biografie

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Inhalt:

Ilse Koch war eine der wenigen verurteilten NS-Täterinnen. 1947 wurde ihr von einem US-, 1951 von einem deutschen Gericht der Prozess gemacht. Ausgiebig berichtete die internationale Presse über die als besonders grausam geltende ehemalige SS-Ehefrau. Die Historikerin Alexandra Przyrembel skizziert in einer fundierten Spurensuche Ilse Kochs frühe Mitgliedschaft in der NSDAP und das Leben der Familie Koch in der SS-Führersiedlung in Buchenwald.

Sie beschreibt die Nachkriegsprozesse gegen Ilse Koch und die internationale Berichterstattung darüber sowie Kochs Zeit im Frauengefängnis in Aichach, die Unterstützung der ‘Stillen Hilfe’ und ihre Korrespondenz mit den Kindern. Eine kluge, erhellende Studie der Erzählungen über das ‘Böse’, das von der Nachkriegsgesellschaft außerhalb der menschlichen Sphäre verortet wurde.

(Klappentext)

Rezension:

In der Erzählung unmenschlicher Grausamkeiten gelten die begangenen und vermeintlichen Taten von Ilse Koch als Ausdruck des absolut unfassbaren Grauen, Abgrund des Bösen. Die Frau des Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald soll gezielt Häftlinge gesucht haben, diese töten lassen, um deren tätowierte Haut für Gebrauchsgegenstände wie Buchumschläge und Lampenschirme verarbeiten zu lassen.

Vor zwei Gerichten wurde dies und anderes in der unmittelbaren Nachkriegszeit verhandelt. Für den Mythos allein fehlten letztlich die Beweise. Die Bestandteile des Lampenschirms konnten nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Dennoch blieb genug Unmenschliches, um eine der wenigen NS-Täterinnen nicht nur einmal zu lebenslänglicher Haft zu verurteilen.

Wer war Ilse Koch? Diese Frage stellt sich die Geschichtswissenschaftlerin Alexandra Przyrembel und legt nun nach jahrelanger Recherche ein umfassendes Werk der Zusammenfassung ihrer Studien vor, welches versucht das Ungreifbare fassbar zu machen. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die qua ihres Ranges außerhalb des Systems stand, dem sie diente, was jedoch ihre Taten in der Nachbetrachtung noch grausamer erscheinen lässt, als sie es ohnehin schon sind.

Die Historikerin exerziert zudem ein Stück internationaler Mediengeschichte, zudem die Schaffung eines Geschichtsbildes und das Einspannen für die systemischen Zwecke in der Gesellschaft beider sich nach dem Krieg konstituierender deutscher Staaten.

Der Fall Koch beschreibt die Verflechtungen der SS-Ehefrauen mit der Welt der Konzentrationslager: als Partnerin und Gefährtin, als Mutter und vor allem als Staatsbürgerin des ‘Dritten Reichs’. Ilse Kochs Handeln hatte allerdings nur deshalb eine juristische Aufarbeitung zur Folge, weil sie sich außerhalb der als “normal” betrachteten Ordnung bewegte […].

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Dieser Teil der Rezeption nimmt einen bedeutenden Teil der Biografie ein. beschreibt zudem ein wichtiges Stück Justizgeschichte, sowie medienpolitische Betrachtung und den Versuch der Deutungen Herr zu werden, diese einzuordnen. So ist auch die Kapitelordnung zu verstehen, wenn sie in Bezug zu den Taten Ilse Kochs genommen wird, trotzdem liest sich das zuweilen sehr theoretisch, um im nächsten Moment den Lesenden um so mehr die Schrecken vor Augen zu führen.

Alexandra Przyrembel gelingt der Spagat einerseits einer Wegbeschreibung, andererseits einer nüchternen Einordnung im Kontext der Zeitgeschichte, zugleich jedoch Mythen aus dem Weg zu räumen und Verarbeitungsprozesse näher zu beleuchten.

Alles in allem lässt sich also festhalten, dass sich vor Gericht sowohl Menschen wiederfanden, die […] als Juristen mit Partei- oder SS-Mitgliedschaften in das nationalsozialistische Deutschland verstrickt waren, als auch solche, die zu den Verfolgten des NS-Regimes und Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager gehörten. Möglicherweise liegt hierin, nämlich in seiner Inszenierung als demokratisch, die eigentliche Leistung des Gerichtsverfahrens gegen Ilse Koch, und nicht in der konkreten justiziellen Aufarbeitung von Schuld […].

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Eine unideologische Betrachtung Ilse Kochs hat für die geschichtsinteressierten Laien bis dato gefehlt, was nun hiermit geschaffen sein dürfte. Keineswegs eine einfache Lektüre sollte dieser Ausarbeitung künftig einen gewissen Stellenwert zukommen, innerhalb der Sachliteratur gegen das Vergessen.

Dafür muss man sich Zeit nehmen, da zwischen Theoretischem und geschichtlicher Einordnung, Betrachtung, hin- und hergesprungen wird. Es ist eben alles miteinander verwoben. Wer sich darauf einlässt, vervollständigt sein Geschichtsbild um einen weiteren Aspekt. Das Grauen und wozu ein Mensch in dafür geschaffenen Zeiten fähig ist, bleibt unfassbar.

Autorin:

Alexandra Przyrembel wurde 1965 geboren und ist eine deutsche Historikerin. Seit 2015 ist sie Universitätsprofessorin und Leiterin des Lehrgebiets Geschichte der Europäischen Moderne an der Fernuniversität Hagen. Nach ihrer Promotion 2001 an der TU Berlin beschäftigte sie sich mit der Globalgeschichte des Wissens im 19. und frühren 20. Jahrhundert. 2010 habilitierte sie sich in Göttingen zur Geschichte des Tabus und forscht zur transnationalen Geschichte Europas.

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Franziska Grillmeier: Die Insel

Inhalt:
Franziska Grillmeiers Aufzeichnungen erzählen detailliert und mit großem Einfühlungsvermögen vom Alltag an Europas Grenzen und vergegenwärtigen die systematischen Rechtsbrüche, die dort tagtäglich begangen werden. Ein genauso bewegender wie erschütternder Bericht über jene, deren Ausgrenzung nach ihrer Ankunft in Europa kein Ende nimmt, und über die unmenschliche Realität der Europäischen Union. (Klappentext)

Rezension:

Ein Pushback bezeichnet das unrechtmäßige, gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtenden von Grenzen, die diese versuchen zu überwinden. Alltag inzwischen, an Europas Außengrenze. Insbesondere Griechenland steht bereits seit längerer Zeit in der Kritik, sich solcherlei “Verfahren” zu bedienen, immer auch dabei in Kauf zu nehmen, Menschenleben aufs Spiel zu setzen.

Erneut wurde kürzlich ein solcher Vorgang dokumentiert. Videoaufnahmen, die der Zeitung The New York Times zugesspielt wurden, zeigen vermummte Personen, die Flüchtlinge aufgreifen, die es bereits von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos geschafft hatten, und mithilfe eines Bootes auf ein Floß im Meer aussetzten, von dem sie später von der türkischen Küstenwache gerettet werden mussten. Dabei ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben, dass alle Flüchtenden ein Recht auf ein geordnetes Asylverfahren haben, zudem natürlich menschenwürdig behandelt werden müssen.

Doch auch das ist auf Lesbos nicht gegeben, wo sich zeitweise eines der größten Lager im Norden der Insel befand. Die Journalistin Franziska Grillmeier dokumentiert die Geschehnisse seit 2018 auf der Insel für verschiedene Zeitungenund erzählt nun anhand von jenen, die sich nicht wehren können, wie die Systematik der Ausgrenzung nach der Flucht erneut Traumata verursacht, wie Recht nahezu täglich gebrochen, auch Journalisten und humanitäre Helfende geblockt und kriminalisiert werden.

Immer mehr Frauen, Männer und Kinder wurden in dieser Zeit in einem eingezäunten Tanker am Hafen von Mytilini gebracht. Am 2. März verweigerte ein dänisches Boot, das im Rahmen der Frontex-Operation Poseidon im Einsatz war, den Befehl der Einsatzleitung. Es sollte 33 gerettete Menschen aus dem Meer in ihr Schlauchboot zurückbringen und aus den griechischen Hoheitsgewässern in türkische Gewässser ziehen. Die Besatzung war der Ansicht, dieser Befehl sei für die Menschen lebensgefährlich, […]. Der Grundstein für die alltägliche Praxis der illegalen Pushbacks war gelegt.

Franziska Grillmeier: Die Insel

“Die Insel” ist ein erschütternder Bericht über menschliches Leid, welches versucht wird, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen zu halten, ist es doch die Politik, die keine anderen Antworten sucht, als immer neue Wege zu finden, Grenzen noch unüberwindbarer zu machen, als sie es ohnehin schon sind. Es ist ein orchestrierter Ausnahmezustand, der hier beschrieben wird, ein Tanz auf dem Vulkan, aus dessen Folgen beständig fatale Schlüsse gezogen werden. Zu Lasten derer, die einfach nur einen Ort für ein geordnetes und vor allem sicheres Leben suchen, zu Lasten aber auch der Anwohner, die die Wut über die Überforderung der eigenen Politik auf jene projizieren, die am wenigsten dafür können.

Die Journalistin hat über Jahre die unterschiedlichsten Menschen begleitet, die Lesbos mit dem Ziel erreichten, sich ein neues Leben aufzubauen, doch nicht nur, aber vor allem auf der Insel unzählige Steine und erneute Traumatisierungen in den Weg gelegt bekamen. Grillmeier zeigt jedoch auch, dass es immer noch jene gibt, die unermüdlich dagegen ankämpfen, auf lesbos und anderswo, sei es für sich selbst oder für andere, aus einem Mut der Verzweiflung heraus, der in dieser Situation nur bewundernswert genannt werden kann.

Als ich am 22. Juli wieder nach Samos kam, um die Baustelle für das neue Lager von Samos zu besucen, wirkte Choulis noch desillusionierter: “Es wäre ehrlicher zu sagen, die Grenzen sind dicht”, sagte er am Abend in einem Cafe, “und jeder, der versucht, rüberzukommen, auf den schießen wir.” Das wäre auch nicht schlimmer als das, was im Moment an den Grenzen passierte. So oder so – viele müssten für ihren Versuch, in Sicherheit zu kommen, mit dem Leben bezahlen.

Franziska Grillmeier: Die Insel

Zudem werden Schicksale beschrieben, deren Leid einfach nur erschüttert, wütend macht, auf Entscheidungsträger, die nicht sehen wollen, welche physische und psychische Qualen sie provozieren. Auch wird die Doppelzüngigkeit einer Politik aufgezeigt, die zwischen guten und ungewollten Flüchtlingen unterscheidet, was widerum das Bild um einen anderen Aspekt vervollständigt.

Das wird anfangs von der Autorin selbst noch sehr nüchtern betrachtet, doch je länger sie mit Menschen spricht, um so emotionaler, um so näher ist sie dran am Beschriebenen, was sich auch in der Lektüre widerspiegelt. Man kann dann gar nicht mehr neutral sein, verfolgt wie Grillmeier eine immer unmenschlichere Spirale von Entscheidungen, die die Flüchtlinge betreffen, aber auch sie in ihrer journalistischen Arbeit im Laufe der Zeit immer wieder behinderten. Jedes einzelne Puzzleteil für sich genommen reicht an sich aus, sich zu empören. Fasslungslos liest man Zeile für Zeile. Speiübel wird einem da.

Die Gewalteskalation war das Ergebnis einer europäischen Politik, die keine Vorstellung und keinen Plan hatte, was mit den geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln passieren sollte. Man lies die Sache einfach laufen.

Franziska Grillmeier: Die Insel

Ohne Längen wird hier über das Leben in Moria und nach dessen Brand über die neu errichteten Lager erzählt, die kaum weniger entfernt von dem sein könnten, was man als Gefängnis bezeichnen könnte. Es wird von Menschen berichtet, denen medizinische Hilfe verwehrt wird, die nach ihrer Flucht vom Regen in die Traufe gerieten.

Man möchte dieses in unseren Zeiten unheimlich wichtige Buch sämtlichen europäischen Politikern um die Ohren hauen und zur Pflichtlektüre für all jene werden lassen, die Zahlengrenzen, Zäune, Mauern, Stacheldraht, Überwachungstechnik setzen und offenbar noch nichts von Menschenrechten gehört haben. Bitte, alle dieses Buch lesen.

Autorin:

Franziska Grillmeier wurde 1991 in München geboren und berichtet als freie Journalistin von der griechischen Insel Lesvos (Lesbos) und anderen Grenzorten. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender. Zuletzt war sie Mitglied des Recherchekollektivs zu den neuen Aufnahmelagern “Das neue Moria” und Teil des Podcasts “Memento Moria”.

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Ina Conzen: Pablo Picasso

Inhalt:
Pablo Picasso (1881-1973) gehört zu den bedeutensten Künstlern des 20. jahrhunderts. Fantasievoll und experiementierfreudig hinterließ er ein atemberaubend umfangreiches OEuvre in nahezu allen Medien. Bis heute fasziniert die stilistische Wandelbarkeit seiner Werke, aber auch deren spannende Verankerung in Picassos Biografie. Souverän und kenntnisreich zeichnet Ina Conzen im vorliegenden Band Leben und Werk dieses Ausnahmekünstlers nach. (Klappentext)

Rezension:

Reduziert auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne wirkt das Wandbild nur auf den ersten Blick als eine wirre Kombinationen aus Formen und Symbolen, doch erschließt es sich nach und nach den Betrachtenden. Es symbolisiert die Schrecken des Krieges und gilt bis heute als bedeutenstes Werk des spanischen Künstlers Pablo Picasso. “Guernica”, welches dieser im Auftrag für die Weltausstellung 1937 unter den Eindrücken des Spanischen Bürgerkriegs anfertigte, ist heute in Madrid zu sehen, doch nicht nur dieses Werk ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Die Konservatorin und Autorin Ina Conzen hat sich auf Spurensuche begegeben. Entstanden ist dabei ein mehr als eindrucksvolles Porträt.

Wer mit relativ wenig Aufwand kompaktes Überblickwissen erlangen möchte ist mit Bänden der vorliegenden Reihe gut bedient. Das gilt für viele Themen, eben auch für die Kunst und so reiht sich nun dieses Bändchen mit ein, in welchem ein bedeutender Ausnahmekünstler beleuchtet wird. Diese Formulierung aus dem Klappentext darf man ruhig wörtlich nehmen, wenn gleich sich die Autorin sehr nüchtern der Biografie und dem Werk Picassos nähert. Sie verfolgt die Spuren dessen, der als Porträtmaler began und später die Grenzen des Künstlerischen Schritt für Schritt erweiterte, sich mitunter selbst zum Objekt seiner Betrachtung machte, von dessen Kindheit an. So gelingt ein eindrucksvoller Rundumblick.

Nicht immer ist das zugänglich. Zwar lockern hier mehrere Bildteile den Text auf, doch sollte man sich zuweilen schon auskennen mit verschiedenen Stilrichtungen der Kunst, die Laien zunächst kaum etwas sagen werden. Was ist das besondere an dem Punkt, wenn Picasso den Bereich des Gegenständlichen verlässt, um ins Surrealistische und Kubistische zu wechseln, um dann später wieder sich einer anderen Form des Gegenständlichen zu widmen? Diesen Zugang muss man sich selbst zusammenrecherchieren. Nicht an jeder Stelle ist hier ein Text für Laien gelungen, wenn man auch mit mehr Wissen aus der lektüre herausgeht, als man eingestiegen ist.

Die Autorin hangelt sich entlang der Perioden künstlerischen Schaffens Picassos, welcher dankenswert die Interpretationen gleich mitgeliefert hat, zuweilen für seine Zeitgenossen unverständlich, die teilweise fassungslos der Tatsache ins Auge sehen mussten, dass für scheinbar einfache Pinselstriche Millionen hingeblättert wurden. Schon zu Lebzeiten war der Künstler mehr als erfolgreich.

Im Privaten unruhig, blieb auch Picassos Kunst immer in Entwicklung. Auch mit den damaligen neuen Medien, der Fotografie, des Films experimentierte er ausgiebig. Auch diesen Aspekt seines Schaffens analysiert die Autorin mit Kennerblick, zeigt jedoch auch, dass Picasso nicht nur von Pinsel, Farbe oder Modellierung etwas verstand, sondern auch von Selbstvermarktung. Alle Aspekte werden in kompakter Form zueinander ins Verhältnis gesetzt, woraus sich ein Gesamtbild für die Lesenden ergibt, welches dazu einlädt die Werke Picassos einmal näher zu betrachten, sich damit zu beschäftigen. Ina Conzen lässt dabei jedoch nicht auch die Widersprüchlichkeiten der Charakterzüge Picassos außer Acht, gibt sich zuweilen kritisch, doch immer auch fasziniert von der Künstlernatur, die für jene, die mit ihm zu tun hatten, nicht immer ganz einfach gewesen sein muss.

Vielleicht ist genau dieser Band nicht unbedingt geeignet, in Leben und Werk Pablo Picassos einzusteigen. Zuvor sollte man zumindest einige von der Anschauung her kennen und vielleicht eine Idee der Grundzüge verschiedener künstlerischer Stile besitzen. Dann kann man sich dieser Lektüre annehmen und sie mit Gewinn sich zu Gemüte führen. Vorher wird man jedoch mehr als einmal über bestimmte Begrifflichkeiten stolpern. Später jedoch ergibt sich ein anderer Blick und dann erschließt sich auch die nüchterne faszination Ina Conzens für Pablo Picasso, der nicht nur mit “Guernica” ein Werk für die Historie geschaffen hat.

Autorin:

Ina Conzen war bis 2021 Hauptkonservatorin für Kunst der Klassischen Moderne an der Staatsgalerie Stuttgart.

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Thomas Seiterich: Letzte Wege in die Freiheit

Inhalt:

Sommer 1940. Die deutsche Wehrmacht besetzt das Elsass, aber es gibt Widerstand: In der Straßburger katholischen Pfarrei St. Jean gründen sechs französische Pfadfinderinnen eine Untergrundfluchthilfe für Regimegegner, Juden, Kommunisten, Militärs. Sie erkunden geheime Wege über die Vogesen und retten viele Menschenleben. Bevor die Gestapo sie 1942 aufgreift, bringen sie ungefähr 500 Menschen in Sicherheit. Thomas Seiterich hat sich auf Spurensuche nach diesen beeindruckenden Frauen des Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime begeben und mit den letzten Zeitzeuginnen gesprochen. (Klappentext)

Rezension:

Jenseits der Grenze wird er nun immer häufiger diskutiert, das Gewicht und die Rolle der Frauen in der Resistance, des französischen Widerstands gegen die Deutschen während der Besatzung des Landes im Zweiten Weltkrieg. Deren Wirken war vielfältig, doch auch dort noch vergleichsweise wenig wahrgenommen, spielt er in der hießigen Betrachtung der Historie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

Der Autor und Soziologe Thomas Seiterich hat sich nun der Thematik angenommen, um dieses beinahe vergessene Stück Geschichte auch einem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Dabei entstanden ist ein umfassendes Porträt sechs beeindruckender Frauen, die mit ihren Taten ihr Leben riskierten, um das anderer zu retten.

Beleuchtet wird die düstere Zeit der deutschen Besatzung des Elsass, zunächst mit den daraus resultierenden Auswirkungen und der Rolle der Kirche in dieser Region, im Gegensatz zum übrigen Frankreich. Der Autor folgt dem Zusammenfinden der Frauen, ebenso den Entschluss, viele Menschenleben durch persönlichen Einsatz zu retten und zeigt auf, wie diese Art des Widerstands auch im Zusammenspiel mit der damals dort lebenden Bevölkerung funktioniert hat.

An manchen Stellen liest sich das zuweilen wie ein Krimi, was die Thematik bedingt, doch verliert der Autor nie seinen fachlichen Blick. Einige Zeilen lassen doch sehr den theologischen Hintergrund von Thomas Seiterich durchscheinen, damit auch seinen Zugang zur Gedankenwelt der von ihm beleuchteten Frauen, doch driftet die Betrachtung nie ins allzu Religiöse ab. Die Gefahr hier eine theologische Abhandlung anhand eines positiven Beispiels sich hier zu Gemüte führen zu müssen, worauf man bei Klappentext und Kurzbiografie durchaus kommen könnte, ist nicht gegeben. Stattdessn ergänzt der Autor unser Geschichtsbild um einen weiteren wichtigen Aspekt gegen das Vergessen.

Nüchterne Absätze oder gar Kapitel erzeugen einige Längen, doch holt der Autor die Lesenden immer wieder zurück, mit einem dann doch sehr kompakten Stil, der wichtiges auf den Punkt bringt. Nur ein relativ überschaubarer Zeitraum wird in diesem Sachbuch besprochen und immer wieder das Handeln der Frauen im Kontext der Geschehnisse eingeordnet. Vorausgegangen sind dem zahlreiche Gespräche mit zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches noch lebenden Zeiitzeugen und Zeitzeuginnen, sowie das durchforsten von Archivmaterial, soweit vorhanden.

Warum wurde bisher noch nicht mehr über diesen Aspekt der, ja auch französisch-deutschen Geschichte gesprochen? Thomas Seiterich würdigt sehr gelungen die Frauen, die so unzählige Menschenleben retteten und dabei am Ende selbst in die Fänge eines mörderischen Regimes gerieten. Man will sich das alles nicht vorstellen, die Beschreibungen lassen jedoch sehr genaue Bilder entstehen von Schauplätzen. Wie ist es, plötzlich vor Stacheldraht einer streng bewachten Grenze zu stehen, im Verhör oder in einer Zelle auf die Vollstreckung eines Todesurteils zu warten, wie das Erkunden neuer Fluchtwege? Diese Beschreibungen werden hier gut transportiert.

An der einen oder anderen Stelle hätte man formulierungstechnisch durchaus vor Veröffentlichung noch feilen dürfen und hoffentlich, vor weiteren Auflagen, noch den einen oder anderen Rechtschreib- und Grammatikfehler ausgebessert. Das hält sich in grenzen und stört nicht so sehr im Lesefluss, wie vielleicht die eine oder andere Länge. Über allem und positiv steht das Aufgreifen eines hier nur selten diskutierten Aspekts der Geschichte und natürlich dem nun gesetzten schriftlichen Denkmal dieser Frauen. Wer also seinen Blick über den sonst üblichen Tellerrand hinaus erweitern möchte, sei die Lektüre dennoch empfohlen.

Autor:

Thomas Seiterich studierte Geschichte, Soziologie und Theologie in Freiburg, Fribourg und Jerusalem, sowie Frankfurt. Er ist Herausgeber der “Frankfurter Hefter” und war von 1980 bis 2020 Redakteuer der kritisch-linkschristlichen Zeitschrift “Publik Forum”. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Seiterich lebt in Ulm.

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Sasha Filipenko: Kremulator

Inhalt:

Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrauten Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen.

Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen? Ein Roman über Russlands Vergangenheit, die ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft – auf Grundlage historischer Dokumente, die dem Autor von der Organisation Memorial (Friedensnobelpreis 2022) zur Verfügung gestellt wurden. (Klappentext)

Rezension:

Wie sehr muss man sich eigentlich in den Brennpunkt einer Gefahr hinein begeben, um nach und nach den Schrecken vor ihr zu verlieren und schließlich nicht mehr als solche wahrzunehmen? Dabei ist der Direktor des Moskauer Krematoriums Pjotr Nesterenko täglich mit ihr konfrontiert, lässt er doch die Überbleibsel des Stalinschen Terrors von der Bildfläche verschwinden.

Mit jedem Menschen, den Nesterenko verbrennen lässt, zieht sich die Schlinge auch um seinen Hals immer enger zu, bis er schließlich selbst in derer Fänge gerät. Der Geheimdienstoffizier, ihm gegenüber sitzend, bringt ihn zum reden. Nesterenko, der dem Tod so oft ins Auge gesehen hat, spricht, im guten Glauben auch da heil heraus zu kommen, um seines Lebens willen.

Ein Roman funktioniert dann am besten, wenn der Schreibende genau um die Fascetten dessen weiß, worüber er schreibt. Dem belarussischen Schriftsteller Sasha Filipenko gelingt dies ein ums andere Mal, nun wieder. In seiner neuesten Erzählung greift er den Stalinschen Terror auf, dessen Auswirkungen noch heute in vielen russischen Familien zu spüren sind, heute durch die jetzigen Regierenden in anderer Art und Weise, subtiler vielleicht, fortgeführt werden. Mit kurzen prägnanten Sätzen, die nicht zu selten wie gezielte Nadelstiche wirken, eröffnet der Autor ein zu Beginn fast schon amüsant weil surreal wirkendes Kammerspiel, welches sich mehr und mehr zu einem Schachspiel um Leben und Tod wandelt.

Während des Lesens der ersten Hälfte des Romans muss man zuweilen schmunzeln. Das Lachen bleibt im Halse stecken. Wir scheinen schnell zu ahnen, worauf das dargestellte Katz-und-Maus-Spiel hinauslaufen wird. Doch wagen wir zu hoffen, jedem Gedanken um das Unausweichliche beiseite zu schieben. Erzählt wird so ein Zeitraum von wenigen Wochen, der für den Protagonisten mal zu einer atemraubenden Tortur wird, dann wieder in zähflüssiger Langeweile sich zersetzen scheint.

Der Autor öffnet dabei verschlungene Pfade und lässt seine Figur Nesterenko zurückblicken, auf eine Biografie, wie sie ähnlich wohl zu der beschriebenen Zeit viele in Erklärungsnot gebracht haben dürfte. Wir Lesende erfahren so ein bewegendes Stück russischer Geschichte, mit der man auch viel heutiges erklären könnte, bleibt jedoch mit mehr Fragen zurück, als dass man Antworten bekommt.

Nach und nach bekommt die Hauptfigur so Konturen, der Antagonist zeigt indessen sein wahres Gesicht, welches er schon zu Beginn kaum verbirgt. Der hat ein Ziel, der beschriebene Weg und was dies mit seinem Protagonisten macht, ist die Frage, die Filipenko sich stellt und auf deren Beantwortung wir Lesende hinfiebern. Die Intensionen beider Figuren können nachvollzogen werden. Rasant führt die eine den anderen in den Abgrund hinab, den beide aus unterschiedlichen Positionen heraus nur allzu gut kennen.

Die Dynamik im Text entsteht durch gekonnt gesetzte Brüche in Form von verschiedenen Zeitebenen, die sich nur langsam zusammenfügen. Es verdient Anerkennung, das geschrieben zu haben, ohne den Überblick zu verlieren. Dem kommt zu Gute, dass das Figurenensemble überschaubar bleibt. Kein Wort ist hier zu viel, zu wenig gesetzt. Eine Kunst, die Filipenko vollkommen beherrscht. Rückblenden werden gezielt eingewoben. Wäre die beschriebene Zeit jedoch nicht klar, wäre solch ein Verhör, wie dort beschrieben, auch und besonders im heutigen Russland vorstellbar. Abweichung wird nicht geduldet. Damals nicht, heute auch nicht. Und sei sie nur gefühlter Natur.

Zumindest am Anfang nicht ganz so düster daherkommend, wie etwa der Vorgängerroman “Der ehemalige Sohn”, der vordergründig eher ein Familiengefüge beleuchtet hatte, wirkt diese Erzählung an vielen Stellen deutlich leiser. Die Bedrohung packt den Protagonisten an seinen wunden Punkten. Wer liest, dem läuft das kalt den Rücken hinunter. Fast wirkt das, als wäre man selbst der Verhörte, der im Prinzip weiß, redet man, geht man daran zugrunde. Redet man nicht, dann sowie so. Also spricht man, hat natürlich trotzdem oder gerade deswegen die Hoffnung, noch einmal davonzukommen.

Diese Parallelen vom Damals zum Heute sind es, die die Erzählung so besonders machen, da so fein ausgearbeitet, selten ein zweites Mal zu lesen sind. Vergleichbares ist schwer zu finden. Gibt es Romane mit dieser Thematik, die einem noch mehr in den Bann ziehen? Man wird in die Handlung hinein gesogen. Zuweilen fühlt man sich, als würde man diesem fast schon intimen “Gespräch”, welcher zu großen Teilen aus einem äußeren, unterbrochen von inneren, Monolog besteht. Das schafft unbedingte Nähe.

Immer wieder einen anderen gesellschaftlichen oder historischen Aspekt der Geschichte Belarus’ und Russlands aufgreifend, hat es Filipenko mit “Kremulator” erneut geschaffen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, der auch nach Zuschlagen der letzten Seite nachhallt und emotional berührt.

Bei mir schaffen das nicht alle Romane, so in diesem Maße und nicht alle Schreibende so oft und stark, wie Sasha Filipenko, der wieder einmal meine Erwartungshaltung übertreffen konnte. Empfohlen sei die Erzählung allen, die sich für die Zeit des Stalinschen Terrors, dieser gewollt herbeigeführten Gesellschaft interessieren, die durch nichts als Angst zusammengehalten wurde und für jene, die erfahren möchten, warum auch heute noch die oberen Zehntausend Russlands mit den ihnen ausgesetzten Massen praktisch nach Gutdünken verfahren können. Die Geschichte ins Heute übertragen, könnte man sicher für einen Gutteil der dortigen Bevölkerung sagen, die Angst hat bis heute überlebt. Man stellt sich ein Verhör mit ungewiss-gewissen Ausgang auch heute noch so vor.

Schlicht und ergreifend beeindruckend ist das, wie hier Filipenko erneut durch den Spiegel der Historie etwas Modernes erzählt. Schon alleine daher ist “Kremulator” unbedingt zu empfehlen.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein belarussischer Schriftsteller, Journalist und TV-Moderator. Er, der auf Russisch schreibt, wurde in über 15 Sprachen übersetzt und studierte nach der Schule zunächst an der Europäischen Humanistischen Universität Minsk und ging anschließend 2004 nach St. Petersburg. Dort schloss er das Studium der Literatur ab und arbeitete für verschiednee unabhängige russische Fernsehsender.

In Belarus ist sein Werk teilweise verboten, zudem er in Opposition zum herrschenden Machtapperat um Lukaschenka steht, sich mit den in seinem Geburtsland stattfindenden Protesten 2020-2021 solidarisierte. Mit seiner Familie lebt er inzwischen im Schweizer Exil. Filipenko schreibt seine Texte weiterhin auf Russisch.

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Frank Vorpahl: Aufbruch im Licht der Sterne

Inhalt:

James Cook gilt als einer der größten Entdecker der geschichte. Doch seine Reisen durch die Südsee wären ohne die Hilfe der Indigenen gar nicht möglich gewesen. Frank Vorpahl rückt mit einer langen überfälligen Würdigung der drei Polynesier Tupaia, Maheine und Mai das kurzsichtige koloniale Bild der Cook’schen Entdeckungsreisen zurecht. Mehr noch: Vorpahl stellt das Auftauchen und das Agieren der europäischen Entdecker aus Sicht der Polynesier dar und erschließt uns so eine Welt, in der Cook und seine Männer sich bewegten, von der sie aber nicht sehr viel verstanden. (Klappentext)

Rezension:

Die erste große Herausforderung, die die Grundlage für den Erfolg der Expeditionen des Seefahrers James Cook bildete, war die, das ungehure nautische Wissen der Polynesier in die Bildsprache der Europäer zu übersetzen. Koordinaten und Orientierungspunkte waren für die Einhemischen in Legenden, Mythen und Geschichten verwoben. Dies umzuwandeln in ein eindimensionales Bild, welches ebenso genutzt werden konnte, gelang den Polynesier Tupaia, der die Briten schließlich auf seine erste Expeditionsreise begleiten sollte.

Er, Maheine und Mai, zwei andere Einheimische, interpretierten und vermittelten auf den einzelnen Fahrten zwischen den Welten und erlangten durchaus Achtung bei den Europäern, deren eurozentrisches Weltbild Jahrhunderte gelten sollte und sich gerade erst verschiebt. Öffentliche Anerkennung indes, bekommen sie bis heute kaum. Der Historiker und Wissenschaftsjournalist Frank Vorpahl ändert dies nun. Herausgekommen ist ein Sachbuch, in dem ein spannender und wichtiger Perspektivwechsel durchgeführt wird.

Das Material von Teilnehmern der Cookschen Expeditionen liegt verstreut in den westlichen Archiven, nicht zuletzt London oder etwa der Berliner Staatsbibliothek der Stiftung Preussischer Kulturbesitz und enthält doch verhältnismäßig wenige Informationen über die Polynesier, die entscheidend zum Erfolg von James Cook beitrugen, ohne den dieser nicht möglich gewesen wäre. Doch es gibt es.

Das Ergebnis dieser minutiösen Recherchearbeit liest sich beinahe wie ein spannender Abenteuerroman, in dem der damalas verengte Blick der Europäer aufgezeigt, aber auch dargestellt wird, welche Ziele Maheine, Mai und nicht zuletzt Tupaia verfolgten, dessen Weg wir zunächst verfolgen. Fast literarisch liest sich das. Passagenweise meint man einen gut recherchierten historischen Roman vorliegen zu haben, doch wird so detailreich erläutert, dass man am Ende eine sehr interessante Lücke für sich geschlossen hat.

Frank Vorpahl erläutert das Weltbild der Polynesier und setzt es im Kontrast zu denen Cooks oder des für die damalige Zeit fortschrittlichen Georg Forster, der die Überzeugung festhielt, dass die “Natur des Menschen spezifisch dieselbe” sei. Im Strom von Geltungsbewusstsein der Europäer und dem Streben nach Kolonien geradezu ein revolutionärer Gedanke, den nicht alle Expeditionsteilnehmer teilten.

Im vorliegenden Werk geht der Autor so ausführlich auf beide Seiten ein, wobei klar der Fokus auf die bisher wenig gewürdigten Indigenen liegt. Dargestellt wird die Kultur und woher die Besetzung dieser Positionen kam, und wie sich die drei Polynesier im Zusammenspiel mit den Europäern wandelten, nicht zuletzt in ihren Zielen, aber auch wie Überzeugungen ins Wanken gerieten. Viele Fußnoten verweisen dabei immer wieder auf sehr interessante Quellen und daraus gefilterte Informationen, die man durchaus auch hätte im Haupttext einarbeiten können, der Lesbarkeit halber jedoch sich auf das vorliegende Format konzentriert hat.

So kommt, wer einfach nur den Perspektivwechsel mitmachen und nachvollziehen möchte eben so auf seine Kosten, wie jene, die gleichsam über den Tellerrand schauen will. Zu keiner Sekunde wirkt das schwergängig. Im Gegenteil, Längen werden vermieten.

Der Rest bringt der Schreib- und Erzählstil mit sich. Fast ist es so als stehe man auf den Schiff, welches in einer Bucht liegt und würde den Polynesiern beim Verhandeln mit einheimischen Inselbewohnern zuschauen oder die Qualen rauer See und der gefürchteten Skorbuterkrankung erleiden. Das Sachbuch wirkt wie ein sehr gut gemachtes Dokuspiel, mit dem Frank Vorpahl jedoch auch nicht in Gefahr läuft die beleuchteten Personen zu überhöhen. Eben umfassend zu würdigen, wozu dann auch die Schattenseiten gehören.

Hervorgehoben werden nicht nur die Unterschiede zwischen den Europäern und den drei Polynesiern, jedoch auch zwischen letzteren, die unterschiedlich wirken konnten und ihren Spielraum weidlich zu nutzen wussten. Auch das bringt Dynamik in die Lektüre. Geschichte kann spannend sein, wenn man sie zu erzählen weiß. Neben der grundlegenden Karte ergänzen zwei Bildteile das Werk, welches den gesamten Weg von Tupaia, Mai und Maheine so gut es die Quellen zulassen, nachvollzieht.

Nicht zuletzt ist Frank Vorpahl zudem mit einem Nachbau des Cook’schen Schiffes mitgesegelt. Wie müssen sich die damalige Besatzung und die drei Polynesier, so halb freiwillig zwischen den Welten, gefühlt haben? Wie handelten sie und warum? Was blieb davon? Dieses fehlende Puzzleteil zu ergänzen, ist hier umfassend gelungen. Die Perspektive zu verändern, interessant und wichtiger denn je. Der “Aufbruch im Licht der Sterne” könnte spannender nicht erzählt werden.

Autor:

Frank Vorpahl wurde 1963 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. 1996 begleitete er als Redakteur für das Magazin „Aspekte“ die Enthüllung des Schliemann-Schatzes durch die Chefin des Puschkin-Museums. Seit dem verfolgt er die wissenschaftliche Debatte um Troja und den neueren Grabungen in Hissarlik, sowie die Restitutionsfragen rund um Schliemanns Funde. 2018 veröffentlichte er eine Biografie zu Georg Forster, der die Weltumsegelung James Cooks begleitete.

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Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Inhalt:

Am 8. November 1939 explodierte im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe. Eigentlich hätte sie Adolf Hitler töten sollen, während er gerade eine Rede hielt. Wenn dieser Plan aufgegangen wäre, hätten der Zweite Weltkrieg und mit ihm die Weltgeschichte einen völlig anderen Verlauf genommen. Doch der “Führer” verließ vorzeitig den Saal und kam mit dem Leben davon. Dieses Buch erzählt die Geschichte des Mannes, der die Tat ganz allein plante und ausführte: Johann Georg Elser. (Klappentext)

Rezension:

Die Rekonstruktion dieser Biografie ist schwierig. Schriftliche Zeugnisse liegen kaum vor. Nur von ihrem Endpunkt gibt es ein Protokoll, ausgerechnet von einem Verhör durch Hitlers berüchtigter Gestapo. Diese konzentrierte sich auf die Tat natürlich an sich, versuchte Hintermänner, Auftraggeber zu finden. Nur, die gab es nicht. Aus moralischem Empfinden und Selbstverständnis heraus, handelte Johann Georg Elser, konstruierte eine Bombe samt Zündmechanismus und platzierte sie im Bürgerbräukeller.

Um Georg Elsers Anschlag am 8. November 1939 beurteilen zu können, muss man die Anstrengungen betrachten, die andere mit dem gleichen Ziel […] unternommen haben. Insbesondere müssen die Möglichkeiten in den Blick gefasst werden, die den Angehörigen traditioneller, gesellschaftlicher Eliten Kraft ihrer Verbindungen, ihrer Position, ihrer Profession und Professionalität zur Verfügung standen bzw. gestanden hätten. Zur moralischen Dimension des Entschlusses, den Tyrannenmord zu wagen, kamen die technischen und logistischen Probleme der Ausführung …

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler – Leben und Tat des Johann Georg Elser

Ein Zufall verhinderte den Erfolg. Doch wer war der Mann, dessen Aktion im Gedenken an den Widerstand gegen Hitler heute so oft schmählich vernachlässigt wird? In wie weit lassen sich seine Lebensstationen nachvollziehen und was veranlasste ihm zu handeln, wo andere nichts taten? Zuletzt auch, wie gestaltete sich das Gedenken im Nachkriegsdeutschland, von 1945 bis heute.

Wolfgang Benz, Antisemitismusforscher, begab sich auf Spurensuche. Entstanden ist eine, der mageren Quellenlage geschuldete, kompakte aber beeindruckende Dokumentation der Biografie eines Menschen, der nicht wegschauen konnte. In der Reihe Bücher gegen das Vergessen wird so eine wichtige Lücke gefüllt, die mit dem Anschlag im Münchner Bürgerbäukeller selbst beginnt, um dann die einzelnen biografischen Stationen kapitelweise nachzuvollziehen.

Der Autor belässt es jedoch nicht dabei und ordnet den Lebensweg immer auch in den Kontext des gesellschaftlichen und politischen Gefüges ein, der jeweiligen Region, die den jeweiligen biografischen Abschnitt beeinflusst, zugleich die familiäre Situation Elsers. So entsteht aus mehren Facetten ein nachvollziehbares und sehr eindrückliches Gesamtbild, welches vor allem die Nachbetrachtung und Bewertung kritisch beleuchtet, ansonsten jedoch sehr sachlich bleibt.

Die schwierige Recherche und darauf aufbauende Rekonstruktion ist beeindruckend zu lesen. Benz versteht es, dem Menschen Johann Georg Elser gerecht zu werden und hoffentlich die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die dieser posthum verdient, auch über die Region Süddeutschland hinaus. Nicht nur für geschichtlich Interessierte eine wichtige Lektüre.

Autor:

Wolfgang Benz wurde 1941 geboren und ist ein deutscher Historiker. Von 1990 bis 2011 lehrte er an der Technischen Universität Berlin und leitete das zugehörige Zentrum für Antisemitismusforschung. Vorher war er wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für Zeitgeschichte in München, nah eine Gastprofessor in Sydney war, lehrte jedoch auch u. a. in Wien.

1992 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis und en Preis Das politische Buch der Friedrich-Ebert-Stiftung. Benz gehört zu den Unterzeichnern der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die eine Neudefinition und Präzisierung des Antisemitismusbegriffs vornimmt.

Er ist zudem Autor mehrerer wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Publikationen.

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Erri de Luca: Die Stadt antwortete nicht

Inhalt:

Von seiner neapolitanischen Kindheit, von wortkargen Fischern, von der Entdeckung der Natur handeln Erri de Lucas Erzählungen; von seinen Jahren als Arbeiter auf dem Bau, seinem politischen Kampf gegen den Klassismus; von der Liebe und dem Heiligen, der Literatur und den Bergen. In seiner behutsamen Prosa lässt der große italienische Autor Erinnerungen lebendig werden und beleuchtet schlaglichtartig die Etappen eines bewegten Lebens. (Klappentext)

Rezension:

Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Wer vom Gewohnten abweicht, dem kann das ebenfalls passieren. Dies zeigt der neue Kurzroman aus der Feder von Erri De Luca, der zunächst wie gewohnt mit durch seine Kindheit biografisch angehauchten Episoden beginnt.

Hier zeigt sich der Autor in Bestform, wenn er den Staub der Erinnerung aufwirbelt und seine Klassenkameraden noch einmal einen Aufstand gegen die Lehrerschaft proben, noch bevor gesellschaftliche Revolten sich auch im südlichen Europa ihren Platz im Bewusstsein der Gesellschaft erobern. Im Gegensatz zu seinen erprobten Texten, bleibt De Luca hier jedoch nicht dabei. Es ist diesmal keine Coming of Age Geschichte, die hier mit “Die Stadt antwortete nicht” vorliegt. Im Gegenteil, der Schreibende ist hier vom Erwarteten abgewichen und spannt den Bogen, lässt seinen Protagonisten wachsen. Protest, Wandel und Suche bestimmen dessen Leben, an dessen Ende der zurückblicken wird.

In gewohnt kompakter Form gelingt diese Sammlung von Erzählungen, die zwischen den Zeiten springen und so wirken, als hätten sie bisher für keinen Roman genügt, wie sie der Autor sonst erschafft. Es fehlt hier ein verbindendes Schlüsselereignis, die Konzentration auf einem kleinen Zeitausschnitt, was die Texte Erri De Lucas sonst so besonders macht, wenigstens ist die Tonalität unverändert. Ruhig wirkt das Erzählte, südeuropäische Gelassenheit oder die Milde des Alters, in welchem man auf Vergangenes zurückblickt.

Der Protagonist, beinahe sicher mit dem Autoren gleichzusetzen, was bei den vorherigen Romanen nicht immer ganz so klar ist, welchen Anteil der Biografie der Schreibende eingewoben hat, bleibt gleich, der erzählte Zeitabschnitt ändert sich. Beinahe scheint es, als würde man einzelne Fotos oder Zeitabschnitte in die Hand bekommen, dazu die passende Geschichte erfahren.

Das genügt, um Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen, die Gassen der italienischen Stadt am Fuße des Vesuvs, den Geruch betriebsamer Baustellen, aufgewirbelter Staub im Klassenzimmer. Große Überraschungen sucht man hier vergebens, trotz der Sprunghaftigkeit. Das Phänomen, nach Kindheit, nach Ereignissen anderer Leben zu fragen und immer wieder die gleichen Geschichten erzählt zu bekommen, die sich im Laufe der Zeit zu Familienlegenden entwickeln, kennen doch, in irgendeiner Art und Weise alle. So wirkt diese Aneinanderreihung, in die man dennoch versinkt.

Eventuell ist es vielleicht sogar klug, zuerst diesen Erzählband sich vorzunehmen und dann die anderen Geschichten, die in vielen Teilen fiktionaler und nach einem erprobten Schema geschrieben wurden. Dort kommt eher Ruhe hinein, da die Sprünge fehlen und man wird nicht sofort nach einigen Kapiteln wieder aus dem Gelesenen gerissen. Auch sind diese Texte stärker, da kleinere Zeitabschnitte ausgedehnt werden und nicht so viele Jahre auf so wenig Seiten untergebracht werden, wie in dieser Erzählung. Nichts destotrotz kommt man hiermit der Biografie Erri De Lucas wohl am nächsten, sowie einem Italien im Wandel.

Immerhin für diese Perspektive lohnt sich das dann.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeitet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Alexander Bätz: Nero – Wahnsinn und Wirklichkeit

Inhalt:

Seit eh und je fasziniert der römische Kaiser Nero (37-68 n. Chr.) die Nachwelt: als Muttermörder und Brandstifter, als Christenverfolger und tyrannisch-exzentrischer Anti-Kaiser, der sich zum Künstler stilisiert. Doch was gibt die antike Überlieferung eigentlich an verbürgtem Wissen über Nero her?

Alexander Bätz entdeckt Nero neu, indem er sein Leben und seine politische Karriere in die täglichen Rituale der römischen Kaiserzeit einfügt. Durch eine Neulektüre der antiken Quellen treten Nebenfiguren aus dem römischen Alltag in ihren Berührungspunkten mit Nero hervor: Senatoren, die abhängig waren von ihrer Nähe zum Kaiser, einfache Bürger, die ihr tägliches Auskommen im Moloch Rom suchten, jungfräuliche Priesterinnen, prominente Intellektuelle, Soldaten, Sklaven und ehemalige Sklaven, die – etwa als Ammen oder Vorkoster – dem Kaiser so nah kamen wie kaum jemand sonst. (Klappentext)

Rezension:

Der Herrscher schaut von einer Anhöhe auf einen orangeroten Gluthaufen. Feuer frisst sich durch die Straßen und fordert unzählige Opfer. Nero selbst tut nichts, erfreut sich an den Anblick der brennenden Stadt. Das Zentrum des antiken Weltreichs liegt in Trümmern. Es ist vor allem dieses Bild, welches uns aus den Überlieferungen von der Herrschaft Neros geblieben ist, doch muss sie differenzierter betrachtet werden.

Nero, der als Person zum Inbegriff für Inkompetenz, Unberechenbarkeit und Willkür werden sollte, bis heute, war genau das, gleichzeitig eben nicht nur. Größere Krisen erschütterten seine Zeit erst gen Ende seines Lebens, vor allem in seiner Person begründet. Ansonsten erlebte das Weltreich eine Stabilisierungsphase und wirtschaftliche Blüte. Der Historiker und Wissenschaftsjournalist Alexander Bätz hat sich nun die antiken Quellen vorgenommen. Müssen wir unser Bild von Nero neu justieren?

Wer sich mit den Geschehnissen der Antike beschäftigt, kann sich mitunter nur auf wenige ausführliche Quellen berufen, die gegen zu prüfen schwerfällt. Vergleichendes Material ist über die Jahrtausende, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft vorhanden und so beginnt diese Biografie mit der Aufstellung und Bewertung dessen, worauf sich die darauf folgenden Ausführungen und Analysen stützen werden. Bei Nero sind es vor allem drei Quellen antiker Geschichtsschreiber, die Nero selbst altersmäßig kaum gekannt haben dürften und sich ihrerseits vor allem auf Nachbetrachtungen beschränken mussten. Was ist von dem Bild Neros, welches wir heute haben, was unweigerlich auf diese Texte zurückgehen muss, also zu halten?

Der Autor greift weit zurück. Stützt sich zunächst auf Rom und seine Gesellschaft, um dann in die Analyse von Familienstrukturen zu gehen, die der antike Herrscher später nachhaltig durcheinander wirbeln sollte, aber auch für sich zu nutzen wusste. Wie ist die Kaiserwerdung zu betrachten, welche Feinheiten müssen bei Neros Handeln betrachtet werden, wenn der Ausgangspunkt die vorherige Regentschaften Claudius’ und Caligulas gewesen sind?

Sehr nüchtern folgt die Analyse diesem Zeitstrahl, der schon bald erste Ausschläge zeigen sollte, aber auch, dass unser heutiges Bild höchst einseitig ist. Nero war durchaus erfolgreich, zeigt Alexander Bätz, verschreckte jedoch die römischen Eliten zu oft mit seinem Verhalten und seinen Reaktionen, als dass man dies unberücksichtigt lassen kann.

Die sehr detaillierte und ausführliche Biografie erfordert Konzentration ob der Vielzahl antiker Namen, doch werden Hintergründe sehr genau erläutert, so sie zum Verständnis auch Lesender beitragen, denen man nicht unbedingt geschichtliches Grundwissen attestieren kann. Dazu tragen die einzelnen Abschnitte bei, die in sich relativ kompakt formuliert sind und sich praktisch häppchenweise lesen lassen. Damit wird der Fließtext etwas aufgelockert, genau so wie durch zwei sich gut ergänzend einfügende Bildteile. Die Abschnitte fügen sich zusammen zu den Kapiteln, die ihrerseits sehr ausführlich einen kleineren Zeitabschnitt in Neros Leben und Herrschaft darstellen.

Dabei gelingt es Bätz das Bild Neros in seine Einzelteile zu zerlegen und, wo notwendig, zu korrigieren. Nero als Person und seine Zeit müssen differenziert betrachtet werden. Mord, Totschlag, Willkür und Unfähigkeit gehören dazu, aber eben nicht nur. In diesem Sinne ist das vorliegende Werk ein sehr wichtiger Bestandteil der modernen Betrachtung der antiken Welt und einer Person, die trotz dessen, dass sie von jedem nachfolgenden Herrscher verdammt wurde, in den Köpfen überdauerte. Wie auch Rom eben nicht vollständig niederbrannte.

Autor:

Alexander Bätz hat Alte Geschichte, Germanistik, Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Würzburg, Padua und Berlin studiert. Nach seiner Promotion arbeitete er bei der Zeitung Die Zeit und ist seit 2016 als wissenschaftlicher Bibliothekar für Altertumswissenschaften an der Universität Konstanz tätig. Als freier Autor und Wissenschaftsjournalist schreibt er für verschiedene Zeitungen und Magazine.

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Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Inhalt:

1940 ist Chiune “Sempo” Sugihara offiziell der japanische Vizekonsul in Litauen. Tatsächlich aber spioniert er als Agent seines Außenministeriums deutsche und russische Truppenbewegungen aus. Seit seinen Lehrjahren in japanischen Kolonien ein entschiedener Gegner von Tyrannei und Unterdrückung, nimmt er sich der jüdischen Flüchtlinge an, die eines Tages beginnen, sein Konsulat zu belagern. Gemeinsam mit einem kreativen holländischen Konsul und einem profitorientierten russsischen Kommunisten heckt er einen wahnwitzigen Plan aus, ihnen mit Visa zweifelhafter Gültigkeit die freie Passage nach Japan zu ermöglichen.

Für die Juden beginnt eine aufreibende Odyssee durchs eiskalte Sibirien und über die raue japanische See in die Freiheit. Für Sugihara folgen Kriegsgefangenschaft, die unehrenhafte Entlassung aus dem Staatsdienst, Gelegenheitsjobs in Japan und Russland. Erst Jahrzehnte später erfährt er, dass sein Plan aufgegangen ist, und erst kurz vor seinem Tod wird er von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad vashem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. (Klappentext)

Rezension:

War Chiune Sigihara der japanische Schindler? Dass er seit Bekanntwerden seiner Taten immer wieder mit diesem wenig originellen Titel bedacht wird, ist so unglücklich wie verständlich. Auch ohne Vorkenntnisse hat man bei einer derart griffigen Verschlagwortung sofort eine ungefähre Vorstellung von der historischen Rolle, die ihm zukommt. Gleichwohl ist eine solche Bezugnahme auf eine andere historische Persönlichkeit auch immer eine Reduzierung.

Der japanische Schindler ist eben nicht das Original. Mit einer derartigen Größe verglichen zu werden ist einerseits sicherlich eine Ehre, klingt andererseits jedoch nach einem Trostpreis. Eine Hitparade der Holocaust-Helden wäre unschicklich, und darüber hinaus hat Chiune Sugihara es verdient, nicht nur im Schatten eines anderen geehrt zu werden.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Der in Japan lebende Journalist und Autor Andreas Neuenkirchen tut dies in einem recht eindrucksvollen Porträt, welches er über den japanischen Diplomaten, der durch seine Postion getarnt, eigentlich für seine Regierung die Truppenbewegung der Deutschen und der Sowjetunion ausspionieren sollte, dem jedoch per Aufenthaltsort eine bedeutende Rolle zukommen sollte, in Bezug auf die Menschen, deren Leben er rettete. Entstanden ist eine eindrucksvolle Biografie einer hier in Europa fast vergessenen, in Japan erst spät gewürdigten Persönlichkeit, ein wichtiges Werk in der Reihe der Bücher gegen das Vergessen.

Die Geschichte von Chiune Sugihara beginnt der Journalist mit einem Blick auf dessen Elternhaus, Kindheit und Jugend, die schließlich in einem Weg mündete, abseits dessen, welchen der Vater für seinen Sohn erdacht hatte. Wichtige Schlüsselmomente und Stationen werden dargestellt, um darauf später zurückzukommen und die Motivation für das spätere Handeln Sugiharas wenigstens im Ansatz zu klären.

Neuenkirchen begab sich nicht auf die Spuren eines Unternehmers, der zunächst nur günstige Arbeitskräfte für seine Fabriken brauchte, für den dann im Laufe der Zeit die menschlichen Leben einen höheren Stellenwert erhielten oder der Männer, die im Auftrag ansonsten neutraler Regierungen, wie dies etwa in Schweden der Fall gewesen ist, Verfolgte vor dem Schlimmsten bewahren sollten. Chiune Sugihara war im Auftrag der japanischen Regierung in Europa unterwegs.

Wenngleich die Rettung Tausender jüdischer Flüchtlinge die Sugiharas in Deutschland nicht in Bedrängnis bringen sollte, so dauerte es dennoch nicht lange, bis sich der Himmel über ihrem Schicksal verfinsterte.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Nach Lehrjahren in der Mandschurei zunächst in Moskau, später dann in Kaunas, vor allem um die Truppenbewegungen der eigentlich verbündeten Deutschen und derer Gegner auszuspionieren. Neuenkirchen hat den auslösenden Moment für eine menschliche Großtat und den Weg Sugiharas, sowie den Umgang mit dem historischen Erbe gesucht.

Für die zahlreichen Geschichte, ja für diese eine, wirkt der Text auf den ersten Blick beinahe zu kompaktm, doch Neuenkirchen wagt keine Ausschweifungen, hat sich beim Schreiben aufs Wesentliche konzentriert. Die Wirklichkeit ist spannend genug. Sie bedarf keinerlei Ausschmückung. Gestützt auf Archivarbeit, Interviews und Zeitzeugenberichten, Zeitungsartikeln verfolgt er den Weg eines außergewöhnlichen Menschen und der jenigen, deren Leben Sugihara rettete.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, zückte Sugihara ein letztes Mal auf litauischem Boden Feder und Papier. Die letzten behelfsmäßigen Visa warf er aus dem fenster des fahrenden Zuges, in die Hände derer, die ihn laufend begleiteten, so lange es ging. Erschöpft und verzweifelt rief er: “Ich kann nicht mehr schreiben, bitte vergebt mir!” Dann sank er in seinen Sitz und schlief sofort ein.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Eindrucksvoll werden einzelne Momente herausgestellt. Fast wirkt es so, als wäre man inmitten eines Dokuspiels und doch ist dies ein sehr flüssig zu lesendes Sachbuch, welches einmal einen anderen erinnerungswerten Aspekt zur Sprache bringt, als dies normalerweise der Fall ist. Ansonsten hätte man schon öfter von Chiune Siguhara gehört.

Andreas Neuenkirchen versteht es Familien- und Personengeschichte, sowie ein gesellschaftlichs Porträt miteinander zu verknüpfen, ebenso Nachwirkungen und den Umgang mit der Vergangenheit darzustellen. Ein Sachbuch, welches sich von der durch das wirkliche Geschehen verursachten Dramaturgie wie ein spannender Roman liest, ist das. Und fast genau so aufgebaut. Im forderen Teil gibt es ein Personenregister. Aber auch die Nachbetrachtungen sind sehr überlegt und kenntnisreich. Sie runden die Thematik gut ab.

Der Ausgang der Geschichte von Chiune Sugiharas Taten ist bekannt, doch noch viel zu wenig beschrieben. Dieser Text ändert das nun.

Autor:

Andreas Neuenkirchen wurde 1969 in Bremen geboren und arbeitet seit 1993 als Journalist. Zunächst zuständig für Bremer Stadtmagazine und Tageszeitungen, arbeitete er von 1998 bis 2016 als Redakteur in München. Nebenher arbeitete er als Autor für Hörspiele, Heftromane, Rundfunkreklame, Bücher und Filme. Die meisten haben Japan-Bezug. Seit 2016 lebt er mit seiner japanischen Frau und der gemeinsamen Tochter in Tokio.

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