Inhalt:
Wie es der polnischen Jüdin Mala Rivka Kizel mit Intelligenz, Charme und einer außergewöhnlichen Portion Wagemut gelang, nicht nur der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen, sondern sogar die Liebe einer Nazifamilie zu gewinnen, das erzählt Pieter van Os in dieser verblüffenden und kraftvollen Geschichte, die niemanden unberührt lässt.
Dieses Buch ist eine atemberaubende Suche nach der Wahrheit und ihrer Moral und zugleich eine tiefschürfende Meditation darüber, was uns antreibt, den „anderen“ zu fürchten, aber auch, was uns erlauben könnte, Mitgefühl zu empfinden. (Inhalt lt. Umschlagsseite)
Rezension:
Es ist die Geschichte einer immer kleinteiliger werdenden Suche nach den Spuren einer Biografie, deren Inhaberin sich so wandlungsfähig zeigen musste, wie die Zeit sich unstetig und voller Gefahren gab, in der sie lebte. Hinein in eine jüdisch-orthodoxe Familie geboren, erblickt 1926 Mala Rivka Kizel das Licht der Welt, noch nicht wissend, wie oft sie umdenken, sich verstellen werde müssen, um ihren Häschern zu entkommen.
Auf Grundlagen mehrerer Interviews mit ihr, begibt sich Jahrzehnte später der niederländische Journalist Pieter van Os auf Spurensuche quer durch Europa.. Herausgekommen dabei ist ein sehr detaillierter, dadurch um so erschütternder Bericht gegen das Vergessen.
Zunächst beginnt der Autor, der von der Geschichte Mala Rivka Kizels zum ersten Mal in einer Warschauer Bar hörte, mit der Beschreibung einer seiner vielen Suchen, die sich im Laufe seiner Recherchen stellten. Hier merkt man van Os seinem Beruf an, der gründliche Journalist, der jedes Puzzleteil aufdecken und zu bereits vorhandenen legen möchte, um sich so der Biografie zu nähern, die in Interviews aufgrund des zeitlichen Abstands nur umrissen werden kann, auch von der realen Protagonistin selbst.
Der Schreibende ist zugleich der Suchende, der es nicht lassen kann, jede noch so winzige Spur zu verfolgen, um Wahrheit von nachträglich hinzugefügten Bildern zu unterscheiden. In der polnischen Hauptstadt ist das bereits eine Herausforderung des Gedankenspiels, da es kaum noch historische Bausubstanz gibt.
Nur einen kleinen Rest der Ghettomauer etwa, findet man noch in einem unscheinbaren Hinterhof. In Dörfern und anderen Kleinstädten des heutigen Polens, der Ukraine oder in Ostdeutschland, welche ebenso mehrere Zeitenwenden durchgemacht haben, ist es mancherorts nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.
Nach und nach schält Pieter van Os jedoch die beeindruckende Lebensgeschichte einer mutigen Frau heraus, die ihre Biografie mehrfach vor den Augen ihrer Mitmenschen verändern musste, um zu überleben. Durchsetzt ist der Bericht zusätzlich mit mehreren Querverweisen. Wer die Geschichte einer Person erzählt, kommt nicht umhin, auch das Drum-Herum zu durchleuchten. So kreuzt der Autor beispielsweise auch den Weg Salomon „Sally“ Perels, des Hitlerjungen Salomon, als er den Weg Kizels versucht hat, zu konstruieren.
Die Überlebensgeschichte der jungen Frau liest sich so beeindruckend wie ein Spannungsroman, zeigt, warum und wie es Kizel gelang, ihren Häschern zu entkommen. Es läuft einem beim Lesen kalt den Rücken herunter, alleine sich vorzustellen, wie es ist, gezwungen zu sein, sich zu verstellen. Ein Tanz auf dem Vulkan. Einem Schritt zu viel folgt nur der Tod.
Pieter van Os hält sich an den geografischen Wegepunkten bei der Gliederung seiner Kapitel, nutzt Zeitsprünge, und stellt jedem dieser ausführliche Anmerkungen hinten an. ein Familienstammbaum, eine geografische Karte und ein umfangreiches Personenregister ergänzen das Werk, welches auf Grundlage jahrelanger Recherchen entstand.
Es ist eine dieser Geschichten, die unbedingt in Erinnerung bleiben müssen und nicht unbeeindruckt zurücklassen. Was macht es mit uns Menschen, wenn wir gezwungen sind, uns permanent zu verstellen? Wie viel Mut, Wille und auch Glück ist notwendig zum Überleben. Wie prägen uns die jenigen, denen wir uns anvertrauen müssen, um zu leben, aber nicht offenbaren können, da dies sonst der Tod bedeuten könnte?
Ein Buch und eine Geschichte gegen das Vergessen, welche unter die Haut geht.
Autor:
Pieter van Os, geb. 1971, ist ein niederländischer Autor und Journalist. Er schreibt für „NRC Handelsblad“ und „De Groene Amsterdammer“. Unter anderem erschien von ihm das Buch „We Understand Each Other Perfectly“ über seine Tätigkeit als parlamentarischer Berichterstatter.
Mit der Originalausgabe von „Versteckt vor aller Augen“ gewann er im Jahr 2020 den Brusse-Preis für das beste journalistische Buch in niederländischer Sprache sowie den Libris-Geschiedenis-Preis. Nach einigen Jahren in Warschau lebte er in Tirana, Albanien, und derzeit wieder in den Niederlanden.
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