Protest

Sergej Lebedew: Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit

Inhalt:
Die sowjetische und postsowjetische Zeit erzeugt mit ihren verdrängten Verbrechen fortwährend neue Ungeheuer und Gespenster. Sergej Lebedew folgt in seinen Erzählungen dem vergifteten Erbe der Sowjetunion und seinen unheimlichen Spuren in der Gegenwart.

Obwohl seine Geschichten jeweils für sich stehen, verbindet sie ein gemeinsames Thema, ein gemeinsamer poetischer Raum. In diesem Raum ziehen die Schatten der Vergangenheit ruhelos umher, und die Toten rufen fortwährend nach Gerechtigkeit. (Klappentext)

Rezension:
So groß wie das Land, so einengend ist der Raum, in dem sich die Menschen bewegen. Russland hat das Lebensglück der Menschen verspielt, in der Vergangenheit, in der Gegenwart.

Die Schreibenden finden ihren Platz für Kritik fast nur noch im Exil und so lebt auch Sergej Lebedew schon längst nicht mehr in Moskau, sondern in Potsdam, doch die Gespenster der Vergangenheit lassen auch ihn nicht los und so sind in diesem Band eine Reihe seiner Erzählungen versammelt, die tief blicken lassen, in das, was dieses riesige und zu den Menschen garstige Land immer noch dominiert.

Kurzgeschichten reihen sich aneinander, wie an einer Kette, deren Perlen man scheinbar ohne System aneinander gereiht hat. Tatsächlich springen wir durch die Zeit und erleben Protagonisten, deren Schicksale vielfach übertragbar sind auf Dinge, die passieren, passiert sind. Der Richter etwa, der genau das Urteil fällt, welches von ihm erwartet wird, um den nächsten Schritt der Karriereleiter zu erklimmen, weit davon entfernt, was die Gerechtigkeit eigentlich verlangen würde.

Der Bahnwärter, der in der Einöde, auf den Spuren ehemaliger Häftlinge des Straflagersystems Stalins sitzt und auf das einzige Signal wartet, welches der Grund ist, überhaupt dorthin versetzt wurden zu sein, der Offizier, der hinter der Fassade die Risse an dem Gebäude erkennt, dem er dient, Bestandteil eines Systems, bestehend aus eben vielen Fassaden. Viel ist Schein im Russland der Vergangenheit und Gegenwart. Die Wirklichkeit ist grausam.

Trocken ist die Tonalität der Texte, die jeder für sich stehen und einzeln gelesen werden können. Immer springt man zwischen den Zeiten. Oft ist erst auf den zweiten Blick klar, welcher Epoche eine Erzählung zuzuordnen ist, lassen sich doch viele Elemente sowohl in die eine als auch in die andere übertragen. Die Protagonisten sind scharf gezeichnet. Manche Konturlosigkeit wird als Stilmittel bewusst eingesetzt.

Das Bewusstsein der Menschen suchte nach Bildern, nach einer Sprache zur Beschreibung der Tragödie – und griff dafür auf mystische Anspielungen zurück, die die unheilvolle Vergangenheit real werden ließen und sie gleichzeitig verfremdeten, sie zu einem Phänomen aus einer anderen Welt, einer anderen Realität werden ließen.

Sergej Lebedew: Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit

Jede einzelne Zeile wirkt dennoch wie ein Nadelstich gegenüber der russischen Gesellschaft und Politik. Diesen Stil muss man mögen. Wer sich einmal eingefunden hat, entdeckt viele Parallelen und Ebenen. Gebäude stehen für Lebensläufe mit Brüchen, wie auch die Menschen selbst sich vielfach anpassen mussten, an sich praktisch über Nacht verändernde Bedingungen. Lebedew erzählt von jenen, die in diesem Spiel gelernt haben zu überleben und denen, die darin zerrieben wurden und werden.

Das Format der Kurzgeschichte ist ihre Kompaktheit, bringt es jedoch mit sich, dass einige der übergreifend durchdachten Texte direkt nach dem Lesen in Vergessenheit geraten, andere hätte man gerne ausführlicher gehabt und den Weg, die Strategien der handelnden Figuren verfolgt. Mit der Treffsicherheit Lebedews in Formulierungen möchte ich Romane lesen. Das könnte großartig werden.

Autor:
Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren und ist ein russischer Schriftsteller. Er entstammt einer Geologenfamilie und suchte in seiner Schulzeit in aufgelassenen Minen nach Mineralien und Bergkristallen, wobei er auf Reste ehemaliger Lager des GULAG stieß. Lebedew studierte Geologie und arbeitete später als Journalist, veröffentlichte in einer Literaturzeitschrift Gedichte und Essays.

Sein erster Roman war 2011 auf der Vorschlagsliste zum Nationalen Bestsellerpreis Russlands und erschien zwei Jahre später in deutscher Übersetzung. 2013 erhielt er ein Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin. Sein 2015 in deutscher Übersetzung erschienener dritter Roman wurde in Russland erst 2016 veröffentlicht. Er äußerte sich mehrfach kritisch gegenüber Putin und lebt derzeit in Potsdam.

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Julia Cimafiejeva: Minsk. Tagebuch

Inhalt:

Die belarusische Dichterin Julia Cimafiejeva ist inzwischen Writer in Exile in Österreich. Im Rahmen des gleichnamigen Programms lebt sie nun in Graz. Dort hat Cimafiejeva ein tagebuch weitergeführt, das sie in den Tagen vor den Präsidentschaftswahlen in ihrem Land im August 2020 begonnen hatte – es liegt hier erstmals in Deutsch veröffentlicht vor:

Eine Chronik der Ereignisse in eindrücklichen Worten, eine Chronik von Hoffnung und Gewalt. Notizen aus einem Land, das von einem absurden autoritären System in eine offene Diktatur abgleitet – weil sich Belarusinnen und Belarusen sich nicht mehr mit den Lügen der Machthaber abfinden. (abewandelte Verlags-Inhaltsangabe)

Rezension:

Die Studentin beobachtet in ihrem Wohnheim nachts heimlich das Austauschen von Wahlurnen. Die Welt indes schenkt Lukaschenko keine Beachtung. Gerade richtet sich die Aufmerksamkeit auf die einstürzenden Türme des World Trade Centers in New York City und der autoritäre Herrscher zementiert seine Macht. Jahre später ist die Stimmung hoffnungsvoll. Die Opposition hat drei respektable Kandidatinnen. Aufbruch versprechen sie, Wandel. Das Volk geht dafür auf die Straße. Diesmal schaut die Welt zu. Doch das Regime weiß wie man spielt. Mit Unsicherheit und Angst, unter Nutzung von Polizei, Geheimdienst, unter Nutzung von Gewalt.

Die Dichterin, die längst Texte veröffentlicht, lebt in der belarusischen Hauptstadt, hofft und bangt, möchte etwas tun, demonstrieren vielleicht. Man muss auf der Hut sein. In diesen Tagen werden unzählige Menschen verhaftet, von der Straße weg, wenn sie mit der Opposition in Verbindung gebracht werden. Und sei es nur, weil die Socken deren Farbgebung haben.

Ihre Waffe ist das Wort, ein Stift und ein kleines Heft. Es entsteht ein Tagebuch der Proteste. Zunächst voller Hoffnung, vielleicht Zukunftspläne mischen. Was wäre, wenn sich diesmal wirklich etwas ändert? Schnell wird dies verdrängt. Immer öfter nehmen Ängste überhand, je heftiger sich das Regime wehrt. Schließlich der Drang, zu gehen. Erst im Exil ist sie wieder vorhanden, Luft zum Atmen.

Julia Cimafiejeva beschreibt eindrucksvoll die persönliche Sicht auf einen Konflikt, der regelmäßig aufbricht, kurze Zeit Aufmerksamkeit erlangt, um dann dem Vergessen anheim zu fallen. Wer erinnert sich denn noch regelmäßig an die Ereignisse des gescheiterten Versuchs eines Volkes, ein Land zu verändern? Wer hat sich damals, wer interessiert sich heute für die Folgen dieser Tage? Nie zuvor stand das belarusische Regime so sehr mit dem Rücken zur Wand? Nie wehrte es sich so heftig, um dann gefestigter denn je daraus hervorzugehen.

Immer wieder schweift die Beobachterin ab, in ihre Gedankenwelt, nur um dann selbst Akteurin der Ereignisse zu werden. Man hält den Atem an, wenn sie berichtet, wie sie vor Protesten flieht, in Hausaufgänge, Innenhöfe hinein, in das nächste Geschäft. Die Erleichterung ist zu greifen, wenn sie wieder einmal den Häschern entkommen ist. Dann wieder Ängste. Gefühlswelten wechseln innerhalb des Textes, der zunehmend immer bedrohlicher wirkt. Die Gefahr wandelt sich in eine Schreibblockade um. Gedichte zu schaffen, scheint der Autorin unmöglich. Erst außerhalb Belarus wird sich dies lösen.

“Manchmal denke ich, dass sie mit imaginären Feinden kämpfen: grausam, brutal, stark, bis an die Zähne bewaffnet, echte Superkriminelle – die nur in den Köpfen der belarusischen Machthaber existieren. Vielleicht haben sie sich solche echten Gegner immer gewünscht…”

Julia Cimafiejeva: Minsk. Tagebuch

Schließlich das Exil. In Graz gibt es zu dieser Zeit noch keine belarussische Community. Die ist in der österreichischen Hauptstadt viel größer. Doch, im Ausland wird der Konflikt schnell verdrängt. Ernüchternde Erkenntnis, vermischt mit der Erleichterung, der Tristesse, der ständigen Bedrohungen entkommen zu sein. Und wieder schreiben zu können. Frei. Die Einträge im Tagebuch werden leichter. Lesen sich leichter. Die Autorin schafft zum Ende hin nicht nur mit ihrem Text ein Stück Protest.

Der Text, der im Nachhinein entstand, transportiert diese Stimmungen. Die Sätze, mal kompakt, mal ausschweifend, machen deutlich, wie inmitten Europas ein Land und sein Herrscher einem Volk die Luft zum Atmen nimmt. Das Regime kann sich darauf verlassen, dass der Blick Europas schnell in andere Richtungen zeigt. Das Lebensglück der Menschen indes wird verspielt. Ernüchterung, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit. Je nach Abschnitt, es gibt derer drei, kommt mal dieses, mal jenes Gefühl zum Tragen. Die Autorin hat sich diese Tage ins Gedächtnis eingeschrieben, gegen das Vergessen. Damit das wenigstens jemand tut.

Autorin:

Julia Cimafiejeva wurde 1982 geboren und ist eine belarusische Dichterin und Übersetzerin. Zunächst studierte sie Englisch, schrieb selbst an mehreren Büchern und Gedichten, veröffentlicht regelmäßig Texte. Ende 2020 lebte sie für längere Zeit in Graz und ist Teil des Programms Writer in Exile, in Österreich. Sie ist Mitglied des Belarusischen PEN und der Vereinigung belarusischer Autoren und Autorinnen.

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Vanessa Nakate: Unser Haus steht längst in Flammen

Inhalt:

Vanessa Nakate wächst in Uganda auf und erlebt, wie es Jahr für Jahr heißer wird, die Ernten immer kleiner werden, Armut und Hunger zunehmen. Als sie sich 2019 mit dem Klimawandel auseinandersetzt, wird ihr klar: Wenn sie nicht handelt, wer dann?

Doch während die Schulstreiks von Fridays for Future in Europa einem farbenfrohen Happening gleichkommen, droht Streikenden in Uganda Gefängnisstrafe. Vanessa schweigt nicht! Entgegen aller Widerstände nimmt sie den Kampf gegen die Klimaerhitzung auf.

(Inhaltsangabe Kurzform)

Rezension:

Als Vanessa Nakate die Berichte über die Klima-Proteste vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2020 zu Gesicht bekommt, traut sie ihren Augen kaum. Neben all den Aktivist*innen, die sich mit ihr für Klimagerechtigkeit und -schutz einsetzen, hätte sie auf den Bildern einer großen weltweit tätigen Presseagentur zu sehen sein müssen, doch wurde sie aus dem Bild getilgt, eine Praxis, wie man sie nur mehr von Diktaturen kennt. Wieder einmal ist Afrikas Stimme unter den Klimaprotesten damit unhör- und unsichtbar gemacht wurden.

Ein Jahr zuvor hat die Uganderin zum ersten Mal von den Protesten in der westlichen Welt erfahren, um sich daraufhin selbst über den Klimawandel zu informieren, und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, in ihrer Heimat sich für den Klimaschutz einzusetzen und die Menschen darauf aufmerksam zu machen. In Uganda ist dies mit vielen Hürden verbunden. Die Meinungsfreiheit ist eingeschränkt, Proteste nur bedingt möglich und der Willkür des Regimes ausgeliefert. Die traditionelle Rolle, die Frauen zugestanden wird, lassen kaum Entfaltungsmöglichkeiten zu. Dennoch wagt es die Autorin, zunächst nur mit Unterstützung einiger Familienmitglieder, auch in Uganda auf den Klimawandel aufmerksam zu machen und ahnt dabei nicht, welche Steine sie ins Rollen bringt.

Inzwischen gibt es ganze Bücher und reihen über den Klimawandel und Porträts der bekanntesten Gesichter der Klimabewegung, was ungemein wichtig ist und den Regierungen allerorts immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden muss. Doch Stimmen aus anderen als den westlichen regionen der Erde, sind kaum hörbar. Woran liegt das?

Die Autorin berichtet von ihrem eigenen Weg hin zu den Protesten selbst, über die Situation der Menschen in ihrem Land und die Auswirkungen, die der Klimawandel schon jetzt in Uganda hat. Nakate ist dabei durchaus kritisch mit sich selbst, stellt jedoch auch dar, was selbst vermeindlich kleine Schritte bewegen können und wie vielgestaltig Aktivismus eben auch sein kann, in Gegenden, in denen man vorsichtig mit der eigenen Meinung hausieren gehen muss.

Nun in Buchform ist diese Stimme sichtbar und damit im Fokus der westlichen Welt, , was sich manchmal spannend wie ein Krimi liest, jedoch immer wieder vor Augen führt, dass es eben auch in Afrika Menschen gibt, die sich für den Klimawandel interessieren und dagegen kämpfen wollen, dass dies jedoch teilweise anders aussehen muss, als wir dies zuweilen auf den Schirm haben, jedoch nicht aus unserem Blickfeld geraten darf.

So ist dieses Werk teils Biografie, Handreichung dafür, wie man selbst sich für Klima- und Umweltschutz einsetzen kann, egal, wie vermeintlich klein Mittel und Wege sind, aber auch Bericht der Entwicklung einer jungen Frau, die man für ihren Mut und Zielstrebigkeit nur bewundern kann. An mancher Stelle rutscht dies sehr ins Emotionale ab, was vielleicht nicht falsch ist, mich aber aus dem Lesefluss herausgebracht hat. Ich hätte mir zudem noch eine ausführlichere Erläuterung von Beispielen des Einsetzens von Klimaaktivist*innen in Afrika gewünscht, als sie die Autorin in ihrem Buch ausführt.

Dennoch ist es gut und richtig, jetzt auch diese Perspektive für alle sichtbar zu haben.

Autorin:

Vanessa Nakate wurde 1996 in Uganda geboren und ist eine ugandische Klimaschutzaktivistin, die sich u. a. für Fridays for Future engagiert. Sie wuchs in der ugandischen Hauptstadt Kampala auf und studierte Betriebswirtschaftslehre an der Makerere-Universität, seit 2019 setzt sie sich für Klimaschutz ein und nahm an mehreren Aktionen der Klimaschutzbewegung teil, zudem initierte sie eigene Projekte, wie dem Ausstatten von Schulen in Uganda mit Solarzellen, sie hält zudem Vorträge und hilft anderen sich für den Klimaschutz vernetzen.

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Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Inhalt:

Wie fühlt sich ein junger, lebenshungriger Mann in Belarus? Eine hochaktuelle Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit. Eigentlich sollte Fransisk Cello üben fürs Konservatorium, doch lieber genießt er das Leben in Minsk. Auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt er schwer und fällt ins Koma. Alle, seine Eltern, seine Freundin, die Ärzte, geben ihn auf. Nur seine Großmutter ist überzeugt, dass er eines Tages wieder die Augen öffnen wird. Und nach einem Jahrzehnt geschieht das auch. Aber Zisk erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint. (Klappentext)

Rezension:

Immer mehr Menschen drängen Richtung U-Bahn-Schacht, als ein Unwetter über sie hereinbricht und schieben die anderen vor sich her. Schutz suchen sie. Immer enger wird es im Tunnel, immer weniger Luft bekommen jene, die sich schon im Inneren befinden. Noch, als der Schacht voll ist, bewegen sich die Massen, die ersten werden niedergetrampelt, förmlich zerquetscht. Am Ende des Tages wird es unzählige Verletzte geben und zu viele Tote. Auch der jugendliche Cello-Schüler Franzisk ist unter den Opfern und wird darauf hin zehn Jahre lang im Koma liegen. Als er wieder erwacht, ist die Welt eine andere und doch stehengeblieben.

Leise kommen die Romane von Filipenko daher, um die Lesenden dann in einem Strudel von Gefühlen zu werfen, dem man sich kaum entziehen kann. Dies ist so, auch im zweiten Roman aus der Feder des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko, der es auch hier versteht, seine Leserschaft mitzureißen. Er erzählt von Belarus damals und heute, von Trostlosigkeit und Tristesse, von der Hoffnungslosig- und Müdigkeit der Menschen und dem Glauben daran, was wäre, wenn doch noch das Unmögliche geschieht.

“… Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich bin, aber Sie sind schon ein wenig mühsam, das ist, verdammt nochmal das Leben. Ihr Enkel ist tot! Tot, verstehen Sie? Finden Sie sich damit ab. Er ist tot. Wenn Ihnen dieses Wort nicht in den Kopf hineingeht, dann vielleicht >krepiert<. Es ist aus mit ihm. Er ist gestorben. Das Gehirn ihres Enkels wird nie wieder funktionieren, nie, hören Sie mich?” “Wissen Sie was, Herr Doktor? Lecken Sie mich am Arsch!”

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Dabei ist der Hauptteil des Romans sehr düster gehalten. Nur ganz wenige positiv besetzte Protagonisten begegnen hier vielen Unsympathen, denen man im realen Leben lieber ausweichen sollte. Wer in die Geschichte um Franzisk eingesogen wird, muss das über sehr weite Strecken aushalten können, wird immer nur kurz mit wenigen Funken Hoffnung für die Figuren entlohnt. Filipenko, der auf Russisch im Nachbarland über die Stadt seiner Kindheit schreibt, greift hier die brodelnde Stimmung seiner Heimat auf, beschreibt diese aus der Sicht des Ausgewanderten, des Entfernten und doch ganz nahen Beobachters.

Bevor er seine Leserschaft ins kalte Wasser einer Stadt wirft, deren Obere der dort lebenden Bevölkerung längst das Herz herausgerissen haben, stimmt er seine Leser im Vorwort darauf ein. Die Übersetzerin Ruth Altenhofer ordnet, sortiert und erklärt im Nachwort, wie viel Sasha Filipenko eigentlich an Themen gelungen ist, auch zwischen den Zeilen zu verarbeiten, egal ob dies geschichtliche und politische Ereignisse in Belarus betrifft oder die jenigen, die grausame Paten standen, für die Geschehnisse des Romans.

Die Angst floss aus seinem Körper ins Haus. Die Angst war in seiner Wohnung und in der Wohnung gegenüber, hier, überall, in der ganzen Stadt.

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Der Autor zeigt einem lebenshungrigen Protagonisten, der aus dem Alltag herausgerissen und umgeworfen wurde, aber auch, dass es sich lohnt, für sich selbst zu kämpfen, übertragen, dass vielleicht auch der Kampf der jungen Menschen in Belarus für eine Zukunft ihres Landes, für Freiheit und Demokratie, eines Tages Früchte tragen wird. Gäbe es das Nachwort nicht, müsste man vieles davon zwischen den Zeilen lesen, dort wird es denen, die das nicht können, erklärt.

Die Grundstimmung der Erzählung macht das fortlaufend geschriebene Werk nicht gerade zu einer einfachen Lektüre, zumal diese einem nachdenklich und bedrückt zurücklassen wird. Filipenko beeindruckt und legt im Gegensatz zu seinem Debüt, welches vergleichsweise leise daherkam, noch einmal eine Schippe drauf. Großartig ist das, gleichsam ein Cellospiel in Worten.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. Petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator.

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Paula Bach: Ira Schwarz 1 – Goldjunge

Goldjunge Book Cover
Goldjunge Reihe: Ira Schwarz – 1 Rezensionsexemplar/ Krimnalroman ullstein Taschenbuch Seiten: 512 ISBN: 978-3-548-28888-8

Inhalt:

Köln, 1967: Protestmärsche und die Musik der Beatles ziehen durch die Stadt. Da wird die brutal zugerichtete Leiche eines sechszehnjährigen Jungen gefunden. Die Polizei fahndet nach einem Täter aus dem linken Milieu, doch Kriminalhauptmeisterin Ira Schwarz zweifelt an der Schuld des Verdächtigen.

Als ein weiterer Junge tot aufgefunden wird, befürchtet Ira, einem Serienmörder auf der Spur zu sein. Gemeinsam mit dem Journalisten Ben Weber ermittelt sie auf eigene Faust und bringt damit nicht nur sich selbst in tödliche Gefahr… (Klappentext)

Bücher der Reihe:

Paula Bach: Ira Schwarz 1 – Goldjunge

[Einklappen]

Rezension:

Manchmal hat man als Leser/in das Gefühl, dass bei all dem Mord und Todschlag, den man zwischen den Regalwänden finden kann, die Recherche der Schreiberlinge zu kurz gekommen ist. Zu oft wird nur Wert auf die Ausgestaltung der Hauptprotagonisten gelegt, Hintergründe und Setting bleiben dabei auf der Strecke. Nicht so bei Beate Sauer, die unter dem Pseudonym Paula Bach nun diesen zeitgeschichtlichen Kriminalroman zu Papier gebracht hat.

Es sind die Jahre des gesellschaftlichen Umbruchs, in denen wir uns mit der Hauptprotagonistin Ira Schwarz begeben, die zum Einen teil davon ist, zugleich aber auch dessen, was andere Teile der Gesellschaft für das Establishment halten.

Die Kriminalhauptmeisterin ist Mitglied der weiblichen Kriminalpolizei, von den männlichen Kollegen spöttisch und kritisch beäugt, am Beginn ihrer Laufbann und stolpert an der Seite eines alteingesessenen Beamten in ihren ersten Fall hinein, der im Panorama der etwa zeitgleichen Geschehnisse um den Kindermörder Jürgen Bartsch nicht bezeichnender sein könnten.

Stück für Stück legt die Protagonistin die Spuren frei und stößt dabei auf so manches Geheimnis, welches ihre Gegenspieler am liebsten Vergessen machen wollen. Und dies nicht nur auf der Seite des eigentlichen Täters. Hier gelingt der Autorin das Kunststück das Zeitpanorama kunstvoll mit den Handlungssträngen zu verweben, die sie ihren Figuren zugedacht hat und dies ist glaubwürdig, bis ins kleinste Detail.

Nicht nur die Morde stehen im Vordergrund, sondern auch das Aufbrechen von gesellschaftlichen Strukturen, die sich bis in die 1960er Jahre noch halten konnten, dann jedoch in ihre Bestandteile, wenn auch zuerst langsam, zerfielen.

Dies beides in einem immer schneller werdenden Erzähltemp zu schaffen, ist die große Stärke von Paula Bach aka Beate Sauer, die damit einen bemerkenswerten Reihenauftakt geschaffen hat, der sich lohnt, weiter zu verfolgen.

Der mitreisende Schreibstil und die wechselnde Sicht, der andere Handlunngsstrang folgt dem ehrgezigen Journalisten Ben Weber, dessen Weg sich mit dem ira Schwarz’ kreuzt, runden dies ab.

Positiv anzumerken ist ebenfalls die im Nachgang von der Autorin vorgenommene historische Einordnung, in der dargestellt wird, welche Gegebenheiten den Tatsachen entsprechen, wo Abwandlungen von der historischen Wahrheit geschahen und warum. Viel zu selten findet man dies bei den im historischen Kontext spielenden Kriminalromanen, so dass hier Autorin und Verlag sich einen großen Gefallen getan haben.

Einzig die sich anbändelnde Beziehungsgeschichte der beiden Hauptprotagonisten hätte jetzt nicht sein müssen. Das aber, ist Geschmackssache.

Wer gerne zeitgeschichtliche Krimis liest, mit nachvollziehbarer Handlung, die temporeich ausgestaltet ist und eine Stufe weniger brutal ist als das, was zu oberst auf den Büchertischen zu finden ist, kann mit “Goldjubnge” nichts falsch machen.

Autorin:

Paula Bach ist das Pseudonym von Beate Sauer, die 1966 geboren wurde. Sie ist eine deutsche Journalistin und Schriftstellerin. Bekannt wurde sie durch ihre historischen Romane, unter Pseudonym veröffentlichte sie bereits mehrere Kriminalromane.

Nach dem Abitur studierte sie, arbeitete dann als freie Mitarbeiterin für diverse Zeitungen und absolvierte eine journalistische Ausbildung. 1999 erschien ihr erster Roman. Für ihre Werke wurde sie bereist mehrfach ausgezeichnet. Die Autorin wurde u.a. 2006 für den Friedrich-Glauser Preis nominiert und erhielt 2015 den Silbernen Homer in der Kategorie Beziehung & Gesellschaft.

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Sven Felix Kellerhoff: Eine kurze Geschichte der RAF

Eine kurze Geschichte der RAF Book Cover
Eine kurze Geschichte der RAF Autor: Sven Felix Kellerhoff Klett-Cotta Erschienen am: 22.02.2020 Seiten: 208 ISBN: 978-3-608-98221-3

Inhalt:

Die RAF hatte dem Rechtsstaat den Kampf angesagt. Sie stürzte die Bundesrepublik in ihre bis dahin tiefste Krise. Welche Rolle spielten die Baader-Meinhof-Anwälte? Warum wurde an den Mythos der “Vernichtungshaft” geglaubt?

Wie machte die RAF nach dem “Deutschen Herbst” 1977 weiter? Der Autor zieht pointiert Bilanz und enthüllt die konzise Gesamtgeschichte des Linksterrorismus in Deutschland, der schonungslos gegen die Demokratie ins Feld zog. (Klappentext)

Rezension:

Aus kleinen Teilen einer Portestbewegung heraus entstand Ende der 1960er Jahre eine Terrororganisation, die mehr als dreißig Jahre die Bundesrepublik in Atem hielt, die Gesellschaft und den Rechtsstaat herausfordern sollte.

Zunächst getragen von Sympathien, anfangs von Teilen der Studentenschaft und Intellektuellenkreisen, verschaffte sie sich durch Anschläge auf Personen und Institutionen der Medienwelt, Wirtschaft und Politik Aufmerksamkeit, doch bröckelte der Rückhalt mit den Jahren, spätestens aber mit der Nacht von Stammheim zusehens.

Immer schwieriger wurde es, für vermeintliche und tatsächliche Ziele Personal zu requirieren und so lief die als “Proejekt Stadtguerilla” gegründete Terrororganisation nach drei Generationen aus.

Die Rote Armee Fraktion scheiterte an der Gesellschaft und Hartnäckigkeit des Staates. Viel ist darüber geschrieben wurden, über die Täter und die Entwicklung dieser Bewegung, nicht zuletzt in den Monumentalwerken Stefan Austs und Butz Peters, die damit Standartliteratur geschaffen haben.

Doch, ist es möglich, die Perspektive der Opfer einzunehmen und eine Kurzfassung darüber zu schreiben? Sven Felix Kellerhoff hat dies versucht.

Knapp 208 Seiten umfasst das vorliegende Werk, wenn man Inhalts- und Quellenverzeichnisse mitzählt und so erhält man eine wahrhafte Kompaktfassung, die mit “Eine kurze Geschichte der RAF” dies auch im Titel deutlich macht.

Das knapp gehaltene Sachbuch umfasst die wesentliche Geschichte der die Bundesrepublik Deutschland prägenden Terrororganisation, die an ihren beteiligten Personen, der Politik und letztendlich auch an der Gesellschaft scheitern sollte. Die Recherchearbeit merkt man dem Autoren an.

Es ist jedoch schade, dass es ihm nicht so gelungen ist, wie auf den ersten Seiten geschildert, hier den Opfern der Anschläge genug Raum zu geben.

Doch ist es erstaunlich, auf wie wenig Seiten sich die Geschichte der RAF raffen lässt, die selbst heutzutage kaum lesbare Pamphlete als Rechtfertigung für ihre Anschläge schrieb.

Kellerhoff zeichnet so knapp wie möglich die Entwicklung der Roten Armee Fraktion nach, wie es wohl kaum einem Autoren vor ihm gelungen ist. Viel neues wird einem Kenner der Materie jedoch nicht begegnen. Gut recherchiert ist es jedoch und so nah geschrieben, dass es sich als Einführung gut lesen lässt, was nun im Klett-Cotta Verlag erschienen ist.

“Eine kurze Geschichte der RAF” ist Einführungsliteratur, nicht mehr, jedoch auch nicht weniger. Wer sich jedoch weitergehend informieren möchte, etwa zu Mogadischu, den Anschlag in Stockholm oder den vorangegangenen Ereignissen der Gründung der RAF sollte auf andere Literatur umschwenken, bzw. diese nachfolgend lesen.

Nichts destotrotz wird Kellerhoff künftig im Kanon der Geschichtsliteratur zur Roten Armee Fraktion zu Recht zu finden sein.

Autor:

Sven Felix Kellerhoff wurde 1971 in Stuttgart geboren und ist ein deuterscher Journalist, Historiker und Autor. Nach der Schule studierte er an der Freien Universität Berlin Neuere und Alte Geschichte, Publizistik und Medienrecht.

Er arbeiete zunächst für verschiedene Zeitungen und Fernsehsender, absolvierte 1997/1998 die Berliner Journalisten-Schule. Seit 1998 arbeitet er für den Axel Springer Verlag. Dort war er von 2000-2002 Leiter der Wissenschaftsredaktion der Berliner Morgenpost und danach Verantwortlicher für die Kulturberichterstattung.

Seit 2003 ist er leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der Welt und Berliner Morgenpost. Seit 2012 ist er verantwortlich für den Geschichtskanal der Welt/N24.

Kellerhoff ist Autor verschiedener Sachbücher und war von 2005-2008 Beisitzer im Vorstand des Landesverbands Berlin des Deutschen Journalisten-Verbands.

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Bettina Röhl: “Die RAF hat Euch lieb”

"Die RAF hat Euch lieb" Book Cover
“Die RAF hat Euch lieb” Sachbuch Hardcover Erschienen am: 10.04.2018 Seiten: 639 ISBN: 978-3-4532-0150-7

Inhalt: Bettina Röhl über den Paradigmenwechsel 68, die Gründung der RAF und den Mythos um ihre Mutter Ulrike Meinhof.

Brauchte die Bundesrepublik die Revolte von 68? Die APO-Bewegung und ihre “Speerspitze”, die RAF, sind die wohl meist beschriebenen Themen der neueren politischen Geschichte des Landes. Anhand bisher unbekannter Fakten und Dokumente und der Stimmen neuer Zeitzeugen erzählt die Autorin, die als Kind die Gründung der RAF hautnah miterlebte, die scheinbar bekannte Geschichte noch einmal neu. Bettina Röhl liefert eine durchrecherchierte Erzählung und eine umfassende Analyse, die den Urknall von 68 fühlbar macht. (Klappentext)

Rezension:

Geschichte wird immer dann lebendig, wenn sie von Zeitzeugen spannend und mit viel Hintergrundwissen erzählt wird. Die Autorin Bettina Röhl hat diese Kenntnisse und vertiefte sie zudem durch eigene Recherche, sammelte Schriftstücke und befragte Zeitzeugen, die das, was sie erlebte, verifizieren und aus einer anderen Perspektive erzählen können.

Herausgekommen ist ein umfassendes Portrait einer der umstrittensten und zugleich sagenumwobenden Personen der jüngeren deutschen Geschichte. Der Werdegang und die Radikalisierung Ulrike Meinhofs.

Die linke Journalistin, die sich von der APO-Bewegung und Rudi Dutschke angezogen fühlt, radikalisierte sich, wie einige andere auch und beschloss auf den Worten, welche zeitlebens ihre stärkste Waffe bleiben sollten, Taten folgen zu lassen, die die Ziele der Bewegung ad absurdum führten. Ihre Tochter Bettina Röhl erzählt Meinhofs Werdegang, der zugleich Auf- wie Abstieg ist und analysiert haarscharf die 68er Bewegung, nimmt sie wahrharftig auseinander, bevor sie ebenso unerbittlich und ohne rosa Brille ihre Mutter von so manchen Sockel stößt.

Unterlegt mit der anwaltlichen Korrespondenz der Meinhof mit ihren Anwälten, sowie Interviews mit ehemaligen Weggefährten geht sie dem auf den Grund, warum ihre Mutter in den Terrorismus abglitt und den Irrweg nicht mehr klar sah.

Die Autorin argumentiert sachlich, zeigt jedoch immer wieder auch die Perspektive der Wahrnehmung in ihrer Kindheit und stellt beides, ihr Erleben und das ihrer Mutter gegenüber, ergänzt durch Zeitzeugenberichte und Interviews, sowie Briefwechsel. Mehr braucht Bettina Röhl nicht, um neben Butz Peters’ “Tödlicher Irrtum” oder etwa Stefan Austs “Der Baader Meinhof Komplex” bestehen zu können, und zudem neue interessante Einblicke zu liefern.

Nichts verklärend, immer sachlich trennt sie die Wahrnehmung des Kindes Bettina Röhl mit den Geschehnissen und schrecklichen Auswirkungen der Taten der 68er Bewegung, insbesondere der Ereignisse um Ulrike Meinhof selbst und schafft damit eine neue Perspektive, die zu wichtig ist, um sie unter den Tisch fallen zu lassen.

Jenseits aller verklärender, auf sensationsheischender Sicht ausstehender Literatur geht die Autorin wohltuend sachlich und argumentativ genau mit der Thematik um, so dass man nicht umhin kommt, Röhl zu lesen, um Meinhof zu fassen. Der Versuch zu verstehen mag nicht jeden gelingen, aber den Blick zu schärfen schafft die Autorin unbedingt.

Autorin:

Bettina Röhl wurde 1962 in Hamburg geboren und ist eine deutsche Journalistin und Autorin. Ihre Eltern sind der Verleger klaus Rainer Röhl und die spätere Terroristin der RAF Ulrike Meinhof. Röhl wuchs zunächst bei ihren Eltern, später nach der Trennung der Eltern bei ihrer Mutter auf, bis diese in den Untergrund abtauchte.

Nachdem Röhl in ein Flüchtlingslager nach Sizilien entführt wurde, mit dem Ziel den Vater das Sorge- und Zugriffsrecht zu entziehen, wurden Röhl und ihre Schwester durch einen RAF-Aussteiger und den Journalisten Stefan Aust befreit. 1982 legte sie das Abitur ab und studierte Geschichte und Germanstik. Seit dem arbeitet sie für verschiedene Zeitschriften und Magazine.

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Gretchen Dutschke: 1968 – Worauf wir stolz sein dürfen

1968 - Worauf wir stolz sein dürfen Book Cover
1968 – Worauf wir stolz sein dürfen Gretchen Dutschke Rezensionsexemplar/Sachbuch Verlag: kursbuch.edition Hardcover ISBN: 978-3-96196-006-4

Inhalt:

“Die drei Jahre zwischen 1966 und 1969 verliefen wie im Rausch, mal strahlend hell, mal im tiefsten Dunkel, euphorisch und verzweifelt, fast wie im Kino. Nur mit dem Unterschied, dass wir keine Zuschauer waren, sondern Akteure, mittendrin. Die Zeit hat uns geprägt, und wir haben die Zeit geprägt. Das gilt heute. darauf können wir und all die Millionen Menschen in Deutschland, die etwas von dem damals Erreichten verstanden haben und ihr Leben frei, bewusst, auch kritisch gestalten, stolz sein.” (Klappentext)

Rezension:

Im Reigen der seit kurzem zahlreich erschienenen Bücher über die späten 1960er Jahre, die allesamt die Studentenproteste in Deutschland zum Thema haben, sticht ein Werk besonders hervor. Weil es dieses Stück Zeitgeschichte aus unmittelbarer Nähe der Akteure beleuchtet, mit den Errungenschaften und zugleich den Fehlern der Neudenker, diese Formulierung ist gewollt, kritisch umzugehen vermag.

“1968 – Worauf wir stolz sein dürfen”, ist das Werk von niemand Geringeren als Gretchen Dutschke, der Lebensgefährtin des Mannes, der zeitweilig zum Wortführer der Studentenproteste werden sollte, Dreh- und Angelpunkt der Veränderungen, die sich abseits von dem sich noch bildenden Terrorismus der RAF formieren und Deutschland mit Hilfe von Diskussionen verändern wollten, die in eine revoplutionäre Umwälzung der Verhältnisse führen sollte.

Wie das von statten gehen sollte, was auf das althergebrachte System folgen sollte, wussten die Studenten auch nicht, doch Gretchen Dutschke macht deutlich, welche Rolle ihr Mann und seine Mitstreiter in dieser turbulenten Zeit spielten.

Es ist eine turbulente Zeit, die hier sehr klar und reflektiert beschrieben wird. In einfühlsamer Sprache wird der Strudel des Zeitgeschehens, in dem sich die Akteure befanden, beschrieben. Der kritische Blick geht dabei nicht verloren. Schon das ist eine Meisterleistung. So reflektiert ihre Situation zu hinterfragen, hätte ich einem Teilnehmer oder Teilnehmerin der dort beschriebenen Ereignisse nicht zugetraut, handelt es sich hier doch um ein sehr intensives Stück Personengeschichte, bei der man sich eindeutig positionieren muss.

Für Leser, die diese Zeit nicht erlebt haben, ist es ein unaufgeregter, aber positiver Blick auf Geschehnisse, die heute teils unwirklich erscheinen mögen, aber damals folgerichtig wohl auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse auch folgen mussten.

Erstaunt folgt man den Gedankengängen der Dutschkes und ihrer Mitstreiter, sieht Wendepunkte und vor allem, dass der Weg der 68er keine Einbahnstraße war, sondern vielfältige Richtungen einschlug. Manche davon liefen sich tot, andere führten in die Irrungen der Illegalität, andere widerum veränderten mit Diskussion und praktischen kleinen Schritten die Gesellschaft deutschlands.

Gretchen Dutschke ist ins Gelingen verliebt, und stellt, ohne den kritischen Blick zu verlieren, die positiven Aspekte dieser Zeit heraus. Zugleich auch die größte Schwäche ist die Knappheit der Schilderungen, von denen man gerne noch ein paar hundert Seiten mehr gelesen hätte.

An manchen Stellen fehlt die Ausformulierung des einen oder anderen interessanten Gedankengangs, der sich weiter zu verfolgen lohnen würde, insgesamt liegt dennoch ein ausgewogenes zeitgeschichtliches Portrait vor, welches sich trotz seiner Schwächen zu lesen lohnt.

Autorin:

Gretchen Dutschke wurde 1942 in Oak Park/Illionois geboren und ist eine Autorin und ehemalige Studentenaktivistin. Sie wurde als Witwe fes 1979 verstorbenen Rudi Dutschke bekannt. Nach einem Theolgiesttudium begann sie ein Kurs am Goethe-Institut in Münschen und lernte in West-Berlin 1964 Rudi Dutschke kennen, nach einer vorrübergehenden Rückkehr in die USA, zog sie 1965 nach Deutschland und bgegann ein Theologiestudium in Hamburg und Berlin, welches sie 1971 abschloss.

1966 heiratete sie Dutschke und half ihn nach dem Attentat seine Sprache wieder zu erlangen. Nach seinem Tod zog sie 1985 wieder zurück in die USA, lebt heute jedoch wieder in Berlin.

Gretchen Dutschke: 1968 – Worauf wir stolz sein dürfen Read More »