Krieg

Wolfgang Kraushaar: Israel

Inhalt:

Als die Hamas am 7. Oktober 2023 über 1.100 Israelis ermordete, schien auf einen Schlag der von den Nazis verübte eliminatorische Antisemitismus zurückgekehrt zu sein. Premierminister Netanyahus Versuch, den Aggressor umgehend auszuschalten, führte jedoch im Gaza-Streifen zu einer humanitären Katastrophe. Die Bilder, die seitdem um die Welt gehen, haben zu einem Aufflammen des Antisemitismus und zu Debatten geführt, die von einer Begriffsverwirrung erheblichen Ausmaßes gekennzeichnet sind.

Wolfgang Kraushaar ordnet die unterschiedlichen Diskurse, trennt die antisemitschen Stereotype von triftigen Argumenten und stellt die unverzichtbaren zivilisatorischen Minimalforderungen heraus, nicht ohne den Umgang mit den Problem- und Grenzfällen zu präzisieren. (Klappentext)

Rezension:

Einen Tag nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges fünfzig Jahre zuvor, am jüdischen Feiertag Simchat Tora brachen zunächst Unmengen von Raketen über die Mitte und den Süden Israels herein. Damit wurde der seit 2014 zwar fragile, aber bestehende Waffenstillstand gebrochen, doch war dieser Angriff nur Ablenkung für das, was folgen sollte. Kämpfer der Hamas durchbrachen die Grenzanlagen und forderten über 1.100 Todesopfer, 3.000 Verletzte. Unzählige Menschen wurden in den Gaza-Streifen verschleppt. An keinem Tag seit dem Holocaust zuvor sind so viele Jüdinnen und Juden getötet worden, wie am 7. Oktober 2023.

Das ganze Ausmaß der Bestialität wurde erst nach und nach deutlich. Je detaillierter die Informationen ausfielten, desto massiver wurden die Schockwellen. Zugleich suchte man nach Worten, einen Begriff für diese Barbarei. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar ordnet darauf Begrifflichkeiten ein, beleuchtet die Phrasen und Narrative einer kaum zu durchdringenden Diskussion und zeigt die Meta-Diskurse auf.

Zunächst beginnt der Autor beim jüngsten aller Konflikte und zeigt auf, was eigentlich am 7. Oktober geschehen ist und wie es überhaupt zu den dann stattfindenden Ereignissen kam. Er erläutert die Vorbereitungen der Hamas, aber auch die Reaktionen Israels in sehr kompakter Form, bevor er zunächst geografische Begrifflichkeiten einordnet, beginnend mit von der deutschen Politik beschworenen Solidarität mit dem jüdischen Staat. Was heißt dies überhaupt und können diese Worte überhaupt mit einer sinnvollen Bedeutung gefüllt werden oder ist dies letztendlich eine hohle Phrase ohne Wert, nur aus Pflichtbewusstsein?

Danach wird die politische Geografie aufgedröselt und zugleich auf die Geschichte der Region eingegangen. Was sind Israel und der Zionismus überhaupt? Wie sind Politiker, wie etwa ein Netnyahu einzuordnen, um dann widerum den Bogen zu Deutschland als Partner des Landes zu spannen. Auch wird die Gemengenlage im Gaza-Streifen erläutert, sowie im Westjordanland, ohne zu vergessen, dass wenn wir Israel betrachten, auch geklärt werden muss, was eigentlich Palästina in den unterschiedlichen Ansichten als geografischer Raum bedeutet und wie der Stelllenwert der Hamas ist. Auch wieder im Gegenlicht zu den Akteuren der Politik Israels.

So geht es weiter in der Lektüre, die zu weilen sehr theoretisch daherkommt, aber gerade bei dieser sensiblen Thematik sehr viel Wert darauf legt, Begrifflichkeiten korrekt einzuordnen. Dabei erklärt Kraushaar die verschiedenen Interpretationen und stellt sie einander gegenüber. Nur so entsteht ein klares Bild, für welches man jedoch durchgehend Konzentration benötigt, dieses in sich aufzunehmen. Einerseits politiktheoretisch, andererseits fast philosophisch wirkt diese Einordnung, die versucht, einem Konflikt sprachlich Herr zu werden. Zuweilen sehr distanziert scheint das, nicht jedoch vollends ohne Emotion zu sein.

Der Autor zeigt die Wendepunkte der Geschichte der Region als Verkettung. Unweigerlich kommt die Frage auf, was als nächstes passieren muss, was als nächstes passieren wird. Lehrreich ist das Sachbuch vor allem mit den letzten Kapiteln, in dem Parolen erläutert werden, die zu weilen auf Demonstrationen zu hören sind und wenn Meta-Diskurse kurz zusammenfassend dargestellt werden.

Man geht mit einer Fülle an Informationen und Wissen aus der Lektüre heraus, muss sich jedoch bis dahin sehr konzentrieren und zuweilen wiederholend lesen. Leicht zugänglich ist etwas anderes. Positiv anzumerken ist jedoch, dass Kraushaar nicht vergisst, anhand zusammengestellter Punkte zu erläutern, was im Endeffekt für die Auflösung eines Konflikts in der Region seines Erachtens erfolgen müsste. Ob das dann so funktioniert, steht jedoch in den Sternen.

Autor:

Wolfgang Kraushaar wurde 1948 geboren und ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Von 1987 bis 2014 arbeitete er am Hamburger Institut für Sozialforschung, seit dem bis zum 2023 für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seine Forschungsschwerpunkte sind Protestbewegungen und der linke Terrorismus. Er ist Autor verschiedener Werke zu diesen Thematiken.

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Peter Arndt: Die Wetterseite der Bäume

Inhalt:

Kolja ist elf Jahre alt und wächst in der Vielvölkerwelt eines abgelegenen Landstrichs in der Ukraine auf. Als der Krieg ausbricht, geht es für ihn und seine Familie in einen überfüllten Umsiedler-Waggon in ein neues Leben, im Reichsgau Wartheland/Polen, was die Versprechungen der NS-Propaganda einzulösen scheint.

Wie ein Schlafwandler taumelt Kolja durch Jugendorganisation des NS-Regimes bis er sich als Kindersoldat in Berlin wiederfindet, währenddessen seine Familie im eisigen Winter 1945 versucht, vor der anrückenden Sowjetarmee zu fliehen. Gewissheiten brechen. Für alle zählt nur: am Leben bleiben. (gekürzter Klappentext)

Rezension:

Nicht zuletzt aufgrund der derzeitigen Geschehnisse in Europa erfährt der biografische Roman „Die Wetterseite der Bäume“ von Peter Arndt eine besondere Brisanz. Der Autor, der seiner Familiengeschichte, vor allem die seines Vaters, gekonnt erzählerisch nachspürt, hat damit ein eindrückliches Stück Erinnerungsliteratur innerhalb der Bücher gegen das Vergessen geschaffen, welche heute wichtiger denn je ist, zudem in einer sich immer mehr polarisierenden Welt.

Worum geht es? Wir folgen den Spuren Koljas und seiner Familie, die in einem kleinen Ort Wolhyniens zu Hause ist und dort innerhalb einer Vielvölker- und Sprachgemeinschaft eine kleine Mühle betreibt. Man hat nicht viel, aber mehr als man zum Leben braucht, kommt mit den Nachbarn gut aus, auch wenn sich im Miteinander die Zeichen des Krieges 1940 mehr und mehr bemerkbar machen. Da kommen die Umsiedlungspläne der Nationalsozialisten, die Polen zusammen mit der Sowjetunion besetzt und unter sich aufgeteilt haben, gerade recht. Eine Chance, die Koljas Vater nutzt. Nicht ahnend, welche Odyssee ihnen alle noch bevorstehen wird.

Auf Grundlage von Interviews, welches der Autor mit seinem Vater noch bis vor dessem Tod führen konnte, einigen Reisen und Archivmaterial entstand der beeindruckende Roman, der sehr kompakt gehalten mit hohem Erzähltempo die Wege verfolgt, die die Familie auf sich nehmen musste, zunächst um ein neues Leben zu beginnen, anschließend selbiges zu retten.

Dabei verfolgen wir zwei perspektivisch unterschiedliche Erzählstränge. Den Weg von Koljas Familie, zuletzt inmitten der großen Flüchtlingstrecks gen Westen, unter anderen Vorzeichen, denen heutiger Flüchtlinge psychologisch gar nicht mal so unähnlich, zum anderen Kolja, der vom nationalsozialistischen System nach und nach vereinnahmt wird und schließlich als Kindersoldat ums Überleben kämpfen muss.

Einige Jahre, zusammen mit Rückblenden, umfasst die Erzählspanne und wechselt, ohne dass man dabei den Überblick verlieren würde. Dies verleiht der Geschichte eine eindrückliche Dynamik, derer man sich nicht entziehen kann, zudem hilft auch eine stilisierte Landkarte am Anfang des Romans, die Übersicht zu behalten. Kurzweilig ohne Längen und, was noch viel wichtiger ist, ohne Verklärungen, weiß Peter Arndt von Hoffnung und Enttäuschung, Bangen und Grauen, aber auch den Momenten zu erzählen, die vielleicht mehr als einem Schutzengel zuzuschreiben sind.

In klarer Sprache wird eine Zeit wieder lebendig, die in abgewandelter Form auch heute noch für zu viele Menschen bittere Realität ist, zudem wieder Landstriche der Ukraine, zudem auch dieser heute gehört, umkämpft sind.

Hauptfigur dieses biografischen Romans ist Kolja, zu Beginn der Erzählung elf Jahre alt, weshalb „Die Wetterseite der Bäume“ sowohl als Jugendbuch funktionieren kann als auch, mit der Geschichte an sich als biografischer Roman, den man unabhängig davon lesen kann.

Der Protagonist ist dabei nicht unfehlbar, zeigt sich doch an ihm, wie leicht und systemisch die Vereinnahmung Jugendlicher damals vonstatten ging, auch dies hat sich unter umgekehrten Vorzeichen bis heute nicht geändert. Mit ihm und seiner Familie fühlt man jedoch gerne mit, kommt nicht umher die beschriebenen Personen um ihren Mut und Überlebenswillen zu bewundern.

Peter Arndts erzählerische Stärke liegt dabei nicht nur darin, den Figuren ihre Ecken und Kanten anzugedeihen. Auch Orts- und Situationsbeschreibungen verfehlen ihre Wirkung nicht. Fast ist es so, als stünde man neben den Jungen, der bald seinen geliebten Hund zurücklassen muss oder im Flüchtlingstreck mit knurrendem Magen, in klirrender Kälte. Immer wieder werden Atempausen zwischen den Extremen beschrieben, nur um dann im nächsten Moment ad absurdum geführt zu werden. Nichts ist normal in dieser Zeit.

Ohne die Aufnahmen zu kennen, Grundlage der Erzählungen sind Interviews, die der Autor mit seinem Vater geführt hat, könnte der Roman so in dieser Form auch als Hörbuch funktionieren. Die Tonalität ist vorhanden. Auch die Art des Erzählens macht es leicht, sich in die Protagonisten hinein zu versetzen. Auch dies macht „Die Wetterseite der Bäume“ zu einem wichtigen Buch im Rahmen derer gegen das Vergessenn. Was anders in Gefahr laufen würde, nur trocken daher zu kommen, wird hier in Romanform lebendig greifbar.

Von der Ausgestaltung der Protagonisten, sowie dem engen Entlanghangeln anhand der Familienbiografie ohne ins zu Trockene zu geraten, ist dieser biografische Roman sehr empfehlenswert.

Autor:

Peter Arndt wurde 1957 in Wiesentheid geboren und ist ein deutscher Soziologe, Organisationsprogrammierer und IT-Berater. Der Erlebnisfundus seiner väterlichen Vorfahren ist sein Lebensthema. 2024 veröffentlichte er seinen Roman „Die Wetterseite der Bäume“, die fiktionalisiert angelehnt die Geschichte seines Vaters verfolgt.

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Elsa Morante: La Storia

Inhalt:

La Storia ist die große Geschichte von Diktaturen, Weltkriegen und Menschheitsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber vor allem die Geschichte der verwitweten Lehrerin Ida und ihren zwei sehr unterschiedlichen Söhnen, vom Leben im faschistischen Rom, Trotz, Not und Hunger, rivalisierenden Partisanen. Manchmal in Gesellschaft, manchmal allein. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Die ewige Stadt im Ständigen Wandel, heruntergebrochen auf nur ein paar Geschichten, zu einer großen Erzählung miteinander verwoben, dies ist Elsa Morantes „La Storia“, welches bereits 1974 erschien und mit dieser Ausgabe in einer beeindruckenden Neuübersetzung vorliegt.

In dieser bewegen wir uns durch die Armenviertel Roms, aus derer die behutsam ausgestaltete Protagonistin Ida nie ausbrechen wird können, und den Weg ihrer beider Söhne, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Trotzdem oder gerade deswegen gelingt der Kampf eine lange Zeit, auch wenn alle Figuren immer wieder an gewisse Glasdecken gesellschaftlicher Schichten stoßen und nicht zu durchdringen vermögen. Ein Aufstieg ist kaum gegeben. Ida, Nino und Useppe und all die anderen, denen wir im Laufe der Erzählung begegnen, schlagen sich durch das Leben, welches sie immer wieder umstoßen wird, kaum dass sie Kräfte fassen, in einer Zeit, welche es wahrlich nicht gut mit den Menschen meint.

Dabei werden sehr umfangreich unterschiedlichste Themen aufgemacht, die in verschiedensten Handlungssträngen nicht immer mit aller Konsequenz bis zum Ende hin verfolgt werden. So ist La Storia zugleich ein Roman über eine Familie, Gesellschafts- und Systemkritik, eine Bestandsaufnahme, in der jede der Figuren, von denen einige wunderschön ausgestaltet sind, eine eigene Erzählung vedient hätte. Mit der gewählten Form hier jedoch hat sich die Autorin nur bedingt einen Gefallen getan.

Einzelne Ausarbeitungen von Figuren dürfen als gelungen bezeichnet werden, allen voran die der Hauptfigüre, die man ins Herz schließen mag. Bei Vernachlässigung anderer Handlungsstränge gäbe es hier alleine genug zu erzählen, ob nun der Konflikt zwischen den Generationen beleuchtet oder vererbte unverarbeitete Traumata, deren Auswirkungen sich erst sehr viel später zeigen werden. Aber La Storia ist eben auch Partisanengeschichte oder eben die Verhandlung einer gesellschaftlichen Systemfrage. Schwer zu bündeln und damit über manche Strecken ganz und gar nicht einfach zu lesen.

Erzählt wird dieses italienische Epos per Perspektivwechsel, dem man durchaus folgen kann. Selbst der tierische Begleiter Useppes, einer Figur, die man einfach nur liebhaben muss, bekommt da eine Stimme und der kleine Junge damit eine Form, was aber nicht darüber hinweg hilft, dass alleine durch die Länge es beim Lesen dazu kommt, dass man einzelnen Figuren gerne nachspürt, sich bei anderen Passagen über kurz oder lang erwischen tut, sie nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit verfolgen zu wollen. Da kommen sich Handlungsstränge in die Quere. Auch muss man sich des im Vergleich zu heutigen Zeit etwas gemächlicheren Erzähltempos bewusst sein, was dann ebenfalls zu ein paar Längen beiträgt.

Elsa Morante widmet sich kleinteilig der Kriegs- und Nachkriegszeit in den staubigen Gassen Roms und zeigt dabei Licht- und Schattenseiten. Jede Figur hat ihre Ecken und Kanten, auch deren Standpunkte werden immer wieder neu verhandelt, trotzdem schleicht sich immer wieder das Gefühl ein, hier von hätten es gerne ein paar Seiten weniger, hier unbedingt mehr sein können, da es Morante ja durchaus gelungen ist, für Detailschärfe zu sorgen.

Vielleicht ist das aber auch nur ein Empfinden in heutiger Zeit. Zum Erscheinen war La Storia in Italien ein großer Publikumserfolg, der vielerseits diskutiert wurde. Eines ist jedoch gelungen, eine Art Lebensgefühl zu transportieren, auch nicht immer nur auf eine Seite hin fokussiert.

An manchen Stellen übertrieben wirkende Reduzierungen, an anderen eine ewisse Üppigkeit, und ja, auch hin und wieder ruppiger Sprache, hinterlassen einen wechselhaften Eindruck, was streckenweise enervierend sein kann, vor allem auf einem bestimmten Monolog gegen Ende bezogen, ansonsten folgen hier Aktion und Reaktion der Figuren einer gewissen Logik. Die Beschreibungen der Schauplätze ist der Autorin gelungen. Man kann sich die Gassen des Armenviertels, das Flussufer, die Enge von Räumen gut vorstellen.

Der Konzentration fordernde Roman lässt sich in keinem Fall nebenher lesen und ist zumindest im Haupthandlungsstrang durchaus lesenswert. Wer dann noch die anderen mit etwa dem gleichen Interesse begegnet, entdeckt eine Geschichte über viele Geschichten.

Auch das ist ja irgendwie Rom.

Autorin:

Elsa Morante wurde 1912 in Rom geboren und war eine italienische Schriftstellerin. Nach der Schule begann sie ein Literaturstudium, welches sie aus Geldmangel vorzeitig beenden musste. Dennoch veröffentlichte sie Gedichte und Erzählungen, zunächst in Zeitschriften, gab nebenher Unterricht in Italienisch und Latein.

In ihrem Roman La Storia verarbeitete sie Erlebnisse aus ihrer eigenen Biografie, musste vorher zu Zeiten des Krieges aus Italien 1943 fliehen, kehrte aber 1944 bereits wieder nach Rom zurück. 1948 wurde ihr erster Roman veröffentlicht, dem weitere folgten. La Storia, 1974, welches in den 1980er Jahren verfimt wurde. 2023 entstand eine TV-Serie. Morante erhielt u. a. den Prix Medicis, 1984. Ein Jahr später starb die Autorin.

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Guido Knopp: Putins Helfer

Inhalt:
Wer sind die mächtigen Strippenzieher hinter dem russischen Präsidenten?

Über zweieinhalb Jahrzehnte nach seinem Weltbestseller „Hitlers Helfer“ porträtiert Guido Knopp in seinem neuen Buch nun die Mächtigen eines Reiches, das den Frieden in Europa mehr denn je bedroht: Putins Helfer.

Sie halten ihren Herrscher an der Macht, um selbst Einfluss zu nehmen und sich zu bereichern.

Es sind Oligarchen wie Roman Abramowitsch, die von der Nähe zum Diktator profitieren; routinierte Apparatschiks wie Sergej Lawrow, die als Sprachrohr ihres Herrn zu dienen haben – oder Kyrill der Erste, der als Patriarch von Moskau seine Kirche zum Erfüllungsgehilfen einer Diktatur macht. Sie alle sind Träger einer Tyrannei, die sich längst nicht nur nach innen richtet, sondern mittlerweile auch nach außen. (Klappentext)

Rezension:
Paladine, Träger und Garanten einer Herrschaft sind sie Mächtige in einem Reich, welches nach 1945 den Frieden in Europa mehr denn je bedroht. Sie alle stützen ein System und dessen Mann an der Spitze und sind gleichsam von dessen Willen und Launen abhängig. Putins Helfer verdienen dabei gut, auf den verschlungenen Pfaden zwischen entfesselten Kapitalismus und Korruption haben sie ein Vermögen angehäuft als Akteure einer Kleptokratie, die die russische Gesellschaft zerfrisst. Sie scheinen abhängig vom ehemaligen KGB-Offizier an der Spitze des Landes, doch könnten sie eines Tages einen Machtwechsel herbeiführen oder sich selbst nach oben katapultieren. Ebenso auch fallen. Schon mancher ist aus den Fenster gestürzt oder vergiftet worden. Der Journalist und Historiker Guido Knopp folgt den Spuren derer erstaunlichsten Figuren.

Und legt damit ein Zustandsbericht der russischen Führungsriege offen, eines engen Geflechts aus Wirtschaft, Politik und Militär, welche durch Korruption und mafiöser Methoden zusammen- und am Leben gehalten wird. Den sicheren Raum verlassend, den die Betrachtung bereits gelebter Personenbiografien bietet, gleicht die Lektüre hier einen Krimi. Das Sachbuch wurde 2023 veröffentlicht, längst müsste man zu einigen der beleuchteten Lebenswege Anmerkungen und Zusätze anfügen. Die Geschichte Prigoschins etwa, ist da als Beispiel zu nennen.

Sieben Personen aus Putins Umfeld werden in gewohnt kurzweiliger Form beleuchtet. Teilweise taucht man in Szenarien ein, die einem zuweilen an eine innere Form von Krieg und Frieden erinnern und gerade im Kontext der aktuellen Geschehnisse mehr als nur interessant zu betrachten sind. Unweigerlich zieht man Parallelen zwischen den dargestellten Personen, ebenso nach den „Vorbildern“ vergangener Diktaturen. Die Titel-Parallelität ist dabei bewusst gewählt und trifft, wie die Faust aufs Auge.

Recherchearbeit ist hierbei jedoch nicht leicht gewesen. Russlands Mächtige bleiben im Dunkeln, haben im Laufe der Jahren nur wenig von sich selbst verraten, weshalb sie im Gegensatz zu manch anderen Weg-Begleitern noch am Leben und auf einflussreichen Posten sind. Trotz Sanktionen und Auswirkungen, die sie eines Tages eventuell durchaus dazu treiben können, auf Putin jemand anderes folgen zu lassen. Spannend wird es immer dann, wenn weniger hierzulande bekannte Gesichter beleuchtet werden. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche etwa, oder Russlands TV-Protagonist Nr. 1, Wladimir Solowjow, während man etwa von Lawrow ein Bild im Kopf haben dürfte.

Das Aufzeigen von Abhängigkeiten in einem kleptokratischen System ist Guido Knopp hier hervorragend gelungen, zudem er auch die Entwicklungen der jüngeren Zeitgeschichte Russlands nicht zu kurz kommen lässt. Zudem kann dieses Sachbuch als gelungenes Einführungswerk dienen, sich mit den darin beschriebenen Personen auseinanderzusetzen, um ein wenig den Kitt eines Systems zu begreifen, welches fernab aller Medienbilder agiert und mit Putin (über)lebt, zugleich aber auch dessen größte Gefahr sein könnte, wenn es denn wollte.

Autor:
Guido Knopp wurde 1948 geboren und ist ein deutscher Journalist, Historiker, Publizist und Moderator. Nach der Schule studierte er Geschichte, Politik und Publizistik und arbeitete zunächst als Redakteur verschiedener Zeitungen. So war er u.a. für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und der „Welt am Sonntag“ tätig. 1978 wechselte er zum ZDF und leidete ab 1984 die von ihm initiierte Redaktion „Zeitgeschichte“. Neben der Podiumsdiskussionsreihe „Aschaffenburger Gespräche“ verantwortete er zahlreiche Dokumentationsreihen zur deutschen Geschichte. Seit 2010 ist er Vorsitzender des Vereins „Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation.“ Guido Knopp erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. die „Goldene Kamera“ oder den „Emmy“. Er lebt mit seiner Familie in Mainz.

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Saul Friedländer: Blick in den Abgrund – Ein israelisches Tagebuch

Inhalt:

Israel steht am Abgrund. Das Israel, das wir kannten. Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, hat ein Tagebuch geschrieben, in dem er die aktuellen Ereignisse schildert und kommentiert, in Rückblenden aus der Geschichte des Landes, das er mit aufgebaut hat, erzählt, Konflikte analysiert und über Lösungen nachdenkt. Sein Tagebuch geht unter die Haut und jeden etwas an, dem an Israel liegt. (Klappentext)

Rezension:

Nicht nur außenpolitisch sieht sich dieses kleine Land vor ständiger Herausforderung, auch innen ist es kompliziert. Die Gesellschaft Israels, sie befindet sich im Zangengriff radikaler Kräfte und verschiedener Sichtweisen jüdischer Religion und ihren Interpreten. Die politischen Köpfe dieses Systems agieren eigensinnig, sind teilweise korrupt und das zieht sich bis in die obersten Ebenen des Staates hinein.

Im Jahr 2023 versucht sich der israelische Präsident an eine Justizreform, die ihn vor einem Gerichtsprozess bewahren soll, seine Koalitionspartner suchen ebenfalls Wege, sich und ihren Anhängern Vorteile zu verschaffen. Die Demokratie und der Pluralismus des Landes, sie bleiben auf der Strecke. Immer mehr Menschen protestieren.

Einige denken gar ans Auswandern aus dem Land, welches einst Heimstatt aller Juden sein wollte. Der Historiker und Schriftsteller Saul Friedländer beobachtet die gesellschaftlichen Spannungen aus der Ferne, analysiert und zieht Verbindungen zur Vergangenheit, die auch die eigene ist. Entstanden ist dabei ein hochbrisantes und komplexes Tagebuch, zugleich ernüchternd und erschreckend.

Als Außenstehender fällt es bereits schwer, die außenpolitischen Ereignisse zu sortieren und eine Übersicht zu wahren. Zu viel ist bereits passiert mit diesem Land, in der Innenpolitik sieht es dabei nicht besser aus.

Von Januar 2023 bis zum Juli 2023 beschreibt der Autor Tag für Tag das aktuelle Geschehen, welches einem fassungslos werden lässt, angesichts der Herausforderungen, mit denen in der Region ohnehin alle Akteure konfrontiert werden oder sich gegenseitig aussetzen.

Hoch komplex ziehen sich die Fäden der Handlungen israelischer Spitzenpolitiker, deren Agieren die Unfähigkeit von Regierenden manch anderer Länder wie vorausschauendes und überlegtes Handeln aussehen lässt. Schon für jene, die tagtäglich mit rassistischen Aussagen von Ministern konfrontiert werden, aus einem Land, welches es eigentlich rein von der Historie besser wissen müsste, ist dies schwer zu ertragen.

Ohne Vorkenntnisse, etwa der Ausrichtung einzelner Gruppen und Parteien innerhalb Israels ist der Zugang zur Lektüre jedoch überhaupt nicht gegeben, selbst wenn zwischendurch Saul Friedländer einen Rückblick wagt, um bestimmte politische oder religiöse Denkweisen zu erklären, die das Bild Israels im Innern heute beherrschen.

Eine Lektüre für zwischendurch ist schon rein thematisch nicht möglich, doch einige fehlende Teile im Gesamtbild werden uns Lesenden geliefert. Sehr schnell kommt man dahinter, welche Politiker zur Seiten treten müssten, damit das Land auch innenpolitisch in ruhige Fahrwasser gerät. Das Handeln, welches beschrieben wird, führt in die Isolation. Selbst enge Freunde Israels gehen auf Distanz.

Es ist eine hervorragende und differenziert ernüchternde Diagnose, die wenig Raum für Hoffnung lässt. Die Form des Tagebuchs verdeutlicht die immer tiefere Spaltung des Landes, innerhalb von Monaten. Ratlos bleiben die zurück, die letztendlich damit leben und irgendwann versuchen müssen, die Situation aufzulösen. Für Saul Friedländer auch ein Blick auf ein Israel, welches er immer weniger als das erkennt, was er einst mitgestaltet hat.

Die Analyse zieht sich zwischen den religiösen Ausrichtungen in Verbindung der politischen Wirkung, vor allem nach innen, was aber das äußere bedingt. Die Frage, was kommt, wenn der Bruch vollständig ist, muss in Friedländers Buch unbeantwortet bleiben. Israel braucht jedoch jetzt schon, so das Gefühl nach dem Lesen, eine Menge Glück, dies nicht auszuprobieren.

Autor:

Saul Friedländer wurde 1932 in Prag geboren und ist ein israelischer Historiker und Autor. Kurz nach der Besetzung der Tschechoslowakei flohen seine Eltern nach Frankreich, erst nach Paris, später in die unbesetzte Zone. Nach Verhaftungen ausländischer Juden 1942 wurde er in einem jüdischen Kinderheim, später einem katholischen Internat versteckt und überlebte so den Holocaust.

Mit 15 Jahren ging er mit gefälschten Pass nach Palästina und absolvierte eine dreijährige Militärzeit und studierte schließlich in Paris und Genf, wo er 1963 in Geschichte promovierte. In verschiedenen Positionen arbeitete er für den israelischen Staat und ist ein bedeutender Historiker und war Mitglied verschiedener Organisationen. Er erhielt u.a. den Dan-David-Preis und den Balzan-Preis, sowie den Geschwister-Scholl-Preis und den Preis der Leipziger Buchmesse.

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Richard Overy: Weltenbrand

Inhalt:

Richard Overy zeichnet ein neues Bild des Zweiten Weltkriegs – als das letzte Aufbäumen des Imperialismus. Er zeigt ihn als den alles Vorausgegangene übertreffenden imperialistischen Krieg – in dem Achsenmächte ebenso wie Alliierte danach strebten, Imperien zu festigen, zu verteidigen, zu erweitern oder auch erst zu schaffen.

Ein weltumspannendes, zeitlich weit ausgreifendes Geschehen und eine Perspektive, in der etwa der Krieg im Pazifik stärker als bisher üblich in den Blick gerät; beginnend bereits 1931 mit dem Einfall des Japanischen Kaiserreichs in die Mandschurei, der die Richtung vorgab für das exzessive Expansionsstreben Italiens und Nazideutschlands. Overy schildert die Ereignisse, die in die Katastrophe führten, ebenso wie die Folgen für die neue Weltordnung nach 1945; er zeigt die geopolitisch-strategische wie die menschliche Dimension dieses Krieges, mit dem das imperialistische Zeitalter sein Ende finden sollte.

Das Opus magnum eines der bedeutendsten Historiker des Zweiten Weltkriegs, das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung – und eine Neubewertung dieses zerstörerischsten aller Kriege, die uns auch unsere Gegenwart mit anderen Augen sehen lässt. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Der eurozentrische Blick bestimmt bis heute den Diskurs über den Zweiten Weltkrieg. Beginnend mit den politischen Umwälzungen in Mitteleuropa, der Machtübernahme der Faschisten in Italien, der Nationalsozialisten in Deutschland und dem Spanischen Bürgerkrieg rückt das Jahr 1939 mit all seinem Vorgeplänkel in das Blickfeld, doch der Krieg, der so zerstörerisch, so mörderisch wie kein anderer zuvor werden sollte, begann auf der anderen Seite der Erdkugel bereits viel eher.

Der britische Historiker Richard Overy bringt als einer der wenigen ausführlich auch uns weit entfernt scheinende Schauplätze näher und zeigt, dass bereits 1931 Vorläufer eines Krieges begannen, der weltumspannend zum letzten Aufbäumen des imperialen Zeitalters in seiner alten Form führen sollte.

In der Einführung dieses weit umspannenden Werks geht es zunächst um die Definition nach alter Lesart, um welche Art von Imperien die einzelnen Akteure kämpften bzw. welche sie zu erschaffen oder zu verhindern suchten, bevor es dann in chronologischer Abfolge zunächst um bekannte Abläufe geht. Schon in diesen ersten drei, dem eigentlichen Hauptwerk vorangehenden Kapiteln kommen Orte und Geschehnisse zum Tragen, die in der Mehrzahl der hier zu findenden Werke beinahe vernachlässigt werden.

Overy geht zum einen sehr kritisch mit der britischen Führung unter Churchill um, auch das ist eher selten zu lesen, zum anderen beleuchtet er das imperialistische Streben Japans in Asien ausführlich, vor allem die langwierigen und zermürbenden Auseinandersetzungen in China, die bei uns kaum zur Sprache kommen, werden in „Weltenbrand“ analysiert.

Auch betrachtet der Historiker sehr detailliert die Auseinandersetzung innerhalb der alliierten Partner, bei denen es nicht nur zwischen den Hauptakteuren zu Auseinandersetzungen kam, die nach 1945 beinahe nahtlos in den Kalten Krieg hinein führten, auch zeigt Overy die Bruchlinien zwischen Briten und Amerikanern, die diametral entgegengesetzte Ansichten zur künftigen Handhabung im Umgang mit dem imperialen Erbe hegten.

Akteure wie Indien, Australien oder Kanada, die einen Gutteil der britischen Streitmacht stellten werden in späteren Kapiteln beleuchtet, wie auch die inneren Konflikte der POC in der amerikanischen Armee. Alleine diese Punkte machen das Werk zu etwas besonderen, welches sich von der Masse an Lektüren abhebt, die über diese Zeitspanne, zudem auch ein kritischer Blick auf das Vorgehen der Alliierten selten zu finden ist.

Nach drei Kapiteln werden die Betrachtungen nach einem historischen Zeitstrahl verlassen und einzelne Themenkomplexe nochmals gesondert analysiert. Dies liest sich interessanter, da so auf zuvor vernachlässigte Aspekte nun noch einmal genauer eingegangen wird, wie etwa das komplexe Gebiet der Kriegswirtschaft, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Alliierten sowie den Achsenmächten, aber auch Kriegsführung, zuvor Mobilisierung oder die emotionale Geografie des Krieges werden beleuchtet.

Overy nimmt sich die Zeit, dies auszuführen, was innerhalb der Lektüre teilweise zwar zu erheblichen Längen führt und auch Wiederholungen und Bezugnahmen beinhaltet, doch in der Gesamtheit ergibt sich dadurch ein stimmigeres Bild, welches den zuvor erfolgten kurzen historischen Abriss noch einmal ergänzt.

„Weltenbrand – Der große imperiale Krieg 1931-1945“ zeigt, wie die alte imperiale Welt den schlimmsten aller Wege ging, um zu ihrem Ende zu kommen und daraus neue Akteure entstanden, die das Weltgeschehen fortan bestimmten und auch eine neue Definition von Imperien anstelle der alten trat. Zwar ergänzt durch mehrere Fototeile ist dieses Sachbuch mehr Standardwerk als es der populärwissenschaftlichen Lektüre dient und so liest es sich dann auch. Stellenweise doch trocken.

Unterfüttert werden die Ausführungen durch zahlreiche Quellen, die aus jahrzehntelanger Archivarbeit resultieren und einem Kartenteil, der auch wieder Bezug nimmt auf das anfangs erwähnte erweiterte Blickfeld, was eine intensive Beschäftigung mit der Thematik ermöglicht. Overys Blick auf die einzelnen Aspekte und deren unterschiedlichen Wirken an verschiedenen Schauplätzen, Vergleiche und daraus gezogene Schlussfolgerungen lassen eine gelungene Lektüre geschehen, aus der man mit mehr Wissen als vorher herausgeht.

Autor:
Richard James Overy wurde 1947 in London geboren und ist ein britischer Historiker. Er studierte zunächst in Cambridge, bevor er nach verschiedenen Stationen 1992 eine Professur für Moderne Geschichte am King’s College in London annahm. 2004 wechselte er an die University of Exeter, wo er ebenfalls Geschichte lehrt.

Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Wolfson History Prize und der Duke of Wellingon Medal for Military History. Seine Werke gelten als Standardwerke. 2014 wandte er sich gegen die Behauptung, die Bombardements gegen die deutsche Zivilbevölkerung hätten entscheidend zum Sieg der Alliierten beigetragen.

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Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur

Inhalt:
Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. (Klappentext)

Rezension:

In letzter Minute hat Heinrich Mann es geschafft, die Grenze ohne Aufsehen zu überqueren, Teil des kulturellen Exodus‘, der das Deutsche Reich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erfasste. Auch andere, die sich politisch mit Werk und Worten gegen die neuen Machthaber positionierten, mussten fliehen. Viele Intellektuelle und Schriftsteller fanden sich darauf hin in Frankreich wieder.

Doch auch hier holt der Krieg jene, die sich in Sicherheit glaubten, ein. 1940 ist Frankreich besiegt, zerstückelt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, Leib und Leben zu riskieren, sich außer Reichweite der Häscher zu bringen. In der unbesetzten Zone wird die Stadt Marseille zum Schicksalsort, an dem sich alles entscheidet.

Nach seinem Werk „Februar 33 – Der Winter der Literatur“ nimmt sich der Autor Uwe Wittstock nun erneut einen kulturellen Wendepunkt an, der der Erzählung des Exodus des intellektuellen Lebens nach der Machtergreifung Hitlers in nichts nachsteht. Spannend, erzählt er die Geschichte derer, die sich versuchen, in Sicherheit vor den Zugriff der Nazis zu bringen, und derer, die dies ermöglichen. Biografien werden verwoben, wie Wege, die sich kreuzen. Ausgangspunkte sind ein Schriftsteller-Kongress im Exil, die Beobachtung ausbrechender Gewalt, Tatendrang und unermüdliche Hilfsbereitschaft.

Im Mittelpunkt der Journalist Varian Fry, der es mit seinen Mitstreitern schafft, in aller Kürze ein kleines aber effektives Netzwerk aufzubauen, in Frankreich später selbst die Fäden in den Händen halten muss, welche nicht nur durch das dortige Vichy-Regime unter Druck geraten. Akribisch folgen wir seinen Spuren und derer, denen er die Flucht verhilft.

Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Heinrich Mann, Anna Seghers und viele andere werden so gerettet. Fry und seine Unterstützer werden für einen entscheidenden Moment der Geschichte zu besonderen Menschen in einer besonderen Zeit.

Wie bereits in seinem vorangegangenen Werk werden die dicht gedrängten Ereignisse in Tagebuchform aufgefächert, welche das Drängen, die Eile und nicht selten die Ungewissheiten der Akteure herausstellt, deren Schicksale sich von einem auf dem anderen Tage ändern konnte.

Wieder sind es ausgewählte Personen, deren Wege hier beschrieben werden, stellvertretend für viele, die zwangsweise namenlos bleiben müssen, da wir zu wenig wissen, um von ihnen zu erzählen. Gleich zu Beginn wird dies vom Autoren selbst herausgestellt, dem der Spagat gelungen ist, ein zweites Mal ein literarisches, zudem in unseren Zeiten hoch nachdenklich machendes, Sachbuch zu schaffen.

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen oder Briefen, auf denen sich eine puzzleartige Recherche, die auch nach Marseille selbst führte, stützt, ist damit ein kulturelles Portrait entstanden. Kurzbiografien am Ende des Buches geben über das weitere Schicksal Aufschluss. Aufgelockert wird die Lektüre durch Kartenmaterial in den Innenseiten und zahlreichen Abbildungen, welche im Zusammenspiel diese Tage lebendig werden lassen.

Auch hier hat man, wie in „Februar 33“ erneut das Gefühl, allen Personen so nahe zu sein, als würde man daneben stehen, gegen alle Widrigkeiten Fluchten zu organisieren oder zu bestreiten. Diese Chronologie geht unter die Haut, mit einem sogar noch etwas flüssiger wirkenden Schreibstil als beim Vorgänger. Ein Buch über Menschlichkeit und Mut, über unwägbare Faktoren und Sekunden, die über Gelingen oder Scheitern entschieden.

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Autor:

Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturredaktion angehörte, danach wirkte er als Lektor beim S. Fischer Verlag.

Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

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Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Inhalt:

Mit der ersten großen Liebe ist für uns oft ein Duft verbunden. Für Feurat Alani sind der Duft und der Geschmack von köstlichem Aprikoseneis, das er als Kind in Bagdad gekostet hat, für immer mit dem Irak verbunden. In 1000 Tweets berichtet er von dieser ersten Reise in das Herkunftsland seiner Familie und von den späteren Reisen als erwachsener Journalist, vom Krieg und dem Wandel, den dieser im Traumland seiner Kindheit bewirkt hat. Wir begleiten den Autor bei der Entdeckung eines orientalischen Landes voller unbekannter Düfte, aber auch bei seiner Trauer um das, was später unwiederbringlich verloren ging. Die berührenden und scharfsichtigen Beobachtungen des Kindes und des jungen Erwachsenen hat Léonard Cohen mit seinen Zeichnungen eindrücklich illustriert. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

In Mansour halten wir an einer Eisdiele. Ich koste von dem besten Eis, dass ich je gegessen habe. Aprikose. Der Duft von Bagdad.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Gerade als der Iran-Irak-Krieg vorbei ist, lernt Feurat im Alter von neun Jahren die Heimat seines Vaters kennen. Das Land wirkt anders als in den Medienberichten, modern und offen. Die einfachen Leute fahren VW Passat. Melonen werden am Fluss eingegraben, um sie abends gekühlt essen zu können. Doch das Gesicht Saddam Husseins bestimmt den Irak. Seinen Namen sollen sie nicht laut aussprechen. Als seine kleine Schwester es dennoch tut, kennt Feurat fortan nun auch den Duft der Diktatur.

Im Irak herrscht Lebenslust, zumindest damals, trotz bereits vorhandener Einschränkungen. Vor dem Embargo leben die Menschen gut, doch das Glück der Menschen, schon damals Spielball der Gegensätze, wird im Laufe der Jahre zerrinnen. Bis nichts mehr davon übrig ist. Über die Jahre wirft der Autor, zunächst mit den Augen des Kindes, später als junger Journalist, immer wieder einen Blick auf dieses Land, welches wir kaum fassen können. Doch wie der Irak, so stet Feurat Alani selbst stets unter Spannung zwischen den Welten. Als Iraker und Franzose. Seine Beobachtungen hat er nun zusammengestellt. In Form einer Tweet-Sammlung. Ergänzt durch minimalistische Zeichnungen entstand so das Portrait seine Autobiografie, ein Blick auf die jüngere Geschichte eines Landes, eine Graphic Novel und ein Zustandsbericht, der einem den Atem stocken lässt.

Als Ziad und ich uns an diesem Tag trennen, gehe ich mit einem Gefühl der Scham. Mir wird alles geschenkt. Und ihnen alles genommen.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

In dieser Kombination ist das Werk „Der Geschmack von Aprikoseneis“ ungewöhnlich einprägsam. Kurz und prägnant sind die Sätze, den Möglichkeiten der Social Media Plattform Twitter nachempfunden. Momentaufnahmen, die sich stapeln und fließend ineinander übergehen. Sie zeigen den Wandel eines Landes, zugleich die Veränderung des Blickwinkels. Der des Kindes weicht dem jungen Erwachsenen, der dokumentieren, festhalten und der Welt von der irakischen Wirklichkeit berichtigen möchte.

Das Gefühl, nie am richtigen Ort zu sein. Unrechtmäßigkeit. Schuld. Ich möchte meine Erlebnisse im Irak vergessen, aber sie lassen mir keine Ruhe.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Zeichnungen, die beinahe wie Scherenschnitte wirken und dennoch die Strahlkraft von Fotos besitzen, unterstreichen den Text, ohne überhand zu nehmen. Sie prägen sich ein. Lesend nimmt man die beobachtende Position ein und verliert sich in diesem Strudel der Emotionen. Das funktioniert in dieser Kombination ebenso, wie dies der Tatsache geschuldet ist, dass Seitenzahlen völlig fehlen, was den unmerklichen und doch schnellen Wandel verdeutlicht, bis zum Zusammenbruch einer Gesellschaft.

Immer ist Feurat Alani Beobachter und Akteur zugleich, nebenan der Schauplätze und mittendrin. Einzelne Nadelstiche summieren sich, werden zu hörbaren Explosionen, einer Platzwunde, einer versuchten Entführung. Einschläge werden fassbar, kommen immer näher, bis es auch die Familie des Autoren zerreißt. Diktaturen kennen keine Gnade. Chaos erst Recht nicht. Dreizeiler in Absätzen prägen das Bild. Nur Ausschnitte hält der Betrachtende fest und doch das wichtige. Platz für Nebensächlichkeiten bleibt da nicht. Zunehmend müssen auch die Menschen sich damit beschäftigen, zu überleben. Bald ist das die einzige Tätigkeit.

Ein trauriger Anblick. Einer der Insassen liegt auf dem Boden. Die Rettungskräfte sind da. Der Sommer beginnt mit einem Toten. Das gefällt mir nicht.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Aufgrund der ungewöhnlichen Erzählstruktur, ergänzt durch eine Chronologie der Ereignisse ist diese Biografie einer Person, eines Landes, einprägsam und verdeutlicht zugleich, wie schnell etwas Intaktes, auch wenn die Oberfläche bereits von Beginn an Risse aufweist, in die Brüche gehen kann. Wer ein Gefühl dafür erlangen möchte, wird dieses Werk mit Gewinn lesen können. Mit mehr Spannung als ein Roman das könnte. Jeder Tweet ist eine Tür. Die mehrteilige Serie „Fremde Heimat Irak„, die bei Arte zu finden und im gleichen grafischen Stil gehalten ist, sei ebenfalls ans Herz gelegt.

Autor:

Feurat Alani wurde als Sohn irakischer Eltern in Paris geboren. In Bagdad hat er als Korrespondent für die Sender I-Tele und Le Point gearbeitet. Er war auch regelmäßiger Mitarbeiter von Le Monde diplomatique und Geo, bevor er seine eigene Produktionsfirma gründete. Sein Dokumentarfilm Irak: les enfants sacrifi és de Fallujah (2011) wurde auf mehreren Festivals prämiert.

Illustrator:
Léonard Cohen ist Absolvent der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs de Paris. Im Jahr 2010 wurde sein Abschlussfilm Plato auf vielen Festivals gezeigt und gewann mehrere Preise, darunter jenen für den besten Studenten-Kurzfilm und den Preis der Junior-Jury auf dem renommierten Internationalen Trickfilmfestival von Annecy. Cohen arbeitet freiberuflich und entwickelt vor allem Animationsprojekte.

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Valeria Shashenok: 24. Februar und der Himmel war nicht mehr blau

Inhalt:

„Als Russland mein Land, die Ukraine, überfiel, flüchteten meine Eltern, mein Hund und ich in einen mir mehr als skurril erscheinenen Bombenschutzkeller. Und weil es dort WLAN gab und die Tage verdammt lange und auch langweilig waren, postete ich Videos, die mein neues Zuhause vorstellen sollten – manche davon gingen dann sogar um die Welt.

Aber meine Geschichte ist eigentlich eine ganz andere: Es ist die eines jungen Mädchens voll mit großen Träumen, das die Welt entdecken wollte und den Krieg für einen schlechten Scherz hielt- Bis zu dem Tag, an dem ich erkennen musste, dass ich mittendrin bin im größten Alptraum meines Lebens.“

Valeria Shashenok

Valeria beschließt, der Welt ihre Heimatstadt Tschernihiw zu zeigen und die wahren Geschichten zu erzählen. Es sind Bilder und Geschichten, die wir uns alle im 21. Jahrhundert mitten in Europa nicht vorstellen konnten und wollten.

Und das Grauen endet nicht einmal mit ihrer Flucht nach Mailand, denn dort angekommen, holen Putins Bomben sie ein und treffen sie mitten ins Herz. (Klappentext)

Rezension:

Wie macht man Außenstehenden begreiflich, was man selbst kaum zu verstehen vermag? Lange Zeit hielt sie es ja selbst kaum für möglich. Gesprochen wurde immer wieder darüber, gedacht haben es viele. Doch irgendwo war da immer die Hoffnung, dass sich die schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheiten sollten. Dennoch, sie taten es. Am 24. Februar 2022 beginnt für die in der Ukraine lebenden Menschen ein wahrer Alptraum. Bomben fallen. Schüsse sind zu hören. Russland versucht sich des Landes zu bemächtigen. Und Valeria, Tochter, junge Frau, dokumentiert das Grauen, was ihren Geburtsort und ihre Heimatstadt Kiew überkommt. Bis sie schließlich sich selbst entschließt, zu fliehen. Doch auch in der Ferne lässt sie das Grauen nicht los.

Gerade in unseren Zeiten ist es wichtig, dass solche Berichte eine große Öffentlichkeit finden, gerade wenn in Zeiten von Fake News aus einem zweifelhaften Weltbild heraus, bestimmte Gruppen auf Propaganda-Züge aufspringen und gar nicht so schnell schauen können, wie sie für sehr krude Zwecke eingespannt und nicht zuletzt gelenkt werden. Am Eindrücklichsten gelingt das, wenn man vom Unmittelbaren erzählt, die Auswirkungen auf einem selbst versucht zu verdeutlichen. Genau dies versucht Valeria Shashenok mit Videos und Bildern, die sie von Beginn des Kriegs gegen die Ukraine in den sozialen Netzwerken postet. Diese Schnipsel hat sie nun versucht, zusammenzusetzen. Entstanden ist dieser nahegehende Bericht.

Es ist eine Art Tagebuch, welches hier vorgelegt wird. Nicht in großen Worten wird hier beschrieben, die Autorin, so hat man beim Lesen das Gefühl, hat noch während des Schreibens versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Voller Emotionen, erschüttert natürlich über das Erlebte, schildert sie von der Zeit des Krieges und ihrer Flucht, aber auch von den Tragödien, die sie einholen werden, als sie sich bereits im sicheren Italien befindet. Wir können hier die Zeilen einer jungen Frau voller Träume lesen, die gerade noch zu Beginn eher irritiert beobachtet, versucht einzuordnen und eigentlich immer noch nicht fassen kann, was da gerade passiert. Mit ihr, ihrer Umgebung, den Menschen, die sie liebt. Allein auf dieser Ebene ist es gut, dass Shashenok dies dokumentiert, was man auch als Versuch einer Verarbeitung und Einordnung lesen kann.

Sprachlich wirkt das leider wie ein besserer Schulaufsatz, mehr nicht, wie ich an anderer Stelle in einer Rezension lesen musste. Dem kann ich nicht widersprechen. Das ist zuweilen recht anstrengend, an anderer Stelle liest sich das fast belanglos, was schade ist. Schließlich hat der Text seine Berechtigung und natürlich auch Relevanz, da ist dann dieser Abstrich, den man an der Stelle hinnehmen muss, unschön. Hier funktioniert es nicht Erwartungsmanagement und Relevanz in Übereinklang zu bringen. Vielleicht wirkt der Text noch mehr, wenn man die Instagram-Posts und Tiktoks dazu beachtet. Fotos zumindest gibt es ein paar. Doch reicht das leider nicht, um den Bericht, der hier in einer Art Tagebuchform vorliegt, vollständig abzurunden.

Eventuell liest sich das jedoch in ein paar Jahren anders. Das vermag ich nicht auszuschließen.

Autorin:

Valeria Shashenok wurde 2002 im Norden der Ukraine geboren und arbeitet als freiberufliche Fotografin. Den Angriff und ihre Flucht aus der Ukraine dokumentierte sie in den sozialen Netzwerken, worauf weltweit Medien auf sie aufmerksam wurden. Sie gab mehrere Interviews und damit den Menschen aus der Ukraine eine Stimme und ein Gesicht.

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Peter Englund: Momentum – November 1942

Inhalt:

Im November 1942 drängt alles auf Entscheidung: Auf der Pazifikinsel Guadalcanal schlagen US-Streitkräfte die japanischen Besatzer zurück; in der Schlacht von El Alamein, Ägypten, werden die deutsch-italienischen Truppen zum Rückzug gezwungen; in Stalingrad wird die deutsche 6. Armee eingekreist.

Peter Englund schildert die Ereignisse in diesem entscheidenden Monat aus der Sicht derer, die sie erlebt haben: darunter ein deutscher U-Boot-Kommandant im Nordatlantik, ein zwölfjähriges Mädchen in Shanghai, ein sowjetischer Infanterist in Stalingrad, ein Partisan in den belarussischen Wäldern, eine Journalistin in Berlin, eine Hausfrau auf Long Island – neben bekannten Figuren wie Sophie Scholl, Ernst Jünger oder Albert Camus. Ein episches Geschichtswerk, das die existenzielle Dimension des Krieges erfahrbar macht. (Klappentext)

Rezension:

Nach der Erzählung eines spannenden Stücks skandinavischer Kriminalgeschichte hat sich der schwedische Historiker und Journalist Peter Englund einem Wendepunkt der Geschichte vorgenommen und seziert die wenigen Wochen, die sich rückblickend als mit entscheidend für den Ausgang des Zweiten Weltkriegs darstellen.

Der November 1942 ließ den Mythos der unbesiegbaren Deutschen ebenso bröckeln, wie die über alles erhabene Weltsicht einiger japanischer Militärs. Zugleich zeigte sich das Organisationstalent und die wirtschaftliche Stärke Amerikas, die zum entscheidenden Faktor des Krieges werden sollte, aber auch der unbedingte Durchhaltewillen der sowjetischen Streitkräfte, die bei Stalingrad auf Entscheidung drängten, sowie die brutale Unmenschlichkeit der Vernichtungslager.

Der Autor berichtet mit der Form des literarischen Sachbuchs und bringt die Perspektiven verschiedener Beteiligter rund um den Globus zur Sprache. Beinahe liest man dies wie einen Roman, hat jedoch ein auf gründlicher Recherche gestütztes Werk, welches unzählige Facetten beleuchtet. So verfolgen wir auch die ersten Schritte auf den Weg zur Atombombe, ebenso wie Leben in ihrem Exil, sowie nur scheinbar fernab aller Fronten die Auswirkungen des Krieges spürend.

Peter Englund beschreibt die Auswirkungen des Krieges auf die von ihm gewählten Protagonisten. Fast nüchtern verfolgt er deren Weg, nimmt sich Zeit, ohne Fäden und Biografien aus den Augen zu verlieren. Eine Karte, die das Innere der beiden Buchdeckel verkleidet, verdeutlicht Dimensionen, zwei Bildteile visualisieren das Erzählte. Die Gefahr, ausschweifend zu werden, ist der Autor durch ständige Perspektivwechsel umgangen, die jedoch zuweilen zum Innehalten zwingen, da zu viele Personen es mit sich bringen, durcheinander gebracht zu werden.

Der erzählte Zeitraum ist übersichtlich, doch ist in den Wochen des November 1942 so viel passiert, dass es sich lohnt, diesen gesondert zu betrachten, wie man es mit ähnlichen zeitlichen Abschnitten des Zweiten Weltkrieges bereits getan hat, oft beschränkt auf nur einem geografischen Raum, Land oder Personenkreis.

Diese Art der Betrachtung so geführt ist dagegen nicht so häufig und kann jene ansprechen, die sonst vor Mammutwerken nüchterner Sachliteratur zurückschrecken, zugleich werden auch in Europa eher unbekanntere Ereignisse zur Sprache gebracht. Wie viel wissen wir denn tatsächlich von den Kriegsgeschehen im asiatischen Raum und dem dadurch beeinflussten Alltag der Menschen, etwa in Shanghai oder Burma, wie viel von den Kämpfen auf den Inseln im Pazifischen Ozean?

So bringt der Autor bekannte und unbekanntere neue Facetten zusammen und gibt einen Überblick, der zwar genug detailschärfe besitzt, sich jedoch nicht im Klein-Klein verliert. Dies ist eine Schwäche seines Werks, zugleich jedoch dessen größte Stärke. Anders erzählt, müsste man sich auf nur einen Schauplatz beschränken oder diese Art des Erzählens zu Gunsten eines sachlicheren Stils aufgeben. Peter Englund ist der Spagat gelungen.

Autor:

Peter Englund wurde 1957 im schwedischen Ort Boden geboren und ist ein skandinavischer Historiker und Schriftsteller. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Archäologie, theoretische Philosophie und Geschichte, arbeitete danach im Nachrichtendienst der schwedischen Armee. 1988 veröffentlichte er ein Buch über die Schlacht bei Poltawa, ein Jahr danach promovierte er mit einer Untersuchung des Weltbilds des schwedischen Adels im 17. Jahrhundert.


Danach war er als Journalist und Korrespondent für verschiedene Zeitungen in Kriegs- und Krisengebieten tätig, veröffentlichte zahlreiche historische Werke und war u.a. Kommentator für Dokumentationen im schwedischen Fernsehen. Seit 2009 war er Mitglied der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis vergibt. Ein Amt, welches er is 2015 innehatte. Mehrere seiner Werke wurden in rund zwanzig Sprachen übersetzt.

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