Verarbeitung

Esther Schüttpelz: Ohne mich

Inhalt:

Sie ist Mitte zwanzig, gerade fertig mit dem Studium und genau so frisch verheiratet wie getrennt. Was tun, nachdem eine erste große Liebe krachend gescheitert ist? Die Erzählerin von Esther Schüttpelz’ Roman sucht. Nach einem Grund für die Trennung. Nach einem Plan für die Zukunft. Nach Freundschaft und nach Nähe und Rausch und Vergnügen. Scharfzüngig, verletzlich und komisch erzählt sie von einem Jahr des Danach und Dazwischen, von der Sehnsucht nach Verbundenheit in einer distanzierten Welt. (Klappentext)

Rezension:

Romane, die Zwischenräume suchen und dabei direkt ins Innerste treffen, was uns zudem macht, was wir sind. Gefühle können uns umher werfen. Davon hat die Erzählerin gerade ganz viele. Nur welche, ob immer wieder andere oder alle gleichzeitig, ist ihr selbst nicht wirklich klar und so entspannt sich in “Ohne mich” ein über weite Strecken innerer Monolog der Verarbeitung, des Bewertens von Vergangenem und nicht zuletzt die Suche nach den zukünftigen Weg.

Wir begleiten die Protagonistin vom Anbeginn eines Entwicklungsprozesses, der nach und nach immer größere Steine ins Rollen bringt. Schwermütig, melancholisch seziert Esther Schüttpelz’ Figur ihre inneren Verletzungen, ist auf der Suche nach Halt. Der gesamte Text ist durchdrängt von der Sehnsucht danach und zugleich nach etwas Neuem. Wie das aussehen soll? Wer weiß das schon? So schwer, wie der Erzählenden oder Monologisierenden diese ersten Schritte fallen, so schwierig ist es, sich einzufinden in den Text. Es braucht, bis man mit dem Erzähltempo warm wird. Das ist zwar nicht mit Mehltau gleichzusetzen, wirkt aber mitunter genau so zäh. Alleine, hier passt es zur Geschichte. Nach und nach enthüllt die Protagonistin die ihre, vor uns Lesende, ihren Mitmenschen und vor sich selbst.

Es ist eine Geschichte vom Vergehen und Enden, vom beschwerlichen Weg zu einem Neubeginn. Manchmal kommt das sehr nüchtern daher, um dann die Lesenden mit allen Gefühlswelten zu konfrontieren, die es gibt. Himmelhoch jauchzend, in kleinen Momenten des Glück. Zu Tode betrübt, die Beziehung hatte doch vielversprechend begonnen, oder? Oder? Sehr kompakt wird der Zeitraum fast eines Jahres aus erzählt. Der Entwicklungsprozess gibt der Protagonistin Konturen. Anfangs kann man diese kaum fassen, findet sie zuweilen unsympathisch oder zumindest nicht einfach. Doch wer mit der Belastung eines Beziehungschaos’ im Hintergrund, eines Trümmerhaufen an Gefühlen, wäre das nicht?

Die Autorin hat sich innerhalb ihrer kompakt wirkenden Kapitel für die Ausgestaltung nur einer Figur entschieden. Alle anderen bleiben verhältnismäßig konturlos. Es braucht sie aber auch über weite Strecken schlichtweg nicht, wenn dann nur, um der Protagonisten den Spiegel vorzuhalten. Selbst der Antipol, die Figur des Exfreundes, bleibt blass, während Schüttpelz das Gefühlsleben der Erzählenden in allen Farben beschreibt. Parallelen übrigens zum Leben der Autorin dürfen dabei nicht fehlen. Auch der Autorin alter Ego ist Juristin (oder werdende) und Musikerin. Wie viel Verarbeitetes ansonsten in der Geschichte steckt, wer weiß das schon?

Aber das schafft eine ehrliche Nähe, in sich verständlich und schlüssig. Spannend ist hier vor allem, wie Schüttpelz den Knoten auflöst, ohne ins Kitschige zu geraten. Nach und nach erfährt man mehr Hintergründe, die gleichsam eines Puzzles am Ende ein komplettes Bild ergeben. An einigen Stellen wird das etwas anders aussehen, als man zu Beginn glaubt. Rückblenden lockern die Melancholie auf, nur um im nächsten Moment neue zu schaffen. Ein Verarbeitungsprozess soll hier dargestellt werden, mit vielen Hindernissen. Man hat dabei nicht das Gefühl zu viel Überflüssiges zu lesen. Fast jedes Wort sitzt und fühlt sich, im Rahmen des Romans, richtig an.

Den Roman als sehr rational denkender Mensch zu lesen, ist aber das eine. Wie ist es, wer sich lesenden von seinen Gefühlen mitreißen lässt? Wo hier der Rezensent über manche Abschnitte nur die Augen rollen kann oder anders, einem Tunnelblick entwickeln und einfach einen neuen Anfang wagen würde, gleichwohl sich manchmal an die Stirn fasst, was macht das mit jene, die sich beim Lesen in die Gefühlswelten der Protagonistin hineinsteigern können? Wie wirkt dann die Erzählung? Wer “Ohne mich” so gelesen hat, möge mir das bitte sagen.

Positiv fallen die klar formulierten Sätze auf, die an einigen Stellen den Rhythmus von Songs haben. Man stelle sich das als Album vor, dessen Titel in einem Club gespielt würden. Oder nein, vielleicht wäre das wiederum zu traurig, zu düster. Durch die Ausarbeitung der Protagonistin kann man sie sich dagegen sehr gut vorstellen, genau so die Umgebung, die mal in den leuchtenden Farben beschrieben wird, mal einfach nur grau bleibt. Dieser Wechsel gibt dann auch das Lesetempo vor.

Nicht nur das Portrait einer jungen Frau, einer Suche liegt hier vor. “Ohne mich” ist vor allem für alle, die sich für Verarbeitungsprozesse interessieren, Figuren, die an ihrer inneren Zerrissenheit leiden und einen Weg finden müssen. Der Roman ist für jene, die vielleicht schon etwas ähnlich Geartetes durchleben mussten, nicht für jene, die gerade in einer Beziehungskrise stecken, möchte man meinen. Dann hätte die Erzählung nochmal eine ganz eigene Wucht. Vielleicht sollte man aber auch nicht allzu nüchtern an die Lektüre rangehen. Dann funktioniert das an einigen Stellen leider nicht. Aber ihr seid ja nicht so.

Autorin:

Esther Schüttpelz wurde 1993 geboren und studierte zunächst Jura in Münster, arbeitete als Rechtsanwältin, bevor sie zu schreiben begann. Zudem schreibt sie eigene Songs und macht Musik. Mittlerweile lebt sie in Berlin. Für ihr Werk “Ohne mich”, erhielt sie den lit.cologne-Debütpreis 2023.

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Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Inhalt:

Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig – Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Und erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte einer eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist.

Ein bewegendes Buch über eine faszinierende Frau und Mutter. (Klappentext)

Rezension:

“Woody Allen hat gesagt: Das schlechte Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Recht hat er.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

“Dafür nun habe ich überlebt.”, so oder ähnlich klingen die Vorwürfe, die sich Michel Bergmann Zeit seines Lebens anhören muss, aus dem Munde derjenigen, die ihm am nächsten stehen sollte. Das tut sie auch, doch das Leben spielte der Mutter, wie allzu vieler ihrer Generation übel mit. Geschehnisse, die lange danach noch Wirkung zeigen, in den Familien übergreifend. Der Autor schaut, Jahre nach dem Tod, zurück, sucht die Wegmarker und Wendepunkte und damit, seine Mutter mehr zu verstehen als er es zu ihren Lebzeiten konnte. Entstanden ist eine Mischung aus Romanbiografie, Familienepos, Ode und Psychogram, hart zu der Frau, die er zu seiner Hauptprotagonistin macht, aber auch sich selbst nicht schonend.

Der Filmemacher weiß sich unterschiedlicher Genre zu bedienen und setzt deren Elemente gekonnt um. Der Handlungsverlauf gleicht im Spannungsverlauf eben dem eines guten Films, während dessen er sich an den biografischen und neuralgischen Punkten des Lebens seiner Mutter entlang hangelt. Zuweilen ist das fast wie ein Krimi zu lesen, aber eben in Romanform erzählt Michel Bergmann liebevoll aus dem Leben seiner Mutter. Ihre und seine Perspektive sind die bestimmenden Elemente, die Abwechslung in diese kurzweilige Erzählung bringen. Die Kapitel sind benannt nach den einzelnen Stationen dieser bewegten Biografie, bei der man immer wieder innehalten muss. Um zu schmunzeln, laut loszulachen, auf das einem das Lachen im nächsten Moment im Halse stecken bleibt.

Erzählt wird die Geschichte der Mutter über die gesamte Lebensspanne, konzentriert auf die neuralgischen Punkte. Der Autor könnte noch viel mehr erzählen, doch beherrscht er des Berufs wegen die Kunst des Reduzierens. Auf die Leinwand kann man schließlich auch nicht alles bringen, was man gerne möchte. Überflüssige Zeilen gibt es hier auch zwischen den Buchdeckeln nicht. Dabei lässt Michel Bergmann die unterschiedlichsten Handlungsorte vor dem inneren Auge entstehen. Wir folgen der Protagonistin, deren Ansichten sich über die Jahre verhärten werden, in der Rückschau wird das Schicksal sie verbittern lassen, durch Deutschland in seiner schlimmsten, später auch in seiner besten Zeit, in die Schweiz und nach Frankreich. Wenige Worte genügen hier manchmal, um ganze Welten lebendig erscheinen zu lassen.

Hauptfiguren bilden der Erzähler selbst und seine Protagonistin, die wie zwei gegensätzliche Pole einander abstoßen, aber doch nicht ohne einander können. Diese Konstellation kommt aber auch bei den Nebencharakteren zum Tragen, doch während der Sohn mit dem Abstand der Generation das Konfliktpotenzial sieht und zu bewältigen weiß, kann sich die Mutter nicht davon befreien.

“Und die Ingredienzen dieses neuen Lebens durch Überleben haben nicht nur psychische Schäden verursacht. Sie haben Krankheiten und Todesursachen provoziert und letztlich auch die Gene verändert, die an uns weitergegeben wurden. Bis heute werden die Auswirkungen dieser schweren, lebensbedrohlichen Jahre der Schoah unterschätzt. Wir alle wären andere. Und unserer Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Brüche in der Erzählung ergeben sich durch die Protagonisten selbst, nicht zuletzt durch den Erzählenden, der zwischen den Zeiten springt, um damit andere Punkte dieser Geschichte unterfüttern. Im Lesefluss selbst ist das keinesfalls störend. Es ergibt sich sogar eine gewisse Dynamik und ein Erzähltempo, welches es verhindert, dass man vollends in nicht enden wollende Melancholie hinabstürzt, aus der man nicht wieder hinausfinden würde. Dem Lesenden wachsen die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten ans Herz. Vielleicht sollten wir alle uns die Geschichte unserer Eltern anschauen, mag man hinterher meinen, um sie zu begreifen, um sich selbst besser zu verstehen.

Der Autor weiß die Wirkung von Sätzen und sprachlichen Bildern zu nutzen, setzt sie gekonnt und nicht über die Maßen ein, setzt damit seiner Mutter, die er zur Hauptprotagonistin macht, ein Denkmal, nicht ohne dieses selbst zu hinterfragen. Immer wieder steht die Frage im Raum, was wäre wenn, um im gleichem Atemzuge beantwortet zu werden, mit: “So. Und nicht anders.” Diesem Stil kann man sich nicht entziehen, möchte man auch nach wenigen Seiten schon nicht, trotz einer Figur, die in Teilen unnahbar, manchmal fast unangenehm bleiben wird.

“Ich lehne mich zurück, atme tief durch. Was für eine Geschichte! Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Es ist ein Buch über ein Blick hinter die Fassade eines Menschen und auch die Suche des Autoren nach sich selbst. Am Ende scheint Michel Bergmann auf viele seiner Fragen Antworten gefunden zu haben. Diesen Weg zu verfolgen, durch sprichwörtlich viel zu viele und zu tiefe Täler, immer wieder aber auch Berge des Glücks, okay, das klingt jetzt kitschig, war interessant und lesenswert. Gelernt hat man am Ende auch etwas dabei und sei es nur eine ganze Reihe jüdischer Ausdrücke und Begrifflichkeiten, die Bergmann am Ende des Romans, der eigentlich eine Biografie, eine Suche und auch sonst darstellt, erläutert. Ein Text der so viel schafft, den Autoren sicherlich und nicht zuletzt, die Lesenden selbst herausfordert, den kann man nur empfehlen.

Autor:

Michel Bergmann wurde 1945 in Basel geboren und ist ein schweizerisch-deutscher Filmproduzent, Regisseur und Schriftsteller. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung bei der Frankfurter Rundschau und war anschließend als freier Journalist tätig.

Später wechselte er in die Filmbranche und arbeitet seither als Drehbuchschreiber, Regisseur und Produzent. Sein erster Roman wurde im Jahr 2010 veröffentlicht, weitere folgten, 2021 seine erster Kriminalroman. Er erhielt u. a. den Deutschen Industriefilmpreis und den New York Film Award.

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Banana Yoshimoto: Kitchen

Inhalt:

Als Mikage ihre Großmutter verliert, ist sie vollkommen allein in der großen Wohnung. Nur in der Küche, wo sie das Brummen des Kühlschranks in den Schlaf wiegt, kommt sie zur Ruhe. Aus ihrer Einsamkeit holt sie Yuichi. Er schlägt ihr vor, zu ihm und seiner Mutter zu ziehen. Denn Eiriko, die wunderschöne “Mutter” Yuichis, hat eine schillernde Vergangenheit. (Klappentext)

Rezension:

Wer sich vom Klappentext leiten lässt, kommt darin um. Die Inhaltsangabe passt zu einer Geschichte, etwas weiter gefasst zu zwei Erzählungen, jedoch nicht die Handlung derer drei, die in dieser Kurzromansammlung zusammengefasst wurden. Eine Sammlung ist dies, von Texten unterschiedlicher Entstehungszeit, jedoch aus den Jahren, in denen sich die japanische Autorin Banana Yoshimoto noch neu an das Schreiben und Erzählen herangewagt hat.

Doch schon hier werden die großen Themen der Kunst, der Literatur und des Lebens behandelt. Um letzteres geht es auch, genau so wie um Tod, Trauer und den steinigen Weg der Verarbeitung, den man nie ganz verlassen können wird, besonders wenn man einen geliebten Menschen verloren hat.

Alle drei Erzählungen sind für sich genommen kompakt und werden nur durch die Themen zusammengehalten, können jedoch als Einzelwerk gut wirken. Eines mehr als die anderen. In dieser Zusammenstellung wirkt der Mittelteil am schwächsten und verschwimmt mit zunehmender gelesener Zeilenanzahl der dritten Erzählung. Das Lesen hintereinanderweg, wie dies mit einem Großteil der westlichen Literatur funktioniert, ist hier nicht möglich.

Es lohnt sich immer wieder innezuhalten, einzelne Abschnitte, die so kunstvoll geschrieben sind wie ein Gemälde, auf sich wirken zu lassen. Zu erwähnen ist aber auch, dass andere Sätze aber mit der Holzhammermethode aufzeigen, dass sich dahinter noch verschiedene Ebenen verbergen. Ob man die allerdings greifen kann, hängt davon ab, wie viel Erfahrungen man schon mit dieser Art von Texten gesammelt hat.

In allen Erzählungen beschränkt sich die Autorin auf wenige Figuren und einer überschaubaren Anzahl von Perspektivwechseln, die sehr gewählt gesetzt sind, jedoch manche Länge haben entstehen lassen. Das ist schade, denn dem Zugang zu den Geschichten ist dies nicht unbedingt zuträglich.

Auch wirken manche Szenarien wie durch einem Nebelschleier, wenn man auch anerkennen muss, dass die Autorin durchaus gesellschaftliche und literarische Grenzen mit ihren Erzählungen in Japan aufgebrochen hat. Das sagt uns zumindest ein einordnendes Nachwort, hier von Giorgio Amitrano. Unbedingt notwendig für jene, die noch nie etwas von der Autorin gelesen haben oder gar mit Yoshimoto einen Einstieg in die japanische Literatur versuchen möchten. Von Letzteren würde ich allerdings abraten.

Wenn man sie einmal zu fassen bekommt, zerrinnen einem die Figuren im nächsten Moment wieder zwischen den Fingern. Mitfühlen fällt jedoch leichter, wenn man ähnlichen Verlust schon einmal erlebt hat oder benennen kann. Anders ist es schwer, auch wenn man allgemein Probleme damit hat, Gefühl zu beschreiben, zu benennen. Hier hätte vielleicht ein etwas anderer Schreibstil gut getan, was aber auch an der Übersetzung selbst liegen kann.

Spannend ist es für jene geschrieben, denen das Sezieren von Gefühlswelten liegt, große Überraschungen bleiben jedoch auch dann aus. Die braucht es dann jedoch auch nicht.

Wer die Kurzgeschichten wirklich als solche liest und nicht hintereinanderweg schmökert, sondern zwischendurch innehält, gewinnt dadurch mehr. Daher empfiehlt es sich, zwischendurch eine Pause einzulegen. Das sollte man aber vielleicht vorher wissen.

Nun denn, ihr wisst das jetzt. Vielleicht ist euer Urteil dann milder.

Autorin:

Banana Yoshimot ist das Pseudonym der japanischen Autorin Mahoko Yoshimoto. Geboren wurde sie 1964 und studierte nach der Schule japanische Literatur. Für ihre Abschlussarbeit bekam sie 1986 den Dekanspreis ihrer Universität. ein Jahr später für ihre Erzählung “Kitchen” den 6. Kaien-Literaturpreis für Debütanten. Weitere Werke folgten, die mehrfach ausgezeichnet und übersetzt wurden.

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Donald Antrim: An einem Freitag im April

Inhalt:

Ein schonungsloser ehrlicher Bericht über Todesnähe als Lebensbegleiter: Donald Antrim beleuchtet Tragödie und Stigma des Suizids und bietet Trost, der Leben retten kann. (Klappentext)

Rezension:

Hinterher weiß Donald Antrim nicht einmal mehr, was ihn diesmal angetrieben hat, die Feuertreppe seines Hauses hochzusteigen. Prüfend tritt er ans Geländer, um in den Abgrund zu schauen. Er hält sich fest, um loszulassen. zumindest mit einer Hand, die dann doch wieder den sicheren Halt sucht. Wie wird es sein, das Sterben? Wird es schmerzhaft werden? Spürt man nichts? Wird Antrim es bereuen, in den Sekunden zwischen Leben und Tod, diese Entscheidung getroffen zu haben? An diesem Tage wird er es nicht erfahren. Aus irgendeinem Grund entscheidet er sich um, geht zurück in seine Wohnung. Ein langer, steiniger Weg über Klinikaufenthalte und Therapien folgt diesem Ereignis, ebenfalls nur ein trauriger Punkt in seinem Leben, zudem der Suizid schon lange gehört.

Wir sagen auch, dass wir das wollen, aber stimmt das auch?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

In einer Mischung aus Essay und bericht beschäftigt sich der amerikanische Autor mit Suizid als Prozess. Als solchem sieht er das, was auch Freitod, Selbstmord oder Selbsttötung genannt wird und oft nur den eigentlichen Schlusspunkt meint. Doch ist es das oder vielmehr eine Krankheit, die die Betroffenen zu einer an sich selbst grausamen oder erlösenden, auch das je nach Blinkwinkel, Handlung bringt. Er stellt dar, wie es ist, mit diesem Gefühl zu leben, sich ein Ende zu wünschen oder darauf meinen hinwirken zu müssen. Doch durchzieht den Bericht auch Hoffnung.

Wenn man beispielsweise sagt, Suizidanten seien von Natur aus impulsive Menschen, unterschlägt man die Stunden, Monate und Jahre der Angst und des körperlichen Niedergangs, der Furcht und scheinbaren Resignation, mit denen wir in den Tod gehen. Oder vielleicht halten wir den Katatoniker für antriebslos und verstehen nicht die Qual, das Gefühl, dass der Körper irgendwie vibriert, die Paralyse. Der Mann auf der Brücke hockt vielleicht stundenlang am Geländer, starrt nach unten und hat zugleich Angst davor, hinzusehenn. Die Frau in den Wellen plantscht nicht ins Meer hinaus, sondern geht eher langsam, bis sie untertaucht.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Klar wägt Antrim ab. Es ist ein ruhiger Text, immer wieder sich selbst prüfend. Wenn ein steiniger Weg ins Unausweichliche führt, kann man auch abbiegen und den Teufelskreis durchbrechen? Der Autor hat das versucht, wollte sich helfen lassen. Dieser Weg ist noch mehr von klippen und spalten durchzogen, Umwegen und Rückschlägen. Er berichtet von seinem Weg, ohne außer Acht zu lassen, dass dieser ihm geholfen hat und für andere etwas anderes gelten mag.

Die Paralyse des Suizids ist keine Apathie oder Stille. Wir fühlen uns eingekapselt, irgendwie eingeengt. Unsere Körper könnten zerbrechen, oder etwas außerhalb von uns wird zerbrechen. Was wird zerbrechen?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Donald Antrim bricht das Schweigen über ein Tabuthema, welches viel öfter zur Sprache kommen sollte, um Zugang zu den Betroffenen zu finden, vielleicht einen Weg, sie aus diesem Teufelskreis herauszunehmen und in Sicherheit zu halten. In einer Mischung aus biografischen Rückblicken, Verarbeitung und nüchternen Bericht ist der Text keine leichte Kost.

Förmlich spürt man die bleierne Last, die dem Autoren die Luft zum Atmen genommen hat. Man muss dann beim Lesen innehalten, blättert zurück, liest einzelne Abschnitte nochmals und fragt sich unweigerlich, wie man selbst in dieser Situation gehandelt hätte. Wäre man stark genug für eine Therapie? Was passiert bei einem Rückschlag? Würde man sich helfen lassen (wollen)? Wann wäre der Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gäbe? Glücklich, wer sich damit noch nie beschäftigen musste. Für die an Suizid leidenden (bleiben wir bei der Betrachtung als Krankheit statt Schlusspunkt) ein tägliches Abwägen. Wann gewinnt was die Oberhand?

Ich bin der Überzeugung, dass Suizid eine Entwicklungsgeschichte ist, ein Krankheitsprozess, keine Handlung oder Entscheidung, kein Entschluss oder Wunsch. Ich verstehe Suizif nicht als Reaktion auf Schmerz oder als Botschaft an die Lebenden – zumindest nicht nur.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Als Teil der Verarbeitung und Enttabuisierung ein notwendiges und wichtiges Schriftstück, wirbt Antrim für diesen Blickwinkel. Vielleicht sollte man aber wirklich gefestigt sein, um diesen Text lesen zu können. Schließlich ist der so stark wie die Thematik selbst.

Autor:

Donald antrim wurde 1958 geboren und ist ein US-amerikanischer Autor. Nach einem Studium an der Brown University veröffentlichte er 1993 seinen ersten Roman, dem weitere folgten. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heyden Fellow for Fiction an der American Academy in Berlin. 2013 erhielt er den MacArthur Fellowship. Er lehrt Literatur an der Columbia University.

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Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Inhalt:

Die 1960er Jahre. BRD. Im rheinischen Troisdorf betreiben die Eltern des Erzählers ein gutgehendes Fotoatelier. Häuser. Neues Auto. Sonntags Kirchgang. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassade legen die Familienmitglieder verstörende Verhaltensweisen an den Tag. Was treibt die Eltern um, die während des Zweiten Weltkriegs bereits junge Erwachsene waren? Warum verabscheut die Oma, die zwei Weltkriege erlebte, ihren Enkel? Eine deutsche Familiengeschichte über 3 Generationen. Ein Kriegsenkelroman.

Rezension:

Mit “Die Königin von Troisdorf”, liegt hier vieles vor, nur kein Roman, wie es der Klappentext des Werks von Andreas Fischer behauptet. Beim Lesen wird man sich einmal mehr fragen, wie Verlage machmal zu ihren Einordnungen kommen. Viel mehr ist dieser Text eine Mischform aus literarischem Sachbuch, Tagebuch, Familien- und nicht zuletzt die Biografie einer Kindheit und Jugend in wirtschaftswunderlichen Zeiten.

Aus der Sicht des Kindes, des Erwachsenen, des Jugendlichen Andreas Fischer wird eine Chronik von Ereignissen aufgefächert, an die sich der Autor zu erinnern vermag, sprunghaft in Episoden erzählt, die erst nach und nach ein komplettes Bild mit all seinen Widersprüchen ergeben. praktisch in Form eines Tagebuch springt der Schreibende vom Erlebten zu Erlebten, versucht jene zu verstehen, die ihn in seiner Kindheit und Jugend umgaben und doch immer fern blieben.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestank ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Mehrere Facetten versucht Andreas Fischer zu ergründen, nicht zuletzt den Kitt, der diese dysfunktioniale Familie über Jahrzehnte zusammenhält. Wie erklärt sich die Differenz zwischen dem Schein nach außen, der eine heile Welt vorgaukelt und den Kontrollwahn der Großmutter und ihrer Tochter, vom Erzählenden nicht umsonst Hindenburg und Ludendorff genannt, gegenüber dem Kind, welchs Halt sucht und kaum findet, weder dort, noch bei dem trunksüchtigen Vater, der der Nazi-Zeit hinterhertrauert oder dem schlagkräftigen Onkel mit seinem cholerischen Wutanfällen.

Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich, und an dieser Stelle kennt die Oberste Heeresleitung kein Pardon.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Über allem schwebt die Frage, welche Nachwirkungen zwei Kriege noch über Jahre hinaus auf diese Familie gehabt haben, welche Konsequenzen vor allem jener zu spüren bekommt, der deren Schrecken, Gnade seiner Geburt, nicht erleben musste. Sprunghaft und fahrig wirkt dies zunächst. Mal wird eine Episode aus dem neunten Lebensjahr, dann wieder vom sechsten, zwischendurch vom dreizehnten des Autors aufgefächert, nur um dann einen Briefwechsel nachzuspüren, den der im Krieg gefallene Sohn der Großmutter hinterlassen hat.

Vergleichbar mit immer wieder mündlich erzählt werdenden Familienereignissen ist dies und entfaltet nach und nach eine ganz eigene Dynamik, derer der Autor sich nicht ganz entziehen kann und nicht verstehen wird. Wer tut das schon, selbst bei der eigenen Familie? So spürt Andreas Fischer “Der Königin von Troisdorf” nach, die als Patriarchin versucht, alle Fäden Zeit ihres Lebens in den Händen zu halten und doch nicht verhindern wird können, dass der Enkel “tüchtig Sand ins Getriebe werfen” wird, zu Zeiten, die weder sie noch die Eltern des später Schreibenden ganz verstehen werden.

Was wäre, wenn das Undenkbare stimmt?
Was wäre, wenn Vater nicht die Wahrheit sagt?
Kann mein Vater mich anlügen?

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Anstrengend zu lesen, für jene, die sich in diesem Stil nicht zurechtfinden, der mir jedoch auch bisher recht selten begegnet ist. Eine Art Tagebuch über Jahre, Rückblicke, Einstreusel, Zeitsprünge. Das muss man mögen. Der Autor beherrscht diese Kunst und vermag es, eine Art Film vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen. Vielleicht findet man sogar selbst ein Stück eigene Familiengeschichte wieder.

Andreas Fischer versucht mit “Der Königin von Troisdorf” ein Stück Bewältigung der eigenen Kindheit, sowie der Traumen der Vergangenheit, die wie wiederkehrende Nadelstiche, die Familiengeschichte durchziehen. Es ist ein Versuch, zu verstehen, was kaum zu begreifen ist, literarisch in einer wunderbaren Form, zugleich das Psychogramm einer Familie, mit der der Autor erst im Erwachsenenalter einen wie auch immer gearteten Frieden machen wird, was sich nie ganz auflösen wird.

Ja, ich bin der Prinz.
Ich bin einziger Sohn, einziger Neffe, einziger Enkel.
Auf mich läuft alles zu.
Ich bin der Fluchtpunkt.
Ich werde sie alle beerben.
Ich spiele keine Rolle.
Ich bin unsichtbar.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Für jene, die Geschichte einmal in einer besonderen Form aufgearbeitet erleben möchten, eine unbedingte Empfehlung.

Autor:

Andreas Fischer wurde 1961 in Troisdorf geboren und ist ein deutscher Filmemacher und Autor. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Fotografen und studierte Filmwissenschaft, Ethnologie und Psychologie in Köln und Berlin. Von 1999 bis 2004 war er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln. 1983 erschien sein erster Kurzfilm, danach zahlreiche Dokumentaqrfilme u. a. “Contergan: Die Eltern” (2004) oder “Söhne ohne Väter (2007). “Die Königin von Troisdorf” ist sein erster Roman.

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Erri de Luca: Das Meer der Erinnerung

Inhalt:

Ein Sommer auf Ischia in den fünfziger Jahren. Während sich die anderen Jugendlichen aus der Stadt am Strand vergnügen, fährt der Ich-erzähler jeden Morgen hinaus aufs Meer. Von dem Fischer Nicola lernt er das Handwerk des Fischens, und Nicola ist auch der Einzige, der ihm vom Krieg erzählt. Die Abende verbringt er oft mit der Clique seines älteren Cousins. Dort lernt er Caia kennen, und ein überwältigendes Begehren ergreift den Sechszehnjährigen. Er ist überzeugt, dass Caia ein Geheimnis besitzt, und entschlossen, es in stiller Intimität ans Licht zu bringen. (Klappentext)

Rezension:

Längst ist das Salz in der Luft mit der Haut eins geworden. Die Netze haben Striemen hinterlassen und vom Bisss der Muräne bleibt eine eindrucksvolle Narbe auf der Handfläche zurück. Es ist Sommer auf der italienischen Insel Ischia und der zunächst, über weite Strecken namenlose Stadtjunge verwildert zusehens. Es sind die Beschreibungen solcher Szenen, die Erri de Luca besonders gelingen und einem in seine Geschichten eintauchen lassen.

Wer liest, nimmt in “Das Meer der Erinnerung” die Perspektive des Jungen ein, der beobachtet und wird damit selbst zum Beobachter des Insellebens. Das Meer ist einer der Handlungsorte und steht zugleich für die nicht verarbeitete Vergangenheit, das Ungesagte, auf dessen Spurensuche sich der Ich-Erzähler begibt. Sehr schnell wird der Beobachtende zum Handelnden.

Feinfühlig verweb der Autor verschiedene Themen mithilfe kunstvoller Sprache. Ruhig, fast melancholisch ist der Sprachstil, so unerbittlich ist das Nicht-mehr-Kind und der Noch-nicht-Erwachsene zu sich selbst. Nicht geschehene Vergangenheitsbewältigung thematisiert Erri de Luca ebenso wie das Verstehen-wollen und das Nicht-begreifen-können.

Das ist sehr viel in dieser kompakten Form, wird jedoch genügend auserzählt. Das halb offene Ende wirkt hier etwas holzschnittartig und passt nicht wirklich zum Rest der Novelle. An den Themen, des vielschichtig ausgearbeiten Protagonisten liegt es nicht. Nur der Tupfen auf dem I fehlt, vielleicht versunken auf den unerreichbaren Gründen des Meeres.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Donato Carrisi: Ich bin der Abgrund

Inhalt:
Es ist zehn vor fünf morgens. Der Müllmann beginnt mit seiner Arbeit. Er mag sie – er weiß, dass in dem, was die Menschen wegwerfen, die größten Geheimnisse verborgen sind. Und auch er hat eines: den gelegentlichen denkwürdigen Abend, der seine Routine bricht. Was er nicht weiß, dass bald alles auf den Kopf gestellt werden wird.

Er wird in die unsägliche Geschichte eines Mädchens mit einer lila Haarsträhne verwickelt werden. Und noch etwas weiß der Müllmann nicht – da draußen sucht jemand nach ihm. Die Fliegenjägerin hat nur eine Mission: den Schatten im Herzen des Abgrunds zur Strecke bringen. (Klappentext)

Rezension:
Die alltägliche Routine gibt ihm Sicherheit, ihm, der sonst nicht viele Gewissheiten hat. Am Rande der Gesellschaft lässt er den Unrat der Anderen so unauffällig verschwinden, wie auch er unsichtbar scheint. Der Müllmann weiß, im Zurückgelassenen liegen die Geheimnisse der Menschen vor ihm ausgebreitet.

Auch er selbst ist ein Geheimnis, hat eines und sucht nach dessen Lösung. Gedankenversunken macht er sich an die Arbeit, bis dieses Ritual unterbrochen wird. Ein Mädchen droht zu ertrinken. Er rettet es und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die alle in seiner Umgebung, auch ihn selbst, in den Angrund reißen werden.

So viel zum Auftakt des nun vorliegenden Kriminalromans, des italienischen Schriftstellers Donato Carrisi, der inspiriert vom Fall des “Monster von Foligio” Luigi Chiatti, erneut die finsteren Abgründe des Menschen seziert. Diesmal verlegt am geheimnisvollen Comer See, setzt die Geschichte den Protagonisten von Zeile zu Zeile so dermaßen zu, dass man sowohl mit Opfer, Ermittler und dem Täter selbst leidet, der sich von Beginn an erahnen lässt. Hier ist der Weg, die Ermittlungsarbeit das Ziel. Scham, Zweifel und nicht erfolgte Vergangenheitsbewältigung sind handlungstreibende Elemente.

Aus wechselnden Perspektive wird “Ich bin der Abgrund” erzählt, was die Spannung hält, jedoch das eine oder andere Detail hinunterfallen lässt, welches später auch kaum mehr aufgegriffen wird. So wirkt mancher Wechsel zu abrupt, zu gewollt. Ausgeglichen wird dies jedoch dadurch, dass es Carrisi gelingt, hier mit der psychischen Verfassung der Beteiligten gekonnt zu spielen. Was macht uns zu dem, was wir sind? Welche Folgen hat dies, für uns und unsere Umgebung? Anfangs führt dies zu etwas chaotischen Sprüngen, die sich jedoch nach und nach zu einem klaren Gesamtbild fügen und einem beim Lesen komplett in diesen Kriminalfall eintauchen lassen. Zuletzt gelingt dem Autoren dann doch, keinen der Handlungsstränge aus den Augen zu verlieren. Hier hat, zumindest aus der Erinnerung heraus, Donato Carissi sich gegenüber “Enigmas Schweigen” verbessern können.

Positiv ist hier hervorzuheben, im Gegensatz zu den Kriminalromanen aus dem englischsprachigen Raum herrschen hier nicht nur abgehakte oder sehr kurze Sätze vor. Sprachlich schafft der Autor hier eine unheilvolle Atmosphäre, der man sich nicht entziehen mag, auch wenn es durchaus Längen gibt, die ein wenig Durchhaltevermögen beim Lesenden erfordern.’

Was der See nimmt, gibt er nicht so leicht wieder her. In ihm sind viele Geschichten verborgen. Diese immerhin, kann man durchaus lesen.

Autor:

Donato Carrisi wurde 1973 geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Zunächst studierte er Rechtswissenschaften in Rom, spezialisierte sich dabei auf Kriminologie und Verhaltensforschung und beschäftigte sich dabei mit Serienmördern, was ihn später zu seinem ersten Thriller inspirierte. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Anwalt, wandte sich jedoch der Schriftstellerei zu und schrieb diverse Drehbücher für Film und Fernsehen.

Sein erster Thriller wurde 2010 ins Deutsche übersetzt, ein Jahr zuvor wurde Carrisis Debütroman mit dem Premio Bancarella ausgezeichnet. Der Autor lebt frei arbeitend in Rom, schreibt zudem Kolumnen für den Corriere della Sera.

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Christian Hardinghaus: Die verlorene Generation

Inhalt:

Hitlers letztes Aufgebot war minderjährig. Aufgepeitscht durch Kriegspropaganda glaubten viele Hitlerjungen, sie könnten den Endsieg noch herbeiführen und Deutschland vor dem Untergang bewahren. Als Luftwaffenhelfer, im Volkssturm und in Panzervernichtungstrupps kämpften zuletzt selbst 14-jährige als Lückenfüller und Kanonenfutter. Alleine in den letzten Kriegswochen fielen über 60.000 Kindersoldaten. Die Überlebendenden leiden bis heute an verdrängten Kriegstraumata und konnten oder wollten nie darüber sprechen. Am Ende ihres Lebens berichten dreizehn Zeitzeugen von ihren Kindheitserlebnissen während erbarmungsloser Kämpfe oder zermürbender Gefangenschaft. (abgewandelter Klappentext)

Rezension:

In den Trümmern des Dritten Reiches kämpften zuletzt nur noch die Jüngsten, zumeist ums nackte Überleben. Noch halbe Kinder, waren sie das letzte Aufgebot des NS-Regimes, chancenlos und auf verlorenen Posten. Die auf zerstörung getrimmte Kriegspropaganda gepaart mit der teilweise naiven Sicht Pubertierender, die sich für unverwundbar hielten, führte dazu, dass diese sowjetischen oder amerikanischen Soldaten mitunter schmerzliche Verluste zufügten.

Am Ende mussten diese entscheiden, was mit den Halbwüchsigen, die in Fantasieuniformen mit viel zu großen Stahlhelmen steckten, geschehen sollte. Nicht wenige kamen in Kriegsgefangenschaft, wo für viele sich das Grauen fortsetzte. Der Historiker Christian Hardinghaus hat sich, nach den Soldaten und Frauen im Zweiten Weltkrieg nun der dritten Gruppe, der als Kindersoldaten eingebundenen Minderjährigen angenommen. Die Geschichten dreizehn von ihnen, sind nun für die Nachwelt festgehalten.

Ein wichtiger Bestandteil der Erforschung von Zeitgeschichte ist das Festhalten von Erlebnisberichten, das Recherchieren von Tagebüchern und das Führen von Interviews. Lange war dies bei den Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs nicht möglich, zum Einen, da Aufarbeitungsprozesse zu weilen einseitig verlaufen, zum anderen da Verarbeitungsprozesse mitunter langwierig verlaufen. erst in jüngster Zeit wird aufgearbeitet und zugehört.

Viele Veröffentlichungen, etwa von Tagebüchern aus Kriegskindertagen, gab es in den letzten Jahren und doch wird der Gruppe, die das NS-Regime für seine Zwecke ganz zuletzt noch missbrauchte, kaum Beachtung geschenkt. Die Kinder und Jugendlichen nämlich, die im Rahmen willkürlich zusammengewürfelter Volkssturm-Einheiten gegen die Übermacht alliierter Soldaten ankämpfen musste, während um ihnen herum der Staat in seine Bestandteile zerfiel. Die Wahrnehmung der Zeitzeugen darüber, unterscheidet sich dabei zuweilen deutlich von der nachfolgender Generationen.

Christian Hardinghaus hat daher vor allem eines, Gespräche geführt, zugehört und nachgefragt. Wie in seinen anderen Werken zuvor hinterfragt er zunächst die Erinnerungskultur und wie eine Annäherung, hier an die ehemaligen deutschen Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg gelingen kann, welche Bandbreite vor allem jahrgangsmäßig dies umfassen muss und welche Nachfragen nicht außen vor gelassen werden können.

Diese stellt er jeweils am Ende dieser so entstandenen Kurzbiografien, die vor allem die Jugendzeit der Befragten ausführlich behandeln. Eingeführt werden ihre Geschichten durch die Darstellung der jetzigen Lebenssituation, um so Zugang dazu zu finden.

Der Autor wertet dabei nicht oder hält sich zumindest großteils damit zurück, zeigt die Dynamik des NS-Terrors in Form ihrer Propaganda und jahrelanger Indoktrination, aber auch, was die Haltung der sie umgebenden Erwachsenen, ob nun Eltern, Lehrer oder Soldaten ausmachen konnte, wie zuweilen ein Schritt zur Seite Leben oder Tod bedeutete. Hardinghaus lässt die Zeitzeugen erzählen, ungeschönt nehmen diese kein Blatt vor den Mund und sprechen auch dabei die weniger bekannten Kapitel an, etwa von den Zuständen im Rheinwiesenlager für Kriegsgefangene der Alliierten.

Sachlich und konzentriert wirken die mit Fotos durchsetzten Berichte, zuweilen erstaunlich nüchtern, dann wieder ins Emotionale kippend, was vielleicht dem zeitlichen Verarbeitungsprozess geschuldet ist. Auch dieser wird immer kurz dargestellt. Die Wertung, wenn eine solche denn möglich ist, erfolgt dann durch die Lesenden, die mit Informationsgewinn aus der Lektüre gehen werden. Mit diesem Band, der aus dem Pool ausgewählter Zeitzeugenberichte entstanden ist, denen sich Hardinghaus bedienen konnte, ist das Bild abgerundet und sollte auch gelesen werden.

Ein wichtiger und zur weiteren Diskussion anregender Beitrag zur Aufarbeitung ist das, der herausgestellt werden kann, jedoch nicht für sich alleine stehen sollte. Für mein Interesse an der Thematik hätten es jedoch ruhig noch mehr Berichte sein können. Vielleicht wird ja das Bild noch durch kommende Lektüre ergänzt werden?

Autor:

Christian Hardinghaus wurde 1978 in Osnabrück geboren und ist ein deutscher Historiker, Schriftsteller und Fachjournalist. Nach seinem Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft (Film und TV) promovierte er an der Universität Osnabrück im Bereich Propaganda- und Antisemitismusforschung. Im gleichen Jahr absolvierte er den Lehrgang Fachjournalismus an der Freien Journalismusschule. 2016 erwarb er zudem den Abschluss für das gymnasiale Lehramt in den Fächern Deutsch und Geschichte. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane. Hardinghaus lebt in Osnabrück.

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Alex Schulman: Die Überlebenden

Inhalt:

Vor zwei Jahrzehnten ging hier ein Riss durch die Welt. Jetzt kehren die Brüder Benjamin, Pierre und Nils zum ort ihrer Kindheit – ein Holzhaus am See – zurück, um die Asche ihrer mutter zu verstreuen. Eine Reise durch die raue, unberührte Natur wie auch durch die Zeit. Was ist damals wirklich passiert?

Über die verheerende Liebe einer Mutter und über drei Brüder, die einander das Leben retten: Alex Schulmans Roman “Die Überlebenden” dringt zu unseren Hoffnungen und Ängsten vor, zu unserem innigsten Wunsch nach Vergebung. Zu dem, was uns zu Menschen macht. (Klappentext)

Buchtrailer, dtv, Alex Schulman “Die Überlebenden”.

Rezension:

Flirrend rinnen die Sonnenstrahlen durch die Finger. Am Platz der Kindheit scheint die Zeit all die Jahre still gestanden zu haben. Die Plastikstühle stehen noch am gleichen Platz. Bäume, Sträucher, die kleine Hütte und das Bootshaus haben sich kaum verändert.

Lange, nachdem die Brüder ihre eigenen Wege eingeschlagen haben, finden sie dort wieder zusammen, wo sie als Jungen ihre Sommer verbracht haben. Ironischerweise ist es der Tod der Mutter, die die Geschwister miteinander konfrontiert. Lange davor hatte es den Bruch gegeben, der Nils, Benjamin und Pierre entzweite und an dem die Familie zerbrach. Risse hatten sich schon eher gezeigt. Der Erwachsene, Benjamin, stellt sich die Frage: Was ist passiert?

Er mustert seine Brüder, wahrscheinlich liebt er sie.

Alex Schulmann: Die Überlebenden

Still und leise beginnt der Erzähler in seine Kindheit einzutauchen. Er, der schon immer beobachtende, sieht seine Familie hier vor sich, an dem Ferienhaus am See, an der die heile Welt immer schon zum Greifen nah war, doch die umgebenden Eltern immer abwesend waren. Liebevolle Momente blitzen auf, doch entfliehen sie Benjamins Erinnerungen und werden von all den schlechten überdeckt.

Alex Schulman legt mit “Die Überlebenden” ein erschütterndes Debüt vor. Die Hauptprtagonisten sind seinen Geschwistern und ihm nach empfunden, einzelne Ereignisse tatsächlich wie beschrieben passiert. Unwillkürlich fragt man sich beim Lesen, wo Wahrheit und Fiktion zu trennen sind, hofft, dass es mehr Momente des Glücks als beschrieben gegeben haben mag, um im nächsten Abschnitt förmlich zu spüren, wie den hilflosen Jungen die Luft im übertragenen Sinne abgedrückt wird.

Alle ziehen sie an ihm vorbei, all die Jungen, die er gewesen ist.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Nach außen hin wahrt die Familie, deren Mitglieder so wunderbar ausgestaltet sind, den Schein, zusammen und doch für die jeweils anderen abwesend. Nicht ist schwarz, nichts ist weiß. Grautöne beherrschen im übertragenen Sinne das Bild, die Handlung. Wut und Bestürzung auf die jeweils handelnden Personen wechseln sich Kapitel für Kapitel ab. Mit Hilfe der Sprache ist zusätzlich ein Sog entstanden, den man sich kaum entziehen kann.

Er und seine Brüder waren in einem Oberklassehaushalt aufgewachsen, und doch unterhalb des Existenzminimums.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Die Großtaten moderner skandinavischer Literatur sind hier vereint. Zeitsprünge und das wechselseitige Zuspielen der Bälle durch die Protagonisten geben hier eine Dynamik,
die wirkt. An manchen Stellen liest man beinahe einen Kriminal-, dann wieder einen Familienroman. Der erzähler selbst gibt die Geschehnisse wieder. Er wertet nicht. Er fragt nach und kommt auf keine Antworten. Wer hat die schon?

“Eines weiß ich über Wälder”, sagte Papa. “Und zwar, dass jeder seinen eigenen Wald in sich trägt, den er in- und auswendig kennt und der ihm Geborgenheit gibt. Und einen eigenen Wald zu haben, ist das Schönste, was es gibt. Wenn du oft genug durch diesen Wald läufst, kennst du bald jeden Stein, jeden schwierigen Weg, jede umgeknickte Birke darin. Und dann ist es dein Wald, dann gehört er dir.” Benjamin blickte in das lichte Dunkel. Es fühlte sich nicht an, als wäre es seines.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Es ist eine Geschichte über Vertrauen und über Fehler, über Brüche und Heilung, über Entscheidungen und schließlich über Leben und Tod, was wir daraus machen und für uns mitnehmen, und der Erkenntnis, das manche Risse zu tief sind, um sie zu kitten, es jedoch nie zu spät ist, es wenigstens zu versuchen.

Autor:

Alex Schulamn wurde 1976 in Hemmesdygne, Schweden, geboren und ist ein skandinavischer Schriftsteller, Journalist und Blogger. Er schreibt für diverse TV-Shows und startete im Jahr 2006 einen Blog, zudem für diverse Zeitungen und Magazine Beiträge, zuletzt moderierte er eine TV-sendung und startete 2012 einen eigenen Podcast.

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Andreas Moster: Kleine Paläste

Inhalt:

Mehr als dreißig Jahre haben sich die früheren Nachbarskinder Hanno Holtz und Susanne Dreyer nicht gesehen. Als jugendlicher verließ Hanno die heimatliche Kleinstadt urplötzlich, nun ist er zurückgekehrt, um sich nach dem Tod der Mutter um den Vater zu kümmern. Unsicher streift er durch eine Welt, die im näher und fremder nicht sein könnte. Susanne sieht ihm dabei zu.

Seit Jahrzehnten hat sie das Haus der Familie Holtz nicht aus den Augen gelassen. Als sie Hanno ihre hilfe anbietet, treffen Erinnerungen an ein Fest im Sommer 1986 aufeinander. Niemand blieb damals unversehrt – und niemand kann nun verhindern, dass immer mehr Licht durch die Risse der kleinen Paläste dringt. (Klappentext)

Rezension:

Das Haus herausgeputzt, den Sohn vor versammelter Nachbarschaft dazu angetrieben, sein Instrumentenspiel vorzuführen. Schiefe Töne, schiefe Blicke. Des Nachbarsmädchens und der Nachbarn, jene Gemeinschaft, die sich allesamt näher sind als sie glauben und doch wie Geier einander umkreisen. Nur keine Schwäche zeigen. Nur die Fassade wahren. Keinen Blick dahinter zulassen.

Der Übersetzer und Schriftsteller Andreas Moster hat sie geschrieben, diese Erzählung, die nach und nach unter die Haut geht, niemanden unberührt lässt. Es ist ein leiser Roman, zumindest zu Beginn beinahe unscheinbar. Langsam ist das Erzähltempo, doch schon die ersten Kapitel fordern die Lesenden heraus.

Perspektiven wechseln ebenso abrupt, wie Zeitebenen, ohne dass dies besonders gekennzeichnet wäre. Nur in der Draufsicht bemerkt man, wer wen beobachtet. Erinnerungen werden aus der Sicht der Protagonisten, alles kreist um die beiden Hauptfiguren, die nach und nach das Puzzle der Vergangenheit freisetzen, klarer.

Dieser Gesellschaftsroman zeigt die typische Dynamik einer Kleinstadt auf, in der alle einander zu kennen glauben und doch, einmal aufgedeckt, nichts mehr ist, wie es mal war. Die Fallhöhe der Protagonisten, in die der Autor mit immer schnelleren wechseln, die jedoch allesamt nachvollziehbar bleiben, ist unglaublich hoch.

Die Lesenden beobachten, was über Jahrzehnte zwischen den beiden Hauptfiguren unausgesprochen bleibt. Als würde man direkt in deren Umgebung sein und einem Konflikt beiwohnen, der nur sie etwas angeht. Hölzern, fast linkisch, scheu begegnen sie sich zunächst und spielen sich ein. Ein Team wider Willen und doch willens. Mit inneren ungelöst aufgestauten Konflikten.

Sprachlich ist das so unscheinbar ausgearbeitet, dass einzelne Sätze einem mit einer Wucht überfallen, die man nicht erwartet, die einem nachdenklich werden lassen. Was wäre, wenn Unaussprechliches in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschehen würde?

Was würde passieren? Wie würden Verhältnisse sich neu ordnen? Welche Bindungen wären nicht mehr zu kitten? Was wäre für immer zerstört? Wie hätte man eingreifen, bestimmte Dinge verhindern können? Große Fragen, die Protagonisten beginnen zu Beginn der Geschichte die Verarbeitung.

Jeder Handgriff am pflegebedürftigen Vater Hannos, jeder Handgriff am renovierungsbedürftigen Elternhaus steht symbolisch dafür. Der leise Schrei, der hätte laut sein sollen, aber nie die Chance dazu hatte, so zu werden. Andreas Moster ist das Kunststück gelungen, dies auf Papier zu bringen.

Autor:

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren und ist ein deutscher Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete danach als freier Übersetzer. 2017 erschien sein erster Roman “Wir leben hier, seit wir geboren sind”. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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