunstvoll vor dem inneren Auge der Lesenden entstehen lässt. Hier ist der Spagat zwischen schöner Sprache und einer spannenden Erzählung gelungen, die im Einklang zueinander stehen.

Immer mehr Literatur aus Asien wird hierzulande zugänglich. Sie lohnt sich, entdeckt zu werden. Diese kleine Geschichte gehört unbedingt dazu. Hoffen wir, dass noch viel mehr Werke Sangsuks und anderer hier verlegt und ein breites Publikum finden werden. Schon alleine, um zu erfahren, wer die Oberhand gewinnt.

Autor:

Saneh Sangsuk wurde 1953 geboren und ist ein thailändischer Schriftsteller. Er studierte Englisch und arbeitet als freier Schriftsteller und Übersetzer. Zunächst Kurzgeschichten veröffentlichte er seinen ersten Roman 1986, dem weitere folgten. Sangsuks Werke wurden in mehreren Sprachen übersetzt. Er gilt als einer der besten zeitgenössischen Autoren Thailands, wofür er 2018 ausgezeichnet wurde.

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Hubertus von Prittwitz: Skarabäus

Inhalt:

Die Wahrheit ist die beste Lüge. Das lernt der achtjährige Friedrich von seinem Vater. Im Gerichtssaal sieht er seine Schwester das letzte Mal. Sein Vater, ein Spion des BND, trennt ihn für immer von seiner Mutter und seiner Unschuld. Im goldenen Käfig in Neuried bei München züchtigen der Missbrauch durch seine Stiefmutter und der Kontrollwahn des Vaters den Abtrünnigen. Nach mehreren gescheiterten Versucen gelingt die Flucht über Indien, Kairo und den Sudan in das Strafgefangenenlager des Menschenfressers.

Hubertus von Prittwitz rasanter Roman erzählt die Geschichte eines Überlebenden. Die Dichte des Milieus zieht den Leser tief hinein in das historische Erbe der Familienschuld. Im Spiel mit der Macht der Fiktion entspannt sich das Drama eines uralten Adelsgeschlechts. (Klappentext)

Rezension:

Am Ende steht ein Käfer als Symbol für den fortwährenden Versuch, seiner Familie zu entkommen. Diesen lebenslangen Versuch hat Hubertus von Prittwitz erzählerisch in seinem gleichnamigen Autorendebüt „Skarabäus“ verarbeitet. Eng an der eigenen Biografie und doch ganz weit weg.

Fast einem modernen Märchen gleich, springt der Roman zwischen Agententhriller, Politroman und Coming of Age Story entlang den Abgründen der Familie des zunächst achtjährigen Protagonisten. Bei kompakter Seitenzahl geradezu ausschweifend erzählt, begegnen wir Friedrich, der in seiner Kindheit bereits vom eigenen Vater entwurzelt wird, zugleich aber lückenlos kontrolliert. Dazu gesellt sich auch noch der seelische und physische Missbrauch durch die Stiefmutter. Mit der Zeit entwickelt der Junge, den wir bis ins frühe Erwachsenenalter begleiten, Überlebensstrategien, die sämtlichen Willen erfordert, die eine gebrochene Seele aufbringen kann.

Viel zu viele Faktoren für einen Roman, der sich zudem nicht gerade leichtgängig lesen lässt. Das Springen zwischen den Genres ist eine Sache, es gelingt einem jedoch auch nicht, sich dauerhaft an wenigsten einer der Figuren festzuhalten. Alleine die Anspielungen auf verschieden historische Ereignisse sind spannend eingebunden, in eine Erzählung, die keinen anderen roten Faden kennt als die innere Zerissenheit des Hauptcharakters. Zu Beginn weiß man da nicht, was man eigentlich liest. Es scheint, erst mit dem Voranschreiten der Kapitel, die zugegeben zuweilen filmisch wirken, hat der Autor seinen Stil gefunden. Dem entsprechend rund wirkt auch das Ende.

Der Hauptprotagonist ist zugleich Erzähler und Handlungstreiber, in einer Geschichte, die wie ein Schachspiel wirkt. Dabei entgeht dem zunächst sehr jungen Friedrich viel. Nach und nach wandelt sich jedoch die Figur und wird selbst zum aktiven Taktgeber. Dieser Platztausch ist dann doch spannend beschrieben, wobei erzählerische Längen dennoch nicht ganz ausgeblendet werden können.

Hubertus von Prittwitz hat ein Auge für Schauplätze, die er vor dem inneren Auge der Lesenden sehr plastisch wirken lässt. Doch es fehlt der springende Funke, der leider an einigen Stellen dem Gefühl weichen muss, irgendetwas Entscheidendes überlesen zu haben. Vielleicht braucht man einen bestimmten Zugang, diesen speziellen Mix der Genre ganz in sich aufzunehmen? Hier wäre zu schauen, wie ein Werk des Autoren sich liest, wenn es eine Konzentration auf ein bestimmtes Genre oder einen einzelnen Aspekt gäbe.

Eventuell hätte aber auch die Erzählung ganz anders gewirkt, wenn man sich vorher mit der Biografie des Autoren und seiner Familie beschäftigt hätte. Dies sei allen empfohlen, die „Sakarabäus“ lesen möchten. Manches wird da fassbarer.

Nur schade, dass das der Rezensent (ich) vorher nicht gemacht hat.

Autor:

Hubertus von Prittwitz wurde 1969 in München geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Er studierte Politikwissenschaften in München und Berlin, arbeitete als Eventmanager und als Texter, Redakteur und Übersetzer. Er ist für die Deutsche Welle tätig. „Skarabäus“ ist sein Debüt.

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Doris Wirth: Findet mich

Version 1.0.0

Inhalt:

Erwin bringt das Geld nach Hause, seine Frau kümmert sich um Kinder und Haushalt. Doch als Erwin Mitte 50 seinen Job verliert und sein Vater stirbt, fällt er in eine akute Krise. Er pendelt zwischen Verzweiflung und Größenwahn. In seinem Kopf sprießen bizarre Pläne und die Gier nach einem puren, triebhaften Leben in der Wildnis. Eines Tages zieht er los und verschwindet.

Sprachlich intensiv und formal virtuos verwebt Doris Wirth Familienroman und Roadmovie. Sie zeichnet das komplexe Psychogramm eines Mannes, der eine manische Psychose durchlebt. Aus wechselnden Perspektiven erzählt Findet mich Erwins Geschichte und zeichnet die der Familie über drei Generationen nach: von der Unterdrückung individueller Wünsche über die Prägung durch patriarchale Strukturen bis zur Suche neuer Rollen in der Gegenwart. (Klappentext)

Rezension:

Das vorliegende Romandebüt der Schweizer Autorin Doris Wirth, die zuvor bereits mehrere Erzählungen veröffentlicht, spürt den Veränderungen innerhalb einer Familie nach, deren Alltag plötzlich durch eine psychische Krankheit dominiert wird. Seiner Handlungsspielräume beraubt und seines Platzes verwiesen, spürt das ehemalige Oberhaupt nur noch den Drang, sich privaten Zwängen und dem gesellschaftlichen Druck zu entziehen und nähert nicht nur sich damit einem dunklen Abgrund an.

Leichtgängig klingt dies schon im Klappentext nicht an. Auch in der Zusammenfassung wirkt es nicht besser, doch liest sich der Wandel des Hauptprotagonisten und aller, die ihn umgeben, durchaus flüssig, in sofern wir sofort Bezüge zu den einzelnen Figuren herstellen können. In unserer schnelllebigen Gesellschaft sind nicht wenige selbst von psychischen Zwängen und Krankheiten betroffen oder kennen dies zumindest aus dem engeren Umfeld und so fällt das Einfinden leicht.

Nur wenige Stellschrauben, Auslöser, braucht die Autorin, um Verbindungen herzustellen. Die beiden Hauptfiguren, die im Laufe der Erzählung um eine geringe Anzahl erweitert werden, bekommen durch ihre Vorgeschichte Konturen. Diese sind klar gehalten, nach und nach schält sich das Unheil heraus. Dunkle Momente werden immer zahlreicher, ehe sie schließlich handlungsbestimmend wirken.

Vor allem für den männlichen Hauptpart, dessen Handeln man beinahe atemlos verfolgt. In der Art und Weise dessen, wirkt dies folgerichtig, ohne Lücken oder unlogische Sprünge zu hinterlassen. Bilder schafft hier die Autorin vor allem sehr stark durch innere Monologe, gedankliche Ausführungen, womit die Figuren ihre Ecken und Kanten bekommen. Im Kontrast zu dem vor allem so aufgebauten Protagonisten wirken die umgebenden Personen um so stärker. Doris Wirth gelingt es hier zu zeigen, dass auch Familienmitglieder mit einer solchen Situation zu kämpfen haben, nicht nur die Betroffenen selbst und das der Weg da raus nur entlang von Bruchkanten verlaufen kann.

Dieser Balanceakt erzeugt starke Bilder vor dem inneren Auge, auch bringt der stete Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel eine temporeiche Dynamik mit sich. Dieser zu folgen ist dabei nicht sonderlich schwierig, wenn auch die Thematik nicht ohne ist. Man sollte dies vor dem Lesen wissen. Nicht jeder dürfte diese Erzählung einfach so weg lesen können. Auch der Genre-Mix trägt sein Übriges dazu bei. Psychogram und Roadmovie passen, das beweist Doris Wirth, hier wieder einmal gut zusammen. Schauplätze werden hier ebenso plastisch beschrieben wie Gefühlswelten, ohne ins Klischeehafte abzugleiten.

Immer wieder stolpert man dabei über einzelne Passagen, die hängen bleiben und nachdenklich machen. Manchmal ist es auch nur etwas Unbestimmtes, was beim Lesen zurückbleibt. Gerade für solche Momente lohnt sich das Lesen des Romans, in den man gerne den einzelnen Figuren neben dem Hauptprotagonisten noch mehr Raum geben würde, dabei wechseln die Sympathien durchaus von Kapitel zu Kapitel. Es hängt dann von den einzelnen Lesenden ab, welche Nachwirkungen hier Doris Wirth erzielt hat.

Ohne Spuren aber geht es nicht.

Autorin:

Doris Wirth wurde 1981 geboren und ist eine Schweizer Autorin. Zunächst studierte sie Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie in Zürich und Berlin, bevor 2014 ihr erster Erzählband erschien, dem weitere folgten. Für ihre Prosa mehrfach ausgezeichnet, erschien 2024 ihr Romandebüt. Die Gewinnerin mehrerer Literaturwettbewerbe lebt in Berlin.

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Florian L. Arnold: Das flüchtige Licht

Inhalt:

Für den Monsignore, einen großen Filmemacher, ist das ganze Leben ein Schauspiel. Doch für den routinierten Regisseur ändert sich alles, als er das Straßenkind Enzo vor die Kamera holt. „Das flüchtige Licht“ erzählt die Geschichte von vier Menschen, deren leben durch das Kino und die Leidenschaft eines exzentrischen Geschichtensammlers bestimmt wird. (Klappentext)

Rezension:

Es ist eine Illusion, die nach dem Willen eines einzelnen Mannes entsteht, doch sobald die Linse ihren Auftrag erfüllt hat, verschwindet diese von Kameras eingefangene Welt. Der trockene Staub legt sich in den überhitzten Gassen, wenn die Schauspielenden und ihr Filmemacher verschwinden und den schönen Schein in Kisten verpacken. Fortan geht ein jeder wieder seine Wege. Bis zum nächsten Mal. Für Enzo, der einst eher zufällig in die Aufnahmen des Monsignore hineinplatzt, ist diese sehr flüchtige Welt real oder zumindest viel zugetaner als die Wirklichkeit, die es schon in seiner Kindheit nicht gut mit ihm meint.

Ausgeschlossen ist er dort gewesen, immer am Rande einer Gruppe von Jungen, die ihm den Zugang zu der kleinen und verschworenen Gemeinschaft verwehren, bis diese sich auflöst, als sie alle nach und nach aus ihrem Heimatdort ausbrechen. Doch auch danach lässt sie der rothaarige Schatten ihrer Kindheit nicht los. Die Welt der Illusionen hat Enzo da schon verschlungen.

Florian L. Arnolds Roman „Das flüchtige Licht“ ist eine Hommage an eben diese, der Hochzeiten des italienischen Kinos und dem Mann, der sie erheblich mitgeprägt hat. Fellini ist das Vorbild des Monsignore, der Figur, der Enzo Halt zu geben vermag, so lange dieser bereit ist, seine Geschichten zu erzählen, für die er dann ein Leben in der Welt der Cinecitta bekommt, die ihm jedoch immer wieder durch die Hände rinnt.

Langsam und behutsam nähern wir uns den Protagonisten an, deren Verhältnisse zueinander sich im Verlauf der Erzählung umkehren werden und doch nicht aus ihrer Haut heraus können. Dieses Spannungsverhältnis bestimmt den Roman, der selbst wie einer dieser italienischen Streifen wirkt. Man kann sie förmlich vor sich sehen, die Gassen, die Suche von Enzo nach sich selbst, der sich in die Abhängigkeit eines einzelnen Mannes begibt, der doch selbst von ihm, einmal in den Bann gezogen, nicht von ihm los kommt.

Die ruhig gehaltene Erzählung wirkt durch ihre Figuren, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird. Die verschworene Gemeinschaft, die sich einst schwor, immer zusammen zu bleiben, Kontakt zu halten, um sich dann letztendlich doch zu verlieren auf der einen Seite. Enzo auf der anderen, der da nie hinein finden wird und auch in der Welt des Monsignore die Rolle des Außenseiters übernehmen muss, um auf irgendeine Art und Weise doch dazu zugehören. Ist der Film im Kasten endet oft auch das, bis zum nächsten Mal.

Figuren entstehen zu lassen, die nicht mit-, aber eben auch nicht ohne einander können, schafft Arnold mit prägnanten Sätzen, auf den Punkt ausformuliert, ohne dass ein Wort zu viel wäre. Nur manchmal scheint diese beschriebene flüchtige Welt beim Lesen durch die Finger zu rinnen, wie es eben dem Medium eigen ist, welches Hauptgegenstand der Erzählung ist. Viel näher würde man gerne an den einzelnen Protagonisten dran sein. Es hätte nicht geschadet, hier und dort etwas länger zu verweilen.

Orte, die zu einander gegensätzlich sind, sind es auch, die diesen Roman ausfüllen. Der Kinosaal etwa, in dem man sich der Illusion für ein paar Stunden hingeben kann, im Kontrast zu den Gassen, die nach dem Dreh wieder einsam und verlassen sind. Auch das verschafft der Erzählung starke Momente.

Dieses Zusammenspiel verschafft mitsamt der Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel einen Lesefluss, innerhalb dessen man die eine oder andere Figur für einen Moment verliert, um im nächsten einen einzelnen Satz zu lesen, der präzise formuliert die Geschichte vorantreibt. Wenn die Protagonisten dann zurückblicken, holt sie die Wirklichkeit mit ihrer ganzen Wucht schnell wieder ein, insbesondere Enzo, dessen Leben gleichsam der Filme, derer Bestandteil er ist, plötzlich leer scheint, als die letzte Szene gedreht, die letzte Geschichte erzählt ist.

Der Roman, der selbst wie ein Film wirkt, schafft es trotz seiner ruhigen Art und Weise, einem in den Bann zu ziehen. Auf jeder Seite ist das Herzblut des Autoren zu spüren, der an der Erzählung jahrelang gearbeitet hat, verpackt in wunderschöner Sprache, die ihr Ziel erreicht. Einzelne Momente hätte ich mir noch etwas mehr ausformuliert gewünscht, auch, dass einige der Charaktere einem nicht so schnell durch die Finger rinnen. Auch eine Bitte hätte ich, könnte sich jemand um die filmische Umsetzung kümmern?

Es wäre genial.

Autor:

Florian L. Arnold wurde 1977 in Ulm geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Illustrator. Er studierte in Augsburg Kunstwissenschaftler und war danach freiberuflich als Grafiker und Schriftsteller tätig und gab u. a. das Kunst- und Kulturmagazin ES heraus. Arnold ist Initiator und Programmleiter des Literaturfestivals Literaturwoche Donau in Ulm/Neu-Ulm und stellt dort seit 2013 die Arbeit unabhängiger Verlage vor. Auchin Neu-Ulm initiierte er das Begegnungsformat Literatur unter Bäumen, zudem kuratiert und moderiert er zahlreiche Veranstaltungen der Aegis-Buchhandlung in Ulm. Er veröffentlichte mehrere Romane, Erzählungen und ein satirisches Wörterbuch.

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Rüdiger D.C. Kinting: Mein Freund Ybor

Inhalt:

Der elfjährige Felix bekommt von seinem Vater einen Roboter geschenkt. Den möchte er für seine Klasse beim Robotik-Wettbewerb antreten lassen – obwohl er von seinem Mitschüler Angus eingeschüchtert und bedroht wird. Doch „Ybor“, wie Felix den echten Roboter vom Planeten Origan nennt, hilft ihm dabei, an sich selbst zu glauben. Und so hält Felix an seinem Plan fest. Als Ybor am Tag vor dem großen Wettbewerb spurlos verschwindet, ist Felix verzweifelt. Ist Ybor weggelaufen? Oder steckt Angus hinter der Entführung?
(Klappentext)

Rezension:

Eine Geschichte über Freundschaft und Mut präsentiert uns Rüdiger D. C. Kinting mit seinem neuen Kinderbuch „Mein Freund Ybor“, in welchem ein kleiner Roboter seinem menschlichen Freund Felix hilft, über sich hinauszuwachsen. Dabei sieht sich der Elfjährige gegenüber der großen Schwester benachteiligt und von seinem Klassenkameraden Angus drangsaliert, wieder einmal im Hintertreffen, als es um die Teilnahme seiner Klasse an einem Robotik-Wettbewerb geht.

Schließlich würden sie ohnehin den Roboter von Angus nehmen, der sich mit dem Geld seines Vaters stets das Beste und Neueste leisten kann. Als sein Vater jedoch einen Blechroboter von der Arbeit mit nach Hause bringt und dieser schließlich von den Klassenkameraden zur Teilnahme ausgewählt wird, ändert sich alles. Bis Ybor plötzlich verschwindet. Schon da muss Felix über sich hinauswachsen. Ohne zu ahnen, dass seine größte Herausforderung noch bevorsteht.

Dieses feine Kinderbuch kommt zunächst in ruhigen Tönen daher und schafft gleich zu Beginn einen sympathischen Zugang zu den beiden Hauptprotagonisten, die einander kennenlernen und dem menschlichen Part nach und nach aufzeigen, dass nichts in Stein gemeißelt ist, auch und schon gar keine Rangordnung in Klassenzimmer, dass es sich lohnen kann, mutig zu sein. Ohne erhobenen Zeigefinger, in klarer Sprache, baut der Autor dabei nach und nach seine Figuren auf und versieht sie mit Ecken und Kanten. Die junge Leserschaft darf hinter die Kulissen schauen. Auch scheinbare Antagonisten haben nachvollziehbare Gründe für ihr Handeln. Auch innerhalb dieser überschaubaren Seitenzahl der leicht zugänglichen Kapitel handelt niemand einfach so.

Der Autor nimmt seine junge Leserschaft, von der man sich nur wünschen kann, dass sie zahlreich werden möge, ernst und erzählt eine Geschichte von wenigen Tagen, in denen sein Protagonist nicht nur Ängste überwinden muss. Dabei wechseln stets ruhige mit spannungsreichen Momenten ohne unlogische Brüche oder Längen entstehen zu lassen. Das führt wiederum dazu, dass man auch als Erwachsener nicht gelangweilt wird. Ein kleiner Kinderroman, der sich gut zum Vorlesen eignet, ist „Mein Freund Ybor“ auch.

Der psychische Wandlungsprozess der Hauptfigur ist schön gestaltet, ebenso wie die Zeichnungen, die die Erzählung illustrieren und ebenso Kintings Feder zuzuschreiben sind. Für Kinder nachvollziehbar ist die Geschichte durch die aufgebauten Szenarien. Viele werden wohl den Klassenbully kennen, schulische Wettbewerbssituationen oder, wenn sonst nichts schief geht, große nervige Geschwister. Mehr braucht es nicht für ein Abenteuer, oft genügen diese Faktoren jedoch für Herausforderungen, die für Erwachsene vielleicht nicht gerade groß, für Kinder manchmal um so mehr unüberwindbar scheinen.

Dies in kindgerechter Sprache zu verpacken, ohne moralische oder andere Holzhammer auszupacken, ist in „Mein Freund Ybor“ gelungen. Manche Elemente mögen bekannt vorkommen, aber das macht nichts, wenn das Gesamtpaket stimmt. Wen das nicht reicht, der kann sich dann selbst einen kleinen Roboter basteln. Die Anleitung für Ybor wäre auf der Autoren-Seite zu finden.

„Mein Freund Ybor“ ist ein liebevolles Kinderbuch, welches nicht nur seinen Protagonisten über sich hinauswachsen lässt. Nebst Sterne auch ein großes Herz dafür.

Autor:
Rüdiger wurde in Offenburg geboren und studierte Deutsche Philologie, Musik- und Erziehungswissenschaften in Heidelberg. Schon seit seiner Schulzeit schreibt und komponiert er und war zweifacher Preisträger des »Landeswettbewerbes Deutsche Sprache und Literatur Baden-Württemberg«. Seit 2015 veröffentlicht er Kurzgeschichten, Märchen und Bücher im Selfpublishing (http://www.ruedigerkinting.de). Seine Geschichten enthalten meist phantastische Elemente. Hauptberuflich arbeitet Rüdiger in einer Digitalagentur in Mannheim.

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Scott Alexander Howard: Das andere Tal

Inhalt:
Dieses Tal ist ein besonderer Ort. Geht man nach Osten oder Westen, stößt man auf die gleichen Häuser, Hügel, Straßen – doch alles ist zwanzig Jahre zeitversetzt. Nur in Trauerfällen dürfen die Grenzen passiert werden. Als die junge Odile in Besuchern aus der Zukunft die Eltern ihres Freundes Edme erkennt, weiß sie, dass er bald sterben wird. Was wäre, wenn Odile das ihr auferlegte Schweigen bricht? Ein bewegendes und außergewöhnliches Debüt über Freiheit und die Macht des Schicksals. (Klappentext)

Rezension:
Ein Schlag in die Magengrube, der einem zum Nachdenken bringen wird, ist das schriftstellerische Debüt Scott Alexander Howards, der mit „Das andere Tal“ ein philosophisches Gedankenexperiment in einer kühlen dystopischen Welt wagt, welches in eine Coming of Age Geschichte eingebettet ist.

Anfangs ist nicht klar, wohin die Reise geht, genau so wie der Mantel der Erzählung sich erst nach und nach erschließt, wagt auch die Hauptprotagonistin zunächst den Blick über die Grenzen ihrer Welt hinaus. Das Leben beschränkt sich auf das von ihren Mitmenschen und ihr bewohnte Tal, dessen Grenzen man nur unter strengen Voraussetzungen überschreiten darf.

Je nach welche Richtung man einschlägt, reist man damit entweder zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurück oder in die Zukunft, doch wer dies tut, könnte unachtsam das Leben aller im Hier und Jetzt und allen Zeiten für immer verändern. Das mächtige Conceil und die Gendarmerie wachen seit jeher über dieses gesellschaftliche Konstrukt, doch was gilt das noch, wenn es einen engen Freund betrifft?

Kühl ist die Atmosphäre in diesem Roman, dessen Figuren über lange Strecken genau so kühl bleiben, auch die Hauptprotagonistin selbst, wie auch die Enge des Tals es ist, deren Beschreibung einem förmlich die Luft zum Atmen nimmt. Der Autor hat sich dabei Zeit für den Aufbau der Geschichte genommen, die zunächst langsam voranschreitet, um dann unweigerlich scheint, auf die Katastrophe hin zu steuern.

Dabei steht zum Einem die Frage im Raum, wie viel sind wir bereit als Einzelne an Verantwortung zu tragen oder wie weit einem gesellschaftlichen Konstrukt, welchem uns die Kehle zu schnürt, uns einengt? Wie weit aber würden wir selbst gehen, im Wissen, das ein kleinster Fehltritt alles Passierte vielleicht noch verschlimmern könnte. Fragen, die wie ein Damokles-Schwert ständig über die Hauptfigur schweben. Irgendwann, so ahnt man bereits zu Beginn, wird Odile für sich selbst Antworten darauf finden müssen.

Als beinahe einzige Figur mit Ecken und Kanten versehen, verblassen neben ihr beinahe alle anderen Figuren. Aus der Realität genommene Elemente werden dagegen in den Vordergrund gestellt. Zu weilen wirken damit gesellschaftliche und weltenbildende Elemente plastischer als das Figurenensemble selbst.

Die Grenze zwischen den Tälern mit einer Art Niemandsland erinnert zu sehr an den Eisernen Vorhang oder die innerdeutsche Grenze, die Frage nach der Erlaubnis um Betreten oder Ausreise zu grausam an nicht zu ferne Fragen, die heute den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen. Der Autor zeigt mit dieser Art von Verarbeitung und Übertragung, welche inneren Konflikte damit einhergehen können, so dass man am Ende doch wieder mit der Hauptfigur Odile mitfühlen wird, die es förmlich im Inneren zerreißt.

Nur aus ihrer Perspektive wird die Geschichte erzählt, die wir sie von früher Kindheit an bis hinein ins Erwachsenenalter begleiten. Fragen, die erklärungswürdig wären, wie etwa der Erhalt einer Gesellschaft, wenn im Grunde nichts von außen dringt, werden bewusst ausgeklammert, um sich alleine auf den Konflikt Odiles zu konzentrieren, was zwangsläufig zu Lücken führt, über die man beim Lesen stolpern wird.

Solcherlei Auslassungen führen dazu, kurz innehalten zu müssen. Nein, man hat nichts überlesen. Diese Information bekommt man nicht. Man muss mit der Lücke leben, die nicht wenig zu einem beklemmenden Gefühl beitragen wird.

Im letzten Drittel steigern sich sowohl Beklemmung als auch Erzähltempo. Man fiebert mit und bleibt doch bis zum Ende seltsam distanziert. Eine fiktionale Dystopie, die weder zeitlich noch örtlich irgendwo einzusortieren ist, wirkt wie die der Erzählung zugrundeliegenden Überlegung. Man liest sich eben durch eine Modelbetrachtung in Romanform.

Dieser Stil ist nicht für jedem etwas, wenn auch die behandelten Fragen interessant und sehr diskutabel sind. Ob das jedoch ausreicht, um sich dieser Lektüre hinzugeben, muss sich jeder selbst beantworten.

Autor:

Scott Alexander Howard lebt in Vancouver, British Columbia. Er wurde an der Universität von Toronto in Philosophie promoviert und war Postdoktorand in Harvard, wo er sich mit der Beziehung zwischen Erinnerung, Emotionen und Literatur beschäftigte. Das andere Tal ist sein erster Roman.

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Lize Spit: Der ehrliche Finder

Inhalt:

Seit er vor einem Jahr in Bovenmeer angekommen ist, sitzt Tristan in der Schule neben Jimmy, der klüger und einsamer ist als alle anderen und es sich zur Aufgabe macht, Tristan Ibrahimi durch das Schuljahr zu begleiten. Denn der hat nicht nur einen Krieg erlebt und eine Flucht durch ganz Europa, sondern er hat auch das, wonach Jimmy sich am meisten sehnt: eine intakte, große Familie, die Halt und Geborgenheit bietet.

Gemeinsam bauen sie sich eine eigene Welt voller geheimer Orte und einer Sprache, die beide verstehen, eine Welt, in der Freundschaft möglich ist. Bis jemand eine Entscheidung trifft, die nicht nur ihre Welt gefährdet und Jimmy und Tristan alles abverlangt. (Klappentext)

Rezension:

Seine Sammlung kennt er auswendig und für Tristan hat Jimmy ebenfalls eine eigene begonnen, schließlich ist er Experte für Flippos, Sammelbildchen, die sich in Chips-Tüten befinden. Ihm selbst fehlen nur noch wenige. Tristan ist sein bester Freund, genauer, sein einziger.

Welch ein Glück, dass sie in der Klasse nebeneinander sitzen, so kann der drei Jahre jüngere ihn, der aus den Kosovo flüchten musste, durch den Schulalltag helfen und er selbst bekommt wenigstens bei seinem Freund zu Hause das Gefühl von echter Familie. Doch ein Brief zerreißt die Idylle. Tristan und seiner Familie droht die Abschiebung. Ein Plan dagegen muss also her. Der ist schnell gefunden. Doch, was passiert, wenn sich Verhältnisse umkehren?

Normalerweise waren sie einander völlig ebenbürtig, doch jetzt, wo Jetmira sich eingemischt hatte, war zwischen ihnen plötzlich ein Unterschied entstanden. Jetmira hatte Tristan größer gemacht, während Jimmy nur noch kleiner geworden war.

Lize Spit: Der ehrliche Finder

Dieser feine kompakte Roman aus der Feder der niederländischen Schriftstellerin Lize Spit ist Schicksalserzählung und Coming-of-Age-Geschichte zugleich. In „Der ehrliche Finder“ beschreibt sie ein Abhängigkeitsverhältnis, welches sich urplötzlich umkehrt und Abläufe ins Rollen bringt, die nicht nur eine Freundschaft gefährdet, von der man gleich zu Beginn ahnt, dass sie einseitig ist, sondern auch Folgen hat, die die kleinen Protagonisten schnell nicht mehr unter Kontrolle haben werden.

Im Spagat zwischen Erzählung und Jugendbuch bewegend behandelt die Geschichte eine hochaktuelle Thematik und steuert mit hohem Tempo auf ein finales Ereignis zu, welches man intuitiv erahnt, nicht lesen zu wollen und doch nicht umhin kann, an den Figuren und ihren Handlungen dran zu bleiben.

Besonders die zwei Hauptpersonen sind stark gezeichnet, altersgerecht beschrieben, wobei ein Positionswechsel zum Handlungsgegenstand wird, der einem schlucken lässt. Jimmy als Jüngerer, genießt es, einen Freund zu haben, zu helfen, während Tristan später nicht anders kann als in die Enge getrieben, zum Spielball seiner Pläne werden zu lassen. Mit wenigen Worten hat es die Autorin hier geschafft, eine unter die Haut gehende immerwährende Spannung zu erzeugen.

Er würde nicht würgen, das musste er schaffen.

Lize Spit: Der ehrliche Finder

Der Zeitraum der Handlung sind nur wenige Stunden, die alles im Leben der beiden Jungen verändern. Innerhalb weniger Kilometer, für Jimmy die ganze Welt, spielt sich ein Drama ab, welches auf eine Katastrophe zusteuert.

Der Roman wird dabei aus Jimmys Sicht erzählt, der mit seiner Mischung aus Intelligenz und an Naivität grenzender Gutgläubigkeit für seinen Freund eigene Grenzen überwindet, schließlich war der gezwungen gewesen, zu Fuß halb Europa zu durchqueren. Doch bekommen beide Protagonisten in der Geschichte ihre Momente.

Bis auf eine Nebenfigur bleiben die anderen vergleichsweise blass. Die Kinder sind sich die meiste Zeit selbst genug, haben ja auch niemand anderes, in der einen oder anderen Art und Weise und doch schimmern zwischen den Zeilen tausend Gegensätze. Gerade wegen dieser Kombination ist „Der ehrlicher Finder“ berührend lesenswert.

Jimmy bekam keinen Daumen, keinen Daumen, keinen Ball, keine Münze. Keiner dieser Leute schien wirklich zu wissen, wer er war. Oder vielleicht wussten sie es schon […].

Lize Spit: Der ehrliche Finder

In sich schlüssig ist die Handlung und die Beweggründe der Protagonisten sind nachvollziehbar, ohne das sich unlogische Sprünge auftun. Dies gilt sowohl für das Verhalten der beiden Jungen als auch in Sprache und Ausdruck, sowie Denken.

Genug Geschichten, von denen der dieser traurige Roman inspiriert sein könnte, gibt es ja zu Hauf. Und so ist zwischen schmalen Buchdeckeln eine große Erzählung mit wenigen Worten entstanden, deren Clou vor allem am Ende in einem halb offenen Ende zu finden ist, welches je nach Gemütslage oder Position der Lesenden mindestens drei Interpretationen zulässt.

Nicht nur diese Wirkung hat die Übersetzerin Helga van Beuningen wunderbar ins Deutsche übertragen und so diesen wichtigen und quer durch die Altersgruppen lesenswerten Text von Lize Spit hierzulande zugängig gemacht.

Autorin:

Lize Spit wurde 1988 geboren und ist eine flämisch-belgische Schriftstellerin. Sie studierte in Brüssel am Königlichen Institut für Theater, Kino und Ton und gewann 2013 den Write Now! Award. Neben Romanen, für die u. a. mit den Preis des niederländischen Buchhandels ausgezeichnet wurde, schreibt sie Drehbücher und Kurzgeschichten. Lize Spit wird in über 15 Sprachen übersetzt.

Interview des S. Fischer Verlags mit der Autorin: Hier klicken.

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Thomas Hürlimann: Der Rote Diamant

Inhalt:

„Pass dich an, dann überlebst du“, bekommt der elfjährige Arthur Goldau zu hören, als ihn seine Mutter im Herbst 1963 im Klosterinternat hoch in den Schweizer Bergen abliefert. Hier, wo schon im September der Schnee fällt und einmal im Jahr die österreichische Exkaiserin Zita zu Besuch kommt, wird er zum „Zögling 230“ und lernt, was schon Generationen vor ihm lernten.

Doch das riesige Gemäuer, in dem die Zeit nicht zu vergehen, sondern ewig zu kreisen scheint, birgt ein Geheimnis: Ein immens wertvoller Diamant aus der Krone der Habsburger soll seit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie im Jahr 1918 hier versteckt sein. Während Arthur mit seinen Freunden der Spur des Diamanten folgt, die tief in die Katakomben des Klosters und der Geschichte reicht, bricht um ihn herum die alte Welt zusammen. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Zwischen den Klostermauern wirken Geschichte und Mythen stärker als die Gegenwart. Schnell verfällt ihnen der junge Protagonist als er elfjährig ins Internat abgeliefert wird, geleitet von gealterten Mönchen, die ihrerseits selbst aus der Zeit gefallen scheinen. So beginnt der sehr philosophisch gehaltene Roman „Der Rote Diamant“, des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann, dessen Figuren Leben bald von eben diesen Stein dominiert sein wird.

In einer Mischung aus Coming of Age, Kriminalgeschichte und philosophisch sehr aufgeladenen Erzählung wirkt diese Mischung zu Beginn sehr leichtgängig, wobei es lesend mit zunehmender Seitenzahl immer schwieriger wird, den Überblick zwischen Handlungssträngen und Ebenen auseinander zu halten. So wandelt sich der Hauptaspekt im Laufe des Voranschreitens der Geschichte. Der rote Diamant steht oft im Vordergrund, verschwindet jedoch des Öfteren. Ein Aspekt, der den Protagonisten noch zu schaffen machen wird, die wie vom Fieber ergriffen sich auf eine Suche begeben, die sie ein Leben lang nicht mehr los lassen wird.

In sehr gewählter, schöner Sprache ist diese dann doch vergleichsweise kompakte Erzählung gehalten, doch kommt dies nicht selten so klischeehaft kitschig daher, dass man den Mehltau beinahe mit den Händen zu greifen meint, wie auch der Protagonist das immer größere Zerrbild nicht umhinkommt, zu bemerken, welches sich ihm über die Jahre zeigt. Im Internat ist man immer noch den alten Zeiten verfallen, während sich da draußen die Welt längst gewandelt hat, doch nur selten dringt frischer Atem durch die dicken Klostermauern.

Thomas Hürlimann folgt den Protagonisten, ein halbes Leben lang und zeigt in seiner langförmigen Novelle, wie diese von einen Gegenstand vereinnahmt werden. Die Geschichte indes hat nicht die gleiche Wirkung. Bald ist man genervt, rollt mit den Augen. Was nützt die schönste Sprache, wenn sie die Lesenden nicht erreicht? Sicherer wäre es gewesen, sich auf ein paar weniger Ebenen zu stützen und sich einmal für ein Genre zu entscheiden, dieses jedoch konsequent durchzuhalten. So aber verliert „Der Rote Diamant“ unglaublich viel.

Schon der Name der Hauptfigur ist bedeutungsvoll aufgeladen. Bis auf seinen realen Namen werden den gleichaltrigen Figuren allesamt Spitznamen verpasst, die diese ihr Leben lang behalten. Sehr schnell schälen sich Ecken und Kanten heraus, die viel später im Handlungsverlauf zu tragen kommen werden, auch Gegensätze werden vor allem zum Ende hin deutlich. Aber auch die Beweggründe der einzelnen Protagonisten berühren kaum. Zu angestrengt liest sich diese Geschichte. Zu gewollt wirkt das ganze Szenario.

Hauptsächlich erleben wir die Geschichte aus Sicht der Hauptfigur, unterbrochen durch Einsprengsel anderer Sichtweisen, die ergänzen und damit den Handlungsverlauf vorantreiben, wie ein Puzzlespiel. Jedes neu gesetzte Teil könnte zum Ziel führen, damit auch zum funkelnden Klunker, dessen Bann Nase, Viper und die anderen Figuren verfallen sind. Wenn man nicht gefühlt auf jeder Seite erst einmal den Staub herunterpusten müsste, wäre dies sogar sehr spannend. Auch einige Rückblenden von Nebenfiguren vermögen keine spannungsreichen Elemente hinzuzufügen. So gelingt es der Geschichte nicht gerade, einem in den Bann zu ziehen.

Ein Aspekt der Geschichte, Coming of Age in Verbindung mit der Kriminalerzählung, sagt dann aber doch zu, jedoch ist die Verbindung dazwischen zu aufgeladen, als das man dies genießen könnte. Zwar kann man sich die Figuren und Schauplätze allesamt vorstellen, doch wirkt es teilweise wie ein französischer Film von Deutschen gedreht. Funktioniert nicht? Funktioniert nicht, jawohl.

So bleiben nur gute Grundideen in schöner Sprache verpackt, die aber alleine nicht reichen, um ihre Wirkung zu entfalten. Mit diesem Roman hat sich der Schweizer Autor Thomas Hürlimann keinen Gefallen getan. Vielleicht sollte man die Erzählung auch nicht als erstes seiner Werke lesen? Nun denn, danach jedenfalls fällt der Versuch schwer, das nochmals zu versuchen. Bleiben danach die anderen Werke des Autoren verschüttet oder leuchten sie um so heller, wie der rote Diamant in dieser Geschichte?

Autor:

Thomas Hürlimann wurde 1950 geboren und ist ein Schweizer Schriftsteller. Er selbst Internatsschüler studierte er nach der Schule Philosophie in Zürich und Berlin, arbeitete danach 1978 bis 1980 als Regieassistent und Produktionsdramaturg am Berliner Schillertheater. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller und kehrte fünf Jahre später in die Schweiz zurück.

1996 war er Visiting Professor am Dartmouth College in New Hampshire, zudem verbrachte er später mehrere Semester am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Er ist Urheber mehrerer Romane, Essays und Theaterstücke. Hürlimann wurde mehrfach ausgezeichnet.

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Raquel J. Palacio: Pony

Inhalt:
Silas muss hilflos mit ansehen, wie eines Nachts drei Fremde auftauchen und seinen Vater entführen. Als am nächsten Tag ein geheimnisvolles Pony vor seiner Tür auftaucht, weiß Silas, was er zu tun hat: Er begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, um seinen Pa zu finden – eine Reise, auf der er es mit unerwarteten Gefahren, gut gehüteten Familiengeheimnissen und den Geistern der Vergangenheit zu tun bekommt. (Klappentext)

Rezension:

Vieles ist besonders an Silas, der allein mit seinem erfinderischen Vater auf einer Farm lebt. Der intelligente, aber zurückhaltende Junge hat einst einen Blitzschlag überlebt. Seit dem ist das Abbild eines Baumes auf seinem Rücken zu sehen, bei dem er vor dem Gewitter Schutz suchte. Auch sein einziger Freund ist besonders.

Ein Geist, den nur Silas selbst sehen kann. Lange sind es glückliche Tage, in denen Vater und Sohn für einen Wettbewerb versuchen, das beste Foto vom Mond zu schießen, doch eines Tages wird Silas‘ Vater von zwei Männern entführt. Der Junge nimmt all seinen Mut zusammen und begibt sich auf eine Reise, nach der nichts mehr so sein wird, wie zuvor.

Der neue Roman der Jugendbuchautorin Raquel J. Palacio entführt uns in eine Zeit voller Pioniergeist, jedoch auch kurz vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs und in ein großes Abenteuer. Der mystisch angehauchte Roadtrip zu Pferde erzählt von einer Suche, auf der der kleine Protagonist nur eines finden wird. Sich selbst. Dabei verwebt die Schriftstellerin Fiktion und Realität, zusammen mit ihrer Liebe zur Fotografie. In spannend angehauchten Kapiteln erzählt die Autorin diese wundersame Geschichte, die eine gänzlich andere Tonalität anschlägt, als zuvor ihr fulminanter Debütroman.

Das muss man mögen, doch sind die Ansätze, in die Geschichte hineingezogen zu werden, von Beginn an vorhanden. Der kleine Hauptprotagonist, ein phantasiebegabtes und intelligentes Kind, hält sich nicht für mutig, wächst jedoch im Verlauf der Handlung immer wieder über sich hinaus. Palacio hat offenbar ein Händchen für sich wandelnde Kindercharaktere, mit denen sie ein Identifikationspotential schafft, welches über die gesamte Lektüre trägt.

Das ist auch notwendig. Immer wieder entstehen einzelne Längen, da Übergänge teilweise holprig wirken und die Verbindung zwischen Mystik und Realität, eingewoben in dieser fiktionalen Geschichte nicht immer stimmig daherkommt. Klar definierte Antagonisten stehen im Gegensatz zu Charakteren, die dem Zwölfjährigen im Verlauf der Handlung zu Verbündeten werden. Palacio hat mit dieser Mischung eine Geschichte geschaffen, die vom Über-sich-hinaus-wachsen ebenso erzählt, wie von der Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft, was einem mit Silas, dessen Gefühlswelten umhergeworfen werden, mitfühlen lässt.

Im Gegensatz zu „Wunder“ behalten wir die Perspektive des Hauptprotagonisten bei, sein für die anderen Charaktere unsichtbarer Freund Mittenwool dient sowohl als Rat- als auch Impulsgeber. Natürlich ist, abgesehen von den mystischen Elementen, die Geschichte insgesamt sehr generisch erzählt. Wendungen wirken aus der erwachsenen Sicht heraus sehr gewollt, funktionieren jedoch im jüngeren Lesealter sicher besser. Trotzdem schafft es die Autorin sowohl Protagonisten als auch Schauplätze vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Eine Pferdegeschichte für Jungen hat man zudem ja auch nicht so häufig.

Sprachlich gibt es keinerlei Besonderheiten, dafür ganz viele Anspielungen auf Literatur oder die Geschichte der Fotografie, die die Autorin selbst im Nachwort erläutert. Jedes Kapitel wird zudem mit einem Foto eingeläutet, was das Ganze abrundet. Palacio hat mit ihrem Roman nicht das Level ihres Debüts halten können. Zu schnell verflüchtigt sich diese Geschichte, auch fehlt es diesem Western für Kinder etwas zu sehr an Tempo. Für die Zielgruppe ist dies jedoch vielleicht ausreichend.

Autorin:
Raquel J. Palacio ist das Pseudonym von Raquel Jaramillo, einer amerikanischen Verlegerin und Autorin. Sie wurde 1963 geboren und arbeitete zunächst als Art-Direktorin, Illustratorin und Buchcover Design und veröffentlichte verschiedene Kinder- und Jugendbücher, seit 2006 beim New Yorker Verlag Workman, für den sie seit dem in verschiedenen Positionen tätig war. 2013 war sie Jurymitglied des Kinder- und Jugendprogramms des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Ein Jahr zuvor veröffentlichte sie ihr erstes eigenes Werk „Wunder“, welches in mehreren Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. 2014 wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

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