Autoren-Interview auf der Leipziger Buchmesse 2019: Michael Tsokos und die AbgrĂŒnde der Gerichtsmedizin
Michael Tsokos = MT, ich = NH
Das Interview enthĂ€lt einen Spoiler, den ich als einen solchen gekennzeichnet habe. Dieser kann jedoch ĂŒbersprungen werden; man muss ihn aufklappen, um ihn zu lesen. Wer dies nicht tut, bleibt spoilerfrei. Das Interview kann auch ohne diesen gelesen werden.
NH: In Ihrem neuen Thriller âAbgeschlagenâ geht es um einen Fall innerhalb der Kieler Rechtsmedizin und den Protagonisten Dr. Herzfeld. Wie viel Herzfeld steckt in Ihnen persönlich?
MT: Es steckt einiges Persönliches drinnen, dass ich natĂŒrlich, wie mein Protagonist das Problem habe, zu viel zu arbeiten, zu wenig zu Hause bin und zu wenig Zeit fĂŒr die Familie zu haben. Das klingt ja immer wieder durch, sowie dass ich von Berufs wegen neugierig bin und es mir keine Ruhe lĂ€sst, wenn sich mir etwas nicht erschlieĂt.
Was nicht auf mich zutrifft ist, dass ich nie diese Risiken eingehen und AlleingĂ€nge machen wĂŒrde, die Herzfeld macht. Das muss man aber, der Dramaturgie geschuldet, machen. Wenn Sie jemanden haben, der 16 Uhr nach Hause kommt und bei jeder Kleinigkeit die Polizei ruft, haben Sie keine Hauptfigur.
NH: Sie können fĂŒr sich auch das Dramaturgische und das, was fachlich vielleicht notwendig wĂ€re, trennen?
MT: Das kann ich. Das ist der Vorteil der Belletristik. Im Sachbuch kann man das nicht, dort muss man bei den FĂ€llen genau dranbleiben. In der Belletristik habe ich die Möglichkeit, einen echten Fall mehr auszuschmĂŒcken, mehrere FĂ€lle zusammenflieĂen zu lassen und den Protagonisten Dinge tun lassen, die man sonst als Rechtsmediziner nicht machen wĂŒrde. Die Möglichkeiten habe und nutze ich auch.

Titel: Abgeschlagen
Seiten: 414
ISBN: 978-3-Ă€426-52438-1
Dromer Knaur
NH: Ist das Schreiben eines Thrillers fĂŒr Sie eine Art âAusgleichâ zur Wirklichkeit?
MT: Irgendjemand hat mich einmal gefragt, ob es eine Art âTherapieâ wĂ€re. Vielleicht ist es das auch. Einmal macht es natĂŒrlich SpaĂ. Ich habe ansonsten relativ wenige Hobbys, aufgrund der fehlenden Zeit. Ich habe frĂŒher auch sehr viel Wissenschaftliches publiziert, in Fachzeitschriften ĂŒberall auf der Welt, von der Idee bis zur Druckfahne und dem Erscheinen.
Das ist auch das, was bei einem Buch SpaĂ macht. Es ist sicherlich eine Art âTherapieâ zu wissen, ich schreibe etwas und irgendwann gibt es Leute, die lesen das, die finden es gut und es gibt Feedback. Das ist Erfolg, der einem auch positiv bestĂ€tigt.
NH: Wie war das Feedback zum neuen Thriller von Kollegen der Rechtsmedizin? Gab es da welches?
MT: Nein, bisher nicht. Das ist jedoch auch nichts, was ich jetzt erwarten wĂŒrde. Ich habe einigen Arbeitskollegen das Buch geschenkt, da diese mich beraten und als Probeleser fungiert haben. Ansonsten gibt es da fachlich kein Feedback. Es macht jeder seines. Es interessiert einen Rechtsmediziner in Hamburg nicht, ob ich Rechtsmediziner in Berlin ein Buch schreibe.
NH: Wie erklĂ€ren Sie sich bei den einfachen Publikum und Lesern die Faszination fĂŒr Thriller und Krimis?
MT: Der Tod als zentraler Bestandteil von Krimis und Thriller ĂŒbt natĂŒrlich eine groĂe Faszination auf die Menschen aus. Das ist etwas, was ich aus meinem Leben als normaler BĂŒrger ausklammern möchte. Ich kann mir als NormalbĂŒrger nicht vorstellen, dass ich jeden Tag frĂŒh ins BĂŒro gehe, zwölf Leichen auf den Tisch liegen habe, so wie ich, die aufgeschnitten und untersucht werden…
NH: Sind das so viele?
MT: Ja, wir machen jeden Tag so viele Obduktionen. Ich bin auch bei allen Obduktionen in Berlin dabei. Wir machen ca. 2200 Obduktionen pro Jahr. An regulÀren Arbeitstagen sind das schon zwölf.
NH: Auch der Thriller âAbgeschlagenâ hat einen wahren Hintergrund. Wo genau liegt der âwahre Kernâ hinter der Geschichte?
MT: Vor ungefĂ€hr 25 Jahren hat mein damaliger Chef in der Hamburger Rechtsmedizin mir erzĂ€hlt, dass es einmal einen skandinavischen Rechtsmediziner gab, der Prostituierte getötet, zerstĂŒckelt und die Leichenteile in den Park versteckt hat. Als sie dann gefunden wurden, hat er die obduziert. Ăber diese Geschichte findet man so gut wie nichts im Internet, da das in den 70er und 80er Jahren passiert ist, aber sie hat mich fasziniert.
Das ist das zentrale Thema. Was ist, wenn ein Rechtsmediziner tatsĂ€chlich selbst der TĂ€ter ist? Wenn er sein spezielles Wissen ausnutzt, um der Polizei immer einen Schritt voraus zu sein. Im Buch ist relativ schnell klar, um wen es sich handelt, aber der Weg bis zu seiner ĂberfĂŒhrung und zum Showdown ist sehr spannend. Das ist entscheidend bei âAbgeschlagenâ.
NH: Der Weg ist das Ziel. Kann man ja durchaus auf Ihre Arbeit ĂŒbertragen. Wie kommt man zu diesen medizinischen Bereich? Gibt es so etwas wie Freude an dieser Arbeit?
MT: Mein Beruf bereitet mir auch Freude und SpaĂ. Ich freue mich jeden Tag, wenn ich morgens zur Arbeit fahre, ob dem, was mich erwartet. Es gibt in der Medizin vieles, was ich nicht machen könnte. Wenn ich z.B. auf einer Kinderkrebsstation arbeiten wĂŒrde und die kleinen Patienten sterben oder ich in einer Dialyse-Station, wo die Menschen zunehmend ins Nierenversagen rutschen, da sie keine Spenderniere bekommen, das wĂ€re eine Sache, die ich nicht machen könnte.

MT: Ich weiĂ, dass es fĂŒr viele unvorstellbar ist, den Job zu machen, den ich habe. Es gibt fĂŒr mich jedoch genug andere, die ich nicht machen wollen wĂŒrde. Ich war im Studium von der Rechtsmedizin total fasziniert. Das hat angehalten und deshalb habe ich mich auch dafĂŒr entschieden.
NH: Der Protagonist Dr. Herzfeld deckt im Laufe der Ermittlungen die HintergrĂŒnde der Tat auf. WĂ€re dies heute, in Anbetracht der Entwicklung von kriminalistischer Untersuchungsmethoden ĂŒberhaupt noch so möglich? Ein unaufgeklĂ€rter und inszenierter Mord, dieses Schauspiel als Folge?
MT: Absolut. Das ist möglich, da wir natĂŒrlich genau wissen, wie Spuren verĂ€ndert werden können. Wie legen wir falsche und verĂ€ndern eigene Spuren? Das wĂ€re absolut möglich.
NH: Gibt es den perfekten Mord?
MT: Den gibt es. Ich kann natĂŒrlich keine Beispiele nennen, jedoch gibt es gerade in Berlin den Fall eines verschwundenen MĂ€dchens, dass sehr wahrscheinlich Opfer eines Tötungsdeliktes geworden ist. Die Polizei hat nicht den geringsten Anhaltspunkt, was passiert ist.
NH: Wenn Sie im âSchreibprozessâ sind, wie gehen Sie vor? Steht die Geschichte fest oder beginnen Sie zu schreiben und schauen, wohin dies fĂŒhrt?
MT: Der Grundblock steht von Anfang bis Ende fest. Man macht sonst den Fehler, sich zu verzetteln und nicht dort anzukommen, wo man hin möchte. Der Weg dahin ist flexibel. Ich habe den Protagonisten und habe die Rollen verteilt; bei dem, was dazwischen passiert, bin ich flexibel.
Zwischendurch kommen ja auch neue Ideen hinzu. Was von vornherein klar ist, ich brauch einen groĂen Showdown, ein Finale. Es ist jedoch zum Beginn des Schreibprozesses nicht unbedingt klar, wie das aussieht. In âAbgeschlagenâ war es das auch noch nicht, nur, dass es einen groĂen Abgang haben und quasi filmische Sequenzen haben muss.
NH: Wie gehen Sie mit der RealitĂ€t in ihren BĂŒchern um, z.B. im Gegensatz zu Sebastian Fitzek? (Die Frage habe ich ursprĂŒnglich anders gestellt, so dass es weder zum damaligen Interview mit Fitzek selbst gepasst hĂ€tte, noch hier zielfĂŒhrend gewesen wĂ€re. Michael Tsokos hat jedoch, unbewusst, so geantwortet, dass ich nachtrĂ€glich in der Abschrift die Frage umformulieren konnte. Jetzt passt es.)
MT: Im Gegensatz zu Fitzek muss ich die RealitĂ€t abmildern, da sonst niemand das Buch lesen wĂŒrde. Das wĂŒrde kein Verlag drucken. Bei mir sind die FĂ€lle aus dem wahren Leben.

NH: Ihre Arbeit ist sehr zeitintensiv, in Berlin und auch im Ausland, wo Sie zu vielen FÀllen hinzugezogen werden? Woher nehmen Sie die Zeit, zusÀtzlich Thriller zu schreiben?
MT: Ich habe es sehr komfortabel, da ich mir keine FĂ€lle ausdenken muss. Die Geschichten kommen zu mir. Ich bearbeite so viele FĂ€lle mit unfassbaren Details und Wendungen. Die Story zu bekommen, ist nicht schwierig. Eher noch die Umsetzung, ein Buch daraus zu formen, neben den sonstigen Pensum. Man muss sehr diszipliniert sein und seine freie Zeit nutzen, zu schreiben.
NH: Zuletzt wurde die Serie âChariteâ ausgestrahlt. Es gibt zwei neue BĂŒcher ĂŒber einen der prĂ€genden Ărzte, Ferdinand Sauerbuch. Welchen Eindruck haben Sie davon?
MT: Ich bin selbst immer wieder erstaunt, wie sich Ărzte im Nationalsozialismus verhalten, zu Handlangern und willfĂ€hrigen Henkern dieses Systems gemacht haben. FĂŒr mich erstaunlich, aber es ist natĂŒrlich ein Punkt, den ich fĂŒr mich selbst kritisch hinterfrage. Wie wĂŒrde ich mich in solch einer Situation verhalten? Mich hat die Serie total fasziniert.
NH: Wie wird es denn auch weitergehen mit Paul Herzfeld?
MT: Es wird eine Trilogie werden. Das nĂ€chste Buch heiĂt âAbgebrĂŒht, um eben in dieser âAb-â-Reihe zu bleiben. Es geht weiter.
NH: In diesem Sinne, vielen Dank fĂŒr das GesprĂ€ch.
MT: Vielen Dank.
Wir danken Michael Tsokos und DroemerKnaur fĂŒr die Gelegenheit, das Interview zu fĂŒhren. Wie immer der Hinweis, dass das Interview Eigentum des Autoren, des Bloggers und des Verlages ist und nicht vervielfĂ€ltigt, kopiert oder andersweitig verbreitet werden darf. Cover-Fotos werden nach Vorgaben des Verlags verwendet, Fotos des Autoren sind auf der Messe entstanden und gehören den Fotografen. Das Interview erfolgte ohne Gewinnerzielungsabsicht.