Sachbuch

Narges Mohammadi: Frauen! Leben! Freiheit!

Inhalt:

Narges Mohammadis Buch lässt uns nicht nur am furchtbaren Gefängnisalltag der Frauen teilhaben, sondern auch ihren unbesiegbaren Zusammenhalt miterleben. Die Vorworte namhafter Expertinnen und die erklärenden Fußnoten bringen den Alltag im Iran, Gepflogenheiten und Bräuche sowie politische Strömungen näher, was die Lektüre nicht nur zu einem wichtigen Dokument der Gegenwart macht, sondern auch zu einem Augenöffner über den Iran und seine Menschen, die in Freiheit und Frieden leben wollen und sich weiter gegen ihre Unterdrückung wehren werden. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Die Reaktion eines Systems aus Angst vor Veränderung ist physische und psychische Gewalt gegen jene, die es als Gegner identifiziert und das sind in der theokratischen Diktatur Irans vor allem Frauen, die sich unterdrückt und ihren Freiheiten beraubt und darum betrogen fühlen und dies mindestens seit der iranischen Revolution, die viele Veränderungen zum Schlechteren mit sich brachte. Immer weniger Menschen lassen sich dies gefallen.

Das Regime, nicht fähig zur Veränderung, reagiert heftig und füllt seine Gefängnisse. Wieder sind es vor allem Frauen, die für ihre Rechte einsetzen, die darunter zu leiden haben. Allein, der Widerstand hält an. Auch aus den Gefängnissen des Staates, seines Geheimdienstes, der Revolutionsgarden heraus. Einige von ihnen, allem voran Narges Mohammadi, die 2023 den Friedensnobelpreis für ihren Kampf um die Menschenrechte erhalten hat, erzählen nun ihre Geschichte. So entstand eine Sammlung von Interview-Portraits von Frauen verschiedener Gesellschaftsschichten, Religionsgemeinschaften und Hintergründen, welche zeigt: Der Protest der Frauen im Iran ist vielschichtig und auch eingesperrt, sehr lebendig.

Dem vorangestellt gibt es zunächst eine Einordnung verschiedener Expertinnen für den Iran und der Menschenrechte, auch die Biografie Narges Mohammadi wird bündig dargestellt, um zu verstehen, woher die Kraft dieser und anderer Frauen für die Proteste kommt, die teilweise seit Jahrzehnten geführt werden. Auch verschiedene Arten der in den iranischen Gefängnissen und bei Verhören verwendeter Folter wird eingeordnet und sortiert.

Die körperliche Gewalt von Gefängniswärtern etwa ist das eine, die psychische, etwa durch Einzelhaft und Isolation, sogenannte weiße Folter, ist ein anderer Bestandteil dieses perfiden Systems, welches allzu oft außer Blickfeld gerät.

Die Frauen schildern in den Interviews, die nicht selten aus den Gefängnissen heraus geschmuggelt werden mussten, ihre Wege, die sich oft kreuzten. Lesend entdeckt man Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede und Veränderungen von Verhörsituationen und der Haftsituation, die über die Jahrzehnte mit unterschiedlichen Zielen geführt wurden, an derer nicht wenige zerbrachen. Besonders vermögen beschriebene Momente der Stärke zu beeindrucken. Immer wieder fragt man sich, woher bloß diese Frauen, denen Tag für Tag jede Perspektive vorenthalten wird, diese Kraft nehmen.

Sehr trocken wirken teilweise die für das Vorwort gewählten Texte, in deren Erläuterungen einige Wiederholungen tatsächlich ermüden, doch beim Lesen der Interviews wird klar, dass diese nur dazu dienten um Wichtig- und Dringlichkeit der Beschäftigung mit der Thematik zu verdeutlichen. Die Proteste und der Widerstand der Menschen, insbesondere der Frauen, benötigt Aufmerksamkeit, die bei all den anderen Krisenherden zu kurz kommt. Die Wirkung der Interviews ist mit bedrückend beschrieben noch untertrieben. Es wird einem schlecht beim Lesen der geschilderten unmenschlichen Grausamkeit eines Systems und derer, die es am Leben erhalten.

Solche Sammlungen und Berichte braucht es, auch um die Politik anderer Länder entsprechend in Aufmerksamkeit zu halten und den Menschen die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigen. Nur ein Bruchteil kommen hier natürlich zu Wort, an manchen Stellen sind die Schilderungen auch arg gerafft, doch darf man dabei nicht vergessen, unter welchen Bedingungen diese zustande gekommen sind. Fast schade, dass Rezensionssysteme auch dafür eine Wertung „verlangen“.

Autorin:

Narges Mohammadi wurde 1972 geboren und ist eine iranische Menschenrechtsaktivistin. Sie ist Vizepräsidentin des Defenders of Human Rights Centers und Kritikerin des Hijab- und Keuchheitsprogramms von 2023 2016 wurde sie zu 16 Jahren Haft verurteilt, da sie sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt. Vor ihrem Engagement studierte sie zunächst Physik und arbeitete als Ingenieurin und begann für eine Studentenzeitung zu schreiben, worauf hin sie erstmals verhaftet wurde. Sie schrieb zunächst für mehrere reformistische Zeitungen und wird seit 1998 immer wieder verhaftet. Sie kritisiert Folter, Einzelhaft und Menschenrechtsverletzungen, bekam 2023 für ihr Engagement den Nobelpreis verliehen. Ihre Familie lebt inzwischen im Exil.

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Linda Segtnan: Das achte Haus

Inhalt:

An einem Maiabend im Jahr 1948 verschwindet die neunjährige Birgitta Sivander zwischen den Bäumen eines schwedischen waldes und kehrt nicht mehr zurück. Kurz vor Sonnenaufgang wird sie tot in einem graben gefunden. Siebzig Jahre später liest Linda Segtnan zufällig einen Zeitungsartikel über den ungeklärten Mord. Etwas veranlasst sie, Birgittas Schicksal näher zu erforschen. Sie beginnt, in Archiven zu recherchieren, doch auch vor dem Unergründlichen dieses Falls schreckt sie nicht zurück. Ihre Besessenheit wird immer größer – während gleichzeitig in ihrem Bauch Leben heranwächst. Ein Mädchen. Wie hält man es aus, ein Kind in eine Welt zu setzen, die so bodenlos grausam sein kann? Wie erträgt man die Gefahren, die eine Tochter bedrohen? (Klappentext) 

Rezension:

Es ist das wohl schrecklichste aller Szenarien, wenn dem eigenen Kind etwas angetan wird, wenn dieses plötzlich verschwindet und später tot aufgefunden wird. Welten brechen damit zusammen und nicht nur für die Eltern ist danach nichts mehr, wie zuvor. Am Ende bleiben Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ermittlungsakten und Zeitungsartikel. Auf letzteren stößt zufällig Linda Segtnan bei der Vorbereitung einer ihrer Stadtführungen, nicht ahnend, dass bald die Recherche nach den Hintergründen sie in Abgründe stößt, denen sie sich nur schwer entziehen wird können.

Der Kriminalfall an sich gilt aus damaliger Sicht als schnell gelöst. Die schuldige Person ist schnell ausgemacht. Lücken und Differenzen, die aus heutiger Sicht kaum zu übersehen sind, werden als nichtig abgetan, doch stößt man sich unweigerlich daran, wenn man sich heute damit beschäftigt. Wurden bestimmte Aspekte zu Gunsten einer einfachen Lösung damals außer Acht gelassen, da entweder untersuchungstechnische Mittel nicht zur Verfügung oder gesellschaftliche zwänge im Wege standen? 

Mit diesem Spagat hat sich die Autorin beschäftigt und damit eine Besonderheit im Bereich des True Crime geschaffen, eben nicht nur nüchtern einen Fall nacherzählt. Segtnan wollte erfahren, warum handelnde Personen wie ermittelnde Beamte  bestimmte Entscheidungen trafen und was dies mit den Familien des Opfers, des Verdächtigen und mit ihrer Umgebung machte, zugleich schildert sie, was die Erkenntnisse mit ihr selbst machten, was dieser Fall auch Jahrzehnte später noch auszulösen vermag.

Im Wechsel zwischen den Zeiten, einmal die Nachstellung damaliger Szenen, wie sie sich abgespielt haben müssen, dann wieder wie die Recherche nach Fakten und weiterführenden Informationen in das eigene Leben hineingreifen, schildert sie diesen Kriminalfall, versucht nach und nach ein Puzzle zusammen zu setzen. Je klarer sich Konturen, Ecken und Kanten ergeben, um so unerträglicher wird es, zumal Familie und Privatleben, was sich daraus ergibt. Zunächst besteht die Recherche da nur aus dem Zusammensuchen von Zeitungsartikeln, später Archivmaterial bis hin zur Kontaktaufnahme mit Zeitzeugen und Ortsbegehungen. Nicht nur diese Schilderungen sind es, die eine Dynamik beim Lesen erzeugen, der man sich ebenso wie die Autorin kaum entziehen mag.

Linda Segtnan legt sich dabei nicht fest, stellt mehrere Perspektiven dar, um ein vielschichtiges Bild aufzuzeigen. Wie war das gesellschaftliche Gefüge der örtlichen Gemeinschaft, in deren Nähe dieses Verbrechen geschah, wie der stand der einzelnen Familien und Personen, sowohl des Opfers als auch des Verdächtigen und wie der Umgang mit beiden, der so in alle Richtungen heute nicht mehr vorkommen würde? Welche Auswirkungen hatte dies auf die Ermittlungen und wie wirkt das in der Nachbetrachtung heute?

Gegensätze werden dabei sehr detailliert herausgearbeitet. Es ist aber eben auch spannend zu erfahren, wie die Autorin mit dem Wissen umgegangen ist, und dieses verarbeitet hat, wenn auch die spiritistischen Einsprengsel manchmal ein Zu viel des Guten gewesen sind, sollte man sich doch eigentlich über die Vorgehensweise der ermittelnden Beamten aufregen, die den Fall von Beginn an in eine bestimmte Richtung gelenkt haben, ohne andere Facetten überhaupt in Betracht zu ziehen, anstatt über die Autorin selbst. 

Manchmal fragt man sich beim Lesen schon, wie ernst man die Autorin noch nehmen kann, wenn wiederholt die App erwähnt wird, die auf ihrem Smartphone aufgespielt, angeblich die Anwesenheit von Geisterwesen anzeigt. Diese Erwähnungen einmal bitte ausklammern und nach dem Lesen schnell vergessen, um den Fokus auf andere Aspekte, nämlich die Beschäftigung und Vereinnahmung des Falls, legen, dann ist „Das achte Haus“ allemal eine spannende Lektüre wert.

Trotzdem mögen alle für sich bestimmte Anknüpfungspunkte finden. Fans von True Crime kommen hier auf ihre Kosten, ebenso wie an Psychologie interessierte Menschen, aber auch jene, die sich gerne mit Historie und gesellschaftliche Zusammenhänge vergangener Zeiten beschäftigen möchten. 

Es fehlt, glücklicherweise, der zu sehr melancholisch alles übertünchende Mehltau, der zumindest in der romanhaften skandinavischen Kriminalliteratur immer noch häufig anzutreffen ist. Im True Crime Bereich gleicht „Das achte Haus“ in etwa Michelle McNamaras „Ich ging in die Dunkelheit“, welches die Autorin sowohl als Vorbild nennt, jedoch auch in den Folgen für McNamara als abschreckendes Beispiel. Dieser Gefahr des sich in etwas Hineinsteigern hat Segtnan förmlich versucht zu vermeiden. Ob dies ihr gelungen ist, bitte einmal selbst herausfinden.

Auf der einen Seite die Schilderung des Falls, auf der anderen die des Verarbeitungsprozesses als Kontrapunkt zeichnen sich verantwortlich für die Dynamik und das Erzähltempo, den man sich kaum entziehen kann. Als gelernte Stadtführerin kann die Autorin zudem detailreich Orte bildlich vor dem inneren Auge entstehen lassen, was dann beinahe eine gewisse literarische Qualität besitzt, ohne jedoch diesen Anspruch haben zu wollen. Zuweilen wirkt das so, als würde man den Besprechungen, Begehungen beiwohnen. So schafft die Autorin Nähe zu sich selbst und auch zum recherchierten Geschehen.

Für Fans von True Crime, die auch einmal einer anderen Herangehensweise als im englischsprachigen Raum offen gegenüberstehen, ist „Das achte Haus“ als Lektüre zu empfehlen, ebenso für jene, die die sich auch mit hierzulande unbekannteren Fällen beschäftigen möchten. Der besondere Aspekt des beschriebenen Vereinahmung- und Verarbeitungsprozesses bringt noch einmal eine andere Komponente mit hinein, auf die man sich einlassen können muss.

Alleine der Zugang zu den spiritistischen Einsprengseln geht mir persönlich ab und hätte es wirklich nicht gebraucht. Viel spannender waren da die Schilderungen historischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge, für die sich dann doch alleine schon die Lektüre lohnt. Unter diesen Gesichtspunkten kann ich „Das achte Haus“ empfehlen. 

Autorin:

Linda Segtnan wurde 1986 geboren und ist eine schwedische Historikerin und Autorin. Sie hat Audio-Horrorgeschichten mit historischem Bezug zu Orten in Schweden recherchiert, geschrieben und aufgenommen. Das achte Haus ist ihr erstes Buch, es erschien im schwedischen Original im September 2022. Segtnan lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Stockholm.

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Pia Volk: Deutschlands schrägste Orte

Inhalt:

Die Geographin und Journalistin Pia Volk hat sich zwischen Wattenmeer und Allgäu, zwischen dem Frankfurter Mainufer und dem Sorbenland umgesehen und ist dabei auf lauter schräger und seltsame Orte gestoßen: eine Eiche mit eigener Adresse; ein fortgespültes Atlantis in der Nordsee; ein Kronleuchter in der Kölner Kanalisation; die letzte noch erhaltene Grenzschleuse für sowjetzonale Agenten. (Klappentext)

Rezension:

Was in der Ferne gut klappt, müsste doch eigentlich auch in unmittelbarer Umgebung funktionieren? Tatsächlich gibt es auch in der Mitte Europas, die von Straßen durchzogen, von Schienensträngen zerschnitten und von ausufernden Städten bestimmt ist, noch allerhand zu entdecken. Und das in einer Zeit, in der Satelliten helfen, uns überall zu orientieren und praktisch jeder Winkel, so meint man, kartografiert ist. Doch auch in der Heimat lohnt ein genauer Blick.

So begab sich die Journalistin Pia Volk auf Reise quer durch Deutschland und erkundete allerhand Kuriositäten. Versammelt sind sie nun in einem Buch.

Keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt diese Mischung aus lexikonartiger Zusammenstellung und kurzweilig kompakter Reiseberichte, die unseren Blick schärfen, für das Ungewöhnliche. Man findet es überall, entdeckt es manchmal erst aus der Vogelperspektive oder mit einem Abstieg in den Untergrund.

Wer weiß etwa von dem Kernkraftwerk, welches keines sein durfte, jedoch zu einem Freizeitparkgelände umgebaut wurde? Das andere, den einzigen Vergnügungspark der DDR und sein Überbleibsel mag man vielleicht kennen. Warum hängt ein Kronleuchter mitten in der Kanalisation Kölns und wo können Autofahrer eigentlich beten, wenn sie sich selbst dank fehlender Geschwindigkeitsbegrenzung überholen?

Pia Volk erkundet die Orte, die dem ersten Blick verborgen bleiben, deren Geschichten auf dem zweiten um so interessanter sind. Viele künden von menschlichen Schaffensdrang. Manche Gegenden haben auch eine unheilvolle Vergangenheit. Was wurde aus den Ideen von Einst, wie geht man mit ihnen heute um und wie können sie unsere Wahrnehmung von Heimat verändern? Kurzweilig und sehr informativ sind die Beschreibungenin der Form von Reiseberichten, so dass man selbst Lust bekommt, die eine oder andere Kuriosität, so sie nicht in diesem Werk vorkommt, selbst zu erkunden oder zu ergänzen, wozu die Autorin ausdrücklich auffordert.

Einiges mag bekannt vorkommen, zumal in näherer Umgebung, anderes zeigt die sozio- und städtegeografische Vielfalt unserer Heimat und ist so gesammelt eine wunderbare Ergänzung im Lexika-Bereich, die zum Schmunzeln und Nachdenken einlädt.

Autorin:

Pia Volk ist eine deutsche Journalistin. Zuvor studierte sie Geografie und Ethnologie und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Zudem veröffentlicht sie regelmäß Beiträge bei Deutschlandfunk Nova und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Mit ihrer Familie lebt sie in Leipzig.

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Lena Gilhaus: Verschickungskinder

Inhalt:

Über 15 Millionen Mal wurden Kinder in der BRD und der DDR seit 1945 zur Kur geschickt. Für viele von ihnen waren diese Wochen prägend – und danach haben sie kaum darüber geredet. Wie haben sie diese Zeit erlebt? Wer hat sie dort betreut? Was haben sie davon mitgenommen? Und welche Tiefenwirkungen hatte das für die Gesellschaft der Nachkriegszeit? (Klappentext)

Rezension:

Ein Gefühl der Unsicherheit und Beklemmung beschleichen dem Vater von Lena Gilhaus, der sich zusammen mit seiner Schwester und Tochter aufmacht, um die Spuren weniger Wochen auszumachen, die sein Leben im Unterbewusstsein für immer verändert haben. Auf Sylt waren die Geschwister in ihrer Kindheit auf Kur, von den Eltern getrennt. Danach sollte nichts mehr so sein, wie zuvor. Über die Reise und Recherche veröffentlichte die Autorin kurz darauf einen Artikel und brachte damit eine Lawine ins Rollen. Lena Gilhaus stieß auf immer mehr Geschichten von Menschen, die sich bei ihr meldeten oder in Foren sich selbst auf Spurensuche begeben hatten und auf Mauern des Schweigens stießen. Das nun vorliegende Werk erzählt die Geschichte einiger von ihnen.

Unter den Deckmantel von Gesundheitsprävention und Erholungskuren wurden Schätzungen zufolge bis zu 15 Millionen Kinder wochenlang ihren Familien entnommen, in die Berge oder ans Meer geschickt, doch war der systemische Eingriff behördlicher Institutionen nichts anderes als die Kontrolle über Kinder aus milieugefährdeten Familien oder solcher, die man dafür hielt. Bis hinein in die 1980er Jahre sahen sich schon Kleinstkinder mit einem in der Gesellschaft verwurzelten System schwarzer Pädagogik konfrontiert, welches sich seit Weimarer Zeit etabliert hatte, sich jedweder Kontrolle entzog und sich nur langsam wandelte.

Wenige haben diese Wochen positiv in Erinnerung. Zu sehr bestimmten fernab der eltern physisische und psychische Gewalt den Alltag in oftmals maroden, unterfinanzierten Einrichtungen, in denen Personalmangel und veraltete Ansichten nicht nur zu Zwangsernährung oder Isolation führen konnten. Auch zu Missbrauchs- und Todesfällen kam es, über die Verbände und Behörden nur allzu oft einen Mantel des Schweigens legten.

Wie konnte sich ein solches System so viele Jahre in beiden deutschen Staaten halten? Woraus ist es entstanden? Welche Leitlinien folgten Heimleitungen, Behörden und Vereine, denen die Einrichtungen unterstanden? Warum begann der Prozess der Aufarbeitung erst so viel später und steht immernoch am Beginn? Diese und andere Fragen zu beantworten, Geschichten aufzuspüren und für Klarheit zu sorgen, begibt sich seit einigen Jahren die Journalistin Lena Gilhaus auf Spurensuche, nicht zuletzt, um auch für ihren Vater ein Stück Klarheit zu erwirken.

Entlang von Berichten Betroffener, im persönlichen Interview und noch viel zu seltener Akteneinsichten spürt sie der Geschichte der Kinderverschickung auf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg beginnt, unter Kontrolle und anderen Vorzeichen im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreicht und dann, teils mit den gleichen Akteuren unter anderen Namen von Beginn der Nachkriegszeit an fortgeführt wird? Welchen Nutzen hatte dies für Behörden und eingebundenen Vereinen? Welche Folgen trugen Betroffene davon?

Die Journalistin berichtet im vorliegenden Sachbuch von Institutionen, die heute nichts mehr von ihrer dunklen Vergangenheit wissen möchten, verweigerten Zugang zu Archiven und die tiefenpsychologische Wirkung von Verarbeitungsprozessen, die so keinen Abschluss finden werden, stellt das System der Verschickung jedoch auch im Kontext der jeweiligen Zeit dar, in dem sie geschah. Lena Gilhaus erzählt von einfühlsamen Gesprächen und einer Spurensuche auf schwierigen Pfaden.

Was macht es mit den Menschen, teilweise ohne die Gründe dafür zu kennen, schon im Kleinkindalter von Eltern und Verwandten für Wochen getrennt zu werden, um dann einen vollkommenen Bruch zu erleben, der an Gewalt oder Empathielosigkeit kaum zu überbieten ist? Weshalb griffen nach Bekanntwerden einiger Missstände weder Behörden noch, viel wichtiger, zahlreiche Eltern nicht ein? Wie steht es um das System der Kinderkuren heute? Welchen Wandel hat es durchlaufen?

In kleinteiliger und mühevoller Recherche voller Hindernisse stellt Gilhaus ein dunkles, kaum bekanntes Kapitel deutscher Geschichte detailliert dar und verdeutlicht dies anhand des Parallstranges der Erlebnisse ihres Vaters, sowie immer wieder eingewoben, den Berichten anderer Betroffener aus West und Ost. Welche Unterschiede gab es, welche Gemeinsamkeiten? Wer waren die Akteure?

Die Autorin verleiht den ehemaligen Verschickungskindern ihre Stimme, bleibt trotz der Emotionalität der Thematik sehr sachlich, ohne dass die Darstellung zu trocken wäre. Dazu ist diese zu erschreckend, zu wichtig. Klar ist jedoch auch, dass dieses Sachbuch nur der Anfang einer gesellschaftlichen Diskussion, sofern heute noch aktive oder die Nachfolgeinstitutionen der Verschickung sich bedeckt und ihre Archive geschlossen halten. Eine Auseinandersetzung ist längst überfällig. Dies ist ihr sehr wichtiger Beginn.

Autorin:

Lena Gilhaus, geboren 1985, studierte Politikwissenschaften in Greifswald und Bonn. Sie lebt seit 2009 in Köln als freie Radio- und Fernsehautorin für Wellen der ARD, meist den WDR und Deutschlandradio. Ihre DLF-Radioreportage „Albtraum Kinderkur“ wurde 2017 vom Grimme Institut unter die drei besten Reportagen für den Deutschen Radiopreis 2017 gewählt. 2022 gehörte ihr Folgebeitrag „Trauma Kinderverschickung – Das lange Schweigen der Politik“ zu den Nominierten für den Alternativen Medienpreis 2022 in der Kategorie „Geschichte“.

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Florence McLean: Serienmörder – Der Mensch hinter dem Monster

Inhalt:

Wie wird ein Mensch zum Serienmörder? Und kann man diese Entwicklung stoppen? Die Psychologin Florence McLean berichtet von dem jahrelangen Briefwechsel, den sie mit einer Reihe berüchtigter Serienmörder geführt hat – unter anderem mit Jeffrey Dahmer, der die Köpfe seiner Opfer als Souvenir in der Kühltruhe aufbewahrte, und dem „Prostituiertenmörder Arthur john Shawcross.

Mithilfe von Methoden des berühmten FBI-Profilers John E. Douglas analysiert McLean Denken, Fühlen und Handeln der 34 Täter, die zusammen Hunderte Menschenleben auf dem Gewissen haben. Und sie untersucht die Möglichkeit, potenzielle Täter zu identifizieren, bevor sie den ersten Mord begehen, indem man konventionelle Profiling-Techniken neu denkt und anwendet. (Klappentext)

Rezension:

Ursprünglich war sie nur auf der Suche nach einem Thema für ihre Diplomarbeit, am Ende jedoch stand sie in Kontakt mit einigen der schlimmsten Serienverbrecher weltweit. Aus einem Land heraus, in dem der gesellschaftlichen Struktur geschuldet, vergleichsweise wenige Mordserien geschehen, schrieb die angehende dänische Psychologin Florence McLean jene an, die unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hatten.

Ihr Ziel, herauszufinden, ob es anhand verschiedener Kriterien möglich ist, diejenigen herauszufinden, die das schreckliche Potenzial haben, zum Serienmörder zu werden, noch bevor sie ihre ersten Verbrechen begehen und somit diese Personen vor sich selbst und nicht zuletzt die Gesellschaft zu schützen. Doch wie weit darf, muss man gehen, ohne das unmenschliche Abgründe einen vereinnehmen können?

In einer Mischung aus der Zusammenfassung psychologischer Studienarbeit und der Faszination, die das abgrundtief Böse auf uns einübt, so lange wir selbst nicht davon direkt betroffen sind, liest sich dieses Werk als vorsichtige Annäherung an eine Thematik, die je mehr man sich mit ihr beschäftigt, immer breiter gefächert und detaillierter gesehen werden muss, um wirksame Schlüsse daraus zu ziehen. Dabei beschreibt die Autorin ihren Werdegang in die Psychologie hinein und den Nutzen der Kommunikation mit den Schlüsselpersonen, um sie einmal als solche zu bezeichnen, ebenso was dies mit einem macht.

Die Beschäftigung und Kommunikation mit Serienmördern ist das eine, das Erstellen von Profilen und der Suche nach auslösenden Momenten, Gemeinsamkeiten und bedeutsamen Unterschieden ist das andere, kommt in dieser kompakten Form jedoch zu kurz, ebenso wie die darstellung der Briefwechsel selbst, wobei die Autorin auch klarstellt, dass alleine die Auseinandersetzung mit einer Person wie Arthur John Shawcross einen eigenen Bericht wert wäre.

Teilweise holprig formuliert, was an der Übersetzung liegen könnte, die ich nicht zu beurteilen vermag, beschreibt die Autorin sehr verdichtet ihre Schlussfolgerungen, was sich in Teilen zwar interessant liest, jedoch mehr Ausführungen bedarft hätte, zudem die Entscheidung, konzentriert man sich eher auf „Personengeschichte“ oder geht vollendet in die psychologische Analyse. Florence McLean entscheidet sich nicht für einen der beiden Wege, so dass hier Chancen vertan werden und dieses kleine sachbuch allenfalls als Teaser sowohl in die eine als auch in die andere Richtung verwendet werden kann.

Interessant ist hier vor allem die Herausarbeitung der Unterschiede etwa zwischen dem Serienmordgeschehen in den USA und im flächenmäßig kleinsten aller skandinavischen Staaten und die Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf die reguläre Arbeit in ganz anderen psychologischen Bereichen. Wie das funktioniert ist spannend zu lesen, doch auch hier fehlen wieder Ausführungen, die anstatt Verknappung besser platziert gewesen wären.

So kann dieses Werk allenfalls Ergänzung sein oder Beginn der Beschäftigung mit dieser Thematik, zudem wäre auch eine Übertragung ihres entwickelten Modells auf andere Länder mit unterschiedlichen Kriminalstatistiken interessant gewesen. So aber bleibt nur ein Gräuseln an der Oberfläche. Die Faszination und das Interesse nimmt man Florence McLean ab, auch die fachliche Komponente. Immerhin. Reicht das jedoch, für ein Werk, was sich wirklich auch so liest wie nur ein Nebenprodukt einer fachlichen Arbeit? Entscheidet selbst.

Autorin:

Florence McLean ist eine dänische Psychologin und Autorin. Sie ist Fachärztin für klinische Psychologie, Psychotherapie und Kinderneuropsychologie und führt seit 2007 eine eigene Praxis. zuvor studierte sie Psychologie und Verhaltenswissenschaften in Aarhus und arbeitete bis 2021 u. a. in der psychologisch-pädagogischen Beratung. Sie ist Mitglied der Dänischen Gesellschaft für Psychologie.

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Lore Hepner Halberstam: Antwort an Albert …

Inhalt:

Im Juli 1939 verließen der Rechtsanwalt Dr. Heinrich Hepner, seine Frau Käthe mit den Kindern Klaus, Ernst und Nesthäckchen Lore in Vaparaiso, Chile das Schiff. Über einen langen, verschlungenen Weg hatte es die Berliner Familie in letzter Sekunde nach Chile geschagfft, wo sie nun im Exil ein neues Leben aufzubauen versuchte.

Die heute 92-jährige ehemalige Journalistin Lore Hepner erzählt anschaulich und spannen den Werdegang ihrer jüdischen Familie: von der assimilation in deutschland und der behüteten, im Wohlstand erlebten Berliner Kindheit über ihre Flucht aus Nazideutschland bis zum Neuanfang im südamerikanischen Exil.

Lore Hepner Halberstam kam als staunende Europäerin, als Kind mit leuchtenden Augen in die fremde Welt und berichtet in ihrem Buch auch von ihren Erfahrungen der Integration, des Sprachlernens und der Existenzgründung auf diesem fernen Kontinent – Südamerika.

Rezension:

Kurz bevor der Zweite Weltkrieg allzu vielen Menschen die letzten Möglichkeiten nahm, sich in Sicherheit zu bringen und diesen der unmenschlichen Katastrophe des Holocausts ausgesetzt waren, zum Opfer fielen, schafften es die Eltern von Lore Hepner ihre Kinder und sich in Sicherheit zu bringen. Verschlungene Wege und eine Irrfahrt per Schiff führten ins Ausland, anders als jedoch die Passagiere der St. Louis ist diese Fahrt jedoch nicht gescheitert, sondern eröffnete der Familie die Chance auf ein neues Leben, in Chile, Südamerika.

Für das junge Mädchen ein Abenteuer, ein fremdes Land und eine andere Sprache, in der es hineinwuchs, sich ihren Platz erkämpfte. Jahre später schrieb sie erstmals die Geschichte der Familie und ihrer selbst auf. Nun ist diese kleine Familienbiografie auch dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich.

In fast zu nüchterner Berichtsform, das Vorwort der Lektorin wirkt stellenweise emotionaler, erzählt die Autorin von den Wegen ihrer Vorfahren bis nach Berlin, später von Verfolgung und Ausgrenzung, der Flucht, Momenten der Ungewissheit und des kleinen Glücks. Es ist ein Text gegen das Vergessen, der um so wichtiger wird, je extremer auch hierzulande Diskurse laufen und desto weniger Zeitzeugen noch aus dem eigenen Erleben heraus erzählen können. Zahlreiche Fotos unterstützen dieses kleine Denkmal, welches die Autorin ihrer Familie hier setzt.

Zu viel gibt es dazu nicht zu sagen. Was will man auch die Biografie eines Menschen bewerten oder eine Geschichte, die sich gezwungenermaßen so abspielen musste. Zum Text selbst ist ebenso alles gesagt. An manchen Stellen fehlt die Emotionalität und das Ausführliche, was jedoch dem Verarbeitungsprozess geschuldet sein kann. Einige Male wirkt es so, als wollte die Autorin nur schnell festhalten, um sich dann wieder anderen Dingen zu widmen, da vieles verständlicherweise schmerzt. Auch und vor allem in der Nachbetrachtung. Der Text wurde schließlich nur wenige Jahrzehnte nach dem Krieg, in den 1980er Jahren, veröffentlicht. So groß ist die Zeitspanne also nicht. Andere konnten erst viel später mit der Verarbeitung des Erlebten beginnen.

Dennoch ist diese Veröffentlichung wichtig. Jede solche und andere Familiengeschichten müssen in Erinnerung behalten werden. Menschen wie Lore Hepner Halberstam schreiben gegen das Vergessen an und es ist schön, dass sich hierzulande der Ariella Verlag diesem Text angenommen hat. Hoffen wir, dass auch dieser die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient.

Hinweis: Die Bewertung bezieht sich hier vor allem auf die Kompaktheit des Textes und die Berichtsform, die in diesem Falle zu viel von dem nimmt, was der Text eigentlich mit einem Lesenden hätte machen, wie dieser noch hätte wirken können.

Autorin:

Lore Hepner Halberstam wurde in Berlin geboren und ist eine chilenische Journalistin und Autorin. In ihrem Buch erzählt sie die Geschichte ihrer Familie und nicht zuletzt ihrer selbst.

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Peter Urban: On Air – Erinnerungen an mein Leben mit der Musik

Inhalt:

Beatles, Bowie, Onkel Pö: Peter Urban erzählt von seinem bewegten Leben mit der Musik.

Seit Jahrzehnten prägt Peter Urban die deutsche Radiolandschaft – als legendärer trockener Kommentator des Eurovision Song Contests, als Moderator verschiedener Musiksendungen, inzwischen auch als Podcaster. Offen und unprätentiös beobachtet er seit fast 50 Jahren als pop-experte die nationale und internationale Musikszene und hat in seiner langen Laufbahn unzählige Pop-Größen getroffen, interviewt und porträtiert – von Keith Richards über Yoko Ono zu David Bowie, Elton John, bruce Springsteen, Joni Mitchell, Paul Simon, Harry Belafonte und Eric Clapton. Mit diesem Buch legt er nun seine Memoiren vor, den Soundtrack eines Lebens, das beruflich wie privat immer von der Musik geprägt war. (Klappentext)

Rezension:

Nahezu alle kennen seine Stimme, ob aus dem Radioprogramm oder aus dem Off, als Kommentar des Eurovision Song Contest, den er seit 1997 bis zu seinem Abschied im Jahr 2003 mit einer Ausnahme begleitete. Doch Urbans Leben mit Musik nahm schon vorher seinen Lauf. Seit seiner Kindheit spielt der 1948 in Bramsche geborene Peter Urban selbst und kam Jahre später eher per Zufall zum Rundfunk und bildete seit dem die Grundlage für so manche Plattensammlung. Nun legt der Moderator und Journalist, ja, auch Musiker, seine Autobiografie vor, in der er nicht nur seine eigene Geschichte festhält.

In einem Interview der NDR-Talkshow hat es Peter Urban einmal in etwa so formuliert, sein ganzes Leben mache oder drehe sich um Musik, aber für den Eurovision Song Contest sei man bekannt. Doch ist das Kommentieren des Musikwettbewerbs nur ein weiterer meilenstein gewesen im bewegten leben, welches er noch einmal Revue passieren lässt. Angefangen hat das alles mit dem heimischen Musizieren im Wohnzimmer der Eltern und dem Beobachten der Techniker, die eine Aufführung aus der Ortskirche seiner Kindheit übertragen sollten. Und so beginnt das Vorspiel, welches ihn von der Heimatregion nach Hamburg, mehrfach nach London und dann rund um die Welt führen sollte. Eindrücklich schildert der Journalist die Suche nach besonderen Platten und Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern. Mit vielen wird er in Berührung kommen.

Im Laufe der Jahre verändert sich das gesellschaftliche Gefüge in Deutschland und der weklt, mit ihm die Musik. Peter Urban versucht Zeit seines Lebens den Blick über den Tellerrand zu bewahren. In den einzelnen, quasi Musiktiteln nachempfunden überschriebenen Kapiteln schält er besondere ereignisse und Wegmarken heraus, was besonders zu Anfang wirkt wie die Abhandlung eines Lexikon der Musikgeschichte.

Nach und nach, als hätte Urban, der sonst nur das Schreiben von Songtexten, Noten oder Moderationstexte gewöhnt ist, erst einmal in das erzählende Texten hineinfinden müssen, wirkt die Biografie zugänglicher und einfacher zu lesen. Natürlich sei gesagt, dass man quasi nebenher unzählige Titel sich heraussuchen und abspielen kann, hat man doch ebenso mit „On Air“ einen Fundus an hörbarer Zeitgeschichte vorliegen. Sicher ist es auch so, dass je nachdem ab wann die gemeinsamen Berührungspunkte größer werden, die Biografie interessanter wird. Das beginnt bei mir, der mit Peter Urban als ESC-Kommentator aufgewachsen ist, eben erst damit.

Faszinierend sind die Hintergründe, die er erläutert. Wie liefen Vorbereitungen für eine Radio-Sendung ab, in der bedingt noch viel improvisiert werden musste, wie entwickelte sich die Technik weiter, zum Segen oder Fluch des Moderierenden. Wie betrachtet Urban die Entwicklung des weltweit größten Musikwettbewerbs ebenso wie die Musikszene selbst, wie betrachtet sie auch ihn und warum noch einmal wirkt manches Kommentar am ESC-Finalabend für manch Zuschauenden so betulich? Wo hätte er selbst einmal kritischer sein können oder gar müssen? Peter Urban gibt sich kritisch, sinniert, jedoch ohne über andere, denen er begegnet, herzuziehen. Eine Biografie mit Respekt und ganz viel Nostalgie ist das, so vielschichtig.

Immer noch beeindruckt, schildert er sehr ausführlich die Begegnungen mit Legenden wie Yoko Ono oder Mick Jagger, Keith Richards, einzelnen Mitgliedern der Beatles oder Udo Lindenberg, ohne die Probleme oder schwierigkeiten des Musik-Business‘ außen vor zu lassen. Er kennt sie ja selbst, aus eigener Erfahrung heraus. Peter Urban spielte selbst in einigen Bands, was er bei seinem Interviews zu nutzen wusste. Wer ihn traf, der spürte wohl, hier ist jemand, der sich auskennt, der weiß, wovon er spricht.

Diese Liebe zur Musik kommt in jeder einzelnen Zeile durch und ist daher nur als lesenswert zu empfehlen, auch als einen Aspekt der langjähriger bundesrepublikanischer Geschichte und auch sonst. An manchen Stellen wirkt das zwar sehr theoretisch, fast exerzierend, doch zeigt Urban eben auch, was Musik in der Lage ist in Menschen zu bewirken. Damit ist dann nicht nur gemeint, dass auch unzählige Hörer und Hörerinnen seine Rundfunksendungen als Fenster zum Westen nutzten, teilweise penibel Listen führten, wann welche Titel gespielt wurden und sich so ein Stück Ausbruch aus dem Alltag schufen, noch bevor die Mauer fiel.

Der Autor stellt jedoch auch ein bedeutendes Stück journalistischer Entwicklungsgeschichte dar, eben so interessant, wie auch wie er sich zukünftig die Rolle der Öffentlich-Rechtlichen, des Rundfunks und überhaupt des Eurovison Song Contests vorstellt, dem er, wie er selbst feststellt, eigentlich ein eigenes Buch widmen könnte. Dieser sehr ausführliche Streifzug, nicht nur durch die Musik, macht viel Freude, diese zu verfolgen, zudem Peter Urban es vermeidet, gezielt offene Wunden zu suchen und die noch einmal zu erweitern. Auch das ein Kennzeichen des Werks, allen Personen, die in seiner Beschreibung vorkommen, zollt er respekt.

So sind es eben nicht nur „Erinnerungen an mein Leben mit der Musik“, sondern viel mehr als das.

Autor:

Peter Urban wurde 1948 in Bramsche geboren und ist ein deutscher Journalist, Musiker und Radiomoderator. Nach der Schule studierte er zunächst in Hamburg Anglistik, Soziologie und Geschichte, bevor er 1977 über Texte anglo-amerikanischer Populärmusik promovierte. Seit 1973 arbeitet er für den Norddeutschen Rundfunk zunächst frei, später fest angestellt. Zudem verwirklichte er diverse Musikprojekte als Musiker und Komponist. 1988 übernahm er eine Stelle als Redakteur der Musikredaktion des NDR.

Von 1995 bis 1988 war er als Station-Voice von NDR 2 tätig, ab 2003 Redakteur für mehrere Sendungen von NDR Info. Ab 1997 kommentierte er den Eurovision Song Vonetst, war verschiedener Weise auch Juror, z. B. 2012 beim Jewrovision in München. 2013 ging er als Redakteur in Rente, arbeitet jedoch als freier Mitarbeiter weiterhin für den NDR. 2023 kommentierte er zum letzten Mal den Eurovision Song Contest.

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Karoline Klemke: Totmannalarm

Inhalt:

Herr Matzke vergewaltigt fünf Frauen, sitzt seit dreißig Jahren in Haft, fühlt sich aber unschuldig. Herr Knieriemen missbraucht seine kleine Nichte. Er genoss ihn, diesen Moment, in derm er endlich selbst ohne Angst sein konnte. Frau Krüger, die ihr Baby, den kleinen „Murkel“, totgeschlagen hat, will nie wieder Opfer sein – auch nicht hinter Gittern.

Meisterhaft erzählt die forensische Psychologin und Psychotherapeutin Karoline Klemke von erschütternden Begegnungen im Maßregelvollzug. Die Geschichten führen die Brutalität und die beweggründe der Täter vor Augen. Sie spiegeln aber auch, wie die Psychotherapeutin um Kontrolle kämpft und um Fassung ringt – im festen Willen zu helfen. Intensive Einblicke in eine geschlossene Welt. (Klappentext)

Rezension:

In den Welten zwischen Realität und Fiktion gelingt der Spagat häufig genug nicht. Gerade bei sehr sensiblen Themen scheitern Schreibende oft genug und kippen entweder zu sehr ins Kitschige oder aber wirken so abgehoben, dass die Lektüre kaum mehr möglich ist. Die Psychotherapeutin Karoline Klemke hat sich dennoch daran gewagt, eine für die Mehrheit der Gesellschaft vorwiegend im Dunklen liegende Thematik diese zugänglich zu machen. Herausgekommen dabei ist das Gegenteil eines literarischen Sachbuchs, über die Abgründe in den Köpfen hinter Gittern.

So schwer wie die Zuordnung des Genres fällt, so ist auch das Erzählte kaum verdaulich. Die Autorin nimmt uns mit in eine abgeschlossene Welt der Mörder, Sexualstraftäter, die aus unterschiedlichsten Beweggründen heraus ihre kaum in Worte zu fassenden Taten begangen haben, zu denen jene Zugang finden müssen, die darüber entscheiden, wie viel Menschsein noch in diesen steckt und wer vielleicht noch eine Chance auf ein Leben da draußen hat, ohne erneut eine Gefahr für die Gesellschaft zu sein.

Da die Realität manchmal zu grausam ist und ja, auch weil die Arbeit mit Patienten gewissen Richtlinien unterliegt, wird fiktionalisiert und so liegt hier ein Roman vor, der abgeändert von den Erfahrungen der Autorin mit ihrer Arbeit erzählt, in Form der Gestalt der fiktiven Psychotherapeutin Christiane Richter, die frisch aus dem Studium ihre Arbeit im Maßregelvollzug aufnimmt. Künftig soll auch sie entscheiden, bei wem Chancen auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft bestehen und wie dies zu bewerkstelligen ist. Doch wie macht man das, immer einen Finger in der Nähe des Alarmknopfs haltend?

Lesend hangeln wir uns von Fall zu Fall, dringen in die Köpfe derer ein, denen wir nie begegnen wollen und erleben gleichzeitig sowohl bei diesem das Wechselbad der Gefühle als auch bei der Hauptprotagonistin selbst, die von Seite zu Seite mehr Konturen bekommt. Anfangs blass und unsicher wirkt die Figur immer mehr fassbar, doch steigert sich damit auch die Fallhöhe für den Charakter, der merkt wie er selbst von dieser Tätigkeit verändert wird. Immer wieder steht die Frage im Raum: Wie hält man das nur aus?

Die einzelnen Fälle sind sehr kompakt, kapitelweise dargestellt, zudem verwoben mit den privaten Herausforderungen der Protagonistin, die schon bald auch außerhalb ihrer Arbeit glaubt, der berufliche Blick verändere die Wahrnehmung. Gerade in der Ausformulierung dieser und anderer Kippmomente liegt die Stärke der Autorin, die permanent trotz relatiiv ruhigem Erzähltempo die Spannung hochzuhalten versteht.

Der Part der Antagonisten ist von Beginn an klar, hier ist die Veränderung zum Guten oder zum noch Schlechteren, die Spiegelung des Gegenübers und die Reaktion sehr interessant, übrigens auch in dem Sinne, was das mit jenen macht, die das Buch zur Hand nehmen. Sind bestimmte Reaktionen aus ihrer Sicht heraus nicht logisch und folgerichtig, so schlimm die Konsequenzen auch sind? Stimmt man nicht hier und da überein, würde man sich in die einzelne Figur hineinversetzen? Diese Gedanken bleiben, so schnell wie sie kommen, im Halse stecken. Allein, dass die Autorin sie heraufbeschwören kann, zeigt ihre Erzählkunst.

Handlungsort bedingt könnte das ganze an ein Kammerspiel erinnern. Nur der Humor fehlt, tatsächlich ist sehr viel Sachkenntnis in den Roman eingeflossen. Unweigerlich wird man sich fragen, welche der Geschichten wahr sind, welche erfunden, welche details verändert wurden, um ein Thema zu fassen, welches einem sonst durch die Finger rinnt. Wer weiß sonst schon, wie die Arbeit mit Straftätern aussieht, welche Ziele erreichbar sind und was passiert, wenn das Schlimmste eintritt, was man sonst zu verhindern sucht?

Immer ist es dieses Gegenüberstellen der Protagonistin mit zumeist einer anderen Figur, Rollenverteilung ohne Zweifel. Ersterer wird, wie in der Realität der aktive Part in diesem Roman seit. Der Informationsstand von uns Lesenden ist stets der gleiche, aber eben auch das Umhergeworfen werden, welches um so heftiger wird. Auf Überraschungsmomente ist man gefasst und wird dennoch von ihnen überrumpelt. Der Roman beleuchtet einige sehr interessante aspekte der therapeutischen Arbeit unter erschwerten Bedingungen, immer wieder durchsetzt von Zeitsprüngen und Rückblenden, die eine ganz eigene Dynamik entwickeln.

Man gewinnt ein klares Bild davon und ist am Ende heilfroh, sich nicht näher damit beschäftigen oder konfrontieren zu müssen. So sehr zieht die Erzählung Karoline Klemkes einem in den Bann, so real wirkt der Schauplatz, der zum Hauptteil das kleine Büro der Protagonistin ist.

Zwischen der Kriminalliteratur und spannenden, oft genug effekthaschender True Crime Büchern, dazu noch Romanen, steht „Totmannalarm“ irgendwie dazwischen und doch außerhalb, wozu nicht nur die Sachkenntnis der Autoerin beiträgt, was das ganze lesenswert macht, wenn man sich an die Lektüre denn heran traut. Wer das tut, denkt jedoch über die Arbeit von Psychotherapeuten hinterher anders, kann sogar vielleicht einzelne Entscheidungen nachvollziehen, wie sie zustande gekommen sind, was vorher so nicht möglich war. Wenn nur ein Bruchteil dieser Zeilen davon solch eine Wirkung erzielt, hat sich die Lektüre schon gelohnt.

Autorin:

Karoline Klemke wurde 1973 geboren und ist eine deutsche Psychologin und Psychotherapeutin. Nach dem studium betreute sie obdachlose jugendliche und arbeitete von 2002-2007 in einer Klinik für Forenische Psychiatrie. Nach ihrer Approbation als Psychologische Psychotherapeutin wurde sie für kriminalprognostische Gutachten herangezogen und arbeitete mit Gruppen im Bereich Verhaltenstherapie. Seit 2011 betreibt sie eine psychotherapeutische Praxis in Berlin, war zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forensisch-therapeutischen Ambulanz der Berliner Charite tätig. Dies ist ihr erster Roman.

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Daan Heerma van Voss: Die Sache mit der Angst

Inhalt:

„Du hast zu viel Angst vor dem Leben.“ Als der Autor Daan Heerma van Voss mit dieser Begründung von seiner Freundin verlassen wird, reist er von Amsterdam über Jakarta nach San Francisco, um die Ursachen seiner Angststörung endlich tiefer zu ergründen. Was ist Angst? Woher kommt sie? Und welche Rolle spielen unsere Gene? Dieses Buch hilft, einen Weg zu finden, Angsgefühle, Panik und Phobien zu verstehen und ihnen etwas entgegenzuhalten. (Klappentext)

Rezension:

Jeder von uns kennt sie, die Angst. Sie schützt uns, doch oft genug dominiert sie auch unser Leben. Seit seiner Kindheit leidet der Autor, Journalist und Historiker Daan Heerma van Voss unter Angstzuständen und hat sich an einem der Wendepunkte seines Lebens, die durch eben diese willkürlich auftretenden Angstattacken markiert sind, aufgemacht, diese zu ergründen.

Sein Weg führte ihn einmal rund um den Globus, quer durch die eigene Familiengeschichte und nicht zuletzt durch einen Schnitt vieler Themengebiete, von der Wissenschaft bishin zur Popkultur. Entstanden ist dabei ein einfühlsamer und informativer Bericht über ein Phänomen, das uns alle betrifft.

In der Medizin ist man sich einig, die Anzahl der Menschen, die unter chronisch immer wiederkehrenden Angstzuständen leiden, wächst seit Jahren, sowie der Medikamentenmarkt, der darauf nicht immer heilvollen Einfluss nimmt. Doch wie kam es dazu, dass heute die verschiedenen Angstzustände als medizinisch zu betrachtende Gegenstände behandelt werden? Wie entwickelte sich die Betrachtung der Angst über die Jahrhunderte bis in unsere heutige Zeit? Woran liegt es, dass einige Ängste, wie bestimmte Phobien gesellschaftlich anerkannt sind, andere nicht?

Anhand dieses sehr persönlichen Sachbuchs holt der Autor eine brisante Thematik aus der Tabuzone und versucht zu verstehen, womit die meisten Menschen irgendwann in ihrem Leben einmal zu känmpfen haben und warum immer mehr von uns sich in einer Spirale gefangen sehen? Was machen wir mit der Angst? Was macht die Angst mit uns.

Entlang des Zeitstrahls der eigenen Familiengeschichte hangelt er sich durch die verschiedenen Arten, dieses Phänomen zu betrachten und ergründet sowohl den historischen Umgang als auch die Schlussfolgerungen für die heutige Zeit. Zunächst ein philosophisches Problem erläutert er die Entwicklung hin zur medizinischen Betrachtung, ergründet die Wahrnehmung chronischer „Angsthasen“, deren Bandbreite von Ängsten vor Spinnen bis hin zu „Angst, dass eine bestimmte Person mein Essen isst.“, reicht.

Was auf den ersten Blick humorvoll klingt, manifestiert sich in soziale Einschränkungen, die der autopr ebenfalls versucht, nachzuvollziehen, zudem jenen zu erläutern, die nicht betroffen sind.

Das mündet hier in eine Art Verständnis schaffendes Geschichtsbuch. Ein Ratgeber ist das nicht und hebt sich somit wohltuend ab von der Sparte Selbsthilfebücher, die mehr zerstören als aufbauen und eher in die Esoterikecke gesteckt werden sollten, mit Warnzeichen versehen.

Wenn es ein Kritikpunkt gibt, ist es bezogen auf medizinische Begrifflichkeiten zu empfehlen, sich sehr auf die Lektüre zu konzentrieren und den einen oder anderen Sachverhalt nochmals nachzuschlagen. Spätestens beim dritten genannten Wirkstoff von Medikamenten gerät man durchaus etwas ins Trudeln, sofern man sich damit noch nicht beschäftigen musste und dann das Hintergrundwissen zumindest in Ansätzen fehlt. Ansonsten jedoch ist das sehr informative Sachbuch zu empfehlen, vielleicht um sich selbst, in jedem Fall Betroffene besser in ihren Ängsten nachvollziehen und verstehen zu können.

Autor:

Daan Heerma van Voss wurde 1986 geboren und ist ein niederländischer Autor, Jozurnalist und Historiker. Er schreibt regelmäßig für internationale Magazine und Zeitschriften. Seine journalistischen Texte wurden mit dem De Tegel-Preis ausgezeichnet. Dies ist sein erstes Sachbuch.

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Benedikt Bösel: Rebellen der Erde

Inhalt:

Klimawandel, Artensterben und Bodendegeneration bedrohen unsere Existenz. Jede dieser Krisen ist mit den anderen verbunden und alle drei treffen sich in der Landwirtschaft. Einerseits gefährden sie diese, andererseits hat die Landwirtschaft selbst großen Anteil an der Verschärfung dieser Bedrohungen. Dass es nicht so weitergehen kann, ist offensichtlich. Die gute Nachricht: Die Transformation der Landwirtschaft könnte sie wieder zukunftsfähig, resilent machen und profitabel, gleichzeitig allen drei Megakrisen die Stirn bieten.

Benedikt Bösel, der das elterliche Gut in Brandenburg übernommen hat, zeigt, wie das funktionieren kann. In einer der landwirtschaftlich schwierigsten Gegenden Deutschlands, wo Dürre auf extrem sandigen Untergrund trifft.

(Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Buchtrailer Benedikt Bösel „Rebellen der Erde“ (Scorpio Verlag)

Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann die Transformation der Landwirtschaft Richtung Massenproduktion, um eine stetig wachsende, damals zudem hungrige Bevölkerung zu ernähren. Erst schleichend, dann in einem immer höheren Tempo wurden etwa Streuobstwiesen von Feldern riesiger Monokulturen verdrängt. Ein Phänomen, welches in unterschiedlicher Ausprägung weltweit zu beobachten war und deren Auswirkungen Landwirte überall zu spüren bekommen.

In der Welt und zunehmend auch unmittelbar bei uns. Extremwetterperioden vernichten Ernten, die mit immer weniger natürlichen Nährstoffen auf überdüngten Böden zurechtkommen müssen. Vielerorts wird versucht, mit Einsatz von Chemie und Pestiziden oder, wer sie sich leisten kann, teurer Technik, dagegen zu halten. Doch, wie lange geht das noch gut? Diese Frage, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, stellen sich immer mehr Landwirte. Jahr um Jahr geben immer mehr Höfe auf.

Praktisch vor der Situation bzw. der Frage, wie das elterliche Gut zukunfts- und überlebensfähig gemacht werden kann, stand Benedikt Bösel als er dieses übernahm, in einer der trockensten und damit landwirtschaftlich schwierigsten Gegenden Deutschlands. Technische Neuerungen, das war schnell klar, waren nicht zu finanzieren, von Pesitiden und Chemie wollte er sich nicht abhängig machen. Das Problem, Hitzeperioden und der nährstoffarme Boden. Könnte man zumindest an diesem arbeiten?

So viel sei schon mal verraten, dem Autor blieb keine andere Wahl als dies zu versuchen. Er beschreibt seinen Weg in die Landwirtschaft, der keineswegs vorherbestimmt und geradlinig war, doch voller Interesse und der Annahme von Herausforderungen, die sich dieser Tage stellen und zeigt, was mit Ideenreichtum und Austausch alles verwirklicht werden kann. Entstanden ist dabei ein Bericht ohne erhobenen Zeigefinger, in dem Bösel darstellt, wie etwa Forst- oder Weidewirtschaft, der Anbau von Pflanzen neu gedacht werden muss, damit auch in Zukunft landwirtschaftliche Betriebe bestehen können. Mit und trotz des Klimawandels.

Das dies nicht einfach war und Stellschrauben von Ideen anderer angepasst werden mussten, zeigt er anhand verschiedener Projekte, um seinen Betrieb, die er und sein Team im Laufe der letzten Jahre aufgebaut haben. Dargestellt werden die einzelnen Elemente moderner Landwirtschaft, die sich dort teilweise immer noch in einer Art Versuchsphase, wissenschaftlich begleitet befinden und was im Kleinen bereits funktioniert, wie die Zukunft aussehen kann. Klar ist, die traditionelle Landwirtschaft kann so wie bisher nicht mehr weitermachen, zudem immer mehr Menschen sensibler für das Klima werden und nicht zuletzt dafür, was auf ihre Teller kommt.

Bösel gelingt es, diese Geschichte von Lebensmitteln zu erzählen, die es künftig brauchen wird, zeigt, welche Ideen und Grundlagen bereits seit Jahrzehnten existieren, nur neu oder weitergedacht werden müssen für unsere Zeit. Dies tut er mit so viel Zugewandtheit und Begeisterungsfähigkeit, ohne Rückschläge oder Herausforderungen zu verheimlichen, dass sich nicht nur sein Betrieb von der Masse abhebt, sondern auch die Lektüre von der sonstigen Schwarzmalerei.

Natürlich ist das kein Patentrezept, aber immerhin eine Blaupause dessen, wie dezentrale Landwirtschaft bereits funktioniert und eine beeindruckende Wirkung innerhalb von wenigen Jahren entfalten kann. Kann es etwa gelingen, unsere Felder vielseitiger und doch profitabel zu gestalten? Wie müssen künftig landqwirtschaftliche Nutztiere in dieses System integriert werden? Kann man beinahe tote Böden helfen, sich selbstständig zu regenieren oder Wälder umbauen, dass die kranken Monokulturen auch dort der Vergangenheit angehören? Ja, sagen Bösel und sein Team und beschreiben in diesem Sachbuch das Wie.

Es ist die Verbreitung eines Konzepts gleichsam einer Zukunftsvision, die hier vorgelegt wird, jedoch nicht nur reine Theorie. Lektüretipps, die man getrost für den heimischen Garten im Kleinen anwenden kann, finden sich da ebenso wie die zahlreichen wunderbaren Illustrationen von Romina Rosa, die das Beschriebene visualisieren. So gelingt nicht nur die Mahnschrift, sondern eben auch viel Positives zu transportieren.

Mit jeder Seite Lektüre wird man beeindruckter, auch von diesem riesigen Projekt, in dem nicht nur der Autor selbst so viel Leidenschaft hineinsteckt. Inzwischen hat dies zu einer Ansammlung weiterer Projekte dort im brandenburgischen Madlitz geführt, die allesamt Landwirtschaft in ihren Facetten neu denken. Wenn dies im Kleinen so funktioniert, man stelle sich das überall in Deutschland vor. Bösel selbst hat diese Vorstellung schon. Wird sie flächendeckend real, wäre die Landwirtschaft nicht mehr Teil des Problems sondern ein großer Baustein der Lösung. Anfangen kann man dafür unbedingt mit der Lektüre.

Autor:

Benedikt Bösel wurde 1984 geboren und studierte Business Finance in Großbritannien, dann Agrarökonomik in Berlin. Er arbeitete zehn Jahre in der Finanzindustrie, übernahm später jedoch den ökologisch bewirtschafteten Hof seiner Eltern in Alt Madlitz. Die Erfahrungen aus der Wirtschaft gepaart mit den großen Herausforderung eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs nutzt er, um den Beweis anzutreten, dass die Landwirtschaft zum Schlüssel für uns und nachfolgende Generationen werden kann. Mit seiner Passion konnte Bösel inzwischen zahlreiche Partner und Mitstreiter anstecken, die sein Projekt zu einer beherzten Gemeinschaftsaktion machen.

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