Konflikt

Serhij Zhadan: Keiner wird um etwas bitten

Inhalt:
Erstmals seit Beginn des großen Krieges erzählt Serhij Zhadan vom Alltag seiner Leute in Charkiw, die sich in einer radikal neuen Realität zurechtfinden müssen. Lakonische, wortkarge Geschichten von untröstlicher Liebe, von Freundschaft und Tapferkeit, komisch, absurd und herzzerreißend. Eine unvergessliche Lektüre. (Klappentext)

Rezension:
Der Lehrer, der als Übriggebliebener regelmäßig im durch den Krieg beschädigten Schulgebäude nach dem rechten sieht, Schüler kommen längst keine mehr, eine Frau die aus einem Wohngebiet evakuiert werden muss, der Tanzpartner des Abiballs, der im Krankenhaus liegt … Sie alle sind Opfer, leben in der von der zerstörerischen Gewalt des Gegners gezeichneten Stadt, kämpfen mit Verletzungen, Depressionen und den Bombardierungen, die gewaltige Krater geschaffen haben.

Charkiw ist keine Stadt wie jede andere. Hier sind die Folgen des Angriffkrieges sichtbar und zu spüren. Wer noch nicht aus dem geflohen ist, was von der Stadt übrig ist, lebt mit den Folgen. Vom unwirklichen „Alltag“ der Bewohner seiner Heimat schreibt Serhij Zhadan. Kurzgeschichten, von denen jede einzelne unter die Haut geht.

Zwölf Geschichten, deren Protagonisten so unterschiedlich sind, wie die Stadt vielfältig selbst jetzt noch ist, die dem Ausmaß physischer und psychischer Gewalt trotzen, die sich kreuzen, begegnen, miteinander und doch mit sich selbst kämpfen müssen. Was macht das mit einem, wenn alles, was einst galt, in Trümmern liegt. Schon an der Oberfläche kratzen, erschüttert. Zhadans Schreibstil ist beinahe nüchtern. Er beobachtet. Manches Stück liest sich so, als müsse der Autor sich selbst vor dem Geschilderten schützen, zwingen, dies aufzuschreiben. Hinter all den Fiktionalen stecken, so ahnt man, echte Schicksale. Menschen.

In diesen kleinen Stücken, die Serhij Zhadan „Arabesken“ nennt, sind sie die Helden, alleine dadurch, dass es sie gibt, dass sie leben. In Charkiw. Ihnen, die sonst keine Beachtung finden, Nachrichtenbilder verflüchtigen sich schnell, setzt der Autor hier ein Denkmal. In knapp formulierten Schilderungen. Für einen kurzen Augenblick legt der Autor den Fokus auf eine bestimmte Szene, um dann zu der nächsten überzugehen. Ein Bürogebäude ist hier die Kulisse, im nächsten Kapitel wohnen wir einer Unterhaltung zweier im Auto bei. Der Krieg schwingt immer mit, offensichtlich, dann wieder nur als Hintergrundrauschen.

Serhij Zhadan ist selbst derzeit als Soldat in seiner Heimat tätig. Schon das ist bewundernswert. Die Geschichten dazwischen praktisch aufs Papier gebracht zu haben, die jede für sich stehen und doch unverkennbar zusammen gehören, ist mit diesem Hintergrund noch erstaunlicher. Und sicher auch ein Akt der Verarbeitung. Im Krieg ist jeder für sich allein, und doch hält man zusammen. Eine Wahl hat man nicht.

Die Protagonisten selbst sind vor ihren Hintergründen verschieden, gegensätzlich. Mit wenigen Worten gelingt es dem Autoren, Sympathien zu schaffen, sie nachvollziehbar zu machen. Mehr als die wenigen Sätze, jede Kurzgeschichte findet nur einige Seiten Platz, braucht es nicht. Die innerhalb der kleinen Versatzstücke verstreuten Skizzen, verdeutlichen das Grauen, den Schrecken, die Melancholie. Zhadan verliert sich nicht in Details, beschränkt sich auf das Wesentliche. Jeder einzelne Text scheint einem förmlich anzuspringen. Seht her, so ist es gerade für uns. So, nicht anders. Es braucht halt nicht viel, um diesen Zugang zu schaffen.

Man kann sich das alles gut vorstellen. Manches fast zu gut. Abstand halten möchte man, doch kommt man sich lesend zuweilen vor, wie ein Voyeur, ein Gaffer. Der Autor legt den Finger in die Wunde, die nicht verheilen kann. Der Krieg ist in jeder Szene allgegenwärtig. Schauplätze wie Protagonisten werden mit wenigen Worten sehr plastisch beschrieben. Manchmal muss man innehalten. Ein seltenes Schmunzeln, Lächeln bleibt sofort im Halse stecken, wenn es denn mal vorkommt.

Es mögen einige durch die Fernsehbilder abgestumpft sein, solche kleinen Alltagsbeschreibungen aber betrüben zu tiefst und lassen nicht los. Für Zhadan und all jene, die sich in den von Krieg gezeichneten Regionen und Städten aufhalten, gar an der Front kämpfen, wie muss es erst für die sein, fragt man sich während des Lesens und ahnt, dass noch viel mehr unerzählbar bleibt, da es dafür keine Worte gibt. Die wenigen, die wie diese hier gesehen werden können, sind es wert und wichtig.

Autor:
Serhij Zhadan wurde 1974 geboren und ist ein ukrainischer Schriftsteller, Dichter und Übersetzer. Nach der Schule studierte er zunächst Literaturwissenschaften, Ukrainistik und Germanistik. Er organisiert Literatur- und Musikfestivals und verfasst Rocksong-Texte. 2007 erschien sein erster Roman. 2006 wurde er mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet, Zhadan war zudem Aktivist der Orangenen Revolution.

2014 schilderte er in der FASZ seine Erfahrungen der Erstürmung der Gebietsverwaltung von Charkiw, wurde dafür von prorussischen Kräften krankenhausreif geschlagen. Seine Werke wurden mehrfach ins Deutsche übersetzt, und zahlreich ausgezeichnet. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er lebt in Charkiw und ist seit 2024 Soldat.

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Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt – Ein Szenario

Inhalt:

März 2028: Russische Truppen erobern die estnische Kleinstadt Narwa und die Insel Hiiumaa in der Ostsee. Der Angriff auf das Baltikum hat begonnen. Jetzt rächt sich, dass Europa nach dem Ende des Krieges in der Ukraine nicht aufgerüstet hat und wichtige Fähigkeiten fehlen. Gilt Artikel 5 der NATO? Wie wird sich die Allianz entscheiden? Riskiert sie den atomkrieg?

Wir haben uns daran gewöhnt, dass am Ende alles gut ausgeht. Aber was, wenn nicht? Was, wenn Russland gewinnt? Es ist nur ein hypothetisches Zukunftsszenario, das der renommierte Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala in seinem neuen Buch entwirft – aber es zeigt auf besonders drastische Weise, was heute auf dem Spiel steht. (Klappentext)

Rezension:

Als die Ukraine am Boden liegend einen Waffenstillstand schließen muss, der einer Kapitulation gleichkommt, gibt der russische Präsident Putin überraschend sein Amt ab und lässt eine neue jüngere Generation an die Schalthebel der Macht. Der Neue im Kreml ist im kriegsmüden Westen ein unbeschriebenes Blatt, doch in den Morgenstunden des März 2028 besetzen russische Truppen eine kleine Estland vorgelagerte Insel und eine Kleinstadt mit mehrheitlich russischsprachiger Bevölkerung, gleichzeitig mehren sich in Europa Sabotageakte.

Doch, was will Russland, welches sich zunächst nicht weiterbewegt wirklich und wie soll man darauf reagieren? Estland und die anderen baltischen Staaten fordern die Auslösung von Art. 5, den Bündnisfall des militärischen Beistandsvertrages. Nicht alle Mitglieder der NATO aber wollen das Risiko eines Krieges, möglicherweise mit Atomwaffen eingehen. Wie viel aber ist dann das Bündnis wert und was wären die Folgen?

Szenarien, Planspiele sind seit jeher Bestandteile militärischen Denkens. Einen Schritt voraus zu sein, sich auf alle Möglichkeiten und Eventualitäten vorzubereiten, um dann im Ernstfall folgerichtig reagieren zu können, ist notwendiger den je geworden. In Cyber-Kriegen werden Trollarmeen ins Feld geführt, um ganze Gesellschaften und Systeme zu destabilisieren.

Mit ihrem Auftreten stellen einige Staaten die gegenwärtige Weltordnung in Frage. Der Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala zeigt an einer dieser Gedankenspiralen, wie viel davon abhängt, wie wir auf etwaige Bedrohungslagen reagieren und wählt einen der nächsten realistischen Ausgangspunkte. Der Angriff auf das Territorium der baltischen Staaten ist so weit weg nicht. Schon heute wird an deren Grenzen massiv aufgerüstet, während auf der anderen Seite der Zäune Russland Militärübungen abhält und sich regelmäßig versucht, in innerpolitsche Belange der Länder einzumischen, die es zu seiner Einflussspähre zählt.

Der Autor zeigt dabei in sehr komprimierter Form die politische Schrittfolge und verdeutlicht die Klaviatur, auf der Russland mit den Ängsten der Europäer zu spielen vermag, aber auch, was es bedeutet, wenn Europa nicht geeint und geschlossen handelt und vor allem, weiter es versäumt, Lücken zu schließen, die entstehen, sollte Amerika sich entgültig aus dem gemeinsamen Militärbündnis verabschieden.

In einzelnen Kapiteln verfolgen wir an unterschiedlichen Schauplätzen, die im zeitlichen Verlauf in dichter Abfolge wechseln. Klare Sätze verdeutlichen die Brisanz der Thematik, ohne die verschiedenen Perspektiven nachzuvollziehen- Am Ende ist klar, es gibt viele Verlierer, einenen scheinbaren Gewinner und einen lachenden Dritten. Und das sind weder Russland, die USA noch Europa.

Ein strategisches Planspiel, in welchem alle Akteure mit den Muskeln spielen, um das Beste für sich herauszuholen ohne das Schlimmste eintreten zu lassen, liegt hier vor und liest sich beinahe wie ein Politthriller. Nur, dass alles tatsächlich so geschehen könnte, wenn wir nicht aufpassen, ist eben das, weshalb es so wichtig ist, solche und andere Szenarien zu durchdenken und entsprechend Lehren daraus zu ziehen. Carlo Masala versucht, hier vereinfacht aber deutlich aufzuzeigen, dass sich die NATO und ihre Partner nicht länger herausreden können, wenn es um das Verteidigen unserer Freiheiten geht, auch wenn es uns nicht immer direkt betrifft.

Man möge dieses Buch sämtlichen beschwichtigenden Politikern um die Ohren hauen.

Autor:

Carlo Masala wurde 1968 geboren und ist Professor für Internationale Politk an der Universität der Bundeswehr in München und Kommentator für deutsche und ausländische Medien. Er gilt als Experte für bewaffnete Konflikte.

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Saneh Sangsuk: Gift

Inhalt:

In einem Dorf mitten im thailändischen Dschungel träumt ein Junge davon, ein berühmter Puppenspieler zu werden. Versunken in die Magie seines Schattentheaters, bemerkt er zu spät, dass er sich über dem Nest einer Kobra niedergelassen hat. Als die zornige Schlange auf ihn zuschießt, beginnt ein gnadenloser Kampf, der die ganze Nacht dauern wird.

Eine existenzielle Parabel über Tradition und Macht, Schönheit und Schrecken, Leben und Tod. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung, die einem schier den Atem nimmt, ist sicherlich die vorliegende Parabel aus der Feder des thailändischen Schriftstellers Saneh Sangsuk. In „Gift“ erzählt er nicht nur die Geschichte eines Kampfes, sondern nimmt damit gleichzeitig traditionelle Strukturen und Willkür innerhalb einer Gemeinschaft aufs Korn. Oberflächlich hier die Konfrontation, das Ringen ungleicher Gegner. Beinahe David gegen Goliath auf thailändischen Boden. Ein Junge setzt sich unbeabsichtigt auf das Nest einer Kobra, diese will sich wehren und der Gefahr für ihre Eier ein für alle Mal ein Ende setzen. Dem Hauptprotagonisten ist schnell klar, nur einer von beiden wird überleben.

So beginnt ein Ringen, welches Sangsuk mit wenigen Worten, zielgerichtet wie Schlangenbisse, zu erzählen weiß. Abwechselnd erzählt aus der Perspektive des Jungen und des Tieres erleben wir einen Zeitraum von nur wenigen Stunden, die beiden Protagonisten ihre ganze Kraft abverlangen wird. Nur ihnen beiden. Dem Jungen, ohnehin durch eine körperliche Beeinträchtigung Außenseiter innerhalb der traditionellen Strukturen seines Dorfes, wird keine Hilfe zuteil werden. Auf einer anderen Ebene geht es damit auch um klare, sich gegenüberstehende Pole. Kind gegen Erwachsene. Unschuld gegen Korruption und Willkür. Hier kompakt in Konfrontation.

Schon mit den ersten Seiten werden wir für den kleinen Hauptprotagonisten eingenommen, der reinen Herzens für seine Umgebung isst, der die Ungerechtigkeiten seiner Welt kaum klarer wahrnehmen könnte als er dies in Sangsuks Erzählung tut. Der indirekte Gegenspieler, versinnbildlicht durch die Schlange, ist der Erwachsene, der die Strukturen des Ortes nutzt, um diesen sich untertan zu machen. Wie könnte man da nicht klar mit dem Kinde mitfühlen? Hoffen und bangen, es möge im ungleichen Kampf bestehen?

Mit wenigen Worten in klarer Sprache, hier hervorzuheben ist die wunderbare Übersetzung durch Sabine Herting, gelingt ein beinahe filmischer Spannungaufbau. Jeden einzelnen Schweißtropfen meint man selbst auf der Haut zu spüren. Innerlich angespannt, nach Atem ringend wird man kaum von der Erzählung loslassen können und diesen Kampf bis zum Ende verfolgen.

Der Perspektivwechsel ist ein Kunstgriff, in dem auch das Tier seinen berechtigten Platz erhält. Beide Gegner mit klaren Blick, dazu eine Umgebung, die der Autor kunstvoll vor dem inneren Auge der Lesenden entstehen lässt. Hier ist der Spagat zwischen schöner Sprache und einer spannenden Erzählung gelungen, die im Einklang zueinander stehen.

Immer mehr Literatur aus Asien wird hierzulande zugänglich. Sie lohnt sich, entdeckt zu werden. Diese kleine Geschichte gehört unbedingt dazu. Hoffen wir, dass noch viel mehr Werke Sangsuks und anderer hier verlegt und ein breites Publikum finden werden. Schon alleine, um zu erfahren, wer die Oberhand gewinnt.

Autor:

Saneh Sangsuk wurde 1953 geboren und ist ein thailändischer Schriftsteller. Er studierte Englisch und arbeitet als freier Schriftsteller und Übersetzer. Zunächst Kurzgeschichten veröffentlichte er seinen ersten Roman 1986, dem weitere folgten. Sangsuks Werke wurden in mehreren Sprachen übersetzt. Er gilt als einer der besten zeitgenössischen Autoren Thailands, wofür er 2018 ausgezeichnet wurde.

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Wolfgang Kraushaar: Israel

Inhalt:

Als die Hamas am 7. Oktober 2023 über 1.100 Israelis ermordete, schien auf einen Schlag der von den Nazis verübte eliminatorische Antisemitismus zurückgekehrt zu sein. Premierminister Netanyahus Versuch, den Aggressor umgehend auszuschalten, führte jedoch im Gaza-Streifen zu einer humanitären Katastrophe. Die Bilder, die seitdem um die Welt gehen, haben zu einem Aufflammen des Antisemitismus und zu Debatten geführt, die von einer Begriffsverwirrung erheblichen Ausmaßes gekennzeichnet sind.

Wolfgang Kraushaar ordnet die unterschiedlichen Diskurse, trennt die antisemitschen Stereotype von triftigen Argumenten und stellt die unverzichtbaren zivilisatorischen Minimalforderungen heraus, nicht ohne den Umgang mit den Problem- und Grenzfällen zu präzisieren. (Klappentext)

Rezension:

Einen Tag nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges fünfzig Jahre zuvor, am jüdischen Feiertag Simchat Tora brachen zunächst Unmengen von Raketen über die Mitte und den Süden Israels herein. Damit wurde der seit 2014 zwar fragile, aber bestehende Waffenstillstand gebrochen, doch war dieser Angriff nur Ablenkung für das, was folgen sollte. Kämpfer der Hamas durchbrachen die Grenzanlagen und forderten über 1.100 Todesopfer, 3.000 Verletzte. Unzählige Menschen wurden in den Gaza-Streifen verschleppt. An keinem Tag seit dem Holocaust zuvor sind so viele Jüdinnen und Juden getötet worden, wie am 7. Oktober 2023.

Das ganze Ausmaß der Bestialität wurde erst nach und nach deutlich. Je detaillierter die Informationen ausfielten, desto massiver wurden die Schockwellen. Zugleich suchte man nach Worten, einen Begriff für diese Barbarei. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar ordnet darauf Begrifflichkeiten ein, beleuchtet die Phrasen und Narrative einer kaum zu durchdringenden Diskussion und zeigt die Meta-Diskurse auf.

Zunächst beginnt der Autor beim jüngsten aller Konflikte und zeigt auf, was eigentlich am 7. Oktober geschehen ist und wie es überhaupt zu den dann stattfindenden Ereignissen kam. Er erläutert die Vorbereitungen der Hamas, aber auch die Reaktionen Israels in sehr kompakter Form, bevor er zunächst geografische Begrifflichkeiten einordnet, beginnend mit von der deutschen Politik beschworenen Solidarität mit dem jüdischen Staat. Was heißt dies überhaupt und können diese Worte überhaupt mit einer sinnvollen Bedeutung gefüllt werden oder ist dies letztendlich eine hohle Phrase ohne Wert, nur aus Pflichtbewusstsein?

Danach wird die politische Geografie aufgedröselt und zugleich auf die Geschichte der Region eingegangen. Was sind Israel und der Zionismus überhaupt? Wie sind Politiker, wie etwa ein Netnyahu einzuordnen, um dann widerum den Bogen zu Deutschland als Partner des Landes zu spannen. Auch wird die Gemengenlage im Gaza-Streifen erläutert, sowie im Westjordanland, ohne zu vergessen, dass wenn wir Israel betrachten, auch geklärt werden muss, was eigentlich Palästina in den unterschiedlichen Ansichten als geografischer Raum bedeutet und wie der Stelllenwert der Hamas ist. Auch wieder im Gegenlicht zu den Akteuren der Politik Israels.

So geht es weiter in der Lektüre, die zu weilen sehr theoretisch daherkommt, aber gerade bei dieser sensiblen Thematik sehr viel Wert darauf legt, Begrifflichkeiten korrekt einzuordnen. Dabei erklärt Kraushaar die verschiedenen Interpretationen und stellt sie einander gegenüber. Nur so entsteht ein klares Bild, für welches man jedoch durchgehend Konzentration benötigt, dieses in sich aufzunehmen. Einerseits politiktheoretisch, andererseits fast philosophisch wirkt diese Einordnung, die versucht, einem Konflikt sprachlich Herr zu werden. Zuweilen sehr distanziert scheint das, nicht jedoch vollends ohne Emotion zu sein.

Der Autor zeigt die Wendepunkte der Geschichte der Region als Verkettung. Unweigerlich kommt die Frage auf, was als nächstes passieren muss, was als nächstes passieren wird. Lehrreich ist das Sachbuch vor allem mit den letzten Kapiteln, in dem Parolen erläutert werden, die zu weilen auf Demonstrationen zu hören sind und wenn Meta-Diskurse kurz zusammenfassend dargestellt werden.

Man geht mit einer Fülle an Informationen und Wissen aus der Lektüre heraus, muss sich jedoch bis dahin sehr konzentrieren und zuweilen wiederholend lesen. Leicht zugänglich ist etwas anderes. Positiv anzumerken ist jedoch, dass Kraushaar nicht vergisst, anhand zusammengestellter Punkte zu erläutern, was im Endeffekt für die Auflösung eines Konflikts in der Region seines Erachtens erfolgen müsste. Ob das dann so funktioniert, steht jedoch in den Sternen.

Autor:

Wolfgang Kraushaar wurde 1948 geboren und ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Von 1987 bis 2014 arbeitete er am Hamburger Institut für Sozialforschung, seit dem bis zum 2023 für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seine Forschungsschwerpunkte sind Protestbewegungen und der linke Terrorismus. Er ist Autor verschiedener Werke zu diesen Thematiken.

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Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Inhalt:

Constanze zieht nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten in die Wohngemeinschaft von Jörg, Anke und Murat. Was zunächst als Übergangslösung gedacht war, entpuppt sich als zunehmend stabil. Da ist Jörg, dem die Wohnung gehört und der eine große Reise plant; Anke, die als mittelalte Schauspielerin kaum noch gebucht wird und plötzlich nicht mehr die einzige Frau in der WG ist; und Murat, der sich einfach keine Sorgen machen will und dessen Lebenslust auf die anderen mitreißend und manchmal auch enervierend wirkt.

Constanze sorgt als Neuankömmling dafür, dass sich die bisherige Tektonik gehörig verschiebt. Alle vier haben ihre eigenen Träume und Sehnsüchte und müssen sich irgendwann der Frage stellen, ob sie eine reine Zweck-WG sind oder doch die Wahlfamilie. (Klappentext)

Rezension:

Ein Kammerspiel zwischen zwei Buchdeckeln ist der neue Roman „Wohnverwandtschaften“ der Hamburger Autorin und Übersetzerin Isabel Bogdan, die nun einem Ein-Pfauen- und einem Ein-Personen-Stück der Dynamik von Vieren folgt und so eine kurzweilige Erzählung schafft, deren Figuren einem praktisch sofort ans Herz wachsen.

Sie alle haben sich zusammengefunden, grundverschieden, doch zusammen ist man weniger allein, das gilt in verschiedener Art und Weise für die Protagonisten, deren Leben wir über den Zeitraum von zwei Jahren verfolgen, aus derer Sicht abwechselnd erzählt wird. Schnell bekommen Anke, Constanze, Murat und Jörg ihre Konturen innerhalb derer ihnen zugeschriebenen Kapitel, die mal als innerer Monolog als auch Gespräch zwischen mehreren daher kommen, jede Figur dabei in ihrem ganz eigenen Duktus.

ANKE: Ehrlich gesagt: Du bist manchmal ein bisschen unempfindlich für so was. Ist dir schon mal aufgefallen, dass alle anderen die Klotür hinter sich zumachen? Und etwas anhaben, wenn sie nicht allein sind.
MURAT: Ich wohne hier!
ANKE: Aber doch nicht jetzt, um diese Zeit!
BEIDE lachen.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

In diese Art Erzählstruktur muss man erst hineinfinden, doch schnell gewinnt man Übersicht, kann sich diese Wohngemeinschaft vorstellen, in der jeder seine inneren Konflikte und Gedanken einbringt, Haarrisse zeigen sich schnell, doch dunkle aufziehende Wolken fordern erst schleichend, dann immer mehr die Konfrontation.

Doch noch bleiben? Ich will gar nicht so richtig nach Hause, ich will nicht Jörgs Verwirrtheit ertragen, ich will nicht so gereizt reagieren, wenn er zum hundertsten Mal irgendein Quatsch fragt. Hoffentlich geht das wieder weg, es ist jetzt schon ganz schön lange so.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Einzelne Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, mit zunehmender Seitenzahl verschärfen sie sich, was zugleich Auswirkungen auf das Erzähltempo hat. Der Konflikt der Gruppe ist glaubwürdig dargestellt, wird zum Handlungsgegenstand, um den sich alles dreht, könnte sich so reell abspielen. Man darf aber auch feststellen, dass Bogdans Figuren ein Glücksfall für das aufgebaute Szenario sind.

Eingebettet in der quirligen Hafenmetropole braucht es nicht viel, um mit dem Roman warm zu werden. Wer ein wenig sucht, findet jedoch Anspielungen aus Musik und Literatur oder aus dem ersten Buch Isabel Bogdans „Sachen machen“. Eine gewisse Band taucht da wieder auf. Ansonsten ist natürlich der Konflikt einer, wie er in vielen Familien irgendwann auftauchen dürfte. Wie hart aber, wenn es eine Gemeinschaft trifft, die man sich selbst erwählt hat? Es trifft mitten hinein ins Herz.

Aber bei Jörg ist was passiert, bei Jörg ist viel zu viel passiert, nur das Falsche, Jörg hat diesen riesigen Stein im Kopf, den man nicht ausgraben kann, es gibt keinen Spaten für die Versteinerung eines Gehirns, man muss doch irgendwas tun können? Irgendwas?

[…]

Wie soll das weitergehen?

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Das dröselt die Autorin feinfühlig auf, mitsamt einer Bandbreite vorstellbarer Reaktionen, wie sie in einer solch kompakt gehaltenen Erzählung möglich ist. Kein Wort ist dabei zu viel. Jeder Sprung, jede Lücke sind bewusst gesetzt, ergeben mitsamt der unterschiedlichen Figurenstile ein harmonisches stimmiges Bild.

Praktisch unmöglich, so gar keinen Zugang zu bekommen, gerade da es eine Thematik betrifft, die folgerichtig wie eindrücklich dargestellt wird, derer man bei einem selbst nahestehenden Personen (und wohl später auch bei sich selbst) zunächst nicht eingestehen möchte, dass sie problematisch ist.

Sie sind jetzt natürlich alle da, ich kenne die Gesichter, aber ich habe nicht alle Namen parat, […].

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Erkennt man es, ist es beinahe zu spät. Alle Tragik und Traurigkeit hat Isabel Bogdan hier hineingesteckt und doch ist „Wohnverwandtschaften“ ein lebensbejahender Roman und ein Appell, die gemeinsame Zeit, die man mit seinen Liebsten hat, zu genießen. Nicht nur deshalb lesenswert.

Autorin:
Isabel Bogdan wurde 1968 in Köln geboren und studierte nach dem Abitur Anglistik und Japanologie in Heidelberg und Tokyo. Mit ihrer Familie lebt sie in Hamburg und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin (u.a. Jonathan Safran Foer, Sophie Kinshalla und Megan Abbott), liest und schreibt selbst, hauptsächlich in Blogform aber auch in der Kolumne „Was machen die da?“, die Menschen beschreibt, die ihren gewöhnlichen und manchmal außergewöhnlichen Beruf leben und lieben. Ihre Romane „Der Pfau“ (2016) und „Laufen“ (2019) wurden verfilmt.

Sie ist Vorsitzende des Vereins zur Rettung des „anderthalb“ und erhielt 2006 den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzung, 2011 den für Literatur.

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Saul Friedländer: Blick in den Abgrund – Ein israelisches Tagebuch

Inhalt:

Israel steht am Abgrund. Das Israel, das wir kannten. Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, hat ein Tagebuch geschrieben, in dem er die aktuellen Ereignisse schildert und kommentiert, in Rückblenden aus der Geschichte des Landes, das er mit aufgebaut hat, erzählt, Konflikte analysiert und über Lösungen nachdenkt. Sein Tagebuch geht unter die Haut und jeden etwas an, dem an Israel liegt. (Klappentext)

Rezension:

Nicht nur außenpolitisch sieht sich dieses kleine Land vor ständiger Herausforderung, auch innen ist es kompliziert. Die Gesellschaft Israels, sie befindet sich im Zangengriff radikaler Kräfte und verschiedener Sichtweisen jüdischer Religion und ihren Interpreten. Die politischen Köpfe dieses Systems agieren eigensinnig, sind teilweise korrupt und das zieht sich bis in die obersten Ebenen des Staates hinein.

Im Jahr 2023 versucht sich der israelische Präsident an eine Justizreform, die ihn vor einem Gerichtsprozess bewahren soll, seine Koalitionspartner suchen ebenfalls Wege, sich und ihren Anhängern Vorteile zu verschaffen. Die Demokratie und der Pluralismus des Landes, sie bleiben auf der Strecke. Immer mehr Menschen protestieren.

Einige denken gar ans Auswandern aus dem Land, welches einst Heimstatt aller Juden sein wollte. Der Historiker und Schriftsteller Saul Friedländer beobachtet die gesellschaftlichen Spannungen aus der Ferne, analysiert und zieht Verbindungen zur Vergangenheit, die auch die eigene ist. Entstanden ist dabei ein hochbrisantes und komplexes Tagebuch, zugleich ernüchternd und erschreckend.

Als Außenstehender fällt es bereits schwer, die außenpolitischen Ereignisse zu sortieren und eine Übersicht zu wahren. Zu viel ist bereits passiert mit diesem Land, in der Innenpolitik sieht es dabei nicht besser aus.

Von Januar 2023 bis zum Juli 2023 beschreibt der Autor Tag für Tag das aktuelle Geschehen, welches einem fassungslos werden lässt, angesichts der Herausforderungen, mit denen in der Region ohnehin alle Akteure konfrontiert werden oder sich gegenseitig aussetzen.

Hoch komplex ziehen sich die Fäden der Handlungen israelischer Spitzenpolitiker, deren Agieren die Unfähigkeit von Regierenden manch anderer Länder wie vorausschauendes und überlegtes Handeln aussehen lässt. Schon für jene, die tagtäglich mit rassistischen Aussagen von Ministern konfrontiert werden, aus einem Land, welches es eigentlich rein von der Historie besser wissen müsste, ist dies schwer zu ertragen.

Ohne Vorkenntnisse, etwa der Ausrichtung einzelner Gruppen und Parteien innerhalb Israels ist der Zugang zur Lektüre jedoch überhaupt nicht gegeben, selbst wenn zwischendurch Saul Friedländer einen Rückblick wagt, um bestimmte politische oder religiöse Denkweisen zu erklären, die das Bild Israels im Innern heute beherrschen.

Eine Lektüre für zwischendurch ist schon rein thematisch nicht möglich, doch einige fehlende Teile im Gesamtbild werden uns Lesenden geliefert. Sehr schnell kommt man dahinter, welche Politiker zur Seiten treten müssten, damit das Land auch innenpolitisch in ruhige Fahrwasser gerät. Das Handeln, welches beschrieben wird, führt in die Isolation. Selbst enge Freunde Israels gehen auf Distanz.

Es ist eine hervorragende und differenziert ernüchternde Diagnose, die wenig Raum für Hoffnung lässt. Die Form des Tagebuchs verdeutlicht die immer tiefere Spaltung des Landes, innerhalb von Monaten. Ratlos bleiben die zurück, die letztendlich damit leben und irgendwann versuchen müssen, die Situation aufzulösen. Für Saul Friedländer auch ein Blick auf ein Israel, welches er immer weniger als das erkennt, was er einst mitgestaltet hat.

Die Analyse zieht sich zwischen den religiösen Ausrichtungen in Verbindung der politischen Wirkung, vor allem nach innen, was aber das äußere bedingt. Die Frage, was kommt, wenn der Bruch vollständig ist, muss in Friedländers Buch unbeantwortet bleiben. Israel braucht jedoch jetzt schon, so das Gefühl nach dem Lesen, eine Menge Glück, dies nicht auszuprobieren.

Autor:

Saul Friedländer wurde 1932 in Prag geboren und ist ein israelischer Historiker und Autor. Kurz nach der Besetzung der Tschechoslowakei flohen seine Eltern nach Frankreich, erst nach Paris, später in die unbesetzte Zone. Nach Verhaftungen ausländischer Juden 1942 wurde er in einem jüdischen Kinderheim, später einem katholischen Internat versteckt und überlebte so den Holocaust.

Mit 15 Jahren ging er mit gefälschten Pass nach Palästina und absolvierte eine dreijährige Militärzeit und studierte schließlich in Paris und Genf, wo er 1963 in Geschichte promovierte. In verschiedenen Positionen arbeitete er für den israelischen Staat und ist ein bedeutender Historiker und war Mitglied verschiedener Organisationen. Er erhielt u.a. den Dan-David-Preis und den Balzan-Preis, sowie den Geschwister-Scholl-Preis und den Preis der Leipziger Buchmesse.

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Franz Kafka: Das Urteil/Die Verwandlung – Erzählungen

Autor:
Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 in Prag geboren. Nach einem Jura-Studium, welches er 1906 mit Promotion abschloss, arbeitete er als Angestellter einer Versicherung bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung, im Jahr 1922. 1917 erlitt er einen Blutsturz und starb 1924 an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung. Er schloss sich einem Kreis Prager Literaten an, seine erste Erzählung wurde 1908 veröffentlicht. Weitere folgten. Kafkas Werke wurden mehrfach verfilmt und für das Theater adaptiert.

Inhalt:
Ein Vater, der seinen Sohn zum Tod durch Ertrinken verurteilt. Die Verwandlung eines Geschäftsmannes in ein Insekt. Die Widerstände, die das Leben seinen Figuren entgegenstellt, sind wunderlich und grotesk. Die Bilder, die Kafka für die seelischen Nöte der Menschen findet, wirken weit über seine Erzählungen hinaus. (Klappentext)

Rezension:
Ein junger Geschäftsmann wacht auf und findet sich gefangen wieder, in einer anderen Gestalt. Die Entfremdung zweier Menschen führt zum Tode des einen. Zwei Erzählungen sind hier in diesem schmalen Bändchen versammelt, die nebst anderen für das Wirken eines der großen Schreibenden stehen und die zwischen den Zeilen tiefgehenden Interpretationsspielraum bieten. Die kompaktere der beiden Novellen steht der zweiten voran. Der Sohn hat kürzlich das Geschäft seines Vaters übernommen, letzterer sieht sich zunehmend in die Rolle des passiven Zuschauers gedrängt. Risse werden deutlich. Es kommt zum Bruch mit dramatischen Ausgang.

Schon innerhalb dieser wenigen vorliegenden Seiten ergeben sich zahlreiche Spielräume für Überlegungen. Biografische und psychologische Bezüge zu Kafka und dessen Verhältnis zur Vaterfigur spielen mit rein, auch die innere Zerrissenheit, derer sich Kafka zeitlebens selbst vorwarf, wird in vielen Interpretationen bemüht, sowie, oberflächlich die Abscheu des Autoren vor der Geschäftswelt, in der er selbst eine Rolle spielte. Ebenso „Die Verwandlung“, der Panzer des Käfers gleichsam als inneres wie äußeres Gefängnis, dem die Entfremdung und das Unverständnis der äußeren Welt folgt. Beide Erzählungen sind pointiert ausgearbeitet, vieles lässt sich zwischen den Zeilen deuten.

Im Zentrum stehen die Hauptprotagonisten selbst, die nach Art der Novelle selbst zum Dreh- und Angelpunkt ihrer eigenen Geschichte werden und so Verknüpfungspunkte zwischen beiden Geschichten bilden. Die Zusammenstellung in einem Band funktioniert auch deshalb, ergibt ein stimmiges Bild.

Kafkas Tonalität lässt sich auch heute noch sehr gut lesen, ist verständlich. Auch ohne Interpretation gelingt die Lektüre. Eventuell könnte man sogar so weit gehen, mit „Die Verwandlung“ ein frühes fantastisches Werk vorzufinden, in beiden Fällen jedoch mindestens eine gehörige Portion Gesellschaftskritik zu lesen. Man nähert sich beiden Protagonisten an, eine gewisse Distanz bleibt jedoch immer vorhanden. Der Autor spart sich zumindest bei letzterer Novelle die Erklärung, wie es zur Ausgangssituation kommt. Ab dann finden sich keine weiteren Lücken. Der Wandel im Charakter der Figuren folgt in immer schnelleren Schritten.

Trotzdem der Nachvollziehbarkeit bleibt eine gewisse Kälte innerhalb der beiden Texte, die sich jedoch auch aus dem Schreibstil ergibt. Das jedoch alleine wirkt schon zur Genüge. Schade, dass man von Schulseiten gezwungen wird, diese und andere Werke bis ins kleinste Komma auseinanderzunehmen. Zumindest bei „Die Verwandlung“ war das bei mir der Fall. Mit den Abstand von heute, ohne jetzt die favorisierte Deutung der Lehrkraft treffen zu müssen, mochte ich jedoch das Werk gerne für mich neu zu entdecken.

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Sören Kittel: An guten Tagen siehst du den Norden

An guten Tagen siehst du den Norden Book Cover
An guten Tagen siehst du den Norden Sören Kittel Dumont/mairdumont Erschienen am: 03.08.2018 Seiten: 384 ISBN: 978-3-7701-8297-8

Inhalt:
Unterwegs im Land der Extreme

Südkorea scheint nur Rekorde zu kennen: die längsten Arbeitszeiten, die niedrigsten Geburten- und höchsten Wachstumsraten. Reporter Sören Kittel arbeitete eineinhalb Jahre in der ostasiatischen Republik und erzählt die besten Geschichten aus dem Land im Aufbruch: Geschichten vom Wandel einer Diktatur zur Demokratie, von Verliebten, die sich nur noch per App verständigen, und mordernen Koreanern, die es zurück in die Tempel zieht. (Klappentext)

Rezension:
Es ist ein Land, welches schon aufgrund der Entfernung zu Europa kaum auf die Liste der zu besuchenden Reiseziele steht und auch sonst eher in den Nachrichten nur im Zusammenhang mit den bösen Nachbarn steht. Nordkorea ist das einzige Land, mit dem es eine gemeinsame, wenn auch spannungsintensive Grenze gibt.

Theoretisch befindet sich Südkorea immer noch im Krieg. Der Schwebezustand, in dem sich Land und Leute befinden, existiert seit 1953, als nach dem Koreakrieg ein Waffenstillstandsvertrag geschlossen wurde.

Der 38. Breitengrad ist seither Staatsgrenze und Zone allerlei Konflikte. Grund für das Han, den Zustand der Traurigkeit, den nur Koreaner verstehen können. Sören Kittel begibt sich auf die Suche nach dem Han und erkundet dabei das Land, entlang der Küste von Seoul bis zum südlichsten Punkt des Landes, und wieder zurück zur Grenze, in mitten der Halbinsel.

Es sind die Geschichten der Menschen, die ihn interessieren und denen er nachspürt. Kittel entdeckt dabei ein Land im Auf- und Umbruch, ein Land zwischen Tradition und Moderne, auf der Suche zu sich selbst und Menschen, die nicht mit aber in keinem Fall ohne Südkorea können.

Im reportagenhaften Stil berichtet Sören Kittel von seinen Begegnungen. Die kurzweiligen Kapitel sind nach den örtlichen Stationen gegliedert, die er bereist, betitelt jeweils mit dem Synonym für die jeweilige Gegend, die Besonderheit, auf der sich der Abschnitt herunterbrechen lässt und jeweils einem koreanischen Begriff.

Der Autor versucht einen Zugang zu den Menschen zu finden, zunächst mit den eigenen Erfahrungen, schließlich war auch Deutschland einst geteilt, ein Beispiel, welches man sich in beiden koreanischen Staaten genau anschaut, welches jedoch aktuell in weiter Ferne gerückt ist, dann über die Extreme selbst, die Südkorea zu bieten hat.

Unbemerkt zwischen den geopolitischen Globalplayern China und Japan hat sich längst eine neue wissenstechnologische Supermacht etabliert, die im ständigen Balanceakt nicht nur sich selbst sucht, sondern auch, zumindest in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht längst Weltgeschicke bestimmt. Kittel spricht mit den Menschen über die Auswirkungen, in einer autoritären Demokratie zu leben, die aufgrund der politischen Situation unsicher im Umgang mit der eigenen Geschichte zu sein scheint. Ein Zustand, der sich quer in der Gesellschaft zeigt.

Thematisch wird dabei kaum ein Thema unberührt gelassen, gerade deshalb ist „In guten Tagen siehst du den Norden“ eine vielschichtige und sensible Reisereportage, die dieses Land dann doch auf die Liste potenzieller Reiseziele ganz weit nach Oben rückt. Und vielleicht versteht man dann auch, was Han eigentlich genau ist.

Autor:
Sören Kittel wurde 1978 in Dresden geboren, studierte nach der Schule in Leipzig, Amsterdam und Berlin Ethnologie und Südostasienwissenschaften, lernte verschiedene Sprachen und lebte in Jakarta, Peking und Nairobi. Für die Berliner Morgenpost schrieb er verschiedene Reportagen und gewann u.a. den EMMA-Männerpreis, sowie für eine Reisereportage über Nordkorea den Meridian-Journalistenpreis. 2014 zog er nach Seoul und arbeitete dort für verschiedene Zeitungen und Magazine als freier Journalist. Zurzeit arbeitet er für die Funke-Mediengruppe. Kittel lebt in Seoul und Berlin.

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Erika Fatland: Die Grenze

Die Grenze Book Cover
Die Grenze Erika Fatland Suhrkamp Erschienen am: 08.04.2019 Seiten: 623 ISBN: 978-3-518-46974-3 Übersetzer: Ulrich Sonnenberg

Inhalt:
Erika Fatland, Autorin des Bestsellers „Sowjetistan“, reist entlang der über 20.000 Kilometer langen russischen Grenze durch 14 Länder und begegnet dort den unterschiedlichsten Menschen – Taxifahrern, Geschichtsprofessoren, Rentierhierten und anderen. Sie hört zu, stellt Fragen, sammelt Geschichten. So entstehen schillernde Porträts dieser eigenwilligen Menschen und Länder. Aber auch ein Porträt des weltpolitischen Giganten – aus der Sicht seiner Nachbarn. (Klappentext)

Rezension:
Der Vielvölkerstaat, der sich über zwei Kontinente erstreckt, ist faszinierend. Ständig im Wandel begriffen, geprägt durch die kulturellen Unterschiede seiner Bewohner und im ständigen Konflikt mit seinen Nachbarn, grenzt das Riesenreich heute an 14 Ländern. Norwegen teilt da noch die kleinste Grenze mit dem russischen Bären. Doch, was bedeutet es eigentlich heute, in Nachbarschaft eines Staates zu leben, dessen Überlebensstrategie sich vor allem auf Rohstoffe und territoriale Ambitionen bezieht?

Wie leben die Menschen in Ost und West, Nord und Süd an der Grenze zu Russland und was sagt dies letztlich über den Staat selbst aus? Die Journalistin und Autorin Erika Fatland hat sich aufgemacht zu den Menschen entlang der Grenze und spürt ihren Geschichten nach. Herausgekommen ist ein Sammelsurium an Geschichten, nicht zuletzt jedoch ein vielschichtiges Porträt eines Landes in ständiger Bewegung.

Nach ihrer vielbeachteten Reportagereise durch „Sowjetistan“ liegt in deutscher Übersetzung nun der nächste Bericht vor, dessen Vorbereitungen unglaublich strapaziös gewesen sein mussten. Der Weg durch den staatlichen Behördendschungel einzelner Länder dürfte da noch das geringste Problem gewesen sein, nimmt die Autorin hier ihre Leser erst wieder mit, nachdem diese abgeschlossen sind.

In mehreren Abschnitten sind Reise und Buch unterteilt. So fährt der Leser zunächst entland Russlands gewaltiger Küstenlinie, bevor es von Nordkorea ausgehend, entland der Landesgrenze Russlands bs nach Norwegen gibt, der letzten Etappe dieser gewaltigen Reise.

So vielfältig wie die Landschafts- und Umgebungsbeschreibungen, die wortgewaltig den Leser an die jeweiligen Orte versetzen, so sind es auch die Begegnungen mit gewöhnlichen und außergwewöhnlichen Menschen, die diese Reisereportage so besonders machen. Erika Fatland hört ihnen zu, Regimekritikern und Händlern, den Taxifahrern und ehemaligen Politikern, Zöllnern wie auch Utopisten.

Alle haben sie ihre eigene Geschichte zu erzählen und jeder Einzelne verbindet mit dem Nachbarland etwas, meist untersetzt mit zwiespältigen gefühlen. Vielerorts würde man gerne ohne ihn, weiß jedoch, dass dies nicht möglich ist, zumal auch Konflikte wie in Georgien oder der Ukraine zeigen, dass auch heute noch Russland sehr empfindlich reagiert. Je nachdem, welche Sichtweise man einnimmt.

Erika Fatland werdet dabei nicht, beobachtet nur und nimmt die eindrücke in sich auf. Zur Orientierungshilfe gibt es einen Kartenausschnitt für jede Reiseetappe, zwei Fototeile lockern den Bericht auf. Wieder einmal ist der Norwegerin ein ausgewogener Bericht über den aktuellen Zustand, diesmal über die Grenze zu Russland, gelungen, die mit gemischten Gefühlen betrachtet werden kann.

Je nachdem, wo man sich gerade befindet. Diesen Blick schärft die Autorin ungemein, scheut sich nicht kritisch zu hinterfragen, doch ist auch hier Politik das Eine, das alltägliche Leben etwas anderes. Das Bewusstsein dafür, wie Kultur und Geschichte, auch länger zurückliegende, Wirtschaft und Politik (dann wieder doch) zusammenhängen, gewinnt man nur durch solch einen Blickwinkel. Dies ist ihr gelungen. Für alle, die versuchen möchten zu verstehen, gleichzeitig entdecken und Hintergründe zur heutigen Situation Russlands und seiner Nachbarn ergründen möchten, eine empfehlenswerte Lektüre.

Autorin:
Erika Fatland wurde 1983 geboren und ist eine norwegische Journalistin und Autorin. Sie studierte Sozialanthropologie, spricht mehrere Sprachen und schreibt Reportagen und Artikel für zahlreiche Zeitungen und Magazine. Für ihren Reisebericht „Sowjetistan“ erhielt sie 2015 den norwegischen Buchhandelspreis, für die norwegische Ausgebe des vorliegenden Buches den Buchbloggerpreis 2018.

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Rüdiger Frank: Nordkorea – Innenansichten eines totalen Staates

Nordkorea - Innenansichten eines totalen Staates Book Cover
Nordkorea – Innenansichten eines totalen Staates Rüdiger Frank Pantheon Verlag Seiten: 461 Broschur ISBN: 978-3-570-55293-3

Inhalt:

Nordkorea und seine diktatorischen Machthaber aus der Kim-Familie werden gefürchtet und verlacht. Gefürchtet, weil das Regime mit Atomkrieg droht und die Bevölkerung im letzten staatssozialistischen System der Erde unterjocht. Verlacht, weil auf westliche Betrachte Rückständigkeit und Massenaufmärche vor allem kurios wirken. Aber das wird dem Land kaum gerecht.

Rüdiger Frank, einer der besten Kenner Nordkoreas, der regelmäßig dorthin reist, versucht in diesem Buch eine Annäherung an das abgeschottete Land, aus dem nur wenig verlässliche Nachrichten dringen. Aus seiner reichen Erfahrung heraus erklärt er Geschichte und Selbstverständnis, die Machtstrukturen und die seit einiger Zeit zu beobachtenden Änderungen im Alltag und in den wirtschaftlichen Verhätlnissen.

Und er wagt einen Ausblick auf die Frage einer möglichen Wiedervereinigung mit Südkorea. (Klappentext)

Rezension:
Nordkorea ist als kleines Land die große Unbekannte unter den Staaten Asiens. Über kaum ein Land dringt so wenig nach Außen, über kaum ein Land gibt es so wenige Informationen und wird so einseitig berichtet, wie dieses auf der koreanischen Halbinsel.

Doch, abseits von Halbwissen und Begrifflichkeiten wie der „Achse des Bösen“, wozu die Vereinigten Staaten das Land zählen, „Atomtests“ und „Hungersnöte“, fragt sich der westliche Beobachter, wie es den Land bis heute gelingt, zu existieren, während andere Länder mit ähnlichen Staatssystemen zusammenbrachen oder zumindest wirtschaftlich eine 180-Gradwende vollzogen, allen voran Nordkoreas großer Nachbar China.

Wie gelang es dem Regime sich trotz Hungersnöte und technologischen Rückstand zu halten? Wir alle haben die Satellitenbilder im Kopf, die ein dunkles Nordkorea zeigen, umgeben von durch Elektrizität hell erleuchteten Nachbarstaaten. Worauf baut der Staat auf? Welche Ideologien stecken dahinter und sind diese wirklich so starr, wie es scheint?

Oder durchlebt der Nachbar Südkoreas gerade eine Phase des langsamen, aber kontinuierlichen Umbruchs? Wie gestaltet sich die Gesellschaft Nordkoreas ihren Alltag? Gibt es ein Umdenken im Umgang mit den Regime und den Nachbarn?

Weshalb ist die Teilung Koreas und dem zu Folge eine mögliche Wiederveinigung nicht mit der Deutschlands zu vergleichen, auch wenn beide Staaten nach Berlin schauen und die Wiedervereinigung Fernziel für beide ist? Und, wo liegen die Fallstricke?

Rüdiger Frank, der beide koreanische Staaten vom Äußern und insbesondere vom Inneren her kennt, analysiert Korea und zeichnet das Bild eines Staates, welches mehr interessante Fragen bereithält, als dass es Fragen beantwortet.

Zu spannend ist es, zu beobachten, was derzeit in Nordkorea passiert, wenn es sich auch für den Beobachter, der jetzt nur die Beiträge aus den westlichen Medien kennt, selten so zu erkennen gibt. Man muss schon dorthin reisen und Kontakte in beide koreanische Staaten haben, um analysieren zu können und genau dies tut Frank in diesem Buch.

Zunächst beschäftigt sich der Autor mit der Geschichte Koreas, die in die Teilung von Außen heraus führte und folgend mit den ideologischen Überbau, der als erstaunlich wandlungs- und interpretationsfähig beschrieben wird. Sowohl von der staatlichen Seite als auch von der Bevölkerung selbst. Das politische System wird, soweit möglich, aufgegliedert und die wackelige Wirtschaft analysiert.

Der Autor beschreibt den Wandel Nordkoreas anhand von Reformversuchen des Regimes, zeigt, was funktioniert und was trotz Scheitern, etwa der Remormen 2002, trotzdem zurückbleibt und eines Tages helfen könnte, zu einem völligen Wandel beizutragen. Mit oder ohne den derzeitigen Machthabern.

Rüdiger Frank geht noch einen Schritt weiter und schildert die Rolle der Sonderwirtschaftszonen und die Rolle des derzeitigen Machthabers Kim-Jong-Un im staatlichen System Nordkoreas, sowie, wie Propaganda als Sonderweg zwischen Russland bzw. der ehemaligen Sowjetunion, China und den Erfeind USA funktioniert. Er wagt aber auch zugleich einen Blick in die Glaskugel, bezüglich Varianten einer Wiederveinigung beider koreanischen Staaten.

So gegliedert, ergibt sich ein ausgiebiges und detailliertes Standardwerk über die aktuelle Situation Nordkoreas und ein anderes Bild, abseits der üblichen Medien-Berichte, welches man unbedingt verinnerlichen sollte.

Rüdiger Frank zeigt auf, wo das Regime an sich selbst scheitert, aber auch, was funktioniert und welche roten Linien die internationale Staatengemeinschaft überdenken sollte, die sich zu sehr auf’s einseitige Handeln verlegt hat und damit alle Chancen der Annäherung verspielt, wenngleich Nordkorea nicht unschuldig daran ist.

Der Autor gibt einen sehr differenzierten und interessierten Einblick, der auf jeden Fall das Wissen über Nordkorea erweitert und dazu anstößt, sich eben nicht mit zweiminütigen Berichten in der Tagesschau zufrieden zu geben, sondern mehr zu erfahren.

In klarer und verständlicher Sprache zeichnet der Autor dieses Bild, dennoch verlangt das Lesen Konzentration ab, die man halten muss. Es ist kein Werk zum Nebenherlesen, aber so spannend beschrieben, wie Geschichte, Politik und Wirtschaft sonst nicht sein können. Dafür und für eine etwas klarerer Sicht auf ein, uns so unbekanntes, Land, lohnt sich die Lektüre.

Autor:
Rüdiger Frank wurde 1969 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Wirtschafts- und Ostasienwissenschaftler. 1991/92 verbrachte er ein einsemestriges Sprachstudium an der Kim-Il-Sung-Universität im nordkoreanischen Pjörnjang, finanziert vom Deutschen Akademischen Austauschdienst und studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Koreanistik, sowie Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen.

Später lehrte er in New York, wurde 2007 zum Professort für „East Asian Economy and Society“ an der Universität Wien ernannt und ist seit 2012 Vorstand des Instituts für Ostasienwissenschaften in Wien. In Seoul ist er als außerplanmäßiger Professor tätig und besucht beide Staaten regelmäßig. Er war Mitglied mehrerer EU-Delegationen und des World Economic Forum.

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