Inhalt: Marseille im Sommer 1940: Am Rande Europas versammeln sich die von den Nazis Verfolgten und Bedrohten. Sie hetzen nach Visa, Bescheinigungen und Stempeln, um nach Übersee ins rettende Exil zu entkommen. Im Chaos der stadt, in den Cafes, auf dem Gang von Behörde zu Behörde kreuzen sich ihre Wege – und für kurze Zeit sind fremde Leben durch Hoffnungen, Träume und Leidenschaften miteinander verbunden. (Klappentext)
Rezension: Gegenübersitzend in einer Pizzeria entfaltet der Ich-Erzähler seine Geschichte und all jener, denen er auf seinen Wegen durch die quirlige Hafenstadt begegnet ist. Alles drängt dort Richtung Hafen. Nur raus aus Europa, sich in Sicherheit bringen vor den Nazis, die Europa längst ins Unglück gestürzt haben. Nicht einmal hier, in Marseille kann man aufatmen, denn bleiben darf nur, wer auch gehen darf.
Gehen darf nur, wer Visa, Transitvisa und Billets beisammen hat. Doch die Wege sind lang zwischen Botschaften und Behörden, zumal zwischen den Kontinenten, ein zermürbender Kraftakt und doch Antrieb aller Anwesenden. In Anna Seghers‘ Entwicklungsroman „Transit“ entfaltet sich dieses Panorama.
Immer drängender weichen die beschaulichen Ansichten den Ängsten der Protagonisten, zu spät alle Papiere vollständig in den Händen halten zu können. Immer bedrohlicher zeichnen sich dunkle Wolken am Horizont. Nur der namenlose Hauptprotagonist, der sich an den Trubel langsam gewöhnt, möchte bleiben.
Das Unterfangen erweist sich als schwierig in einer Umgebung, die ihren ganz eigenen Gesetzen gehorscht. Die Schriftstellerin Anna Seghers beschreibt sie in ihrer kompakt gehaltenen Erzählung sehr feinfühlig. Zunächst begegnen wir auch hier, wie etwa in „Das siebte Kreuz“ einem im Vergleich zu heute erscheinenden Romanen, vergleichsweise langsamen Erzähltempo, welches sich hier behutsam steigert und entsprechende Akzente setzt.
Zwischen den Zeilen erfährt man viel. Anspielungen über Walter Benjamin und Ernst Weiß bilden den Handlungsrahmen, durchsetzt von den Erfahrungen, die die Schriftstellerin selbst machen durfte, gehörte sie doch zu denen, die 1940 Mittel und Wege suchten, den Nazis zu entkommen. In zahlreichen Figuren verarbeitet sie die Schicksale bekannter und derer, die zwangsweise unerkannt bleiben müssen.
Schnell stellt sich die Frage, nach dem eigentlichen Vorhaben des Protagonisten, der seiner unmittelbaren Umgebung mal hilft, dann wieder unerkannt Steine in den Weg legt. Nur langsam wird seine Vergangenheit und der Bezug zum Inhalt des Koffers aufgerollt, der mit ihm seinen Weg nach Marseille gefunden hat. Der Erzähler öffnet sich den Lesenden in all seinen Grau-Schattierungen, doch wirkt es nicht nur für die ihn umgebenden Figuren so, als würde man versuchen Rauch zu greifen, mit bloßen Händen. Dieser Weg, eigene Ziele zu verfolgen, gleichzeitig sich unentbehrlich zu machen, macht ihm nicht gerade zu einem Sympathieträger.
Dennoch verfolgt man atemlos seinem Weg, der nur wenige Monate umfasst, in denen ständig etwas passiert. Die Stadt hängt den Gerüchten nach, dem Wohlwollen der Beamten und Diplomaten, die mal Gegenspieler, mal nur Rädchen im Getriebe sind, welches sich trotz sich radikal verändernder Umstände immer weiter dreht. Der Kontrast der mit der idyllischen Umgebung entsteht, wirkt damit um so mehr.
Die Perspektive bleibt beim Protagonisten, aus dessen Beobachtung wir alles erfahren. Das Treiben in den Cafes, miserablen Unterkünften, in denen sich alle drängen, den langen Schlangen vor den Konsulaten. Zuweilen eröffnet sich damit ein Verwirrspiel, den man manchmal überdrüssig zu werden droht, wenn wieder einmal über die Art und Beschaffenheit der Papiere diskutiert wird.
Zum vierten, fünften, sechsten Mal. Die dichte Abfolge erschwert den Lesefluss, bei den man dann trotzdem immer wieder innehalten muss, mit dem Gefühl, etwas Entscheidendes überlesen zu haben. Hat man jedoch nicht, sondern nur ein weiteres Puzzleteil aufgenommen. Dabei lassen einem nicht einmal kurze Rückblenden Zeit, einmal durchzuatmen.
Anna Seghers hat es hier verstanden, Eile und Drängen zu verschriftlichen, aber auch sehr detaillierte Ortsbeschreibungen vor dem inneren Auge auferstehen zu lassen. Trotz mancher Distanz, die gewollt aber gekonnt konstruiert ist, hilft dies sich in die Geschehnisse der damaligen Zeit und ihre Protagonisten hineinzuversetzen.
In Bezug auf heutige Lesegewohnheiten funktioniert die Erzählung nicht durchgehend, aber doch in soweit, dass man unbedingt die Hintergründe des Protagonisten erfahren möchte, und wie die Auflösung sich gestaltet. Das klappt auch in der Gegenwart, zumal die Gründzüge des Romans sich hervorragend in das Heute adaptieren lassen, werden Städte wie Marseille wieder zu Drehpunkten von Menschen, die einen Ort zum Leben suchen. Nur eben in umgekehrter Richtung.
Gerade deshalb ist dieser Roman, wenn auch nicht immer in zugänglicher Sprache gehalten, heute noch lesenswert und zu empfehlen.
Autorin: Anna Seghers wurde 1900 in Mainz gebohren und war eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie, bevor sie 1924 ihre erste Erzählung veröffentlichte. Verheiratet mit dem ungarischen Soziologen Laszlo Radvanyi wandte sie sich der Kommunistischen Partei zu, der sie 1928 beitrat.
Eine Reise in die Sowjetunion folgte im Jahr 1930, bevor sie über die Schweiz nach Frankreich, zusammen mit ihren Kindern flüchten musste. Im Exil war sie eine der Mitgründerinnen des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller und schaffte es 1942 über Marseille nach Mexiko zu reisen, von wo sie 1947 zurückkehrte. Dort erschien 1942 ihr Roman „Das siebte Kreuz“, mehrere Jahre danach auch in Deutschland. 1947 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen. 1952 wurde sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR und blieb es bis 1978. 1981 wurde ihr die Ehrenbürgerwürde der Stadt Mainz verliehen. 1983 starb sie in Berlin.
Ihre Werke wurden mehrfach verfilmt und ausgezeichnet.
Der virtuelle Spendenhut
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.
Die Memoiren „Ein Sack voll Murmeln“ erschienen 1973, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, zweimal verfilmt und sind längst zum literarischen Klassiker geworden. Darin erzählt Josef Joffo (1931-2018) über seine Kindheit in Paris während der deutschen Besatzung, der Flucht seiner jüdischen Familie und seinen unbändigen Willen im Untergrund zu überleben.
Ein Klassiker, adaptiert als packendes und einfühlsames Comic von Kris und Vincent Bailly.
(Klappentext)
Rezension:
Erinnerungen auf eine komplett andere Form zu übertragen, weit weg vom Ursprungsmedium, ist wagemutig. Dennoch gibt es einige positive Beispiele, neben ganz vielen, die unter die Tische fallen dürfen, wo dies gelungen ist. Bei den Kindheitsmemoiren von Josef Joffo ist dies in beiden Richtungen der Fall.
Ist die erste Verfilmung noch beim Autoren durchgefallen, gilt die zweite als gelungen, was nicht zuletzt großartigen Kinder- und Erwachsenendarstellern, einem klugen Drehbuch und einer nicht minder begabten Regie zu verdanken ist. Auch die hier vorliegende, auf die Biografie fußende Graphic Novel darf als positives Beispiel gelten.
Dabei ist es gar nicht so einfach, eine Geschichte in ein anderes Medium zu übersetzen. Was nimmt man auf, verdichtet man, welche Szenen und Dialoge bleiben? Was lässt man, zwangsweise, außer Acht. Platz ist begrenzt, wird in dieser Erzählform durch die Größe der Panels vorbestimmt.
Auch die Wahl der Farbpalette und des Zeichenstils spielen für die Wirkung eine maßgebliche Rolle. Daraus folgt die Frage, ob die Adaption des Erzählstoffes am Ende als gelungen gelten darf. So möchte ich nicht weiter auf die Geschichte selbst eingehen, die bereits rezensiert wurde, sondern auf die Besonderheiten des vorliegenden Werkes.
Paris ist bunt gehalten, wie alle Szenen, die Hoffnung verkörpern. Ein schneller Strich ins Urban Sketching hinein, manches Panel wirkt beinahe wimmelbildhaft. Temporeich gebietet sich die Graphic Novel, die mit hohem Erzähltempo schnell ins Düstere kommt. Erdtöne dominieren da plötzlich. Einige Panels wirken gedrungen, der Hintergund verschwimmt des Öfteren. Das Auge ruht auf den Vordergrund.
Den Betrachtenden stockt der Atem. Gerade zur rechten Zeit kommen die Momente, die einem durchatmen lassen, nur um im nächsten Moment wieder über den Haufen geworfen zu werden.
Dies gelingt in dieser Adaption, die ein Stück Lebensgeschichte einer neuen Zielgruppe zugänglich und begreiflich machen kann, ohne das Original zu verraten. Tatsächlich hat man nicht das Gefühl, dass wichtige Szenen vergessen wurden, gerade wenn man den Ausgangstext kennt. Der Geist des Originals bleibt erhalten und so kann diese Graphic Novel neben Buch und der zweiten Verfilmung bestehen.
Autor/Illustrationen:
Vincent Bailly wurde 1967 in Nancy geboren und ist ein französischer Comic-Zeichner. Er studierte 1986 an der Kunsthochschule Straßburg und arbeitet seit 1991 für verschiedene Verlage als Illustrator und veröffentlicht seine Zeichnung in Zeitungen und Kinderbüchern. Sein Zeichenstil gilt als düster, so dass ihn der Durchbruch erst spät gelang. Er veröffentlichte in Zusammenarbeit mit anderen Autor/innen mehrere Graphic Novels und unterrichtete von 2000 bis 2009 an der Kunsthochschule ENAAI in Bourget-du-Lac.
Kris ist das Pseudonym des französischen Comic-Autoren Christophe Goret, welcher 1972 in Brest geboren wurde. Zunächst studierte er Geschichte und arbeitete als Buchhändler, bevor er ein Atelier gründete. Im Anschluss schrieb er Drehbücher und arbeitete für die Zeitschrift Spirou. Seine Arbeit, die mehrere Alben und Drehbücher umfasst, wurde mehrfach ausgezeichnet.
Der virtuelle Spendenhut
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.
Zwei Männer, die wie Brüder aufwachsen – bis ihre Leben ganz unterschiedliche Entwicklungen nehmen. Doch als eiiner der beiden stirbt, zeigt sich, wie tief die in der Kindheit geknüpfte Verbindung ist. Und als der Freund postum auf rätselhafte Weise zu Ruhm als genialer Maler kommt, erscheint die Beziehung der beiden plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Mit stiller Wucht erzählt Alain Claude Sulzer von einer ungewöhnlichen Freundschaft und einem kurzen Leben, das lange nachwirkt. (Klappentext)
Rezension:
Zumindest geografisch trennt das Leben zwei, die wie Brüder aufgewachsen sind, im jungen Erwachsenenalter. Während der eine sein Glück auf der anderen Seite des Ozeans sucht, findet der Ich-Erzähler seinen Lebensmittelpunkt in Frankreich. Der Kontakt aus der Kindheit, bleibt lose, verliert sich nicht. Erst nach dem Tod des Kunstsinnigen wird dem Erzähler klar, wie tief die Verbindung zueinander wirklich gewesen ist.
Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat mit „Fast wie ein Bruder“ nicht nur einen feinen Coming of Age-Roman geschrieben, sondern auch das Portrait einer sehr sonderbaren Zeit.
Sulzers Erzählung beginnt inmitten der 1970er Jahre, der Kindheit der Protagonisten, die zunächst alle Möglichkeiten für die beiden Jungen bereitzuhalten scheint, doch frühe Schicksalsschläge bereithält, die den weiteren Weg der Hauptfiguren bestimmen, Diesen folgen wir lesend bis in die Gegenwart hinein. Komprimiert auf der konträr zur erzählten Zeit überschaubaren Seitenzahl hat sich der Autor darauf konzentriert die beiden Figuren strahlen zu lassen.
Ihre Ecken und Kanten werden auserzählt, wie auch die Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sehen. Dabei nehmen sie so viel Raum ein, dass für Nebenfiguren kaum Platz bleibt. Die Leinwand ist voll. Eingenommen von den beiden, die in unterschiedlicher Entfernung, immer umeinander kreisen.
Dabei durchzieht den Roman ein vergleichsweise ruhiger Erzählstil, dessen Tempo gefühlsmäßig nicht der Autor, sondern die Figuren selbst bestimmen. Sulzer verliert dabei nie den Blick für Orte und Szenarien und behält in diesem Konstrukt die Fäden bis zum Schluss in die Hand. Was kann, was vermag Kunst und was bleibt, wenn der Erschaffende nicht mehr ist?
Solche fast philosophischen Fragen können sich beim Lesen aufdrängen. Man kann diesen Roman jedoch auch einfach als die Erzählung einer Freundschaft lesen. Beide Protagonisten sind dabei nachvollziehbar gestaltet. Auch ergeben sich in der Art und Weise keine Lücken oder unlogische Sprünge. Einzelne Momente lassen sich sehr stark nachfühlen.
Der Roman um Kunst ist selbst Kunst. Fast filmisch führt der Erzähler durch die Leben beider wie entlang von Bildern einer Galerie. Eingerahmt sind sie zwischen zwei weltumspannenden Epidemien, die zugleich Taktgeber sind. Für die Welt, die still steht und einer Entscheidung über Leben und Tod, die die Figuren nicht beeinflussen können.
Alain Claude Sulzers Roman über Kunst, Homosexualität und Aids, einer Freundschaft vor allem, vereint das alles, ohne ins Kitschige abzutriften, in die richtigen Worte. Keines ist hier zu viel oder zu wenig. Eine reduzierte Erzählung, die nachdenklich werden lässt. Allein, es fehlt da noch der Wow-Effekt. Trotzdem darf man empfehlen, in die Geschichte zu versinken.
Autor:
Alain Claude Sulzer wurde 1953 geboren und ist ein Schweizer Schriftsteller. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Bibliothekar und war später als Journalist tätig. Seit den 1980er Jahren veröffentlicht er seine eigenen Werke und ist zudem als Übersetzer aus dem Französischen tätig gewesen. Selbst Teilnehmer am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, saß er später in dessen Jury. Er ist Mitgründer des PEN Berlin, lebt zwischen Berlin und Basel. Sulzer wurde für seine Werke mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit den Solothurner Literaturpreis.
Der virtuelle Spendenhut
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich in diesem Jahr zum achtzigsten Mal. Grund genug also, sich ausführlich mit den unterschiedlichen Aspekten des Krieges zu beschäftigen, der so zerstörerisch und so mörderisch werden sollte, wie keiner zuvor. Davor, mit einer kurzen Phase brüchigen Friedens dazwischen hatte es bereits schon einmal einen weltumspannenden Krieg gegeben. Und so umfassend müssen auch die Übersichten sein, um alle Aspekte aufzuführen, die die Vorgeschichte, Kriegsverläufe und was danach folgen sollte, einigermaßen begreiflich machen zu lassen. Und so haben sich eine Vielzahl von Historikern und anderen Wissenschaftlern daran gemacht, Gesamtdarstellungen zu erarbeiten. Nun liegen diese im Verlag Dorling Kindersley vor.
Übersichten über einzelne Schlachten (Quelle: DK-Verlag)Ergänzungen durch Karten und Personenbiografien (Quelle: DK-Verlag)
Die Werke dieses Verlags haben die Eigenheit, gerade wenn sie bewusst in einer Abfolge zueinander erscheinen, nahezu die gleiche Rezension herauf zu beschwören, weshalb ich mir die Freiheit genommen habe, einen gemeinsamen Beitrag für beide Sachbücher zu schreiben. Entlang eines Zeitstrahls wird Geschichte hier erzählt, eingerahmt durch die Vor- und Nachgeschichte, dann die Jahre des jeweiligen Krieges, nochmal einzeln aufgedröselt. Unterschiedliche Perspektiven kommen zur Sprache, sei es durch die Erläuterung der Kriegstaktiken innerhalb der jeweiligen Phase oder weil einzelne Feldzüge beleuchtet werden.
Dabei nehmen die Autor:innen beider Werke nicht nur eurozentrische Perspektive ein, sondern vergessen nicht zu beleuchten, wie der Erste und der Zweite Weltkrieg auf der anderen Seite des Globus‘ aussahen. Immer wieder werden einzelne Persönlichkeiten beleuchtet, die in den jeweiligen Phasen oder überhaupt eine Rolle spielten, sowie auch der „Alltag“ im Krieg oder der Terror des NS-Regimes analysiert, um nur die Beispiele zu nennen.
Einzelne Personen werden näher beleuchtet. (Quelle: DK-Verlag)Visualisierung durch zahlreiche Grafiken und Fotos. (Quelle: DK-Verlag)
Die Lesbarkeit ist aufgrund der abwechslungsreichen Gestaltung gegeben. Fließtexte wechseln sich mit Infoboxen ab, Karten und Grafiken visualisieren Informationen. Schon das Überformat zwingt einem, sich bewusst eines der Bücher hervorzuholen, entweder sich mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen oder gezielt zu suchen, was sowohl ein Stichwortregister am Ende der beiden Enzyklopädien möglich macht, als auch ein übersichtliches Inhaltsverzeichnes.
Autorenkollektiv: Der Erste Weltkrieg – Die Visuelle Geschichte Seiten: 372 Rezensionsexemplar/Sachbuch Verlag: Dorling Kindersley ISBN: 978-3-8310-4874-8 Übersetzung: Burkhard Schäfer, Birgit Lamerz-Beckschäfer (u. a.)
Autorenkollektiv: Der Zweite Weltkrieg – Die Visuelle Geschichte Seiten: 360 Rezensionsexemplar/Sachbuch Verlag: Dorling Kindersley ISBN: 978-3-8310-3757-5 Übersetzung: Burkhard Schäfer, Klaus Binder (u. a.)
Beide Werke erhalten, es ist gar nicht anders möglich:
In der Reihe Big Ideas erscheinen Sachbücher, die zu verschiedensten Themen aufbereitetes Basiswissen anbieten. Die Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.
Inhalt:
Warum bezeiechnete man den Ersten Weltkrieg als „Krieg, der alle Kriege beenden“ sollte? Welche Schlüsselereignisse führten zu dem Konflikt? Wieso fanden die Schlachten so häufig zwischen Schützengräben statt?
Dieses Buch beantwortet diese und weitere Fragen in verständlicher Sprache und klaren Grafiken. Es stellt dar, was passiert ist, und erklärt die Ursachen und Hintergründe. So werden nicht nur über 90 Schlüsselereignisse des ersten globalen Krieges beschrieben, sondern auch politische Absichten, Kriegstaktiken und Technologien erläutert: von der Vorgeschichte des Kriegs über die deutsche Invasion in Belgien 1914 bis zum Waffenstillstand 1918 und der Gründung des Völkerbundes 1920. (Klappentext)
Rezension:
Der Erste Weltkrieg markiert als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts einen Wendepunkt in der Geschichte, heraufbeschworen durch Ereignisse, deren Reaktionsfolge niemand wirklich stoppen wollte. Heraufbeschworen von einem Kaiser, der von deutscher Großmacht träumte, nahm das Schicksal seinen Lauf. Neue Technologien wie Flugzeuge und gepanzerte Fahrzeuge wurden erstmals erprobt. Giftgas sorgte für Schrecken bei den in Gräben kämpfenden Soldaten. Auch das Ende ist bekannt. Hinweggefegte Monarchien, neue Staaten, zwischen denen bald ein neuer, noch grausamerer Krieg toben sollte.
Geschickt aufbereitetes Basiswissen bietet dieses hier vorliegende Sachbuch, welches sich wie ein Lexikon, aber auch hintereinander weglesen lässt. Kurzbiografien entscheidender Persönlichkeiten werden aufgeführt, wie Technologien erklärt. Auch wird anhand von reichlichem Kartenmaterial der Verlauf einzelner Schlachten erläutert. Jedes einzelne Kapitel wird dabei mit einer Einführung und Zeitstrahl begonnen, die Schlüsselmomente des Ersten Weltkriegs zudem nochmals zusätzlich eingeordnet. In Infoboxen wird gezeigt, was vor und nach dem jeweiligen Ereignis geschah, ebenso gibt es immer Seiten-Verweise zu verwandten Themengebieten.
Blick ins Buch (Quelle: DK)Blick ins Buch (Quelle: DK)Blick ins Buch (Quelle: DK)
Die einzelnen Abschnitte sind in gewohnter Manier des Verlags nicht länger als zwei bis vier Seiten gehalten. Alle wichtigen Inhalte werden dabei im Blick behalten. Mit diesem Sachbuch bekommt man den neuesten Stand der Geschichtswissenschaften so aufbereitet, dass auch komplexe Zusammenhänge dem Laien verständlich werden. Zur Prüfungsvorbereitung eignet sich die Lektüre dabei ebenso wie für alle Interessierten, egal ob mit oder ohne Vorkenntnisse. Alleine die Kurzbiografien und das sich auf das Wesentliche konzentrierende Kartenmaterial ist es wert. Dabei werden alle beteiligten Seiten beleuchtet, auch weniger bekannte, wie z. B. der Einsatz von Soldaten aus den Kolonien oder gar so weit entfernter Länder wie Siam (das damalige Thailand).
Immer wieder stechen dabei einzelne Zitate der am jeweiligen Ereignis beteiligten Personen hervor und verdeutlichen deren Brisanz.
Sicherlich nicht nur innerhalb der Reihe ist dies ein wichtiges und hervorstechendes Sachbuch, auch unter den Bänden mit Überblickwissen nochmal etwas ganz Besonderes. Zu empfehlen.
Autoren: In Zusammenarbeit von mehreren Autoren mit u. a. geschichts- und gesellschaftswissenschaftlichen Hintergründen ist dieses Sachbuch entstanden.
Ein Buch ist zu kurz oder kompakt für eine Rezension, so schön oder so eindrücklich, dass eine Rezension dem nicht gerecht werden könnte, aber trotzdem von vielen gelesen werden sollte? Dafür gibt es die Kategorie „Empfehlungen“, in der Bücher vorgestellt werden, außerhalb von Rezensionen und Sterne-Berwertungen.
Rachel Jedinak, geboren 1934, überlebt die erste Massenverhaftung der Juden in Paris, die als „Razzia vom Velodrome d’Hiver“ in die Geschichte einging. Diese, am 16. und 17. Jungi 1942 stattfindenden, gelten als die symbolträchtigsten Szenen der französischen Kollaboration. Als Gerüchte über die bevorstehende Razzia aufkommen versteckt ihre Mutter Rachel und ihre ältere Schwester bei den Großeltern, doch werden sie von der Concierge denunziert und schließlich zu einer Sammelstelle gebracht. Nur mit Mühe und Glück gelingt es den beiden Mädchen durch einen Notausgang zu entkommen. Darüber schreibt die Autorin in ihrem autobiografischen Bericht, sowie über ihre Arbeit Jahrzehnte später, gegen das Vergessen. (eigene Inhaltsangabe)
Normalerweise versuche ich jedem Buch in einer Rezension gerecht zu werden, nur muss das diesmal in einer abgespeckten Form geschehen, da mehr die Seitenzahlen nicht zulassen, die Eindrücke überwältigend sind und man das, was man da gelesen hat, überhaupt erst unter einen Hut bringen muss, und das mir, der ich durchaus regelmäßig solche Berichte lese. Zeitzeugenberichte. Die, die wichtig sind, die Bücher gegen das Vergessen, die immer wichtiger werden, je weniger Menschen noch von den Ereignissen erzählen können, die immer mehr lieber zu den Akten legen, gar relativieren möchten. Hier und überall in Europa.
Gerade dann ist es wichtig, allen auch Geschehnisse in Erinnerung zu rufen, von denen hierzulande kaum jemand etwas weiß, die Razzia vom Velodrome d’Hiver in Paris ist ein solches, hier in einem kleinen kompakten, aufrüttelnden und schmerzlichen Bericht einer Überlebenden. Rachel Jedinak war damals nur ein kleines Kind, gerade einmal acht Jahre alt, als sich ihre Welt schlagartig änderte, die nur die elterliche Wohnung, die Schule, einige Straßenzüge ihres Viertels umfasste. Doch Krieg, Rassismus, Antisemitismus haben auch dort nicht halt gemacht. Schmerzlich die Erinnerung, von der sicher geglaubten Freundin plötzlich beim Spiel ausgegrenzt zu werden und andere Dinge, die wieder hochkommen, als die Erwachsene Jahrzehnte später vor Schulklassen berichtet.
Im hohen Alter beschäftigt sich die Autorin mit diesem Stück Zeitgeschichte, welche auch ein schmerzlicher Teil ihrer Biografie ist, bringt Gedenktafeln an Schulen und Gebäuden ehemaliger Einrichtungen an, führt Gespräche. Über das, was eigentlich unsagbar ist, unbegreiflich für das damalige Kind, welches kaum in der Lage ist, das, was geschieht, einzuordnen. Wie denn auch? Die Erwachsene versucht es mit wenigen Worten. Ein kompakter Bericht der sich nicht ins Überflüssige verliert und sich dabei an ihre Landsleute richtet. Seht her. Auch Franzosen haben sich beteiligt. Nicht alle, aber eben auch. Auch das darf nicht vergessen werden.
Das Leben hängt manchmal nur an wenigen Worten. Das hat Rachel Jedinak in frühester Kindheit erfahren müssen. Alle anderen dürfen es nicht vergessen.
Der virtuelle Spendenhut
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.
Als Hitlers Wehrmacht Frankreich im Juni 1940 besiegt, finden sich Künstler und Intellektuelle, die aus Deutschland sich einst ins Exil geflüchtet hatten, plötzlich wieder in Gefahr, der sie glaubten, entronnen zu sein. Die Gestapo fahndet zu dieser Zeit nach Heinrich Mann, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden hatten. Uwe Wittstock erzählt in „Marseille 1940“ die Geschichten ihrer Fluchten und die des Mannes, der sie ermöglichte. Varian Fry.
findosbuecher (fortan: NH): Am Anfang steht ein Schriftstellerkongress im Jahr 1935? Warum?
Uwe Wittstock (fortan UW): Ich habe mich für das Jahr 1935 interessiert, da Varian Fry in dieser Zeit zum ersten Mal in Deutschland war und dort diese Randale und Ausschreitungen auf dem Kurfürstendamm erlebte. Da war die Überlegung: Die Schriftsteller, die er später gerettet hat, was haben die eigentlich zu dieser Zeit gemacht? So kam ich auf lauter originelle Geschichten.
Das war der Tag, an dem die Ehefrau von Schuschnigg in Österreich beerdigt wurde. Es gibt aber auch das Tagebuch von Feuchtwanger. Da war vom Leben in der „traumhaften Villa in Sanary-sur-Mer mit Blick aufs Mittelmeer“ die Rede, aber auch von diesem Schriftsteller-Kongress, wieder ein Treffen von Schriftstellern, und darüber habe mich genauer informiert und festgestellt, dass dort viele Diskussionen aufgebrochen sind.
Dort kam das Thema Victor Serge auf, der kommunistische Schriftsteller, der stalinfeindlich eingestellt war und der während des Kongresses zum Thema wurde, da er quasi schon in einer Art Gulag oder Lager saß. Ich wusste, dass Victor Serge später in der Villa Air Bel mit Varian Fry zusammenleben musste. An dieser Art von Beziehung konnte ich nicht vorbeigehen, das musste ich mit hineinbringen.
NH: Was war Varian Fry für ein Mensch?
UW: Das war kein einfacher Mensch. Fry war sicherlich ein schwieriger Charakter, jemand der mit einem hohen Idealismus versehen war, auch hohen Ansprüchen an sich selbst, aber diesen Idealismus auch von anderen Menschen erwartete. Das ist etwas für uns normale Menschen Unbehagliches.
Wir haben die Helden so lange gern, so lange die Helden uns verzeihen, dass wir keine Helden sind, dass wir in unserer normalen Alltagswelt leben wollen. Und das war in diesem Fall eben nicht so. Er hatte sehr hohe Ansprüche an seine Mitmenschen. Wenn die sagten, da mache ich nicht mit, waren die ihm unangenehm. Das hatte er sie spüren lassen.
NH: Er hat dann mit anderen zusammen die Rettung von Künstlern und Schriftstellern organisiert. Wie hat man ausgewählt, wer gerettet wird, wer außen vor bleiben muss?
UW: Varian Fry war vor allem begeistert von europäischer Avantgarde-Kunst. Er liebte Leute wie Andre Breton, den er später auch rettete, Heinrich Mann, Anna Seghers. Diese waren ihm alle bekannt. Er hatte in Harvard, wo er studiert hatte, eine Zeitschrift herausgegeben, in der er Texte dieser Menschen publiziert hatte. Nun erfuhr er in Amerika, dass viele von denen in Südfrankreich in Gefahr waren, von den Deutschen gefasst, in Konzentrationslager oder umgebracht zu werden.
Zusammen mit Freunden gründete Fry in New York eine Organisation, um Geld zu sammeln, diesen Leuten zu helfen. Dann ging es darum, welchen Intellektuellen, welchen Künstlern, welchen Schriftstellern und Schriftstellerinnen sollten wir helfen? Dafür wurden Menschen befragt, die sich in den verschiedenen Bereichen gut auskannten, in der Theaterwelt, in der Philosophie, in der Kunst, auch in den Naturwissenschaften. So wurden Listen erstellt, wer dringend gerettet werden musste.
Für die Literatur hatte diese Liste Thomas Mann aufgestellt, der natürlich Listen auch von anderen bekam, aber sich natürlich gut auskannte, da ihm viele Exilanten nach Amerika geschrieben und um Hilfe gebeten haben. Diese Leute wurden dann aufgelistet. Zusammen waren das schon über 200 Personen. Mit dieser Liste fuhr Varian Fry nach Marseille.
Anfänglich hatte er gedacht, er bliebe nur vier Wochen, um einige wichtige Menschen zu retten. Er wollte aber vor allem die Organisation aufbauen, die das übernimmt. Fry hatte dann erkannt, dass die Aufgabe zu groß war, aber auch, dass es gerade für ihn als Amerikaner möglich war, viele zu retten, da die Deutschen Amerikaner anfangs noch mit großem Respekt behandelten. So blieb er dann nicht einen, sondern dreizehn Monate geblieben, und rettete nicht 200, sondern fast 2.000 Menschen.
NH: Zunächst fand sich kein anderer, der das machen konnte oder wollte. Fry kommt in Marseille an. Was war das vor Ort für eine Situation?
UW: Im geteilten Frankreich war es so, dass auch in der unbesetzten Zone viele Deutsche, viele Wehrmachtsangehörige und andere unterwegs waren. Es gab z. B. die Kundt-Kommission, die in den Internierungslagern geschaut hat, was für Menschen dort interniert waren. Waren das reichsdeutsche Hitleranhänger, wurden diese befreit und nach Deutschland zurückgeschickt. Waren es aber Gegner, konnte die Kommission die Auslieferung vom Vichy-Regime verlangen und diese Menschen ins KZ verbringen.
Man hatte da sehr genau geschaut, aber es gab auch andere Gefahren für Juden, für Hitler-Feindliche. Oder für Dissidenten, die nicht die richtigen Papiere hatten, mit denen sie sich in Frankreich frei bewegen konnten, sodass sie wieder verhaftet und ins Lager geschickt wurden.
NH: Fry kannte die Situation in Frankreich vorher nicht. Wie fand er die Fluchtrouten? Wie hat er sichergestellt, dass diese funktionierten?
UW: Er konnte sich mit der Situation in Frankreich nicht auskennen, da der Waffenstillstand und die Teilung des Landes erst am 22. Juli vollzogen wurden. Nur zwei Monate später kam er in Marseille an. In der kurzen Zeit gab es keine gesicherten Informationen und auch die Situation in Frankreich hatte sich noch gar nicht geklärt. Fry ist in ein für ihn ziemlich „unbekanntes Gebiet“ gefahren.
Das geteilte Frankreich im Juli 1940 (Foto: C. H. Beck)
Er setzte sich dort mit anderen in Verbindung, die ebenfalls versuchten, gefährdete Menschen herauszuholen oder ihnen wenigstens vor Ort zu helfen. Da gab es einen Gewerkschaftler namens Frank Bohn, ein deutschstämmiger Amerikaner, der sich für gewerkschaftlich organisierte und für die SPD-Leute stark verantwortlich fühlte.
Mit dem traf er sich, der hatte ihm gesagt: „mach das mit Schiffen“. Das scheiterte und so blieb nur der Weg über Land, zur spanischen Grenze. Von Frankreich nach Spanien, von dort aus nach Lissabon. Von dort fuhren Schiffe ab.
NH: Wie erfuhren die Exilanten und Flüchtenden von Fry?
Von einigen hatte er Adressen. An diese hatte er Briefe geschrieben, z. B. an Heinrich Mann. Nachdem er geschrieben hatte, sprach sich das innerhalb der Exilanten-Gemeinde blitzschnell herum.
NH: Marseille war aber schon zu diesem Zeitpunkt auch ein Schmelztiegel der Spione. Es gab Zensur, abgefangene Briefe. Warum ging es so lange gut, bei so vielen Menschen, die letztendlich davon wussten?
UW: Am Anfang war Varian Fry sicherlich sehr unvorsichtig gewesen, aber er hatet sehr bald Albert O. Hirschmann kennengelernt, einen Deutschen, der schon in Italien gegen Mussolini gekämpft hatte. Der hatte Erfahrung mit Untergrund-Arbeit und hat, sobald er mit Fry zusammenkam, das Schlimmste verhütet und darauf geachtet, dass der nicht zu unvorsichtig ist.
Varian Fry machte aber auch einen klugen Schachzug: Er hat eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet, die er ganz offiziell bei der Präfektur in Frankreich angemeldet hat, und ein Büro eröffnet, das sog. Centre Americain de Secours, welches die Aufgabe hatte, Geld- und Sachspenden zu verteilen, also Kleider, Lebensmittel.
Damit hatte er eine Fassade, mit der er rechtfertigen konnte, warum so viele Menschen zu ihm kamen. Hinter dieser Fassade hat er aber mit den Leuten, die gefährdet waren, vertraulich gesprochen und versucht, diese aus Frankreich herauszuholen. Auf welchem Wege auch immer.
NH: Es kam dort auch zu Situationen, dass an ihn „Bedingungen“ gestellt wurden wie: „Ich geh nicht ohne den oder nur unter diesen Umständen“. Sind das Kurzschlussreaktionen gewesen?
UW: Wenn man z. B. von Familien ausgeht, ist es ziemlich klar, dass man zusammenbleiben möchte. Dann gibt es Solidarität und Loyalitäten, die man auch auf der Flucht nicht verletzt. Das ist das eine. Das andere, wir sprechen z. B. von Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding, der eine Fraktionsvorsitzender der SPD, der Andere Finanzminister zu Zeiten der Weimarer Republik, die waren europaweit bekannt.
Staatsmänner, die sich im ersten Moment darauf verlassen hatten, dass die Vichy-Regierung ihnen Sicherheit zusichert, was diese auch getan hatte, dass sie nicht ausgeliefert werden. Das war ein Fehler. Im Nachhinein sehen wir das ganz deutlich. Schon nach einem Dreivierteljahr hatte das Vichy-Regime sein Wort gebrochen und sie ausgeliefert. Unser Wissen ist vom Nachhinein. Im Nachhinein ist man immer klüger. Ich kann schon verstehen, dass jemand von diesem Rang bleibt, wenn jemand ihm einen besonderen Schutz gewährt.
NH: Auf der anderen Seite ergibt sich der Eindruck, dass viele Schriftsteller wie Heinrich Mann diese Rettungsaktion als selbstverständlich angesehen haben und dann gerät Varian Fry ins Abseits des Vergessens.
UW: Leute wie Mann sind Menschen des 19. Jahrhunderts gewesen. Im 19. Jahrhundert geboren. Die konnten sich nicht wirklich vorstellen, wie sehr sich die Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem im Zuge des Beginns des Nazi-Regimes verändert hatten, mit welcher Brutalität und Rücksichtslosigkeit da vorgegangen wurde. Man dachte sich, wenn man sich wie ein guter Bürger verhält, dann kann einem nichts passieren.
NH: Die konnten sich nicht vorstellen, dass eine deutsche Regierung zu solchen Maßnahmen greift?
UW: Unbedingt. In diesen v. a. juristischen Dingen waren die Schriftsteller naiv und kannten sich nicht aus. Es gab natürlich manche, die waren exzellent und haben die Dinge sehr gut vorausgeahnt. Im vorangegangenen „Februar 33“ beschreibe ich etwa Joseph Roth, der bereits am Morgen als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, das Land verlässt. Hier kann ich nicht mehr leben. Das ist zu gefährlich.
NH: Beide Werke, sowohl „Marseille 1940“ als auch „Februar 33“ sind in einer kalenderartigen Form gehalten. Was bewirkt diese Form für die Brisanz?
Uwe Wittstock im Gespräch. (Foto: Privatarchiv)
UW: Wenn es zu solchen Umbrüchen kommt, wie im Februar 1933 oder in der Zeit um 1940, in der die Exilanten in Südfrankreich regelrecht gejagt wurden, dann passiert in solchen Situationen unglaublich viel gleichzeitig. Und wenn man das erzählen möchte, ich sehe mich bei diesen Büchern als Erzähler, dann braucht man ein Ordnungsinstrument, um dieses Chaos in irgendeiner Art und Weise zu ordnen. Das chronologische Prinzip ist da sehr naheliegend, da es sehr gut Kausalitäten erklärt. Was ist vorher passiert? Was passierte danach? Auf die eine folgt die nächste Aktion und so weiter.
Ein anderer Fakt ist der, wenn man von mehreren Perspektiven erzählt, nicht nur von einer. In „Februar 33“ habe ich einen Tag erzählt, dann den nächsten, immer wieder mit Unterbrechungen. Wie sieht es jetzt bei Thomas Mann aus, am Schauplatz von Heinrich Mann oder Berthold Brecht? Bei „Marseille 1940“ ist es ähnlich.
Da gibt es Ereignisse, die Folgen für die ganze Geschichte der Rettung der Exilanten haben, in New York, in Kalifornien, in Deutschland oder in Marseille.
Ich muss, wie mit einer Kamera da- und dorthin schwenken, um erzählen zu können, was dort zu dieser Zeit passierte. Damit wird die Sache auch spannender.
NH: Wie gleicht man verschiedene, auch verschwimmende Erinnerungen ab? Wie entscheidet man, was ist erzählenswert, wo sind „Rivalitäten“?
UW: Was ich mache in diesen Büchern ist keine Wissenschaft. Es geht darum, die Dinge zu erzählen, dadurch lebendig zu halten und anschaulich zu halten und ein großes Publikum für die Situation der Flüchtlinge in Südfrankreich zu interessieren.
Wenn man dies wissenschaftlich angeht, muss man versuchen, die historischen Tatsachen so genau wie möglich zu rekonstruieren, wobei immer sehr viele Unsicherheiten bleiben, bei denen man sagen muss, es kann sein, dass es so oder so passiert ist. Wenn Sie erzählen wollen, ist das außerordentlich schwierig. Ich richte mich nach den Erinnerungen der Betroffenen, die dabei waren, und halte mich daran und muss zugegeben, dass natürlich die Erinnerung nicht immer ganz stimmt, ein Unsicherheitselement, das ich hinnehmen muss.
Das Problem ist, die Wissenschaft kennt all diese Dinge. Es ist ihr aber nie gelungen, ein größeres Publikum zu interessieren.
NH: Varian Fry ist bei uns nahezu unbekannt? Wie sieht es in Amerika, in Frankreich aus? Erinnert man sich da an seine Person?
UW: Fry ist in Deutschland viel zu wenig bekannt. Er hat ganz große Verdienste, es gibt aber in Deutschland keine Biografie über sein Leben, in der man sich wirklich intensiv mit seiner Person auseinandergesetzt hat. Das wollte ich unbedingt ändern. Das ist eben auch eine Folge davon, dass wir uns in diesen Dingen sehr stark auf wissenschaftliche Arbeitsweisen zurückgezogen haben. Die liefern aber auch keine völlige Zuverlässigkeit liefern, sondern sagen, „wir wissen es nicht ganz genau, sondern nur so ungefähr“, was dem entgegensteht, dies lebendig darzustellen.
Im Ausland ist das anders. Dort gibt es zwei Biografien über ihn. Da er als Amerikaner große Konflikte mit dem Außenministerium, dem State Departement, hatte, gab es auch eine Aktion des State Departments in den 2000er Jahren, in der er ausdrücklich gewürdigt und wo betont wurde, welch großartige Arbeit er geleistet hat. Der damalige Außenminister persönlich hat ihm posthum einen Orden verliehen.
NH: Was war das für ein Konflikt?
UW: Ein Spiel mehrerer Faktoren. Frys Organisation war eine Art NGO, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Das Außenministerium war nicht daran interessiert, sehr viele Flüchtlinge aufzunehmen. Etwas, was uns heute nicht ganz unbekannt ist. Die USA waren leider sehr vorsichtig, vor allem bei Juden. Auch in Amerika gab es antisemitische Strömungen zu der Zeit. Zum anderen wollte man keine politischen Intellektuellen, Theaterleute, Künstler im Land haben, da immer der Verdacht nahelag, das sie eigentlich Sozialisten oder Kommunisten seien.
Die wollte man definitiv nicht haben. Wer ein amerikanisches Visum haben wollte, musste die Frage beantworte „Waren oder sind Sie Mitglied einer kommunistischen Partei?“ Wer das bejahte, für den war Schluss. Der kam nicht ins Land. Nicht gefragt wurde „Waren oder sind Sie Mitglied einer faschistischen Partei?“ Komischerweise. Da gab es klare politische Vorbehalte und gegen diese hatte Varian Fry immer angekämpft und sich natürlich auch unbeliebt gemacht. Gegen stalinistische Kommunisten hatte auch Fry was. Gegenüber Sozialdemokraten und anderen war er sehr offen.
NH: Er hat die Liste auch sehr weit gefasst.
UW: Wenn er mit einer Liste von 200 Personen angekommen war und nachher fast 2.000 Menschen gerettet hatte, ist das wohl so. Als er in Marseille ankam waren ein paar Leute, die auf dieser Liste standen, bereits umgekommen, andere schon fort. Es gab Menschen, gerade französische Intellektuelle, von denen man in Amerika angenommen hatte, dass sie sehr gefährdet wären, die aber selbst die Gefahr nicht sehr hoch einschätzten. Ich bleibe in Frankreich. Ich möchte mein Land nicht verlassen.
Das Ende war ein eigentlich sehr bitteres. Schon Ende 1941 hatte die amerikanische Botschaft, da sie Frys Arbeit nicht haben wollte, ihm den Pass weggenommen. Ausweislos war er damit nicht mehr durch den Status, Amerikaner zu sein, geschützt. Der amerikanische Botschafter in Vichy-Frankreich, hat Fry signalisiert, dass er nicht protestieren würde, wenn dieses Regime ihn verhaftet.
Daraufhin wurde Fry vom Präfekten in Marseille vorgeladen, um ihn mitzuteilen, dass Fry verhaftet und so untergebracht werden würde, dass er nicht mehr für seine Organisation arbeiten könne.
Das war natürlich ein endgültiges Signal. Fry hat versucht, das noch vier Wochen zu verzögern, aber dann musste er das Land verlassen.
NH: Varian Fry als besonderer Mensch nur für besondere Zeiten?
UW: Er war schwierig in Bezug auf Autoritäten. Er war kein Gruppenmensch, aber offensichtlich ein genialer Teamchef. Die Größe, in Marseille innerhalb von ein bis zwei Wochen ein so großartiges Team aufzubauen, mit Menschen, die idealistisch waren, um andere außer Landes zu bringen, das muss man erstmal machen.
Viele von diesen Menschen, die für ihn gearbeitet haben, sind nach dem Zweiten Weltkrieg in wichtige Positionen gekommen. Das war kein Zufall. Er hatte einen Blick gehabt für begabte Leute und da hat er wunderbar gearbeitet. Ein schwieriger Mensch mit ganz außergewöhnlicher Begabung. Diese dreizehn Monate waren die Sternstunde seines Lebens.
Wir danken Uwe Wittstock und C. H. Beck für die Gelegenheit, das Interview zu führen. Wie immer der Hinweis, dass das Interview Eigentum des Autoren, des Bloggers und des Verlages ist und nicht vervielfältigt, kopiert oder anderweitig verbreitet werden darf. Cover-Fotos werden nach Vorgaben des Verlags verwendet, Fotos des Autoren sind auf der Messe entstanden und gehören dem Fotografen. Das Interview erfolgte ohne Gewinnerzielungsabsicht.
Der virtuelle Spendenhut
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.
Inhalt: Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. (Klappentext)
Rezension:
In letzter Minute hat Heinrich Mann es geschafft, die Grenze ohne Aufsehen zu überqueren, Teil des kulturellen Exodus‘, der das Deutsche Reich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erfasste. Auch andere, die sich politisch mit Werk und Worten gegen die neuen Machthaber positionierten, mussten fliehen. Viele Intellektuelle und Schriftsteller fanden sich darauf hin in Frankreich wieder.
Doch auch hier holt der Krieg jene, die sich in Sicherheit glaubten, ein. 1940 ist Frankreich besiegt, zerstückelt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, Leib und Leben zu riskieren, sich außer Reichweite der Häscher zu bringen. In der unbesetzten Zone wird die Stadt Marseille zum Schicksalsort, an dem sich alles entscheidet.
Nach seinem Werk „Februar 33 – Der Winter der Literatur“ nimmt sich der Autor Uwe Wittstock nun erneut einen kulturellen Wendepunkt an, der der Erzählung des Exodus des intellektuellen Lebens nach der Machtergreifung Hitlers in nichts nachsteht. Spannend, erzählt er die Geschichte derer, die sich versuchen, in Sicherheit vor den Zugriff der Nazis zu bringen, und derer, die dies ermöglichen. Biografien werden verwoben, wie Wege, die sich kreuzen. Ausgangspunkte sind ein Schriftsteller-Kongress im Exil, die Beobachtung ausbrechender Gewalt, Tatendrang und unermüdliche Hilfsbereitschaft.
Im Mittelpunkt der Journalist Varian Fry, der es mit seinen Mitstreitern schafft, in aller Kürze ein kleines aber effektives Netzwerk aufzubauen, in Frankreich später selbst die Fäden in den Händen halten muss, welche nicht nur durch das dortige Vichy-Regime unter Druck geraten. Akribisch folgen wir seinen Spuren und derer, denen er die Flucht verhilft.
Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Heinrich Mann, Anna Seghers und viele andere werden so gerettet. Fry und seine Unterstützer werden für einen entscheidenden Moment der Geschichte zu besonderen Menschen in einer besonderen Zeit.
Wie bereits in seinem vorangegangenen Werk werden die dicht gedrängten Ereignisse in Tagebuchform aufgefächert, welche das Drängen, die Eile und nicht selten die Ungewissheiten der Akteure herausstellt, deren Schicksale sich von einem auf dem anderen Tage ändern konnte.
Wieder sind es ausgewählte Personen, deren Wege hier beschrieben werden, stellvertretend für viele, die zwangsweise namenlos bleiben müssen, da wir zu wenig wissen, um von ihnen zu erzählen. Gleich zu Beginn wird dies vom Autoren selbst herausgestellt, dem der Spagat gelungen ist, ein zweites Mal ein literarisches, zudem in unseren Zeiten hoch nachdenklich machendes, Sachbuch zu schaffen.
Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen oder Briefen, auf denen sich eine puzzleartige Recherche, die auch nach Marseille selbst führte, stützt, ist damit ein kulturelles Portrait entstanden. Kurzbiografien am Ende des Buches geben über das weitere Schicksal Aufschluss. Aufgelockert wird die Lektüre durch Kartenmaterial in den Innenseiten und zahlreichen Abbildungen, welche im Zusammenspiel diese Tage lebendig werden lassen.
Auch hier hat man, wie in „Februar 33“ erneut das Gefühl, allen Personen so nahe zu sein, als würde man daneben stehen, gegen alle Widrigkeiten Fluchten zu organisieren oder zu bestreiten. Diese Chronologie geht unter die Haut, mit einem sogar noch etwas flüssiger wirkenden Schreibstil als beim Vorgänger. Ein Buch über Menschlichkeit und Mut, über unwägbare Faktoren und Sekunden, die über Gelingen oder Scheitern entschieden.
Eine unbedingte Leseempfehlung.
Autor:
Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturredaktion angehörte, danach wirkte er als Lektor beim S. Fischer Verlag.
Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.
Der virtuelle Spendenhut
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.
Mit der ersten großen Liebe ist für uns oft ein Duft verbunden. Für Feurat Alani sind der Duft und der Geschmack von köstlichem Aprikoseneis, das er als Kind in Bagdad gekostet hat, für immer mit dem Irak verbunden. In 1000 Tweets berichtet er von dieser ersten Reise in das Herkunftsland seiner Familie und von den späteren Reisen als erwachsener Journalist, vom Krieg und dem Wandel, den dieser im Traumland seiner Kindheit bewirkt hat. Wir begleiten den Autor bei der Entdeckung eines orientalischen Landes voller unbekannter Düfte, aber auch bei seiner Trauer um das, was später unwiederbringlich verloren ging. Die berührenden und scharfsichtigen Beobachtungen des Kindes und des jungen Erwachsenen hat Léonard Cohen mit seinen Zeichnungen eindrücklich illustriert. (Inhalt lt. Verlag)
Rezension:
In Mansour halten wir an einer Eisdiele. Ich koste von dem besten Eis, dass ich je gegessen habe. Aprikose. Der Duft von Bagdad.
Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis
Gerade als der Iran-Irak-Krieg vorbei ist, lernt Feurat im Alter von neun Jahren die Heimat seines Vaters kennen. Das Land wirkt anders als in den Medienberichten, modern und offen. Die einfachen Leute fahren VW Passat. Melonen werden am Fluss eingegraben, um sie abends gekühlt essen zu können. Doch das Gesicht Saddam Husseins bestimmt den Irak. Seinen Namen sollen sie nicht laut aussprechen. Als seine kleine Schwester es dennoch tut, kennt Feurat fortan nun auch den Duft der Diktatur.
Im Irak herrscht Lebenslust, zumindest damals, trotz bereits vorhandener Einschränkungen. Vor dem Embargo leben die Menschen gut, doch das Glück der Menschen, schon damals Spielball der Gegensätze, wird im Laufe der Jahre zerrinnen. Bis nichts mehr davon übrig ist. Über die Jahre wirft der Autor, zunächst mit den Augen des Kindes, später als junger Journalist, immer wieder einen Blick auf dieses Land, welches wir kaum fassen können. Doch wie der Irak, so stet Feurat Alani selbst stets unter Spannung zwischen den Welten. Als Iraker und Franzose. Seine Beobachtungen hat er nun zusammengestellt. In Form einer Tweet-Sammlung. Ergänzt durch minimalistische Zeichnungen entstand so das Portrait seine Autobiografie, ein Blick auf die jüngere Geschichte eines Landes, eine Graphic Novel und ein Zustandsbericht, der einem den Atem stocken lässt.
Als Ziad und ich uns an diesem Tag trennen, gehe ich mit einem Gefühl der Scham. Mir wird alles geschenkt. Und ihnen alles genommen.
Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis
In dieser Kombination ist das Werk „Der Geschmack von Aprikoseneis“ ungewöhnlich einprägsam. Kurz und prägnant sind die Sätze, den Möglichkeiten der Social Media Plattform Twitter nachempfunden. Momentaufnahmen, die sich stapeln und fließend ineinander übergehen. Sie zeigen den Wandel eines Landes, zugleich die Veränderung des Blickwinkels. Der des Kindes weicht dem jungen Erwachsenen, der dokumentieren, festhalten und der Welt von der irakischen Wirklichkeit berichtigen möchte.
Das Gefühl, nie am richtigen Ort zu sein. Unrechtmäßigkeit. Schuld. Ich möchte meine Erlebnisse im Irak vergessen, aber sie lassen mir keine Ruhe.
Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis
Zeichnungen, die beinahe wie Scherenschnitte wirken und dennoch die Strahlkraft von Fotos besitzen, unterstreichen den Text, ohne überhand zu nehmen. Sie prägen sich ein. Lesend nimmt man die beobachtende Position ein und verliert sich in diesem Strudel der Emotionen. Das funktioniert in dieser Kombination ebenso, wie dies der Tatsache geschuldet ist, dass Seitenzahlen völlig fehlen, was den unmerklichen und doch schnellen Wandel verdeutlicht, bis zum Zusammenbruch einer Gesellschaft.
Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis (Quelle: Verlagsseite)Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis (Quelle: Verlagsseite)
Immer ist Feurat Alani Beobachter und Akteur zugleich, nebenan der Schauplätze und mittendrin. Einzelne Nadelstiche summieren sich, werden zu hörbaren Explosionen, einer Platzwunde, einer versuchten Entführung. Einschläge werden fassbar, kommen immer näher, bis es auch die Familie des Autoren zerreißt. Diktaturen kennen keine Gnade. Chaos erst Recht nicht. Dreizeiler in Absätzen prägen das Bild. Nur Ausschnitte hält der Betrachtende fest und doch das wichtige. Platz für Nebensächlichkeiten bleibt da nicht. Zunehmend müssen auch die Menschen sich damit beschäftigen, zu überleben. Bald ist das die einzige Tätigkeit.
Ein trauriger Anblick. Einer der Insassen liegt auf dem Boden. Die Rettungskräfte sind da. Der Sommer beginnt mit einem Toten. Das gefällt mir nicht.
Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis
Aufgrund der ungewöhnlichen Erzählstruktur, ergänzt durch eine Chronologie der Ereignisse ist diese Biografie einer Person, eines Landes, einprägsam und verdeutlicht zugleich, wie schnell etwas Intaktes, auch wenn die Oberfläche bereits von Beginn an Risse aufweist, in die Brüche gehen kann. Wer ein Gefühl dafür erlangen möchte, wird dieses Werk mit Gewinn lesen können. Mit mehr Spannung als ein Roman das könnte. Jeder Tweet ist eine Tür. Die mehrteilige Serie „Fremde Heimat Irak„, die bei Arte zu finden und im gleichen grafischen Stil gehalten ist, sei ebenfalls ans Herz gelegt.
Autor:
Feurat Alani wurde als Sohn irakischer Eltern in Paris geboren. In Bagdad hat er als Korrespondent für die Sender I-Tele und Le Point gearbeitet. Er war auch regelmäßiger Mitarbeiter von Le Monde diplomatique und Geo, bevor er seine eigene Produktionsfirma gründete. Sein Dokumentarfilm Irak: les enfants sacrifi és de Fallujah (2011) wurde auf mehreren Festivals prämiert.
Illustrator: Léonard Cohen ist Absolvent der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs de Paris. Im Jahr 2010 wurde sein Abschlussfilm Plato auf vielen Festivals gezeigt und gewann mehrere Preise, darunter jenen für den besten Studenten-Kurzfilm und den Preis der Junior-Jury auf dem renommierten Internationalen Trickfilmfestival von Annecy. Cohen arbeitet freiberuflich und entwickelt vor allem Animationsprojekte.
Der virtuelle Spendenhut
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.
Inhalt: Pablo Picasso (1881-1973) gehört zu den bedeutensten Künstlern des 20. jahrhunderts. Fantasievoll und experiementierfreudig hinterließ er ein atemberaubend umfangreiches OEuvre in nahezu allen Medien. Bis heute fasziniert die stilistische Wandelbarkeit seiner Werke, aber auch deren spannende Verankerung in Picassos Biografie. Souverän und kenntnisreich zeichnet Ina Conzen im vorliegenden Band Leben und Werk dieses Ausnahmekünstlers nach. (Klappentext)
Rezension:
Reduziert auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne wirkt das Wandbild nur auf den ersten Blick als eine wirre Kombinationen aus Formen und Symbolen, doch erschließt es sich nach und nach den Betrachtenden. Es symbolisiert die Schrecken des Krieges und gilt bis heute als bedeutenstes Werk des spanischen Künstlers Pablo Picasso. „Guernica“, welches dieser im Auftrag für die Weltausstellung 1937 unter den Eindrücken des Spanischen Bürgerkriegs anfertigte, ist heute in Madrid zu sehen, doch nicht nur dieses Werk ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Die Konservatorin und Autorin Ina Conzen hat sich auf Spurensuche begegeben. Entstanden ist dabei ein mehr als eindrucksvolles Porträt.
Wer mit relativ wenig Aufwand kompaktes Überblickwissen erlangen möchte ist mit Bänden der vorliegenden Reihe gut bedient. Das gilt für viele Themen, eben auch für die Kunst und so reiht sich nun dieses Bändchen mit ein, in welchem ein bedeutender Ausnahmekünstler beleuchtet wird. Diese Formulierung aus dem Klappentext darf man ruhig wörtlich nehmen, wenn gleich sich die Autorin sehr nüchtern der Biografie und dem Werk Picassos nähert. Sie verfolgt die Spuren dessen, der als Porträtmaler began und später die Grenzen des Künstlerischen Schritt für Schritt erweiterte, sich mitunter selbst zum Objekt seiner Betrachtung machte, von dessen Kindheit an. So gelingt ein eindrucksvoller Rundumblick.
Nicht immer ist das zugänglich. Zwar lockern hier mehrere Bildteile den Text auf, doch sollte man sich zuweilen schon auskennen mit verschiedenen Stilrichtungen der Kunst, die Laien zunächst kaum etwas sagen werden. Was ist das besondere an dem Punkt, wenn Picasso den Bereich des Gegenständlichen verlässt, um ins Surrealistische und Kubistische zu wechseln, um dann später wieder sich einer anderen Form des Gegenständlichen zu widmen? Diesen Zugang muss man sich selbst zusammenrecherchieren. Nicht an jeder Stelle ist hier ein Text für Laien gelungen, wenn man auch mit mehr Wissen aus der lektüre herausgeht, als man eingestiegen ist.
Die Autorin hangelt sich entlang der Perioden künstlerischen Schaffens Picassos, welcher dankenswert die Interpretationen gleich mitgeliefert hat, zuweilen für seine Zeitgenossen unverständlich, die teilweise fassungslos der Tatsache ins Auge sehen mussten, dass für scheinbar einfache Pinselstriche Millionen hingeblättert wurden. Schon zu Lebzeiten war der Künstler mehr als erfolgreich.
Im Privaten unruhig, blieb auch Picassos Kunst immer in Entwicklung. Auch mit den damaligen neuen Medien, der Fotografie, des Films experimentierte er ausgiebig. Auch diesen Aspekt seines Schaffens analysiert die Autorin mit Kennerblick, zeigt jedoch auch, dass Picasso nicht nur von Pinsel, Farbe oder Modellierung etwas verstand, sondern auch von Selbstvermarktung. Alle Aspekte werden in kompakter Form zueinander ins Verhältnis gesetzt, woraus sich ein Gesamtbild für die Lesenden ergibt, welches dazu einlädt die Werke Picassos einmal näher zu betrachten, sich damit zu beschäftigen. Ina Conzen lässt dabei jedoch nicht auch die Widersprüchlichkeiten der Charakterzüge Picassos außer Acht, gibt sich zuweilen kritisch, doch immer auch fasziniert von der Künstlernatur, die für jene, die mit ihm zu tun hatten, nicht immer ganz einfach gewesen sein muss.
Vielleicht ist genau dieser Band nicht unbedingt geeignet, in Leben und Werk Pablo Picassos einzusteigen. Zuvor sollte man zumindest einige von der Anschauung her kennen und vielleicht eine Idee der Grundzüge verschiedener künstlerischer Stile besitzen. Dann kann man sich dieser Lektüre annehmen und sie mit Gewinn sich zu Gemüte führen. Vorher wird man jedoch mehr als einmal über bestimmte Begrifflichkeiten stolpern. Später jedoch ergibt sich ein anderer Blick und dann erschließt sich auch die nüchterne faszination Ina Conzens für Pablo Picasso, der nicht nur mit „Guernica“ ein Werk für die Historie geschaffen hat.
Autorin:
Ina Conzen war bis 2021 Hauptkonservatorin für Kunst der Klassischen Moderne an der Staatsgalerie Stuttgart.
Der virtuelle Spendenhut
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.