Kiepenheuer & Witsch

Die Frankfurter Buchmesse 2025

Auch in diesem Jahr stand ein Besuch der Frankfurter Buchmesse lange Zeit auf der Kippe, einfach aufgrund der Hotelkapazitäten einerseits, anderseits natürlich wegen der Kosten. Was nah am Messegelände dran ist oder auch nur in der Innenstadt sich befindet, kann man kaum bezahlen. Zu weit außerhalb möchte man aber auch nicht wohnen, zumal in einer Gegend, die man nicht kennt oder die vor allem abends nur schwer zu erreichen ist. Letztlich hatte ich aber eine Unterkunft gefunden und so hieß es auch in diesem Jahr wenigstens drei Tage Buchmesse in Frankfurt. Das Wochenende habe ich mir, alleine aus Kostengründen gespart.

Der Haupteingang der Frankfurter Buchmesse. (Quelle: Privatarchiv)

Mit der Deutschen Bahn ging es am Tag vor Messebeginn los und mit ein wenig Verspätung habe ich dann Frankfurt erreichen und in mein Hotel einchecken können. Das war eine größere Herausforderung, als die Bahnfahrt selbst, wenn man zig Türcodes braucht, um ins Innere der Unterkunft und seines Zimmers zu gelangen und das alles zu Beginn nicht so recht klappen möchte. Aber irgendwie hat es dann doch funktioniert. Nach einem kurzen Einkauf, ging es dann mit Freunden in die Innenstadt, um dort ein klein wenig zu essen und die Filmpremiere von „Stiller“ mitzuerleben, der Verfilmung des Romans von Max Frisch, unter der Regie von Stefan Haupt, der anschließend uns Zuschauenden für Fragen und ein Gespräch zur Verfügung stand. Wer Arthouse-Kino mag, wird dem Film sicher etwas abgewinnen können. Ich musste leider meinen Nacken nach diesem Abend wieder einrenken. in Kinosälen in der ersten Reihe zu sitzen, ist nie gut.

Der nächste Tag war dann auch gleich der erste auf dem Messegelände. Das habe ich ziemlich früh begonnen, um einige Fotos von leeren Gängen und unberührten Messeständen zu schießen. Die Atmosphäre, direkt vor einer solchen Messe, ist einfach schön. Natürlich ebenso, wenn sich die Hallen füllen und Leben dort hineinkommt. Das habe ich im Pavillon des Gastlandes erlebt. In diesem Jahr durften sich dort die Philippinen präsentieren, die mit zahlreichen Werken aufwarten konnten, die jetzt im Rahmen der Buchmesse auch vielfach übersetzt erscheinen. Vom Roman über Sachbuch, bis hin zur Graphic Novel ist da für jeden etwas dabei. Das Gastland hat sich mit viel Freundlichkeit, einigen Leseinseln und zwischendurch auch musikalischen Darbietungen präsentiert. Gelungener, als dies mit Italien im letzten Jahr der Fall gewesen ist.

Hauptsächlich in den Hallen 3.0 und 3.1 präsentierten sich die deutschsprachigen Verlage, die ich gleich zu Beginn abgegangen bin. Die Halle 1.2, in der sich New Adult und Romance präsentiert haben, habe ich aufgrund meines Lesegeschmacks und der zu erwarteten Menschenmengen, die am Wochenende noch einmal mehr sein würden, außer Acht gelassen. Alles für mich relevante spielte sich ohnehin in den beiden erstgenannten Hallen ab. Dort waren die großen Verlagsstände, zumindest meinem Gefühl nach, etwas besser verteilt, so dass sich dort punktuell alles Menschenmögliche konzentriert hat, man aber überall sonst gut durchgehen konnte. Ob das Konzept am Wochenende so auch aufgeht, ist eine andere Frage. Zu hoffen, wäre es. Gut war auch in diesem Jahr, dass es wieder eine extra Halle für das Signieren von Büchern gab. Auch das dürfte vor allem den Besuchenden am Wochenende zuträglich sein.

Nach einem Rundgang und ersten Begegnungen an Verlagsständen, ging es zu Kaleb Erdmann, der am Stand der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seinen Roman „Die Ausweichschule“ präsentiert hat, danach konnte ich auf der Leseinsel der Unabhängigen Verlage der Kurt-Wolff-Stiftung die Präsentation des Kinderbuchs „Ich war Eva Diamant“ lauschen, welches von der Illustratorin und der Verlegerin präsentiert wurde. Die Autorin Eva Szepesi konnte leider aus gesundheitlichen Gründen nicht mit dabei sein, aber der Ariella Verlag und die Illustratorin Stephanie Lunkewitz haben dies ganz toll gemacht. im Anschluss wurde bei RandomHouse das Sachbuch „Der Nahost-Komplex„, von Natalie Amiri vorgestellt und bei dtv habe ich per Zufall Ivar Leon Menger getroffen, der mir seinen neuen Thriller „Der Tower“ signiert hat.

Der erste Tag endete dann mit der Vorstellung des Sachbuchs „Der stille Krieg„, von Reinhard Bingener und Markus Wehner, sowie mit einem Bloggertreffen bei Wagenbach, dem Verlag für wildes Lesen, der Ausschnitte aus seinem kommenden Programm vorgestellt hat, sowie die Autorin Annekathrin Kohout ihr Sachbuch „Hyperaktiv“ über die Sozialen Medien und was diese mit uns machen.

Tag 2 gab für mich das Motto der gesamten Messe. Für mich waren es Tage der Begegnungen. Dabei fing dieser eine mit einer ganz normalen Lesung an, von Gabriel Zuchtriegel, der in einem Gespräch sein Sachbuch „Pompejis letzter Sommer“ vorgestellt hat. Anschließend habe ich weitere Lesungen geplant, doch bin dann am Stand vom Mirabilis-Verlag hängengeblieben, wo sich nach und nach eine lockere Runde an Büchermenschen und auch sonst gebildet hatte. Die Autorin Martina Berscheid war dort, ebenfalls Achim Kinter, Florian L. Arnold, der selbst seinen nebenan platzierten Verlagsstand der Edition Hibana betreute, sowie die Künstlerin Martina Altschäfer (und viele andere, die ich hier vergessen habe). Auch eine Redakteurin vom SWR hat sich dazu gesellt, die sich Inspiration für eine Sendung holen wollte. Mit vielen Anregungen und Ideen für neue Projekte war dieser Austausch schon da eines der Highlights der diesjährigen Messe.

Zum ersten Mal habe ich die, wohl obligatorischen, Messecrepes probiert, nachdem ich Ulli Lust über ihre mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2025 prämierte Graphic Novel „Die Frau als Mensch“ sprechen gehört habe, sowie Denis Scheck in einer Messeausgabe seiner Literatur-Sendung „Druckfrisch„, in der er einem Überblick über die seines erachtens derzeit lesenswerten Bücher gab. Ob das immer so hinhaut, lassen wir einmal dahingestellt sein. Für mich war ohnehin das nächste Gespräch am FAZ-Stand wichtiger, als der Historiker Götz Aly sein Werk „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933-1945“ vorgestellt hat. Ich konnte dieses mir im Anschluss signieren lassen. Auch habe ich am gleichen Tag die Autorin Isabel Bogdan und Laura De Weck getroffen, die in diesem Jahr die Jury-Vorsitzende für den Deutschen Buchpreis gewesen war.

Bei Tessloff konnte man am irgendwie obligatorischen Messe-Dino vorbeigehen, bevor es dann in direkter Nachbarschaft zu Dorling Kindersley (DK-Verlag) ging, welcher mich bisher eigentlich immer mit seinen großformatigen und toll illustrierten Sachbüchern und Bild-Lexika begeistern konnte. Dort gab es ein Blogger-Treffen und einen festlich geschmückten Weihnachtsbaum, unter den schön arrangiert die tollen Werke des Verlags lagen. Diesmal habe ich kein Buch mitgenommen. Diese Werke haben Gewicht, welches man sonst die gesamte Zeit über mit sich herumschleppen müsste. Am Ende des Abends oder der Nacht sollte ich für diese Entscheidung noch dankbar sein.

Der Tag endete mit einem Treffen unter dem Motto #bookmeetspizza, welches wieder von zahlreichen unabhängigen Indie-Verlagen des Netzwerks –Schöne Bücher– im Haus des Buches organisiert wurde. Ich war bei dieser Art von Begegnung zum zweiten Mal dabei und habe wieder einige Klein-Verlage kennenlernen dürfen, die mir so vorher noch nicht begegnet waren. Der Abend wurde dann auch lang und zog sich bis in die Nacht hinein, so dass einige von uns (auch ich) tüchtig Schwierigkeiten hatten, in ihre Unterkunft zu kommen. Es fuhr dann nämlich nichts mehr oder nur noch sehr wenig. S-Bahnen und U-Bahnen fielen aus, was zur Folge hatte, dass z. B. ich erst etwa halb zwei Uhr morgens in meiner Unterkunft ins Bett fallen konnte.

Mit entsprechend wenig Schlaf und etwas derangiert, was stark untertrieben ist, ging es am nächsten Morgen auf zum letzten Messetag. Am Freitag standen nur wenige Termine an, zum einem stellte Rowohlt sein kommendes Programm vor und Anna Prizkau („Frauen im Sanatorium„), sowie Kelly Mullen („Die Einladung„) ihre neuesten Werke, zum anderen gab es eine Art Werksgespräch über das Davor und Danach von „Für Polina“ mit Takis Würger bei Diogenes, die ebenfalls im Anschluss ihr anstehendes Programm vorstellten. Auch bei C.H. Beck habe ich mich über das kommende Programm ausgetauscht, sowie mich beim Topp Frech Verlag kurz vorstellen dürfen.

Und danach? Danach war für mich die Messezeit zu Ende, die ich mit vielen Eindrücken, tollen Begegnungen und zahlreichen Ideen verlassen konnte. Schwer bepackt ebenso, versteht sich von selbst. Ohne Bücher von solch einer Messe runter, geht ja auch nicht. Die Messe selbst fand ich insgesamt besser organisiert als in den vorherigen Jahren, wobei man die Messe-App einmal knicken kann, die teilweise nicht funktioniert und Dinge falsch und fehlerhaft angezeigt hat. Aber es war, trotz der Öffnung für Besuchende bereits am frühen Freitag, ein Durchkommen möglich (wie gesagt, die Halle New Adult und Romance kann ich nicht beurteilen, da mag es eventuell anders ausgesehen haben). Einzelne Engstellen konnte man durchaus umgehen. Einen Gang weiter sieht die Welt, auch auf der Messe, durchaus anders aus.

Am Samstag ging es dann für mich zurück in die Heimat. Mit der Bahn, die schon vor der Anreise die Zugbindung für die Rückfahrt aufgehoben hatte, aufgrund eines Schienenersatzverkehrs der zuerst zu nutzenden S-Bahn. So konnte ich auch einen ICE früher nehmen und war drei Stunden eher zu Hause als geplant. Einen Großteil des Mich-Sortierens und Auspackens konnte ich daher schon am Samstag übernehmen. Und jetzt? Jetzt folgt wohl der Messe-Blues.

Fotos stammen aus dem Privatarchiv.

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Die Leipziger Buchmesse 2025 – Tag 2

Der zweite Messetag begann mit einem Kaffee im Pressezentrum und Foto-Bombing. Die große Treppe in der Glashalle muss einmal pro Messe fotografiert werden. So will es das Gesetz. Da kann man schon mal anderen Buchbloggenden in die Quere kommen. Dann ging es zu S. Fischer, wo wir einfach die neuen Blogger-Betreuer kennenlernen wollten und zu einem Foto mit Thomas Mann auch nicht nein sagen konnten.

Die noch stille Treppe (Quelle: Privatarchiv)

Nein, nicht den echten Thomas. Eine Pappfigur und ein Bilderrahmen musste als Foto-Point herhalten. Eine tolle Idee, die jeden Tag für ein anderes Motiv genutzt werden konnte, soweit ich das aus den Augenwinkel sehen konnte. Aber ein Thomas Mann sticht halt vieles.

Dieses Jahr vielleicht nicht Kristine Bilkau, die mit ihrem Roman „Halbinsel“ in der Kategorie Belletristik den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Die erste Veranstaltung war ein Interview mit ihr, dem ich zuhören wollte, in dem aber die Moderatorin mehr gesprochen hat als Frau Bilkau selbst. Fand ich jetzt nicht gerade günstig, aber ich habe Kristine Bilkau am letzten Messetag nochmal in einem anderen Interview sehen dürfen.

Das Buch und die Preisträger der anderen Kategorien habe ich mir übrigens auch nach Hause geholt. Zwei Sachbücher darunter hat man jetzt auch nicht so häufig.

Danach stellte Viktor Remizov seinen Roman „Permafrost“ vor, der drei Familienschicksale in Sibirien verfolgt. Interessant, der Autor ist eigentlich Russe und lebt in Moskau, ist jedoch mit einer Italienerin verheiratet und hat selbst auch einen italienischen Pass, darf deshalb reisen und kann wohl um einiges freier agieren als andere Autoren, somit auch nicht betroffen von den derzeit noch immer aktiven Sanktionen. Finde ich spannend.

Die Moderatorin Julia Finkernagel stellte im Anschluss ihr Sachbuch „Reisefieber“ vor und Fußballer und Weltmeister Christoph Kramer auf einer Bloggerveranstaltung des Verlags seine Coming of Age Geschichte „Das Leben fing im Sommer an„. Er ist super sympathisch, einige Bookstagrammerinnen auf dieser Veranstaltungen waren es nicht. Teeniehafte kindische Fangirlfragen, die einigen von uns nur die Augen verdrehen haben lassen. Aber, alle wie sie wollen.

Auf einer nachfolgenden Lesung hatten die Illustratorin Bea Davis, die ihre Graphic Novel „Super Gau“ über die Katastrophe von Fukushima vorstellen wollte und ihr Moderator mit der Technik zu kämpfen, was aber nicht sonderlich schlimm gewesen ist. Am Stand von Carlsen hat sie viele ihrer Bücher signieren können und in jeder auch etwas hinein gezeichnet. So, dass dieses Motiv aussieht, als wäre es gedruckt und normal zum Buch gehört. Nicht nur ich fand das toll.

Vor dem nach der Messe folgenden Treffen im Pinguin gab es am Stand von Karl Rauch, dem Verlag des Kleinen Prinzen, ein Meet&Greet mit verschiedenen Autoren und Freunden des Verlags. Eine Signatur konnte ich mir von Mattia Insolia und Hanne Orstavik holen und ein paar Projekte und Ideen besprechen. Es sind auch solche Sachen, weswegen ich diese Messen liebe.

In Kürze folgt dann der Messebericht Tag 3.

Euer findo

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Yande Seck: Weiße Wolken

Inhalt:

Zwei Schwestern: Die eine arbeitet sich an sämtlichem Unrecht unserer Gegenwart ab, die andere am bürgerlichen Familienideal. Für die eine ist ihr Schwarzsein eine politische Kategorie, für die andere ihr Muttersein.

Dieo lebt mit ihrem Mann Simon und drei Söhnen in einem schönen Altbau im Frankfurter Nordend. Mit ihrem Therapeuten bespricht sie die Eskapaden ihrer exzentrischen Mutter und die ungerechte Verteilung von Mental Load in ihrer Beziehung. Derweil verzweifelt ihre jüngere Schwester zazie zunehmend an der rassistischen und sexistischen Gesellschaft. Ihre Wut trifft auch ihren Schwager Simon, der als mittelalter weißer Mann in der Techbranche für alles steht, was sie verachtet.

Als der Vater der Schwestern, ein eigensinniger Nietzsche-Fan, der vor über vierzig Jahren aus dem Senegal nach Deutschland kam, unerwartet stirbt, gerät das fragile Familiengefüge aus dem Gleichgewicht. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Im Spannungsfeld zahlreicher Themenbereiche bewegt sich der von der Autorin Yande Seck vorgelegte Debütroman „Weiße Wolken“, der beachtenswert versucht, verschiedenste Handlungsstränge miteinander zu verbinden. Doch, ist dies gelungen, zumal in einer solch kompakt gehaltenen Form?

Der Schreibstil ist zumindest schon mal eingängig und auch die Tonalität vor allem an den beiden, in der Erzählung, Raum einnehmenden Hauptfiguren eingepasst, die in ihrer ihnen eigenen Dynamik die Handlung vorantreiben und zugleich als Gegenparts zueinander dienen, die doch mehr miteinander verbindet.

In wechselnder Perspektive begleiten wir die Hauptprotagonisten, die sich in verschiedener Form an den Vorstellungen und Gedankengrenzen, zum einen der Gesellschaft, aber auch persönlicher Determinanten stoßen und dabei mehr und mehr unter Druck stehen.

Das beginnt bei der eigenen Familie, zieht sich weiter in verschiedener Ausprägung im beruflichen als auch öffentlichen Kontext, wobei auch das Geschwisterpaar selbst sehr verschieden zueinander ist. Die Nebenfiguren, von denen im Verlauf der Erzählung immer mehr auf das Tableau gebracht werden, bringen dabei eine ganz eigene Dynamik mit, die wiederum den Hauptfiguren ihre Ecken und Kanten geben.

Die Autorin scheut dabei nicht, mehrere Handlungsstränge und vielerlei gesellschaftliche Fragen im Spiegel ihrer Figuren zur Diskussion zu stellen, zudem in einer zugänglichen Tonalität, die dazu führt, dass man vielleicht nicht gleichwertig Sympathin für die Protagonistinnen entwickelt, jedoch ein gewisses Verständnis für Denken und Handeln, ohne dass dies auf Kosten des Leseflusses gehen würde.

Jedoch werden die einzelnen Stränge über die gesamte Strecke der Erzählungen nicht konsequent durchgehalten oder gar am Ende zusammengeführt. Bei Letzterem stellt sich das Gefühl ein, hierfür fehlte die Zeit, Dinge auszuformulieren. Vielleicht hätten es jedoch vorher auch ein paar hundert Seiten mehr sein können, um die Geschichte in all ihren Facetten abzurunden. Trotzdem natürlich sind die einzelnen Figuren greifbar und kann man sich die Schauplätze vorstellen, neben der Sprache eine der großen Stärken Yande Secks.

Die Schwächen der Erzählung sind dennoch sichtbar und kaum zu ignorieren. Ein paar Ausführungen mehr, auch die Ausgestaltung der einen oder anderen Nebenfigur hätte der Geschichte gut getan. Positiv daran, eine solche bietet sich an, fortgesetzt zu werden. Hier wäre ein Weiterschreiben wünschenswert, um genau dies auszugleichen. Wenn nicht, so darf man gespannt sein, wie sich das Schreiben der Autorin mit potenziell weiteren Roman entwickelt.

Der Roman ist eine Großstadterzählung, zugleich Familiengeschichte, die in der einen oder anderen Form mit all ihren Fragen zwischen den Figuren, durchaus vielen bekannt sein dürfte, zudem sehr viel Diskussionspotenzial bietet.

Yande Seck leistet damit gerade heute einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte und lässt überdies keinen Zweifel, welche Gedanken auch sie beschäftigen. In sofern darf man auf weitere Veröffentlichungen gespannt sein. Und vielleicht gelingt es dann, einerseits die Waage zwischen den Themen zu halten und auch Handlungsstränge nicht aus den Blick zu verlieren. Zu wünschen wäre es.

Autorin:

Yande Seck wurde 1986 in Heidelberg geboren und ist eine deutsche Schriftstellerin, Erziehungswissenschaftlerin und Kinderpsychotherapeutin. In Frankfurt promovierte sie zu Mutterschaft, Migration und Psychoanalyse und schoss dem 2015 eine Ausbildung zur Psychotherapeutin an, die sie 2019 abschloss. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in Offenbach. Seit 2019 ist sie zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt tätig. Ihr erster Roman erschien 2024.

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Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Inhalt:

Constanze zieht nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten in die Wohngemeinschaft von Jörg, Anke und Murat. Was zunächst als Übergangslösung gedacht war, entpuppt sich als zunehmend stabil. Da ist Jörg, dem die Wohnung gehört und der eine große Reise plant; Anke, die als mittelalte Schauspielerin kaum noch gebucht wird und plötzlich nicht mehr die einzige Frau in der WG ist; und Murat, der sich einfach keine Sorgen machen will und dessen Lebenslust auf die anderen mitreißend und manchmal auch enervierend wirkt.

Constanze sorgt als Neuankömmling dafür, dass sich die bisherige Tektonik gehörig verschiebt. Alle vier haben ihre eigenen Träume und Sehnsüchte und müssen sich irgendwann der Frage stellen, ob sie eine reine Zweck-WG sind oder doch die Wahlfamilie. (Klappentext)

Rezension:

Ein Kammerspiel zwischen zwei Buchdeckeln ist der neue Roman „Wohnverwandtschaften“ der Hamburger Autorin und Übersetzerin Isabel Bogdan, die nun einem Ein-Pfauen- und einem Ein-Personen-Stück der Dynamik von Vieren folgt und so eine kurzweilige Erzählung schafft, deren Figuren einem praktisch sofort ans Herz wachsen.

Sie alle haben sich zusammengefunden, grundverschieden, doch zusammen ist man weniger allein, das gilt in verschiedener Art und Weise für die Protagonisten, deren Leben wir über den Zeitraum von zwei Jahren verfolgen, aus derer Sicht abwechselnd erzählt wird. Schnell bekommen Anke, Constanze, Murat und Jörg ihre Konturen innerhalb derer ihnen zugeschriebenen Kapitel, die mal als innerer Monolog als auch Gespräch zwischen mehreren daher kommen, jede Figur dabei in ihrem ganz eigenen Duktus.

ANKE: Ehrlich gesagt: Du bist manchmal ein bisschen unempfindlich für so was. Ist dir schon mal aufgefallen, dass alle anderen die Klotür hinter sich zumachen? Und etwas anhaben, wenn sie nicht allein sind.
MURAT: Ich wohne hier!
ANKE: Aber doch nicht jetzt, um diese Zeit!
BEIDE lachen.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

In diese Art Erzählstruktur muss man erst hineinfinden, doch schnell gewinnt man Übersicht, kann sich diese Wohngemeinschaft vorstellen, in der jeder seine inneren Konflikte und Gedanken einbringt, Haarrisse zeigen sich schnell, doch dunkle aufziehende Wolken fordern erst schleichend, dann immer mehr die Konfrontation.

Doch noch bleiben? Ich will gar nicht so richtig nach Hause, ich will nicht Jörgs Verwirrtheit ertragen, ich will nicht so gereizt reagieren, wenn er zum hundertsten Mal irgendein Quatsch fragt. Hoffentlich geht das wieder weg, es ist jetzt schon ganz schön lange so.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Einzelne Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, mit zunehmender Seitenzahl verschärfen sie sich, was zugleich Auswirkungen auf das Erzähltempo hat. Der Konflikt der Gruppe ist glaubwürdig dargestellt, wird zum Handlungsgegenstand, um den sich alles dreht, könnte sich so reell abspielen. Man darf aber auch feststellen, dass Bogdans Figuren ein Glücksfall für das aufgebaute Szenario sind.

Eingebettet in der quirligen Hafenmetropole braucht es nicht viel, um mit dem Roman warm zu werden. Wer ein wenig sucht, findet jedoch Anspielungen aus Musik und Literatur oder aus dem ersten Buch Isabel Bogdans „Sachen machen“. Eine gewisse Band taucht da wieder auf. Ansonsten ist natürlich der Konflikt einer, wie er in vielen Familien irgendwann auftauchen dürfte. Wie hart aber, wenn es eine Gemeinschaft trifft, die man sich selbst erwählt hat? Es trifft mitten hinein ins Herz.

Aber bei Jörg ist was passiert, bei Jörg ist viel zu viel passiert, nur das Falsche, Jörg hat diesen riesigen Stein im Kopf, den man nicht ausgraben kann, es gibt keinen Spaten für die Versteinerung eines Gehirns, man muss doch irgendwas tun können? Irgendwas?

[…]

Wie soll das weitergehen?

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Das dröselt die Autorin feinfühlig auf, mitsamt einer Bandbreite vorstellbarer Reaktionen, wie sie in einer solch kompakt gehaltenen Erzählung möglich ist. Kein Wort ist dabei zu viel. Jeder Sprung, jede Lücke sind bewusst gesetzt, ergeben mitsamt der unterschiedlichen Figurenstile ein harmonisches stimmiges Bild.

Praktisch unmöglich, so gar keinen Zugang zu bekommen, gerade da es eine Thematik betrifft, die folgerichtig wie eindrücklich dargestellt wird, derer man bei einem selbst nahestehenden Personen (und wohl später auch bei sich selbst) zunächst nicht eingestehen möchte, dass sie problematisch ist.

Sie sind jetzt natürlich alle da, ich kenne die Gesichter, aber ich habe nicht alle Namen parat, […].

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Erkennt man es, ist es beinahe zu spät. Alle Tragik und Traurigkeit hat Isabel Bogdan hier hineingesteckt und doch ist „Wohnverwandtschaften“ ein lebensbejahender Roman und ein Appell, die gemeinsame Zeit, die man mit seinen Liebsten hat, zu genießen. Nicht nur deshalb lesenswert.

Autorin:
Isabel Bogdan wurde 1968 in Köln geboren und studierte nach dem Abitur Anglistik und Japanologie in Heidelberg und Tokyo. Mit ihrer Familie lebt sie in Hamburg und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin (u.a. Jonathan Safran Foer, Sophie Kinshalla und Megan Abbott), liest und schreibt selbst, hauptsächlich in Blogform aber auch in der Kolumne „Was machen die da?“, die Menschen beschreibt, die ihren gewöhnlichen und manchmal außergewöhnlichen Beruf leben und lieben. Ihre Romane „Der Pfau“ (2016) und „Laufen“ (2019) wurden verfilmt.

Sie ist Vorsitzende des Vereins zur Rettung des „anderthalb“ und erhielt 2006 den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzung, 2011 den für Literatur.

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Sabine Böhne-Di Leo: Die Erfindung der Bundesrepublik

Inhalt:

Im Sommer 1948 beauftragen US-Amerikaner, Briten und Franzosen die westdeutschen Politiker, eine Verfassung zu schreiben. Monate leidenschaftlicher Diskussionen beginnen. Während die Abgeordneten in Bonn um das Grundgesetz ringen, wollen die Sowjets mit der Berlin-Blockade die Gründung des westdeutschen Staates verhindern. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. (Klappentext)

Rezension:

1948. In London ringen die westlichen Siegermächte und die Benelux-Staaten darum, Grundlagen für die Beteiligung eines demokratischen Deutschlands an die Völkergemeinschaft zu schaffen, woraus nach zähen Diskussionen die sogenannten Frankfurter Dokumente hervorgehen. Eine Verfassung sollen die Deutschen schaffen, für einen zu gründenden Weststaat. Jenen, die die Grundlagen erarbeiten sollen, steckt das Nazi-Regime noch in den Knochen, zudem ziehen dunkle Wolken vom Osten her auf. Die Sowjets riegeln Westberlin ab. Die Überreste der in Trümmern liegenden Stadt können sich nur mit Hilfe der Amerikaner am Leben erhalten, die eine Luftbrücke errichten, um die Berliner Bevölkerung zu versorgen.

Politikern wie Adenauer ist klar, das Gegengewicht in Form eines westdeutschen Staates muss schnell geschaffen werden, zudem, ein zweites Weimar muss um jeden Preis vermieden werden. So ringen bald in Bonn, der Stadt am Rhein, 61 Väter und vier Mütter um eine Verfassung, die nicht so heißen soll. Noch gibt es Hoffnung. Den Weg zu einem einheitlichen Deutschland befürchten sich manche damit zu verbauen. Leidenschaftliche Diskussionen um die Zukunft Deutschlands beginnen. Die Journalistin Sabine Böhne-Di Leo erzählt von diesen Tagen.

„Die Erfindung der Bundesrepublik“ erzählt als hoch informatives Sachbuch sehr kompakt über ein Lehrstück von Demokratiegeschichte, die erstmals auf deutschen Boden einigermaßen beständig und von Dauer sein sollte. Dabei folgt die Autorin den Geschehnissen verschiedener Schauplätze, zum einem das Ringen zwischen den Großmächten, die einst im Krieg als Verbündete, sich langsam mit ihren weltanschaulichen Systemen diametral gegenüberstehen sahen, zum anderen, in Bonn, jene Landespolitiker, die nun die Grundlagen für das künftige Zusammenleben in Deutschland erarbeiten sollten.

Ereignisse, die gegenseitig Sand im Getriebe bilden und doch zu Reaktionen auffordern, zeigt die Autorin um welche Fragen gestritten wurden, schon damals ersichtlich, sich für die Zukunft herausschälende politische Konkurrenten. Aber auch die Strukturen des künftigen Deutschlands stehen zur Diskussion, von der Frage, ob die Todesstrafe beibehalten soll und ob die Gleichberechtigung der Frauen ins künftige Verfassungsdokument gehört oder doch separat geregelt werden muss. Kurzweilig schildert die Autorin die Lust am Meinungsstreit, das Zuspielen von Bällen, aber auch, wie kurz vor knapp gelang, was ein Jahr später in die Gründung der Bundesrepublik münden würde.

Was in heutiger Zeit wieder bedroht ist, gelang damals unter Vorlage verschiedener schon in der Welt vorhandenen Verfassungen mit ganz eigenen Komponenten. Immer wieder wird bei der Lektüre deutlich, wo damals, noch unwissend ob der künftigen Geschehnisse, Stellschrauben geschaffen wurden, um derer wir in vielen Ländern beneidet werden. Sabine Böhne-Di Leo macht deutlich, die Geschichte unseres Landes hätte auch anderes beginnen und damit auch verlaufen können, wenn die Vorzeichen nur ein wenig anders gesetzt worden wären. Ein Glücksfall, dass es so gekommen ist. Die Lektüre zeigt, die Geschichte seiner Entstehung ist so spannend, wie das Grundgesetz selbst.

Autorin:

Sabine Böhne-Die Leo wurde 1959 in Bochum geboren und ist eine deutsche Journalistin und Hochschulprofessorin. Sie studierte zunächst Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an den Universitäten Münster und Perugia und schloss das Studium 1985 ab. Nebenher arbeitete sie als staatlich geprüfte Italienisch-Übersetzerin für Polizei und Justiz. Nach journalistischen Anfängen bei der Münsterschen Zeitung, arbeitete sie im Journalistenbüro Kontur, sowie in Hamburg als freie Autorin für Zeitschriften und Magazine. 2009 wurde sie mit dem Deutschen Preis für Naturjournalismus ausgezeichnet, zudem wurde sie Professorin für den Studiengang Ressortjournalismus in Ansbach. Daneben baute sie eine Lehrredaktion auf und leitete diese zwölf Jahre lang.

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Max Richard Leßmann: Sylter Welle

Inhalt:
Ein allerletztes Mal wollen Oma Lore und Opa Ludwig ihren Lieblingsferienort Sylt besuchen, gemeinsam mit ihrem Enkel Max. Drei Tage. Zwei Generationen. Eine Insel. Und die Frage: Würden wir unsere Familienangehörigen auch lieben, wären sie nicht mit uns verwandt?
(Klappentext)


Rezension:

Wie wird es sein, der voraussichtlich letzte Urlaub, zusammen mit den Großeltern, zudem nach längerer Zeit des Nichtsehens? Verändert haben sollen sie sich, sagt sein Bruder zu ihm. Zum Guten oder zum Schlechten, haben sie abgebaut? Fordert das Alter von ihnen, die die Familie einst dominierten nun ihren Tribut?

Fragen, die zunächst unbeantwortet bleiben müssen, der Autor aber freut sich zunächst einmal auf das Zusammentreffen und die gemeinsamen Tage auf Sylt, mit Opa Ludwig und Oma Lore. Eine Reise, mit der er auf liebevolle, wie skurrile Momente zurückblicken wird.

Was macht es mit uns, wenn die die wir lieben, ihre Dominanz und Kraft verlieren, die, die wir einst von ihnen abhängig gewesen sind, nun die Rolle der Helfenden annehmen müssen? Max Richard Lehmann beschreibt mit „Sylter Welle“ den Moment, an dem dieser Punkt längst schon Faktum, die Schwere, diesen anzunehmen, aber immer noch vorhanden ist. Rückblicke helfen dabei, das Denken an liebevolle Gesten, aber auch Äußerungen, die man einmal als Kind hinnehmen musste, erst später einordnen konnte.

Es ist kein Roman, kein Sachbuch, auch keine Familienbiografie, die hier vorliegt, kein Buch, welches mit Melancholie und Schwere vollgesogen ist, wie die Apfelringe, die längst ihre Weichheit verloren haben und zusammen mit Zucker eine kompakte Masse ergeben, immer noch essbar.

Jede Zeile ist getränkt voller Liebe, eine Aneinanderreihung von Anekdoten, ruhig, besonnen, ohne Groll und nicht zu hart gegenüber der älteren Generation oder sich selbst. Max Richard Leßmann ist dabei ein genauer Beobachter, hält die im Strandkorb sitzende Oma Lore ebenso fest, wie die Marotten des Großvaters.

Der Urlaub als Punkt, gemeinsame Momente in den Erinnerungen abzuspeichern, bevor sie aus dem familiären Gedächtnis verschwinden. Bevor der Strandkorb sprichwörtlich abbrennt oder jemand der Angestellten merkt, dass sich statt der angemeldeten zwei noch ein dritter Gast im Hotelzimmer einquartiert hat. Unbezahlt natürlich.

Eine Hommage an die Großeltern, wie sie wohl viele von uns erbringen können, Kindheitserinnerungen kulminiert in Form von einer klebrigen Süßigkeit. Auch dazu gibt es wohl für uns lesend äquivalente Punkte. Eine Frage vielleicht bleibt am Ende. Für wen nun ist dieses Buch? Wahrscheinlich am allermeisten für den Autoren selbst. Und für andere, die ebenso eine Oma Lore und einen Opa Ludwig haben oder hatten.

Wer sind wir also ohne oder mit unseren Großeltern? Was macht das mit uns? Und mit ihnen? Manchmal ist ein Urlaub der perfekte Zeitpunkt, darüber zu reflektieren. Verpassen wir ihn nicht.

Autor:

Max Richard Leßmann wurde 1991 in Paderborn geboren und ist ein deutscher Sänger und Autor. Als Schüler gründete Leßmann zusammen mit Freunden eine Indie-Rock-Band, solo trat er erstmals 2017 in Erscheinung mit „Liebe in Zeiten der Follower“. Sein gleichnamiger Gedichtband erschien 2022 bei Kiepenheuer & Witsch. Leßmann lebt in Berlin, betreibt zusammen mit seiner Frau einen Podcast und schreibt zudem Songtexte für u. a. Ina Müller und der Band Madsen.

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Fatih Cevikkollu: Kartonwand

Inhalt:

Sie steht symbolisch für den Traum vom baldigen Glück in der Heimat: eine ganze Wand aus Kartons, in denen alles verstaut wird, was schön und wertvoll ist – für das spätere Leben in der Türkei. Was macht es mit Menschen, wenn sie irgendwann merken: der Traum zurückzukehren hat sich nicht erfüllt? Und das neue Zuhause möchte einen lieber heute als morgen loswerden, egal, wie lange man schon hier lebt und wie sehr man sich auch anstrengt?

Fatih Cevikkollu erzählt von den generationsübergreifenden Wunden, die die Arbeitsmigration gerissen hat, und gibt so einer bisher übersehenen Gruppe eine Stimme: die der sogenannten „Gastarbeiter“ und ihrer Familien. (Klappentext)

Rezension:

In einer Mischung aus Familiengeschichte, Biografie, Bericht und Zustandsbeschreibung sucht der Theater- und Fernsehschauspieler Fatih Cevikkollu Antworten auf drängende Fragen, die sich für ihn spätestens seit dem Tod seiner Mutter, hintergründig jedoch schon viel eher gestellt hatten. Wo liegen Ursachen und auslösende Momente der Psychose, die sie ins Unglück stürzten und an denen die Familie augenscheinlich zerbrach und wie weit reichen die Geschehnisse, so sie es tun, in das Tun und Wirken seiner, d. h. der nachfolgenden Generation hinein?

Die Eltern gehören zur ersten Generation der sogenannten Arbeitsmigranten, die in den 1960er Jahren im Rahmen des Abwerbeabkommens mit der Türkei nach Deutschland kamen und so einen bedeuteten Anteil zum Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit beitrugen. Gedankt wurde es ihnen nicht. Der deutsche Staat nicht gewillt, herkommende Menschen zu integrieren, macht es ihnen bis heute nicht leicht, die Gesellschaft ebenso wenig, auch in der ursprünglichen Heimat war später kaum ein Anknüpfen möglich. Und so blieb diese Generation entwurzelt ohne neue Wurzeln schlagen zu können. Dies hatte, ebenso auf sie wie auf die Kinder ihren Einfluss.

Fatih Cevikkollu begibt sich auf die siche, spürt der eigenen Familiengeschichte nach und analysiert zunächst die geschichtlichen Grundlagen und Ausgangsvoraussetzungen, auf die der neue deutsche Staat nach Kriegsende fußte und welche Überlegungen seitens Politik und Gesellschaft den Anwerbeabkommen vorausgingen. Darauf aufbauend nimmt er die eigene Familiengeschichte in Bezug. Lassen sich so seine drängensten Fragen klären? Wie weit gelten sie?

Für die Familie, für die Mutter, die eigentlich psychologischer Hilfe bedurft hätte, aber nie Zugang dazu bekam. Zugleich sachlich und einfühlsam analysiert er in kompakter Form diese Punkte und setzt sie zueinander in Bezug. Anhand von persönlich Erlebten, ob von Familienmitgliedern erzählt oder aus der eigenen Erinnerung heraus, wird das Erzählte verdeutlicht und gibt so einen Einblick in eine Thematik, die bisher kaum registriert wurden ist. Dabei kennt man die Grundproblematik durchaus, in Bezug auf die nachfolgenden Generationen der Überlebenden des Holocausts und der Frage, warum habe ich überlebt? Abgesehen von der Fragestellung ist die Frage, in wie weit Traumata in nachfolgende Generationen hineinreichen, die gleiche.

Der Autor hat sich in „Kartonwand“ ein wichtiges Stück der jüngeren Zeitgeschichte vorgenommen, deren Riss sich durch viele Familien in Deutschland und der Türkei zieht und ihre Spuren hinterlassen hat. Von der Ausgangssituation folgen wir seinen Ausführungen über die erste Generation der Migranten bis ins heute zu einem Zeitpunkt, in der deren Kinder längst erwachsen sind und als Folge ihren Platz in der Gesellschaft suchen müssen, was ihnen immernoch erschwert wird.

Wie viel können Menschen aushalten, denen übergreifend immer wieder verdeutlicht wird, dass kein Platz für sie vorgesehen ist. Cevikkollu möchte verstehen, jedoch auch die Aufmerksamkeit schaffen, am Beispiel seiner Familie, welche seelichen Wunden da geschaffen wurden und dass unsere Gesellschaft dies verstehen und danach handeln muss. Zwischen den Zeilen ist berechtigt zu lesen, hier kommt ein Land schlicht und einfach einer Fürsorgepflicht gegenüber denen nach, die alles Recht dazu hätten, dies einzufordern, auch rückwirkend, zumal wenn man sieht, dass es eben doch bei zahlreichen Beispielen funktioniert, wie man z. B. an den ukrainischen Flüchtlingen sieht. Da wurde viel richtig gemacht. Warum nicht so, von Anfang an.

Dies wird nur kurz angesprochen, dem Autoren liegt es fern, Menschen gegeneinander auszuspielen, aber er möchte verdeutlichen und zieht Vergleiche, um zu veranschaulichen. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass er nicht auf Allgemeingültigkeit besteht, sich vor allem auf das Schicksal seiner Mutter und Familie beschränkt und stetig versucht, diesen Fokus aufrechtzuerhalten, um sich so auch viele Gegebenheiten aus seiner Kindheit im Nachhinein zu erklären.

Die detailreiche familienbiografische Analyse, die sich nicht so trocken liest, wie das klingen mag, lässt einem fassungslos zurück, zudem wenn man weiß, wie ein Land und seine Gesellschaft den gleichen Fehler mehrfach begehtm, bis heute. Ausnahmen, siehe oben. „Kartonwand“ regt zum Nachdenken an und schafft Grundlage, nicht nur anhand dieser Familiengeschichte etwas aufzuarbeiten, worüber bisher überwiegend geschwiegen wurde. Von beiden Seiten.

In sofern ist dies ein wichtiger, dennoch kurzweilig formulierter, Text, sowohl für Betroffene, vielleicht als Anlass ebenfalls die eigene Familiengeschichte zu verstehen, andererseits die Stimme zu erheben und für die Gesellschaft sollte es ein wichtiger Denkanstoß sein. Vielleicht lassen sich so auch Handlungs- und Denkweisen bestimmter Gruppen nachvollziehen, um künftig Ursachen, die sich so auswirken, gleich aus den Weg räumen. Wenn der Autor mit der Geschichte seiner Familie dazu einen Anstoß gegeben hat, hat er mit „Kartonwand“ etwas erreicht.

Autor:

Fatih Cevikkollu wurde 1972 in Köln geboren und ist ein deutscher Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und Kabarettist. Er arbeitete zunächst als Theaterschauspieler, bevor er an der Hochschule Ernst Busch in Berlin studierte und ans Düsseldorfer Schauspielhaus ging.

Später übernahm er eine Rolle in der Fernsehserie „Alles Atze“, spielte auch verschiedene Film- und Fernsehrollen. Seit Mitte der 1990er Jahre war er zudem Mitglied der Hip-Hop-Gruppe Shakkah. 2006 bekam er den Jurypreis Prix Pantheon und 2008 folgte die Veröffentlichung seines ersten Buches, dem weitere folgten. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.

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Die Frankfurter Buchmesse 2023

Der Innenhof, die Aurora, der Frankfurter Messe. Blick auf die Hallen 3.0 und 3.1. (Quelle: Privatarchiv)

Im vergangenen Jahr stand die Buchmesse in Leipzig einige Wochen lang auf der Kippe und so hatte ich mich ziemlich schnell entschlossen, für beide Termine Urlaub zu nehmen, damit ich im schlechtesten Falle zumindest eine Buchmesse gehabt hätte. Sicher war ich mir nur, dass zumindest Frankfurt als Messe für den großen Lizenz- und Rechtehandel nicht gecancelt werden würde, Leipzig als Lesemesse für das Gefühl schon eher. Dass es anders kam und wieder zwei große Buchmessen stattfinden konnten, die eine mit einer vorausschauenden Verlegung in den April hinein, ist großartig. So habe ich beide Messen mitnehmen können. Die vergangene in Frankfurt war zudem für mich eine Premiere.

Angereist bin ich den Tag vor Messebeginn, was sich schon für Leipzig bewärt hat und hier ebenso gut funktionierte. Die Bahn war sogar pünktlich, was ja auch nicht immer selbstverständlich ist. So ging es entspannt zur Pension und ebenso gemütlich am nächsten Tage zum Messegelände, welches in den ersten zweieinhalb Tagen bereits für das Fachpublikum seine Tore geöffnet hatte. Erkenntnis zu Beginn, wer bisher nur die Leipziger Buchmesse gewohnt ist, ist mit dem Pendant in Frankfurt zunächst einmal heillos überfordert. Lange Gänge, sehr viele Hallen mit mehreren Etagen. So verteilten sich die deutschen Verlage beispielsweise auf die Hallen 3.0 und 3.1. Gut, dass ich einen Messeplan hatte und mir aufgeschrieben hatte, wo welche Veranstaltungen, die mich interessieren, stattfinden würden. Die Möglichkeit einer App gab es auch, welche ich sehr gut strukturiert finde, aber da ich meinem alten Smartphone, der Leistunsgfähigkeit des WLAN auf dem Messegelände nicht über den Weg traue, hatte ich mir vorab Notizen gemacht. Trotzdem habe ich natürlich anfangs immer wieder auf den Plan schauen müssen. Wo bin ich und wo muss ich hin?

Sich zu verirren hat man aber in den ersten Tagen noch gekonnt. An jenen für Fachbesucher ist einfach noch nicht so viel los und so konnte man gut zwischend en Gängen und Hallen wandeln, was am Besucher-Wochenende so einfach nicht mehr möglich war. Bahne dir einmal einen Weg an den Schlangen von Strobel und anderer Autoren vorbei, zumal wenn alle großen Publikumsverlage auf einer Ebene platziert wurden, was wohl intern auch ein wenig für Unmut gesorgt hat.

Noch war aber nicht Wochenende, so dass ich nach und nach ganz entspannt an den Ständen schauen und mit Verlagsmitarbeitenden sprechen konnten, sofern diese einmal greifbar waren, was bei denen naturgemäß auch nicht oft der Fall ist, zumal wenn die Terminkalender, dies ist einfach in Frankfurt so, eng getaktet ist. Trotzdem kamen im Laufe der Tage wunderbare Gespräche zustande, vor allem an den Ständen kleiner unabhängiger und mittelgroßer Verlage, während es bei den größeren manchmal beiderseits nur für die Übergabe der Visitenkarte reichen musste. Das ist aber in Ordnung so und auch eingeplant, wenn auch sich einige nicht ganz so zugänglich zeigten, aus verschiedenen Gründen heraus. Vielleicht muss man sich auch einfach in solch eine Messe eingrooven. So ging es mir anfangs zumindest.

Auch während der Fachbesucher-Tage fanden bereits Lesungen statt, deren Aufzeichnung jetzt sicher in den Mediatheklen diverser Fernseh- und Rundfunksender, auf Youtube und bei diversen Zeitungen zu finden sein dürften. Davon habe ich einige mitnehmen können, so hat Tobias Lehmkuhl etwa sein Sachbuch „Der doppelte Erich – Kästner und das Dritte Reich“ vorstellen können oder Nilufar Karkhiran Khozani ihren Roman „Terafik“. Im Verlauf der Tage gab es noch mehr Lesungen und Gesprächsrunden, denen ich lauschen konnte, etwa Deborah Feldman mit ihrem Buch „Judenfetisch“ oder „Meine Mutter hätte es Krieg genannt“. So heißt das Sachbuch von Tochter Vera über ihre Mutter Anna Politkowskaja.

Dazwischen Autoren und Autorinnen wie Ewald Frie, der vor kurzem den Deutschen Sachbuchpreis erhalten hatte oder Tonio Schachinger mit seinem Roman „Echtzeithalter“, welcher mit dem Deutschen Buchpreis 2023 ausgezeichnet wurde, aber auch Autoren wie Andrej Karkow, Joachim B. Schmidt oder Isabel Schayani waren zugegen, mit Themen und Werken, die in der einen oder anderen Form hier noch auftauchen werden. Überhaupt dominierten für mich einzelne Länderschwerpunkte, wie man sich halt Lesungen und Gesprächsrunden vorher heraussucht, wenn man nicht nur ohne Plan durch die Hallen schlendern möchte. Eine dieser war dem Gastland vorbehalten, welches sich mit der dichtesten Dichte an Dichtern rühmt. Slowenien. Zumindest kurz hatte ich Zeit, mir deren schön gestaltete Räumlichkeiten auch anzusehen.

Egal ob jetzt Frankfurt oder, wie sonst immer Leipzig, solche Buchmessen nutze ich gerne zur Ideensammlung. Dabei hilft sicherlich auch die eine oder andere Veranstaltung, sei es am Stand des Karl Rauch Verlags, der dieses Jahr sein hundertjähriges Bestehen feiert, bei Mirabilis oder auch bei den ganz großen, die zu Blogger-Empfängen geladen hatten, wie etwa S. Fischer, Kiepenheuer & Witsch zusammen mit Diogenes oder auch der Sachbuchverlag Dorling Kindersley. Der weiß nicht nur wunderschöne und informative Lexika herauszugeben, sondern auch giftblaue Cocktails zu servieren.

Ab Freitagnachmittag wurde es dann voll. Voller. Am Vollsten. Und das blieb dann auch so die restliche Zeit, als auch endlich das Lesepublikum in die Hallen gelassen wurde. An großen Publikumsverlagen war dann schlicht und einfach sehr schnell ein Vorbeikommen nicht mehr möglich, zumal wenn noch Signierstunden an den Ständen durchgeführt wurden. Da darf mann dann schon fragen, warum zumindest für die deutschsprachigen Verlage nicht noch eine zusätzliche Halle geplant wurde. Das hätte vielleicht schon ausgereicht. Für einige Autor:innen gab es ja zudem einen extra platzierten Signierbereich, für den man sich ein Zeitslot buchen konnte.

Kein Durchkommen mehr an den Besuchertagen. (Quelle: Privatarchiv)

Das setzt zwar einerseits voraus, dass die Verlage das auch kommunizieren, dass es einen solchen braucht, andererseits jene, die ein Zeitfenster ergattern konnten, mussten so auch nicht ewig und drei Tage Schlange stehen. Zu diesem Zeitpunkt selbst war natürlich kein Zeitslot mehr zu bekommen. Ein kleiner Junge hatte dennoch Glück und erwischte die Autorin seines Buchs, direkt nach der Signierstunde am Ausgang des Bereichs. Ich konnte mein Buch einer netten Dame übergeben, die ein Ticket zuvor ergattert hatte und so dies für mich signieren lassen konnte. So habe ich jetzt ein Autogramm von MinaLima. Und wenn die Messe dann so endet, mit der Erkenntnis, dass es immernoch, in all dem Trubel der so um einen herum passiert, gute Menschen gibt, ist das doch eine schöne Erkenntnis abseits dort durchaus ernst diskutierter Themen.

Für mich ziehe ich ein insgesamt doch positives Fazit von der Messe, nicht nur wegen der interessant zu verfolgenden Lesungen und Gespräche, trotz ein paar irritierender Gesprächswechsel. Die meisten waren großartig. Viele Menschen durfte ich kennenlernen, wieder treffen und mich austauschen, ebenso zahlreiche Ideen für kleine und größere Projekte sammeln, so dass ich nicht ausschließen möchte, künftig neben Leipzig regulär auch Frankfurt erneut zu besuchen. Wenn es die Unterkunftspreise zulassen. Dann aber vielleicht nur an den Fachbesuchertagen. Die Besuchertage kollidieren, meinem Gefühl nach, mit dem Konzept und der daraus folgenden Planung der Messe. Und das wird dann sehr schnell einfach nur noch viel zu viel.

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Lena Gilhaus: Verschickungskinder

Inhalt:

Über 15 Millionen Mal wurden Kinder in der BRD und der DDR seit 1945 zur Kur geschickt. Für viele von ihnen waren diese Wochen prägend – und danach haben sie kaum darüber geredet. Wie haben sie diese Zeit erlebt? Wer hat sie dort betreut? Was haben sie davon mitgenommen? Und welche Tiefenwirkungen hatte das für die Gesellschaft der Nachkriegszeit? (Klappentext)

Rezension:

Ein Gefühl der Unsicherheit und Beklemmung beschleichen dem Vater von Lena Gilhaus, der sich zusammen mit seiner Schwester und Tochter aufmacht, um die Spuren weniger Wochen auszumachen, die sein Leben im Unterbewusstsein für immer verändert haben. Auf Sylt waren die Geschwister in ihrer Kindheit auf Kur, von den Eltern getrennt. Danach sollte nichts mehr so sein, wie zuvor. Über die Reise und Recherche veröffentlichte die Autorin kurz darauf einen Artikel und brachte damit eine Lawine ins Rollen. Lena Gilhaus stieß auf immer mehr Geschichten von Menschen, die sich bei ihr meldeten oder in Foren sich selbst auf Spurensuche begeben hatten und auf Mauern des Schweigens stießen. Das nun vorliegende Werk erzählt die Geschichte einiger von ihnen.

Unter den Deckmantel von Gesundheitsprävention und Erholungskuren wurden Schätzungen zufolge bis zu 15 Millionen Kinder wochenlang ihren Familien entnommen, in die Berge oder ans Meer geschickt, doch war der systemische Eingriff behördlicher Institutionen nichts anderes als die Kontrolle über Kinder aus milieugefährdeten Familien oder solcher, die man dafür hielt. Bis hinein in die 1980er Jahre sahen sich schon Kleinstkinder mit einem in der Gesellschaft verwurzelten System schwarzer Pädagogik konfrontiert, welches sich seit Weimarer Zeit etabliert hatte, sich jedweder Kontrolle entzog und sich nur langsam wandelte.

Wenige haben diese Wochen positiv in Erinnerung. Zu sehr bestimmten fernab der eltern physisische und psychische Gewalt den Alltag in oftmals maroden, unterfinanzierten Einrichtungen, in denen Personalmangel und veraltete Ansichten nicht nur zu Zwangsernährung oder Isolation führen konnten. Auch zu Missbrauchs- und Todesfällen kam es, über die Verbände und Behörden nur allzu oft einen Mantel des Schweigens legten.

Wie konnte sich ein solches System so viele Jahre in beiden deutschen Staaten halten? Woraus ist es entstanden? Welche Leitlinien folgten Heimleitungen, Behörden und Vereine, denen die Einrichtungen unterstanden? Warum begann der Prozess der Aufarbeitung erst so viel später und steht immernoch am Beginn? Diese und andere Fragen zu beantworten, Geschichten aufzuspüren und für Klarheit zu sorgen, begibt sich seit einigen Jahren die Journalistin Lena Gilhaus auf Spurensuche, nicht zuletzt, um auch für ihren Vater ein Stück Klarheit zu erwirken.

Entlang von Berichten Betroffener, im persönlichen Interview und noch viel zu seltener Akteneinsichten spürt sie der Geschichte der Kinderverschickung auf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg beginnt, unter Kontrolle und anderen Vorzeichen im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreicht und dann, teils mit den gleichen Akteuren unter anderen Namen von Beginn der Nachkriegszeit an fortgeführt wird? Welchen Nutzen hatte dies für Behörden und eingebundenen Vereinen? Welche Folgen trugen Betroffene davon?

Die Journalistin berichtet im vorliegenden Sachbuch von Institutionen, die heute nichts mehr von ihrer dunklen Vergangenheit wissen möchten, verweigerten Zugang zu Archiven und die tiefenpsychologische Wirkung von Verarbeitungsprozessen, die so keinen Abschluss finden werden, stellt das System der Verschickung jedoch auch im Kontext der jeweiligen Zeit dar, in dem sie geschah. Lena Gilhaus erzählt von einfühlsamen Gesprächen und einer Spurensuche auf schwierigen Pfaden.

Was macht es mit den Menschen, teilweise ohne die Gründe dafür zu kennen, schon im Kleinkindalter von Eltern und Verwandten für Wochen getrennt zu werden, um dann einen vollkommenen Bruch zu erleben, der an Gewalt oder Empathielosigkeit kaum zu überbieten ist? Weshalb griffen nach Bekanntwerden einiger Missstände weder Behörden noch, viel wichtiger, zahlreiche Eltern nicht ein? Wie steht es um das System der Kinderkuren heute? Welchen Wandel hat es durchlaufen?

In kleinteiliger und mühevoller Recherche voller Hindernisse stellt Gilhaus ein dunkles, kaum bekanntes Kapitel deutscher Geschichte detailliert dar und verdeutlicht dies anhand des Parallstranges der Erlebnisse ihres Vaters, sowie immer wieder eingewoben, den Berichten anderer Betroffener aus West und Ost. Welche Unterschiede gab es, welche Gemeinsamkeiten? Wer waren die Akteure?

Die Autorin verleiht den ehemaligen Verschickungskindern ihre Stimme, bleibt trotz der Emotionalität der Thematik sehr sachlich, ohne dass die Darstellung zu trocken wäre. Dazu ist diese zu erschreckend, zu wichtig. Klar ist jedoch auch, dass dieses Sachbuch nur der Anfang einer gesellschaftlichen Diskussion, sofern heute noch aktive oder die Nachfolgeinstitutionen der Verschickung sich bedeckt und ihre Archive geschlossen halten. Eine Auseinandersetzung ist längst überfällig. Dies ist ihr sehr wichtiger Beginn.

Autorin:

Lena Gilhaus, geboren 1985, studierte Politikwissenschaften in Greifswald und Bonn. Sie lebt seit 2009 in Köln als freie Radio- und Fernsehautorin für Wellen der ARD, meist den WDR und Deutschlandradio. Ihre DLF-Radioreportage „Albtraum Kinderkur“ wurde 2017 vom Grimme Institut unter die drei besten Reportagen für den Deutschen Radiopreis 2017 gewählt. 2022 gehörte ihr Folgebeitrag „Trauma Kinderverschickung – Das lange Schweigen der Politik“ zu den Nominierten für den Alternativen Medienpreis 2022 in der Kategorie „Geschichte“.

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Rudolph Herzog: Heil Hitler, das Schwein ist tot!

Inhalt:

Natürlich wurde auch im Dritten Reich gelacht – aber anders als heute. Vom diffamierenden Witz der Nazis über die eher harmlosen Flüsterwitze bis zum bitteren Spott der Verfolgten: Rudolph Herzog beleuchtet alle Bereiche des Lebens unter Hitler. dadurch kommt er ungewöhnlich nah an das, was die Menschen wirklich dachten, was sie ärgerte, was sie zum Lachen brachte; auch an das, was sie wussten und was sie geflissentlich ausblendeten.

Die Reaktion der Staatsgewalt wiederum, die die Witze sehr genau registrierte und sich dadurch herausgefordert fühlte, zeigte, was die Machthaber fürchteten. Die Analyse des Humors im Nationalsozialismus gibt einen tiefen Einblick in die wahren Befindlichkeiten der sogenannten Volksgemeinschaft. (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Heil Hitler, das Schwein ist tot!, so lautet die Pointe eines politischen Witzes, der hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand erzählt wurde, als sich das Kriegsglück der Deutschen gewendet hatte und es abzusehen war, dass die Katastrophe unweigerlich gen Abrgund führen würde. Doch, bereits als die Nazis die Macht erlangten, kursierte der Spott über die neuen politischen Figuren, anfangs noch gestützt, etwa durch die veritable Kabarettszene, die noch aus den Zeiten der Weimarer Republik stammte, deren Vorstellungen und System. Da war die Zeit schon nicht mehr fern, in der das Lachen tödlich werden konnte.

War es das jedoch immer? Nein, sagt der Autor Rudolph Herzog und analysiert die Entwicklung des Humors im Dritten Reich, begonnen bei den politischen Witzen, die unter der Bevölkerung kursierten, bis hin zu Kleinkunstszene, die schon bald mit den Rücken zur Wand stand, nicht zu sprechen von Schauspielenden, an denen nicht selten Exempel statuiert wurden.

Zu Todesurteilen kam es erst in den letzten Kriegsjahren vermehrt. Beim einfachen Volk zumindest, drückten die Organe des NS-Apparats bis dahin oft mehrere Augen zu und ließ ihnen dieses Ventil. Doch zeigt sich hier auch, dass selbst Wohlwollende oft genug so viel wussten, um zu wissen, dass sie nicht mehr wissen wollten. Auch die Opfer der NS-Ideologie entwickelten ihren ganz eigenen Humor, um die Situation, Diskriminierung und Ausgrenzung mit all ihren tödlichen Folgen, derer sie ausgesetzt, irgendwie noch ertragen zu können. Der Autor skizziert anhand einiger ausgewählter Witze, wie genau sich der politische Humor zu allen Seiten hin entwickelte und wie das Willkür-System des NS-Regimes darauf reagierte.

Dabei entstanden ist keine Witze-Sammlung im engeren Sinne, sondern eine Analyse der Entwicklung eines Aspekts dieser Gesellschaft. Wie sah der Spott über einzelne Führungspersonen der obersten Machtriege aus, wie entwickelte sich Humor in Anbetracht alltäglicher Missstände und nicht zuletzt des Grauens, welches über allem schwebte.

Wie veränderte sich der humoristische Blick der Allierten, an wen wurden Exempel statuiert und warum erhielten für den gleichen Witz Erzählende „nur“ Verwarnungen, andere die Todesstrafe? Was entgegneten die Machthaber dem Satire-Programm innerhalb der deutschen Rundfunksendungen der BBC? Wie wurde Humor, oder was man davon hielt, seitens des NS-Regimes eingesetzt, um eine menschenverachtende Ideologie durchzudrücken? Gab es Humor und Witz auch im KZ? Nicht zuletzt, darf man heute über Hitler lachen?

Charlie Chaplin hat, nachdem das ganze Ausmaß der Schrecken von Auschwitz bekannt geworden war, später in einem Interview gesagt, hätte er davon gewusst, hätte er seinen Film „Der große Diktator“ nie gedreht. Heute gibt es eine Fülle von Werken, die sich der Thematik humoristisch annähern. Aus der Zeit einstweilen, bleiben nur die Witze, die hinter mehr oder weniger vorgehaltenen Händen erzählt wurden. Ihre Entwicklung stellt der Autor dar, fragt, wie entstand der politische Humor überhaupt? Worauf lag der Fokus während der einzelnen Phasen des NS-Regimes und welche Gruppen reagierten mit welcher Art von Witz? Wie wurde auf den politischen Witz reagiert?

An manchen Stellen wirkt die Analyse mitunter sehr trocken. Im Kontext mit den Beschreibungen des Alltags ergibt sich jedoch ein gut fassbares Gesamtbild, welches sich lohnt, zu durchdenken. Rudolph Herzog stellt gekonnt Ursache und Wirkung zueinander dar, zeigt, dass die Mächtigen die politischen Witze und die Reaktionen darauf genau registrierten, eigener Humor entweder für Grausames missbraucht wurde oder komplett sein Ziel verfehlte. Wer mal ab von den üblichen Sammlungen auch den politischen Witz im Dritten Reich, in einen Kontext gestellt sehen möchte, macht mit diesem Werk nichts falsch.

Autor:

Rudolph Herzog wurde 1973 geboren und is ein deutscher Autor und Reggisseur. Bekannt wurde er international durch die Serie „The Heist“, die 2004 ausgestrahlt wurde, zudem drehte er mehrere Dokumentarfilme für verschiedene Fernsehsender. Er ist Verfasser mehrerer Werke, wie dem Erzählband „Truggestalten“, welcher 2017 erschien.

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