Kurt Tallert: Spur und Abweg

Inhalt:
Schon als Schüler muss Kurt Tallert erfahren: Was für weite Teile seiner Generation Schulbuchvergangenheit ist, ist für ihn lebendig, die Geschichte seines Vaters. Eines Vaters, der als „Halbjude“ von den Nazis verfolgt wird, der nach der Befreiung in Deutschland bleibt, Journalist wird und Mitglied des Bundestags. Und der doch ein Leben lang seinen Platz sucht. In „Spur und Abweg“ trifft Vergangenheit auf Gegenwart, Überliefertes auf Verdrängtes, Erlebtes auf Erinnertes, erzählt Kurt Tallert die Geschichte seines Vaters – und seine eigene. Ein Stück Gegenwartsliteratur, in dem die Scherben eines Lebens zu einem Spiegel der Gesellschaft zusammengelegt werden. (Klappentext)

Rezension:

Wie das Unfassbare begreifen? Diese Frage stellt sich Kurt Tallert und versucht die Geschichte seiner Familie, vor allem die seines Vaters, der viel zu früh verstarb, zu durchdringen und diese in Beziehung zu seinem eigenen Leben zu stellen, dessen Wahrnehmung schon in der Kindheit so ganz anders ist als die Gleichaltriger. An den brutalen Folgen der Nazi-Herrschaft leidend, vergeblich um Wiedergutmachung, Entschädigung kämpfend, geht die Vaterfigur zu Grunde als der Autor noch in der letzten Phase seiner Kindheit steckt, schon da hat die Spurensuche Tallerts nach dem Warum begonnen. Der Autor erzählt von ihr, tief in die Familiengeschichte eintauchend, um mehr über sie, nicht zuletzt auch über sich selbst zu erfahren. Kann dies gelingen?

Es ist eine besondere Art von Familien- oder Personenbiografie, die mit „Spur und Abweg“ hier vorliegt, die zugleich beinahe philosophisch die Frage nach der Verarbeitung vererbter Traumata aufgreift. Wissenschaftlich nachgewiesen, dass diese über mehrere Generationen hinweg unser Handeln und Leben beeinflussen können, weiß auch der Schreibende um diesen Fakt, möchte tiefgehender Ursachenforschung betreiben und begibt sich anhand von Dokumenten und Ortsbegehungen über die Jahre hinweg immer wieder in Konfrontation, nicht zuletzt zu sich selbst. Das Bild des Vaters, den er als Kind beinahe nur gebrochen kannte, bekommt dabei immer neue Facetten, Konturen, die eigentlich Klarheit bringen müssten, stattdessen immer mehr Fragen aufwerfen.

Das Puzzle, dessen Teile aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen oder Buchenwald-Besuchen bestehen entfaltet seine Wirkung, auf den Autoren selbst, der seine Erfahrungen in Bezug zu den Beobachtungen setzt, die er macht, wenn er seine Mitmenschen betrachtet. warum reagiert der Klassenkamerad während des Besuchs der Gedenkstätte anders als er, warum schießen Touristen später Selfies am Deportationsgleis, wo einst Familienmitglieder in ein ungewisses Schicksal blickten? Teile werden zusammengesetzt, allmählich wird die Familiengeschichte greifbar, der Autor gewinnt Sicherheit und wird zugleich unsicherer.

„Spur und Abweg“ ist die Art von Verarbeitungsliteratur, der Versuch zu verstehen, die man mit einer gewissen Konzentration konsumieren muss, nichts für schwache Nerven oder jene, die sich nicht auf philosophische Betrachtungen einlassen wollen. Dem Autor verschaffen sie einen Abstand, der die Betrachtung erst möglich macht, lesend begibt man sich auf Spuren eines Prozesses, der mehrere Leben reichen wird. Was machen die Erfahrungen vorangegangener Generationen mit uns, zudem wenn deren Leid von Gesellschaft und Politik nie wirklich anerkannt waren, wenn Protagonisten zwischen den Stühlen stehen und das Zugehörigkeitsgefühl zwangsläufig diffus bleiben muss?

Was macht es mit uns, wenn Identität verloren geht? Am Beispiel seines Vaters und nicht zuletzt sich selbst, erzählt Kurt Tallert davon. Gerade in heutiger Zeit wichtige Lektüre.

Autor:

Kurt Tallert wurde 1986 in Bad Honnef geboren und studierte Germanistik und Hispanistik in Aachen und Santiago de Chile. Unter den Künstlernamen „Retrogott“ prägt er als DJ, Rapper und Produzent, die deutsche Hip-Hop-Szene und veröffentlichte zahlreiche Alben. Dies ist sein schriftstellerisches Debüt.

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