Bücher gegen das Vergessen

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Inhalt:

1940 ist Chiune “Sempo” Sugihara offiziell der japanische Vizekonsul in Litauen. Tatsächlich aber spioniert er als Agent seines Außenministeriums deutsche und russische Truppenbewegungen aus. Seit seinen Lehrjahren in japanischen Kolonien ein entschiedener Gegner von Tyrannei und Unterdrückung, nimmt er sich der jüdischen Flüchtlinge an, die eines Tages beginnen, sein Konsulat zu belagern. Gemeinsam mit einem kreativen holländischen Konsul und einem profitorientierten russsischen Kommunisten heckt er einen wahnwitzigen Plan aus, ihnen mit Visa zweifelhafter Gültigkeit die freie Passage nach Japan zu ermöglichen.

Für die Juden beginnt eine aufreibende Odyssee durchs eiskalte Sibirien und über die raue japanische See in die Freiheit. Für Sugihara folgen Kriegsgefangenschaft, die unehrenhafte Entlassung aus dem Staatsdienst, Gelegenheitsjobs in Japan und Russland. Erst Jahrzehnte später erfährt er, dass sein Plan aufgegangen ist, und erst kurz vor seinem Tod wird er von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad vashem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. (Klappentext)

Rezension:

War Chiune Sigihara der japanische Schindler? Dass er seit Bekanntwerden seiner Taten immer wieder mit diesem wenig originellen Titel bedacht wird, ist so unglücklich wie verständlich. Auch ohne Vorkenntnisse hat man bei einer derart griffigen Verschlagwortung sofort eine ungefähre Vorstellung von der historischen Rolle, die ihm zukommt. Gleichwohl ist eine solche Bezugnahme auf eine andere historische Persönlichkeit auch immer eine Reduzierung.

Der japanische Schindler ist eben nicht das Original. Mit einer derartigen Größe verglichen zu werden ist einerseits sicherlich eine Ehre, klingt andererseits jedoch nach einem Trostpreis. Eine Hitparade der Holocaust-Helden wäre unschicklich, und darüber hinaus hat Chiune Sugihara es verdient, nicht nur im Schatten eines anderen geehrt zu werden.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Der in Japan lebende Journalist und Autor Andreas Neuenkirchen tut dies in einem recht eindrucksvollen Porträt, welches er über den japanischen Diplomaten, der durch seine Postion getarnt, eigentlich für seine Regierung die Truppenbewegung der Deutschen und der Sowjetunion ausspionieren sollte, dem jedoch per Aufenthaltsort eine bedeutende Rolle zukommen sollte, in Bezug auf die Menschen, deren Leben er rettete. Entstanden ist eine eindrucksvolle Biografie einer hier in Europa fast vergessenen, in Japan erst spät gewürdigten Persönlichkeit, ein wichtiges Werk in der Reihe der Bücher gegen das Vergessen.

Die Geschichte von Chiune Sugihara beginnt der Journalist mit einem Blick auf dessen Elternhaus, Kindheit und Jugend, die schließlich in einem Weg mündete, abseits dessen, welchen der Vater für seinen Sohn erdacht hatte. Wichtige Schlüsselmomente und Stationen werden dargestellt, um darauf später zurückzukommen und die Motivation für das spätere Handeln Sugiharas wenigstens im Ansatz zu klären.

Neuenkirchen begab sich nicht auf die Spuren eines Unternehmers, der zunächst nur günstige Arbeitskräfte für seine Fabriken brauchte, für den dann im Laufe der Zeit die menschlichen Leben einen höheren Stellenwert erhielten oder der Männer, die im Auftrag ansonsten neutraler Regierungen, wie dies etwa in Schweden der Fall gewesen ist, Verfolgte vor dem Schlimmsten bewahren sollten. Chiune Sugihara war im Auftrag der japanischen Regierung in Europa unterwegs.

Wenngleich die Rettung Tausender jüdischer Flüchtlinge die Sugiharas in Deutschland nicht in Bedrängnis bringen sollte, so dauerte es dennoch nicht lange, bis sich der Himmel über ihrem Schicksal verfinsterte.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Nach Lehrjahren in der Mandschurei zunächst in Moskau, später dann in Kaunas, vor allem um die Truppenbewegungen der eigentlich verbündeten Deutschen und derer Gegner auszuspionieren. Neuenkirchen hat den auslösenden Moment für eine menschliche Großtat und den Weg Sugiharas, sowie den Umgang mit dem historischen Erbe gesucht.

Für die zahlreichen Geschichte, ja für diese eine, wirkt der Text auf den ersten Blick beinahe zu kompaktm, doch Neuenkirchen wagt keine Ausschweifungen, hat sich beim Schreiben aufs Wesentliche konzentriert. Die Wirklichkeit ist spannend genug. Sie bedarf keinerlei Ausschmückung. Gestützt auf Archivarbeit, Interviews und Zeitzeugenberichten, Zeitungsartikeln verfolgt er den Weg eines außergewöhnlichen Menschen und der jenigen, deren Leben Sugihara rettete.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, zückte Sugihara ein letztes Mal auf litauischem Boden Feder und Papier. Die letzten behelfsmäßigen Visa warf er aus dem fenster des fahrenden Zuges, in die Hände derer, die ihn laufend begleiteten, so lange es ging. Erschöpft und verzweifelt rief er: “Ich kann nicht mehr schreiben, bitte vergebt mir!” Dann sank er in seinen Sitz und schlief sofort ein.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Eindrucksvoll werden einzelne Momente herausgestellt. Fast wirkt es so, als wäre man inmitten eines Dokuspiels und doch ist dies ein sehr flüssig zu lesendes Sachbuch, welches einmal einen anderen erinnerungswerten Aspekt zur Sprache bringt, als dies normalerweise der Fall ist. Ansonsten hätte man schon öfter von Chiune Siguhara gehört.

Andreas Neuenkirchen versteht es Familien- und Personengeschichte, sowie ein gesellschaftlichs Porträt miteinander zu verknüpfen, ebenso Nachwirkungen und den Umgang mit der Vergangenheit darzustellen. Ein Sachbuch, welches sich von der durch das wirkliche Geschehen verursachten Dramaturgie wie ein spannender Roman liest, ist das. Und fast genau so aufgebaut. Im forderen Teil gibt es ein Personenregister. Aber auch die Nachbetrachtungen sind sehr überlegt und kenntnisreich. Sie runden die Thematik gut ab.

Der Ausgang der Geschichte von Chiune Sugiharas Taten ist bekannt, doch noch viel zu wenig beschrieben. Dieser Text ändert das nun.

Autor:

Andreas Neuenkirchen wurde 1969 in Bremen geboren und arbeitet seit 1993 als Journalist. Zunächst zuständig für Bremer Stadtmagazine und Tageszeitungen, arbeitete er von 1998 bis 2016 als Redakteur in München. Nebenher arbeitete er als Autor für Hörspiele, Heftromane, Rundfunkreklame, Bücher und Filme. Die meisten haben Japan-Bezug. Seit 2016 lebt er mit seiner japanischen Frau und der gemeinsamen Tochter in Tokio.

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Andreas Steinhöfel/Melanie Garanin: Völlig meschugge?!

Inhalt:

Benny, die Umweltaktivistin Charlie und Hamid, der 2015 als Flüchtlingskind aus Syrien kam, sind dickste Freunde. Nichts kann sie auseinander bringen. Nichts? Als Benny von seinem Opa eine Kette mit Davidstern erbt, finden die drei sich in einem Strudel aus Antisemitismus, Mobbing und Gewalt wieder, der sie mit sich reißt und ihre Freundschaft zu zerstören droht. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte der drei Freunde beginnt mit ihrem Ende. Der zwölfjährige Benny wird verletzt aufgefunden, aus einer alten Höhle geborgen, in der er zuvor gestürzt war. Noch einmal ist er mit den Schrecken davongekommen, doch was war zuvor passiert? Eine beeindruckende Graphic Novel ist hier parallel zur gleichnamigen Jugendserie der Fernsehsender ZDF und Kika erschienen, die mit ihrem Inhalt das Werk in die Reihe der Bücher gegen das Vergessen rückt.

Erzählt wird die Geschichte dreier Freunde. Benny ist Mittelpunkt der Gruppe, sportlich und mitreißend. Charlie gehört nicht nur die Modelleisenbahn, um die sich die Gruppe regelmäßig versammelt, in gelben Gummistiefeln engagiert sich die Vegetarierin zudem für Umwelt- und Naturschutz. Der Dritte im Bunde ist Hamid, der 2015 mit seiner Familie aus Syrien nach Deutschland kam und seine Gedanken und Gefühle in Zeichnungen verarbeitet.

Nichts kann die drei auseinander bringen, doch in der weiterführenden Schule geht es rau zu. Handys verschwinden, Mobbing und Ausgrenzung sind an der Tagesordnung. Als Benny offen eine Kette mit Davidstern trägt, stellt dies auch die Freundschaft zu Hamid in Frage, dem sein älterer Bruder einige krude Gedanken in den Kopf gesetzt hat. Ein Strudel, der sich immer heftiger auftürmenden Gewalt beginnt die Freundschaft der drei zu zerreißen.

Soviel zum Inhalt der Geschichte, die sich trotz der thematischen Schwere leicht lesen und diskutieren lässt, was nicht nur an der grafischen Aufbereitung durch Melanie Garanin liegt, sondern auch an der einfühlsamen Erzählweise durch Steinhöfel, der wie kaum ein anderer deutschsprachiger Kinderbuchautor es schafft, wichtige Fragen aufs Tableau zu bringen, dabei keine Fäden der Handlungsstränge zu verlieren oder ins Klischeehafte abzurutschen. In einer Mischung aus Comic- und Mangastil werden Mobbing, Antisemitismus und Ausgrenzung, Freundschaft und Mut so aufbereitet, dass sich dies gemeinsam, z. B. im Unterricht oder alleine gut lesen lässt, finden doch alle entsprechende Äquivalente in der realen Welt.

Vergleichsweise ausführlich orientiert sich das Werk sehr eng an der gleichnamigen, ebenfalls sehenswerten TV-Serie, die parallel dazu entstand. Die Kapiteleinteilung entspricht der Benennung der einzelnen Folgen. Durch die Erzählweise entfallen in beiden Medien Längen. Zudem fehlt der erhobene Zeigefinger fast gänzlich.

In der Serie sind die Charaktere wechselseitig perspektivgebend, während die Graphic Novel vor allem aus der Sicht von Charlie erzählt wird. Doch die drei Hauptcharaktere sind hier wunderbar ausgestaltet, haben allesamt Ecken und Kanten, in ihren Reaktionen nachvollziehbar. Der erzählte Zeitraum ist unbestimmt, es kann sich dabei jedoch nur um wenige Wochen handeln. der Handlungsort könnte überall in Deutschland sein. Gegensätzliche Protagonisten sind klar definiert gehalten, aber auch deren abstruse Beweggründe sind ausreichend ausgearbeitet, so dass sich eine Dynamik zwischen den Figuren entfaltet, die dem Werk eine gewisse Geschwindigkeit und Brisanz verleiht.

Interessant bei solcher Lektüre ist immer auch die Farbgebung. Kontraste ergeben sich durch die warmen Farben, wenn aus der Sicht etwa von Benny erzählt wird, und den eher dunkelblau gehaltenen Tönen, wenn von Hamid die Rede ist, der seine Gedanken mit sich herumträgt. Zudem sind auch hier die Zeichnungen innerhalb der Zeichnung zu erwähnen, da der Junge parallel zur Handlung das Erlebte selbst malerisch verarbeitet. Große Freistellen wechseln sich zudem ab mit witzigen Randbewegungen, so dass zwischen all dem Ernst es genug auflockernde Momente gibt.

Diese Graphic Novel behandelt all die Themen, die alle Schüler/innen in der einen oder anderen Form kennen, sei es, da sie selbst Betroffene sind oder in derer Umgebung bestimmte Dinge passieren, über die gesprochen werden muss. Dafür bietet das Werk eine Grundlage und kann sicher als Aufhänger und Diskussionsgegenstand im Unterricht genutzt werden. Der Vergleich zur Ringparabel in Lessings Werk “Nathan der Weise” drängt sich auf. Moderner kann man eine Thematik kaum aufbereiten.

Gerade in unserer Zeit, in der extreme Richtungen wieder Zulauf erhalten und Glaube immer noch zur Konfrontation missbraucht wird oder als Aufhänger, auszugrenzen, ist solch ein Werk gerade für Jüngere wichtig, um zu zeigen, dass es auch anders geht, dass Freundschaft, Mut und Zusammenhalt ideologische Grenzen überwinden können. Auch eine Botschaft, wie sie sich durch einige von Steinhöfels Werken zieht.

Dieses Werk, was junge Lesende ernst nimmt und in der Lage ist, neue Perspektiven zu geben, ist damit unbedingt empfehlenswert.

Autoren:

Andreas Steinhöfel wurde 1962 geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Nach dem Abitur begann er ein Studium der Biologie und Englisch auf Lehramt, bevor er zu Medienwissenschaften, Anglistik und Amerikanistik wechselte. 1991 erschien sein erstes Kinderbuch, seit 2016 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er ist Autor mehrerer ausgezeichneter Kinder- und Jugendbücher, schreibt Drehbücher. Sein Werk wurde bereits mehrfach verfilmt.

Melanie Garanin wurde 1972 geboren und ist eine deutsche Illustratorin, Kinderbuchautorin und Comiczeichnerin. Zunächst studierte sie in Potsdam-Babelsberg Animationsfilm. Seit 1998 arbeitet sie als freiberufliche Animatorin und Illustratorin für eigene Werke und die anderer Titel. 2020 erschien ihre erste autobiografische Graphic Novel, in der sie den Tod ihres Sohnes verarbeitete. Sowohl eigene als auch die von ihr illustrierten Titel anderer Autoren wurden in mehrere Sprachen übertragen.

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Pieter van Os: Versteckt vor aller Augen

Inhalt:

Wie es der polnischen Jüdin Mala Rivka Kizel mit Intelligenz, Charme und einer außergewöhnlichen Portion Wagemut gelang, nicht nur der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen, sondern sogar die Liebe einer Nazifamilie zu gewinnen, das erzählt Pieter van Os in dieser verblüffenden und kraftvollen Geschichte, die niemanden unberührt lässt.

Dieses Buch ist eine atemberaubende Suche nach der Wahrheit und ihrer Moral und zugleich eine tiefschürfende Meditation darüber, was uns antreibt, den “anderen” zu fürchten, aber auch, was uns erlauben könnte, Mitgefühl zu empfinden. (Inhalt lt. Umschlagsseite)

Rezension:

Es ist die Geschichte einer immer kleinteiliger werdenden Suche nach den Spuren einer Biografie, deren Inhaberin sich so wandlungsfähig zeigen musste, wie die Zeit sich unstetig und voller Gefahren gab, in der sie lebte. Hinein in eine jüdisch-orthodoxe Familie geboren, erblickt 1926 Mala Rivka Kizel das Licht der Welt, noch nicht wissend, wie oft sie umdenken, sich verstellen werde müssen, um ihren Häschern zu entkommen.

Auf Grundlagen mehrerer Interviews mit ihr, begibt sich Jahrzehnte später der niederländische Journalist Pieter van Os auf Spurensuche quer durch Europa.. Herausgekommen dabei ist ein sehr detaillierter, dadurch um so erschütternder Bericht gegen das Vergessen.

Zunächst beginnt der Autor, der von der Geschichte Mala Rivka Kizels zum ersten Mal in einer Warschauer Bar hörte, mit der Beschreibung einer seiner vielen Suchen, die sich im Laufe seiner Recherchen stellten. Hier merkt man van Os seinem Beruf an, der gründliche Journalist, der jedes Puzzleteil aufdecken und zu bereits vorhandenen legen möchte, um sich so der Biografie zu nähern, die in Interviews aufgrund des zeitlichen Abstands nur umrissen werden kann, auch von der realen Protagonistin selbst.

Der Schreibende ist zugleich der Suchende, der es nicht lassen kann, jede noch so winzige Spur zu verfolgen, um Wahrheit von nachträglich hinzugefügten Bildern zu unterscheiden. In der polnischen Hauptstadt ist das bereits eine Herausforderung des Gedankenspiels, da es kaum noch historische Bausubstanz gibt.

Nur einen kleinen Rest der Ghettomauer etwa, findet man noch in einem unscheinbaren Hinterhof. In Dörfern und anderen Kleinstädten des heutigen Polens, der Ukraine oder in Ostdeutschland, welche ebenso mehrere Zeitenwenden durchgemacht haben, ist es mancherorts nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.

Nach und nach schält Pieter van Os jedoch die beeindruckende Lebensgeschichte einer mutigen Frau heraus, die ihre Biografie mehrfach vor den Augen ihrer Mitmenschen verändern musste, um zu überleben. Durchsetzt ist der Bericht zusätzlich mit mehreren Querverweisen. Wer die Geschichte einer Person erzählt, kommt nicht umhin, auch das Drum-Herum zu durchleuchten. So kreuzt der Autor beispielsweise auch den Weg Salomon “Sally” Perels, des Hitlerjungen Salomon, als er den Weg Kizels versucht hat, zu konstruieren.

Die Überlebensgeschichte der jungen Frau liest sich so beeindruckend wie ein Spannungsroman, zeigt, warum und wie es Kizel gelang, ihren Häschern zu entkommen. Es läuft einem beim Lesen kalt den Rücken herunter, alleine sich vorzustellen, wie es ist, gezwungen zu sein, sich zu verstellen. Ein Tanz auf dem Vulkan. Einem Schritt zu viel folgt nur der Tod.

Pieter van Os hält sich an den geografischen Wegepunkten bei der Gliederung seiner Kapitel, nutzt Zeitsprünge, und stellt jedem dieser ausführliche Anmerkungen hinten an. ein Familienstammbaum, eine geografische Karte und ein umfangreiches Personenregister ergänzen das Werk, welches auf Grundlage jahrelanger Recherchen entstand.

Es ist eine dieser Geschichten, die unbedingt in Erinnerung bleiben müssen und nicht unbeeindruckt zurücklassen. Was macht es mit uns Menschen, wenn wir gezwungen sind, uns permanent zu verstellen? Wie viel Mut, Wille und auch Glück ist notwendig zum Überleben. Wie prägen uns die jenigen, denen wir uns anvertrauen müssen, um zu leben, aber nicht offenbaren können, da dies sonst der Tod bedeuten könnte?

Ein Buch und eine Geschichte gegen das Vergessen, welche unter die Haut geht.

Autor:

Pieter van Os, geb. 1971, ist ein niederländischer Autor und Journalist. Er schreibt für “NRC Handelsblad” und “De Groene Amsterdammer”. Unter anderem erschien von ihm das Buch “We Understand Each Other Perfectly” über seine Tätigkeit als parlamentarischer Berichterstatter.

Mit der Originalausgabe von “Versteckt vor aller Augen” gewann er im Jahr 2020 den Brusse-Preis für das beste journalistische Buch in niederländischer Sprache sowie den Libris-Geschiedenis-Preis. Nach einigen Jahren in Warschau lebte er in Tirana, Albanien, und derzeit wieder in den Niederlanden.

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Bücher gegen das Vergessen #05

Bücher gegen das Vergessen sollen uns geschichtliche Ereignisse vor Augen führen, für die wir nicht unbedingt die Verantwortung tragen, aber dennoch verantwortlich sind, sie nicht zu vergessen. Abseits von Rezensionen soll hier eine Auswahl vorgestellt werden.

Der Untergang der Titanic 1912 – Eine Auswahl an Literatur.

Der Glaube an die Unbesiegbarkeit der Technik war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ungebrochen, doch erlitt er schon am Beginn des zweiten Jahrzehnts desselben einen herben Dämpfer. Der Untergang der Titanic 1912, das damals größte und luxuriöseste Passagierschiff der Welt, forderte über 1500 Menschenleben und erschütterte die Gemüter zu beiden Seiten des Ozeans.

Wer versucht, den Bann des Ereignisses der Nacht des 14. Aprils zu begreifen, die damalige Faszination für dieses Flaggschiff der Reederei White Star Line zu erfassen, landet heute bei einigen Filmen und einer ganzen Reihe literarischer Werke, die sich damit beschäftigen. Zeit, sich einiges näher davon anzusehen.

Grundlage dessen, was wir über die Geschehnisse an Bord des Schiffes wissen, bildet eine Sammlung von Augenzeugenberichten, die erstmalig 1955 erschien. Der Sachbuchautor Walter Lord konnte noch über sechzig Zeugen der Katastrophe, Überlebende, befragen und kurz vor seinem Tode James Camerons Team für die Dreharbeiten zu ihrem Film beraten.

Walter Lord “Die letzte Nacht der Titanic – Augenzeugen erzählen”
Seiten: 272, erschienen bei S.Fischer, ISBN: 978-3-596-19269-4
Übersetzer: Erwin Duncker

Zwar reichten seine Kenntnisse als das Buch erschien, nicht an dem heran, was wir heute über den Untergang wissen, doch alleine die Versammlung der Berichte überlebender Passagiere ist historisch wertvoll und nicht zu unterschlagen.

Natürlich hatte kein Passagier mit einer solchen Katastrophe gerechnet. Wer tut das schon, wenn man solch eine Überfahrt bucht? Vielleicht ohne Wiederkehr als Einwanderer mit dem Ziel, in der Neuen Welt ein neues Leben zu beginnen oder, als Passagier der ersten Klasse, einfach die Annehmlichkeiten, den Luxus der Art einer solchen Reise zu genießen? Getrost der Kategorien heutiger Kreuzfahrtschiffe, kann man ja auch die Titanic als eine Art „schwimmende Stadt“ bezeichnen.

Begeben wir uns also in die Rolle eines Reisenden an Bord der Titanic. Der ehemalige Marineoffizier und Nautiker John Blake hat eine fiktive Handreichung für Passagiere verfasst.

Wir begrüßen Sie auf der Titanic zur Jungfernfahrt nach New York.

Damit Sie sich zurechtfinden, hier ist Ihr Bordbuch. Dort finden Sie alles, was Sie über unser Schiff wissen, Informationen zum Aufenthalt und zur Orientierung in allen Klassen, die Anordnung der Decks und Unterkünfte, und, und, und,… Wir hoffen, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt.

John Blake “Das Titanic-Bordbuch – Eine Handreichung für Passagiere”
Seiten: 128, erschienen bei Delius Klasing, ISBN: 978-3-667-11079-4
Übersetzer: Klaus Neumann

Reich bebildert und sehr detailliert bekommen wir so als Passagiere ein erstes Bild von dem, was uns erwartet.

Wie angenehm ist es doch, auf diese Art zu reisen. Wo war jetzt gleich nochmal meine Kabine? Wie gelangt man zu den Rettungsbooten? Wobei, das passiert sowie so nicht.

Natürlich gibt es auch viel romanhaftes über die Schiffskatastrophe zu lesen und auch darüber lohnt es sich, einen Blick zu werfen. Gleichsam eine Vorwegnahme, wenn nicht gar Vorahnung der Ereignisse ist der bereits 1898 erschiene Roman von Morgan Robertson „Titan. Eine Liebesgeschichte auf hoher See.“, in der ein Unglück beschrieben wird, in welchem das Schiff „Titan“ erstaunlichen Parallelen zur später erbauten Titanic aufweist.

Im Fokus steht die Liebesgeschichte der darin vorkommenden Protagonisten, eine Vorhersehung der Ereignisse hat der Autor natürlich später mehrfach in Befragungen verneint, manchmal jedoch sind Zufälle recht sonderbar.

Jüngeren Lesern einen Zugang zu der Katastrophe zu geben, gelingt dem Kinderbuchautoren Stephen Davies, der in seinem Roman „Titanic – 24 Stunden bis zum Untergang“ eine Jungen-Freundschaft in den Fokus stellt. Zunächst erleben Jimmy und Omar bei der Erkundung des Schiffes Abenteuer auf ihrer „Entdeckungsreise“, als es zum Untergang kommt, überschlagen sich jedoch die Ereignisse. Werden sie es schaffen, auf einem der Rettungsboote unterzukommen, auf denen es insgesamt nicht einmal annähernd genug Plätze für alle Personen an Bord gibt?

Stephen Davies “Titanic – 24 Stunden bis zum Untergang”
Seiten: 127, erschienen bei Aladin, ISBN: 978-3-8489-2103-4
Übersetzerin: Ann Lecker

Das wunderbar illustrierte Werk mit einem angeschlossenen historischem Glossar erzählt es. Eine Rezension davon, gibt es hier zu lesen. Vorweggenommen, der Autor orientiert sich am überlieferten Geschehen, wie zum Beispiel diese, dass bis fast zuletzt eine Gruppe von Musikern zur Beruhigung der Passagiere Instrumente spielte.

Erik Fosnes Hansen “Choral am Ende der Reise”
Seiten: 512, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-05388-3
Übersetzer: Jörg Scherzer

Der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen setzte diesem mit seinem Roman „Choral am Ende der Reise“ ein Denkmal. Die nachgezeichneten Biografien der Musiker sind fiktiv, doch im Bereich der Prosa wird man nicht umhinkommen, sich auch damit zu beschäftigen.

Geschichte zum Anfassen jedoch, gelingt am Leichtesten mit Fundstücken oder, wo nicht verfügbar, Nachbildungen, so genannten Memorabilien. Auch rund um die Titanic gibt es solche, wie z.B. von Memorabilia Pack Company, die damit verschiedene historische Ereignisse lebendig werden lassen. Enthalten sind mehrere Fotopostkarten mit Motiven der Titanic, eine Ticketnachbildung, ein Telegramm, ein Booklet für Passagiere, Plakate, eine Dinner-Karte und vieles mehr, was in die Zeit eintauchen lässt. Für Liebhaber allem Historischem sehr zu empfehlen.

Memorabilia Pack Company “Titanic Replica Pack”
Enthalten sind folgende Nachbildungen, u.a. Ticket, Brief, Telegram, Booklet für Passsagiere, Dinner Karte, Poster, Flyer, Fotos, Postkarten, Zeitungsnachbildung, Poster etc.
Leo stellt den Inhalt einmal vor. Achtung, Englisch. 🙂

Anhand von Biografien lässt sich die Katastrophe nachvollziehen, egal ob das die Geschichte eines einfachen Passagiers ist oder die des Zeitungsjungen Ned Parfett, der am Tag nach der Katastrophe Magazine vor dem Büro der Reederei verkaufte. Augenzeugenberichte, daraus entstandene Romane und Filme sind es, die die Faszination weiterleben und das Ereignis nicht vergessen lassen.

In Anbetracht unserer vollen Weltmeere mit immer mehr und größeren Kreuzfahrtschiffen, die die Titanic um Welten übertreffen, wenn auch die Sicherheitsstandards gestiegen sind, ist das nicht falsch. Heute genügt der Name „Titanic“, um die Illusion absoluter Sicherheit und Unfehlbarkeit zu zerstören.

Cover gehören, wie immer den Verlagen, das erste Video auch. Das zweite einem sehr engagierten kleinen Youtuber, der das Memorablia Pack vorstellt.

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Bücher gegen das Vergessen #03

Bücher gegen das Vergessen sollen uns geschichtliche Ereignisse vor Augen führen, für die wir nicht unbedingt die Verantwortung tragen, aber dennoch verantwortlich sind, sie nicht zu vergessen. Abseits von Rezensionen soll hier eine Auswahl vorgestellt werden.

Bisher in dieser Rubrik erschienen:

Der Sohn des letzten Zaren

In einer kalten und klaren Nacht wurde einer einstmals mächtigen Dynastie ein blutiges Ende bereitet. Über dreihundert Jahre Herrschaft der Romanows über das Russische Reich waren entgültig vorbei, als ein Todeskommando den ehemaligen Zaren und seine Familie ermordete. Viele Jahrzehnte später erst sollte feststehen, dass abseits von Legendenbildung niemand die Nacht zum 17. Juli 1918 überlebt hatte.

Elisabeth Heresch “Alexej, der Sohn des letzten Zaren”
Seiten: 416, erschienen bei Langen-Müller, ISBN: 978-3-7844-2587-0

Viel ist bereits darüber geschrieben wurden. Zahlreiche Historiker haben analysiert, warum die glanzvolle Herrschaft der Romanows innerhalb von wenigen Jahren zu Staub zerfiel und weshalb ihr letzter Vertreter Nikolaus II. an einem System, dessen oberster Vertreter er war, scheiterte und nicht zuletzt auch an sich selbst. Bemerkenswert, auch die Personen in seinem Umkreis. Stolypin, einer seiner fähigsten Minister. Rasputin, Mönch und Wanderprediger, der Einfluss auf Nikolaus’ Frau Alexandra nahm und seinen Teil dazu beitrug, das fragile Kartenhaus zu Fall zu bringen.

Die tragischste Figur ist gleichwohl eine andere. Alexej, das jüngste Kind des Zaren, einziger Sohn und Thronfolger. Bei seiner Ermordung gerade einmal 13 Jahre alt. Gebeutelt vom Schicksal, lebte er mit der von der Familie der Zarin ererbten Bluterkrankheit quasi ständig am Rande des Todes. Kleinste Verletzungen konnten Schlimmes bedeuten.

Die Medizin war, gerade auf diesem Gebiet, noch nicht so weit und so war der Junge der ständigen Bedrohung einer Prellung, einer Blutung oder anderer Verletzungen ausgesetzt, die besonders seiner Mutter zu schaffen machten. Rasputin, dessen Einfluss auf Zarin und nicht zuletzt dem Zaren selbst als Folge und alles, was danach kam, ist bekannt.

Wenn Sie mich töten wollen, sollen sie es nur tun – wenn sie mich nur nicht lange quälen.

Alexej Nikolaiewitsch Romanow, 1918.

Die Historikerin Elisabeth Heresch, die sich lange Zeit mit den letzten Romanows beschäftigte, konzentrierte sich in einer ihrer Arbeiten auch auf Alexej, der nur den Fehler hatte, Sohn des letzten Zaren zu sein. Davon abgesehen wollte er “so sein, wie alle anderen Kinder”, auch. Wer hätte es ihm verdenken können? Die Autorin zeichnet ein vielschichtiges Bild eines Jungen, von den man sich unwillkürlich fragt, wie ein Russland unter seiner Herrschaft hätte aussehen können? Oder, wäre er nicht an den gleichen Problemen gescheitert, wie sein Vater?

Herresch begibt sich nicht in Spekulationen, zeichnet dafür das Bild nach, wie es für Alexej war, am Zarenhof aufzuwachsen, als Thronfolger auf die Aufgaben eines Herrschers vorbereitet zu werden und eine Kindheit in Angesicht eines Krieges zu verbringen. Herauskommt das Bild eines sensiblen und intelligenten, launischen, gerne lebhaften Jungen. Ein Portrait, welches sich zu lesen lohnt.

Weiterführende Links:

Alexej Nikolaijewitsch Romanow, Biografie

Ermordung der Zarenfamilie

Die letzten Tage // Zehn Fakten zum Zarenmord

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Bücher gegen das Vergessen #02

Bücher gegen das Vergessen sollen uns geschichtliche Ereignisse vor Augen führen, für die wir nicht unbedingt die Verantwortung tragen, aber dennoch verantwortlich sind, sie nicht zu vergessen. Abseits von Rezensionen soll hier eine Auswahl vorgestellt werden.

Bisher in dieser Rubrik erschienen:

#01: Die Tagebücher des Petr Ginz

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Kressmann Taylor “Adressat unbekannt”

Es sind nur ein paar Briefe, auf denen diese kleine Novelle beruht und doch traf die Autorin einen Nerv bei ihrem Lesepublikum, als ihre Geschichte als Fortsetzungsreihe 1938 veröffentlichte. Unter Pseudonym in der Zeitschrift “Story” publiziert, erzählt Kathrine Taylor in Form eines Briefwechsels vom Zerbrechen einer Freundschaft aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933.

Wenige Seiten sind es, nicht einmal 60, auf denen ein Strudel von Ereignissen sich abspielt. Zunächst ist da die Freundschaft zweier, die zusammen eine kleine Kunstgalerie in San Francisco gründeten und nun getrennt voneinander leben. Der Eine, seiner Familie zu Liebe in Deutschland, macht nun in der Stadtverwaltung von München Karriere. Martins Freund dagegen, Max, leitet nun alleine die Galerie.

Meine Ausgabe ist eine bei Rowohlt erschienene Taschenbuchausgabe.

Verlinkt ist die aktuell verfügbare.

Sprengstoff tut sich auf. Max ist jüdischer Abstammung und nimmt die aus Deutschland kommenden Berichte mit Sorge auf. Er hakt bei seinem Freund nach, der zunächst beschwichtigt, jedoch immer mehr der grausamen Ideologie der Nazis verfällt. Natürlich muss die Freundschaft zuerbrechen, natürlich macht die Politik auch nicht vor Max’ Familie in Deutschland halt. Natürlich macht sich Martin schuldig.

Die kleine Novelle besteht nur aus diesen Briefen, die man in sich aufnimmt und immer hilfloser Zeile für Zeile liest. Kressmann Taylor reißt ihre Leser, gleichsam wie ihre beiden Protagonisten, in den Abgrund. Der wahre Hintergrund ist es, der diese Geschichte so grausam werden lässt. Die Nazis hatten das Büchlein in Deutschland wohlweißlich verboten.

Im Jahr 1995, anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung der Vernichtungslager wurde die Novelle, von der nicht viel mehr verraten werden kann, nicht verraten werden darf, wieder aufgelegt. Diesmal in mehr als fünfzehn Sprachen. Es ist eines dieser Bücher, die so ganz unscheinbar sind, von denen man sich angesichts ihrer Dichte nicht viel erhofft, die einem dann jedoch umhauen und nicht mehr loslassen.

Wie viele Freundschaften mögen auf ähnliche Art und Weise zerstört worden sein? Wie erging es den Menschen, die hinter den Briefen steckten, die die Vorlage für diesen erschütternden Roman bildeten? Zumindest von einem der Protagonisten kann man das Schicksal erahnen. Dessen Brief kam mit dem Stempel “Adressat unbekannt” zurück.

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Bücher gegen das Vergessen #01

In zwölf Teilen soll es hier um besondere Bücher zu geschichtlichen Themen gehen, die gegen das Vergessen geschrieben und veröffentlicht wurden. Es ist eine unvollständige, vollkommen subjektive Auswahl und es gibt sicher noch viel mehr von dieser Sorte zu lesen. Diese Rubrik soll daher nur ein Anstoß sein, sich damit zu beschäftigen.

Dies ist Teil 1.

Die Tagebücher des Petr Ginz

Nicht wenigen dürften, zumindest als Schullektüre, “Die Tagebücher der Anne Frank” bekannt sein, die das jüdische Mädchen in ihrem Amsterdamer Versteck geschrieben hatte, worin sich die Familie vor ihrer Entdeckung durch die Nazis während der Besetzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg zurückziehen musste.

Doch, auch andere Kinder schrieben das alltäglich Erlebte, das Grauen, auf, welches in besonderen Zeiten Aufsehen erregt hätte, jedoch ein Zustand wurde, mit denen sie versuchten, zurecht zu kommen. Viel davon ist beeindruckend zu lesen und bei Lektüre regelrecht erdrückend.

Petr Ginz: Prager Tagebuch 1941-1942
Bloomsbury, 192 Seiten, ISBN: 978-3-8270-5245-2 (antiquarisch)

Das tschechische Äquivalent zu Anne Frank sind die Tagebücher des Prager Jungen Petr Ginz, der 1928 geboren wurde und als Zwölfjähriger begann, das Erlebte aufzuschreiben. Seine kleinere Schwester und er wuchsen liebevoll umsorgt in der tschechisch-slowakischen Hauptstadt auf, die mit als erste zu spüren bekam, was es bedeutete, von den Nationalsozialisten besetzt worden zu sein.

Petr zeichnete sich dabei durch eine sehr genaue und nachhaltige Beobachtungsgabe aus.

Juden müssen ein Abzeichen tragen. Auf dem Weg zur Schule habe ich 69 ‘Sheriffs’ gezählt, Mama hat über Hunderte gesehen.

Petr Ginz: Prager Tagebuch 1941-1942

Der Junge schrieb auf, was Alltag wurde. Anders als Anne Frank, kurz und knapp, fast journalistisch genau, ohne Gefühle ausführlich zu beschreiben, die nur hin und wieder durchscheinen. Es war ja ursprünglich nur für ihn selbst gedacht. Sicher dachte er nicht daran, dass einmal seine Erinnerungen veröffentlicht werden würden. Die Gefühle kommen dann eher in seinen zahlreichen Zeichnungen, kolorierten Linolschnitten oder Gedichten zum Vorschein. Ein feinfühliger, sensibler und mental starker Junge, so scheint es den heutigen Lesern.

Die Familie versteckte sich nicht. Seine Schwester Eva und er kamen später nach Terezin/Theresienstadt. Eva überlebte. Petr wurde nach Auschwitz deportiert und dort wie viele andere ermordet.

Nachdem Absturz der Raumfähre Columbia, in die der israelische Astronaut Ilan Ramon die Kopie einer Zeichnung von Petr Ginz mitgenommen hatte, die zeigte, wie sich der Junge die Mondlandschaft vorstellte, erhielt seine Schwester die Nachricht vom Fund seiner Tagebücher in Prag, zusammen mit anderen kreativen Werken Petrs.

Petr Ginz: Mondlandschaft

Im Jahr 2006 wurden sie erstmals veröffentlicht.

Derzeit ist die Ausgabe der Prager Tagebücher 1941-42 nur antiquarisch zu bekommen. Doch, wer Tschechien, insbesondere Prag besucht, findet überall Spuren, nicht nur den Stolperstein vor der ehemaligen Wohnadresse. In einer Prager Synagoge sind die Namen all der Hauptstadteinwohner aufgeführt, die den Holocaust nicht überlebten, in einer anderen findet man ein Bild, welches Petr im Tereziner Ghetto gezeichnet hatte.

Auch in Theresienstadt selbst, wo Petr und andere Jungen die Untergrundzeitung Vedem verfasste, gibt es Werke von ihm zu sehen.

Von Petr Ginz geschriebenes und von Nizza Thobi vertontes Gedicht.

Wer sich mit der Geschichte der Prager Juden beschäftigen möchte, wird unweigerlich auf die von Petr Ginz stoßen, der in anderer Zeit ein großer Journalist, Schriftsteller oder Wissenschaftler hätte werden können. Wer kann, besorge sich die antiquarische Ausgabe des Tagebuchs eines Jungen, der auch Geschichten im Stil von Jules Verne schrieb, den er bewunderte. Heute würde man von einer der ersten Fanfictions sprechen. Leider wurde diese bisher nicht übersetzt.

Seine Prager Tagebücher, die denen in der Beobachtungsgabe von Anne Frank in nichts nachstehen, jedoch schon. Sie seiem jedem zur Lektüre empfohlen.

Vzpominka na Prahu – Petr Ginz

Weiterführende Links:

Website über Petr Ginz – Mehr Informationen

The last flight of Petr Ginz

Schule – Judentum / Petr Ginz

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Bücher gegen das Vergessen #01 Read More »