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Christian Hardinghaus: Ferdinand Sauerbruch und die Charite

Ferdinand Sauerbruch und die Charite Book Cover
Ferdinand Sauerbruch und die Charite Christian Hardinghaus Europaverlag Erschienen am: 08.02.2019 Seiten: 234 ISBN: 978-3-95890-236-7

Inhalt:

Ungeachtet seiner medizinischen Verdienste zählt Ferdinand Sauerbruch zu den umstrittensten Ärzten des letzten Jahrhunderts. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte ein fast heroisches Bild des Menschen und Mediziners, der ab 1928 als Professor für Chirugie an der Berliner Charite arbeitete. Dafür gesorgt hat er teilwesie selbst, doch seit Beginn unseres Jahrhunderts wird der Blick zunehmend kritischer.

Sympathie, ja sogar Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten, wirft man dem Chirugen vor. Christian Hardinghaus begab sich auf Spurensuche und recherchierte. Herausgekommen dabei ist die erste umfassende Biografie dieses Arztes. Quellen belegen seinen Einsatz für Juden und andere politisch Verfolgte und Sauerbruchs Unterstützung des Widerstands gegen Hitler. Der Mediziner Ferdinand Sauerbruch muss neu bewertet werden. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Das berühmteste und bekannteste Krankenhaus Deutschlands, die Charite, hat eine lange und wechselhafte Geschichte vorzuweisen, die immer wieder auch medizinische Standards setzte und bedeutende Ärzte und Forscher hervorbrachte. Zu den Bekannteren unter ihnen gehört nicht zuletzt Ferdinand Sauerbruch, der in den 1930er Jahren dort als Chirug arbeitete und dessen Ruf ihn vorauseilte.

Doch, war er wirklich der “Halbgott in Weiß”, als der er in einer mit Hilfe eines Ghostwriters geschriebenen Biografie dargestellt wurde oder eher ein Kollaborateur der Nazis, wie ihn spätere Berichte nannten? Der Journalist und Autor Christian Sauerbruch begab sich auf Spurensuche. Herausgekommen dabei ist eine umfassende, alle Aspekte beleuchtende, Biografie.

Der Autor beginnt bewusst nicht mit der Geschichte Sauerbruchs selbst, sondern stellt zunächst in Kurzform die des Krankenhauses vor, was erklärt, warum die Charite später die Bedeutung erlangen konnte, die sie noch heute inne hat. Erst dann widmet sich Hardinghaus den Privat- und Berufsmenschen Sauerbruch und beschreibt, gestützt auf Tagebücher, niedergeschriebene Augenzeugenberichte und Archivmaterial, minutiös den Aufstieg und Werdegang eines Schülers zum Studenten, bis hin zum später bedeutenden Arzt.

Seine Genialität, die ihm half, medizinische Unterdruckkammern zu entwickeln, mit denen erstmals Operationen am offenen Brustkorb möglich wurden, wird ebenso beleuchtet, wie die eigene Entwicklung von protesen für Geschädigte des Ersten Weltkrieges, aber auch außergewöhnliche medizinische maßnahmen, die landesweit Aufsehen erregten.

Der Autor geht dabei sehr tief ins Detail und beleuchtet diese, wie auch die persönliche, etwas schwierigere Seite eines Mannes, den später vor allem in drei Punkten seines Lebens Anschuldigungen treffen sollten, die den Ruf des Mediziners auseinander nahmen.

Doch, was ist an den Kritikpunkten dran, auch dies verliert der Autor nicht aus den Blick. Jeder einzelne wird beleuchtet, Hintergründe erklärt und im Spiegel des Zeitgeschehens und dem, was wir heute wissen, beleuchtet.

Herausgekommen ist eine lesenswerte und vor allem kurzweilige Biografie, die ein differenziertes Bild auf einen Mediziner ermöglicht, dessen Wirken auch in Kriegszeiten weit über die Grenzen Deutschlands Beachtung fand, ihn und die direkt mit ihn in Kontakt Gestandenen schützten und vor allem ein Stück Berliner Personengeschichte, die nicht vergessen werden sollte.

Anhand von Augenzeugenberichten, Tagebucheinträgen und Archivmaterial, aufgelockert durch Fotografien und Skizzen, etwa medizinischer Apparaturen, ist ein bedeutendes Stück Medizingeschichte zu lesen. Selbst für medizinische Laien.

Der Schreibstil von Hardinghaus packt wie in einem Roman, nur dass mit “Ferdinand Sauerbruch und die Charite” fast ein literarisches Sachbuch vorliegt. Wobei das Sachbuch eindeutig überwiegt. Die Recherchearbeit merkt man dabei auf jeder einzelnen Seite, das wirkliche Interesse, die Person zu ergründen, ebenso.

Der Autor zeigt einen Mann zwischen Berufsethos, Anpassung und Widerstandsgeist, Genie und Wahnsinn und einen besonderen Menschen in besonderer Zeit, der sich für nicht besonders hielt, seiner Wirkung aber bewusst war. Skalpell bitte.

Autor:

Christian Hardinghaus wurde 1978 in Osnabrück geboren und ist ein deutscher Historiker, Schriftsteller und Fachjournalist. Nach seinem Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft (Film und TV) promovierte er an der Universität Osnabrück im Bereich Propaganda- und Antisemitismusforschung.

Im gleichen Jahr absolvierte er den Lehrgang Fachjournalismus an der Freien Journalismusschule. 2016 erwarb er zudem den Abschluss für das gymnasiale Lehramt in den Fächern Deutsch und Geschichte. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane. Hardinghaus lebt in Osnabrück.

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Ben Rhodes: Im Weissen Haus

Im Weissen Haus Book Cover
Im Weissen Haus Ben Rhodes C.H. Beck Erschienen am: 21.02.2019 Seiten: 576 ISBN: 978-3-406-73507-3 Übersetzer: Enrico Heinemann (u.a.)

Inhalt:

Acht Jahre lang sah Ben Rhodes fast alles, was im Herzen von Barack Obamas Präsidentschaft passierte. In seinem rasant geschriebenen, aufrichtigen, klugen Buch schildert er die Dramen dieser Präsidentschaft, die Ideale, von denen Obama sich leiten ließ, und die Grenzen des Machbaren, auf die er traf. Selten hat man einen so intimen, luziden Einblick in die inneren Gesetze der Politik im Zentrum der amerikanischen Weltmacht erhalten. (Klappentext)

Rezension:

Die Menschen scheinen sich nach Ruhe und Beständigkeit, nach Zuverlässigkeit zu sehnen, in einer Welt, in der aus allen Ecken Gegenwind zu spüren ist. Kaum anders ist es zu erklären, warum gerade jetzt, da Amerika in seinen politischen Ebenen immer mehr Wackelkandidat statt strategischer oder anders zuverlässiger Partner zu werden scheint, Bücher der ehemaligen Entscheider, politischen Berater, für die Sicherheit verantwortlich Gewesene, selbst deren Ehefrauen weltweit auf den Bestsellerlisten ihren Platz finden.

Nach der ehemaligen First Lady oder gescheiterten Geheimdienstchefs ist nun der politische Bericht Ben Rhodes’ auf den Markt, in dem der New Yorker beschreibt, wie er vom Mitarbeiter eines poltiischen Thinktank zum Berater von Barack Obama wurde und an politischen Projekten arbeiten konnte, auf deren Außenwirkung Obamas Bild in der Öffentlichkeit aufbauen sollte.

Der Autor beschreibt sich selbst, so der Eindruck eines Lesers, als immer wieder zweifelnden Beobachter, der dennoch Ziele und Visionen verfolgt, nicht zuletzt die von barack Obama sich selbst zu Eigen machte. Vom kleinen Redenschreiber bis hinein in die Entscheidungsebenen des Weißen Hauses, dem Handlungsspielraum eines präsidenten erfährt man einiges, was man so noch nicht gehört hat.

Große Momente mit großer Wirkung werden indes klein gehalten. Sicherheitsrechtlichen Bestimmungen geschuldet, wird etwa die fassung Bin Ladens sehr schnell abgehandelt, das kleinteilige und entnervende Spiel und Aushandeln kleinster politischer Erfolge dagegen en detail beschrieben. Das schafft Längen, die diese Biografie einer Präsidentschaft und nicht zuletzt des Autoren selbst kennzeichnen, zeigt aber auch die Schwierigkeiten mit denen Barack Obama und sein Team zu kämpfen hatten.

Es ist aber auch ein Zeichen dafür, welche Kämpfe die letzten jahre diese Politik bestimmten, und was nach den ersten schwarzen Präsidenten folgen sollte.

Stark ist Ben Rhodes vor allem darin, wenn es um die Aushandlung der poltischen Projekte und Themen geht, die er selbst maßgebend gestalten konnte. So erfährt man eben nicht nur über die Arbeit eines Redenschreibers, sondern noch mehr über die Hintergründe und Entwicklung von Obamas Kuba-Politik, welches ein persönlichesw Projekt Rhodes’ war oder Amerikas Rolle beim Atomdeal mit den Iran, sowie der Orientierungssuche im Prozess des Arabischen Frühlings 2011.

Ausführlich, jedoch nicht abgehoben und immer wieder die gesamte Entwicklung sehend, beschreibt der Autor seine Sicht auf eine Präsidentschaft, bei der er das Glück hatte, ein Teil davon zu sein und eine aktive Rolle zu spielen.

Es sind nicht nur die Worte: “Yes, we can!”, die zum Wahlkampfslogan und Motto Obamas avancieren sollten, die aus der Feder seines Teams stammten, sondern zahlreiche andere Elemente, die der amerikanischen Poltik inzwischen völlig abhanden gekommen sind und von denen zu hoffen ist, dass sie sich eines Tages wieder darauf besinnt. Vielleicht muss es deshalb solche Bücher geben und vielleicht gerade daher, haben sie jetzt solch einen Erfolg?

Ben Rhodes’ Innenansichten, die einen anderen und wichtigen Blickwinkel auf ein anderes politisches Amerika werfen, als das, welches sich derzeit im Vordergrund befindet und eine Hommage an eine ganz besondere Präsidentschaft.

Autor:

Benjamin J. “Ben” Rhodes wurde 1977 in New York City/USA geboren und war Stellvertretender Berater für nationale Sicherheit und strategische Kommunikation des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama.

Nach der Schule besuchte er die Rice University in Houston/Texas und studierte Politikwissenschaften und Anglistik, später Kreatives Schreiben an der New York University. 1997 engagierte er sich für die Wiederwahl Giulianis zum Bürgermeister von New York City, im Sommer 2001 arbeitete er für Diana Reynas Kampagne zur Wahl des rats der Stadt New York.

Ende 2006 arbeite er als Redenschreiber für Mike Warner. Nachdem dieser seine Kandidatur für die anstehende Präsidentschaftswahl für beendet erklärtete, wechselte er zu Obama und schrieb von beginn an seine Reden, arbeiete später als stellvertretender Sicherheitsberater des Präsidenten und an politischen Projekten zur Aussohnung mit Kuba oder der Verhandlung des Atomdieals mit den Iran. heute ist er Co-chair der Organisation National Security Action in Washington und arbeitet weiter als Berater für Barack Obama.

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Asne Seierstad: Einer von Uns

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Einer von Uns Asne Seierstad Kein & Aber Verlag Erschienen am: 28.04.2016 Seiten: 544 ISBN: 978-3-0369-5740-1

Inhalt:

Wie konnte sich anders Breivik, der im wohlhabenden Westen aufwuchs, zu einem perfiden Terroristen entwickeln? Asne Seierstads ausgezeichnetes Buch ist gleichzeitig psychologische Studie und literarisches True Crime, gleichzeitig Würdigung der opfer und eine messerscharfe Analyse einer Tat, die sich jederzeit und überall wiederholen könnte. (Klappentext)

Rezension:

Wenn es einen europäischen 11. September gibt, so ist es wohl der 22. Juli für Norwegen, der die Gesellschaft des skandinavischen Landes in ihren Grundfesten erschütterte. Die Bevölkerung, sonst für Offenheit und Toleranz bekannt, befand sich in einer Art Schockstarre, als die Bilder eines zerstörten Osloer Regierungsgebäudes über die Fernsehschirme flimmerten, noch mehr, als die Nachrichten Schüsse auf der nicht weit entfernten Insel Utoya vermeldeten.

Die Opfer waren großteils Jugendliche. Insgesamt 77 Menschen starben. Unzählige wurden schwer verletzt und tragen an den Spätfolgen noch heute.

Die Journalistin und Autorin war in ihrer Funktion als Reporterin für eine Zeitung bei den Gerichtsprozess um den Attentäter Breivik anwesend und recherchierte weiter, als dieser längst verurteilt war. Seierstad wälzte Gerichtsakten und psycholigsiche Gutachten, sprach mit Weggefährten und ehemaligen Bekannt- und Freundschaften Breiviks, mit dessen Mutter und studierte die Schriften des Mannes, der die größte Tragödie der jüngeren norwegischen Geschichte ausgelöst hatte.

Sie wollte das Unverständliche zumindest nachvollziehen können und herausfinden, wie in einem wohlsituierten Land jemand zur Bestie werden konnte.

Eingängig geschrieben und in klare Abschnitte geteilt, liest sich das Werk, dessen Untertitel im Deutschen fälschlicherweise an eine Biografie denken lässt, als wäre man bei den Ereignissen dabei. Das ist dann vielleicht auch der drängenste Kritikpunkt. Ob man sich beim Lesen eines solchen Berichtes wie im Film fühlen soll, wage ich zu bezweifeln.

Das ist grenzwertig und diskussionswürdig. Genau so, wie der Untertitel, der im Original sich eben nicht nur auf den Täter selbst bezieht, sondern ausdrücklich die eigentliche Tat zum Thema nimmt. Damit funktioniert das Werk auch.

Die Autorin stellt dem Bösen gegenüber, die Biografien seiner Opfer und zeigt damit zugleich das Grundverständnis skandinavischer Gesellschaften auf, welches die Norweger auch nach den Attentat versucht haben, hochzuhalten. Ein Pluspunkt, vergisst Seierstad doch hier gerade nicht, dass die Leidtragenden zu oft außerhalb des Fokus’ geraten.

Mit einem Vor- und Nachwort rahmt sie ihre Recherchen ein, erklärt ihre Arbeits- und Herangehensweise, was die Verarbeitung widerum erklärt. Asne Seierstad wollte mit ihrem Werk “Rechtsextremismus entblößen, um ihn zu bekämpfen.” Für ihren Ansatz bekam sie dafür den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 zur Europäischen Verständigung.

Autorin:

Asne Seierstad wurde 1970 in Oslo geboren und ist eine norwegische Schriftstellerin und Jornalistin. Sie studierte zunächst Russisch, Spanisch und Ideengeschichte, bevor sie für die Zeitung Arbeiderbladet tätig wurde. Von 1993-96 berichtete sie als Auslandskorrespondentin aus Russland, 1997 aus China.

Von 1998 an arbeitere sie als Kriegsreporterin in verschiedenen Konfliktregionen, darunter Serbien, Afghanistan und Tschetschenien. Ihre Berichte wurden im norwegischen und schwedischen Fernsehen gesendet. Ihre Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Für “Einer von uns – Die Geschichte einesMassenmörders” erhielt sie 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung.

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Lisa Brennan-Jobs: Beifang

Beifang Book Cover
Beifang Lisa Brennan-Jobs berlin Verlag Erschienen am: 04.09.2018 Seiten: 381 ISBN: 978-3-8270-1364-4 Übersetzerin: Bettina Abarbanell

Inhalt:

“Achtundzwanzig Prozent der männlichen Bevölkerung der USA könnten der Vater sein.” Das sagte Steve Jobs dem Time Magazine über seine Tochter Lisa. Für die Öffentlichkeit war er da schon ein Halbgott. Was bedeutet es, einen Vater zu haben, der lange nichts von einem wissen wollte?

Behutsam nähert Lisa Brennan-Jobs sich dieser für sie brennenden Frage und versucht, in ihren Kindheitserinnerungen Antworten zu finden. Aber, anderes als von vielen erhofft, ist dies Buch keine gehässige Abrechnung mit dem Apple-Guru geworden, sondern eine kluge und berührende Auseinandersetzung mit der überwältigenden Liebe zwischen Eltern und Kindern – allen Widrigkeiten zum Trotz. (Klappentext)

Rezension:

Es gab wohl kaum einen Menschen in der IT-Branche,der unser Bewusstsein für Technik und Design in jüngerer Zeit so beeinflusste und mitgestaltete, wie Steve Jobs und so ist der Gründer von Apple wohl einer der Menschen aus dem Silicon Valley, die am meisten bewundert wurden sind.

Der Computer-Revolutionär ist zugleich jedoch einer der Gestalten, die verhasst wurden und viele Neider auf sich zogen und so ist dieser Denker und Tüftler, dessen Erfolgsgeschichte, wie so viele andere, in einer Garage startete, eine der interessantesten Figuren unserer Tage gewesen. Lisa Brennan-Jobs erlebte Steve Jobs aus nächster Nähe, einen Menschen, der im Umgang mit den Massen und der Technologie Ideen in die Welt setzte und Richtungen bestimmte, im privaten Umgang jedoch äußerst kompliziert war.

Dies ist noch nett ausgedrückt, doch die Biografie “Beifang” der Autorin versucht eine gerechte Annäherung an die Vaterfigur, die für sie selbst lange Zeit so unerreichbar war. Behutsam zeigt sie auf, wie Jobs’ Charaktereigenschaften Menschen an sich banden, zugleich verletzten. Der Apple-Gründer als im Zentrum stehende Sonne, die Menschen als um ihn herumkreisende Planeten. Sie berichtet rückblickend von den schwierigen Jahren ihrer Kindheit, zwischen zwei gegensätzlichen Elternteilen und der Suche nach ihrem Platz in der Welt, in ihrer Familie und vor allem im Herzen ihres Vaters.

Still und leise, ohne schrille Zwischentöne, berichtet die Autorin, natürlich nicht frei von persönlichen Gefühlen. Es ist interessant, Steve Jobs im Privaten zu sehen. Dieses Bild, welches einen krassen Kontrast zum öffentlich bekannten setzt. Lisa Brennan-Jobs schafft dies, nachdenklich ohne Frustration und zeigt so diese andere Seite, die das kurze und geniale Leben dieses Machers prägte, aber auch alle Menschen und besonders Lisa um sich herum.

Viel persönliches erfahren die Leser in “Beifang”, nichts bewegendes oder gar Interna aus dem Apple-Universum. Wer das sucht, muss irgendetwas anderes lesen. Es ist hier nicht zu finden. Doch, interessanter ist der menschliche Blick hinter der Geschichte und der gelingt der Autorin sehr intensiv. Sie schafft es, eine andere Seite Steve Jobs’ aufzuzeigen und vervollständigt somit ein Puzzle, welches bisher unvollständig geblieben ist und sich selbst eine Annäherung an ihren Vater, die ihr erst gegen Ende seines Lebens gelang.

Autorin:

Lisa Brennan-Jobs wurde 1978 geboren und ist die Tochter des Apple-Gründers Steve Jobs. Nach einem Gerichtsprozess erkannte Steve Jobs die Vaterschaft an, die Autorin lebe einige Zeit bei ihm und studierte danach in Harvard und am King’s College in London. Für verschiedene Firmen arbeitend, u.a. für mehrere Nachrichtenmagazine, arbeitet sie heute als Redakteurin und Autorin. Mit ihrer Familie lebt sie in Brooklyn/New York.

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Karina Urbach: Queen Victoria – Eine Biografie

Queen Victoria - Eine Biografie Book Cover
Queen Victoria – Eine Biografie Rezensionsexemplar/Sachbuch C.H.Beck Hardcover Seiten: 284 ISBN: 978-3-406-72753-5

Inhalt:
Als Victoria 1837 im Alter von achtzehn Jahren den Thron bestieg, hätte niemand ihr zugetraut, eine erfolgreiche Königin zu werden – geschweige denn, ein ganzes Zeitalter zu prägen. Die Historikerin Karina Urbach erzählt in dieser glänzend geschriebenen Biografie, wie Victoria in ihrer 63-jährigen Regierungszeit allen politischen Stürmen und persönlichen Widrigkeiten standhielt und zur mächtigsten Frau des 19. Jahrhunderts wurde. (Klappentext)

Einordnung:
Die Rezension umfasst die erweiterte und aktualisierte Fassung der Biografie, die jetzt im C.H. Beck Verlag erschien.

Rezension:
Sehr knapp gehaltene Biografien haben oft genug den Nachteil, eher einseitig orientiert zu sein und nicht alle Aspekte einer Person in ihren Einzelheiten zu analysieren. Aufgrund Platzmangels fällt so manche wichtige Begebenheit herunter und wenn dazu dann noch eine etwas klägliche Quellenlage kommt, hat man meist eine unausgegorene Arbeit in den Händen, die es sich nicht zu lesen lohnt. Ganz anders die Biografie Queen Victorias, geschrieben von Karina Urbach.

Karina Urbach beherrscht die Kunst der Verknappung ohne den Fehler zu machen, zu einseitig die Person zu analysieren, die Hauptthema ihres Werkes ist.
Auf nicht einmal 300 Seiten wird einer der größten Herrscherinnen Europas auf den Zahn gefühlt und nahezu alle Aspekte, vom politischen Standpunkt und Wandel bishin zum Privatleben beleuchtet, was bei Monarchen bekanntlich fließend ineinander übergeht.

Die Autorin verfolgt dabei eine lineare Strategie, trennt diese Punkte nicht voneinander, sondern orientiert sich an den Jahreszahlen. Sie beschreibt den Werdegang dieser beeindruckenden Frau, das wechselnde politische Gefüge und private Konstellationen, in denen Victoria agieren musste.

Detailliert, jedoch nicht ausufernd, beschreibt die Historikerin, welchen Einfluss die englische Königin auf die politischen Entscheidungen ihrer Premierminister hatte (oder auch nicht), wie sie die Familiengeschicke lenkte, deren Verbindungen in beinahe sämtliche europäischen Herrscherhäuser hineinreichte.
Einzelne Aspekte wie das interesse an sozialen Missständen werden hervorgehoben, aber auch Kritik nicht ausgespart. So wird die fehlgeleitete Irlandpolitik ebenso zur Sprache gebracht, wie die Heiratspolitik, die erbliche Krankheiten quer in die Königshäuser Europas brachte, aber auch einige Mitglieder des britischen Königshauses schwer treffen sollte.

Urbach zeigt, wie Victoria sich zum Fixpunkt des Adels entwickelte, der beim Wegfallenfast zwangsweise (nach ihrem Tod) in die Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts führen sollte. Die Biografie zeichnet das Bild einer Frau ohne jedwedes innenpolitisches Gespür, dafür um so mehr außenpolitischen Glück und Machtbewusstsein, eines Menschen, der sich seiner Fehler bewusst war, bestimmte Wendungen jedoch nicht vermochte, zu verhindern.

So differenziert ist “Victoria – Eine Biografie” ein Werk, um sich einen ersten Überblick über eine Königin zu verschaffen, die eine ganze Epoche ihren Stempel aufdrücken sollte, welche jedoch ohne sie keine Chancen hatte, zu überleben.
Karina Urbach über ein britisches “National Treasure”, welche zwar viele Fehler gehabt, jedoch das Bild prägen sollte, welches teilweise heute noch Groß-Britannien und die britische Königsfamile im Besonderen hat.

Autorin:
Karina Urbach ist eine deutsche Historikerin mit den Spezialgebieten Drittes Reich, sowie Monarchien. An der University of Cambridge studierte sie Geschichte und Internationale Beziehungen, bevor sie u.a. nach Bayreuth wechselte und dort wirkte. Sie unterrichtete an verschiedenen deutschen und britischen Universitäten und forscht seit 2015 am Institute for Advanced Study in Princeton. Als Fachberaterin war sie an zahlreichen historischen Dokumentationen des ZDF und der BBC beteiligt. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen zur deutschen und britischen Geschichte.

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Tara Westover: Befreit

Befreit Book Cover
Befreit Rezensionsexemplar/Sachbuch Kiepenheuer & Witsch Hardcover Seiten: 444 ISBN: 978-3-462-05012-7

Inhalt:

Tara Westover ist 17 Jahre alt, als sie zum ersten Mal eine Schulklasse betritt. Zehn Jahre später kann sie eine beeindruckende akademische Laufbahn vorweisen. Aufgewachsen im ländlichen Amerika, befreit sie sich aus einer ärmlichen, archaischen und von Paranoia und Gewalt geprägten Welt – durch Bildung, durch Aneignung von Wissen, das ihr so lange vorenthalten worden war. (Klappentext)

Rezension:

Für diese Rezension habe ich mir zum ersten Mal des Effektes Willen überlegt, die Kurzbiografie einer Autorin wegzulassen. Vorab sich nämlich nicht über Tara Westover informieren zu können, macht die von ihr erzählte Geschichte noch brisanter, noch mächtiger und noch unglaublicher.

Tara Westover wächst als Kind in einer, von ihrem vater bestimmten Familie auf, die sich komplett von der Außenwelt abgrenzt. Hier geht es nicht nur um die Gegenüberstellung zweier parteipolitischer Ansichten, die heutzutage das medienbild der USA prägen, hier geht es um alles oder nichts.

Eine rechtschaffende, gläubige, Gott zugewandte Familie gegen den Rest der Welt. So sieht das zumindest Taras Vater, der sogar die strengen Vorschriften der Mormonen noch wörtlicher als die meisten Gläubigen nimmt und damit seinen Kindern alle Chancen nimmt.

Diese werden von den staatlichen Schulen genommen, müssen im Familienbetrieb arbeiten, selbst schwerste Verletzungen werden nicht im Krankenhaus behandelt, sondern auf dem heimischen Sofa, unter Zuhilfenahme pseudoätherischer Öle und natürlich Gebeten. Unter diesen Bedingungen wächst die immer größer werdende Kinderschar auf.

Je älter sie werden, um so mehr sehen Tara und, leider nicht alle, ihre Geschwister eine Zukunft, die ihnen verwehrt werden wird, wenn sie nicht ausbrechen. Zwei ihrer älteren Geschwister und sie selbst nehmen diesen Kampf jedoch auf und stellen sich damit gegen Glaube, Familie und vor allem ihrem Vater.

Wie weit muss man gehen, um den Kampf um Selbstbestimmung, Entwicklung und frieheit zu gewinnen? Manche offenbar sehr weit, wenn man Tara Westovers beeindruckende Bildungsbiografie liest.

Als Leser wird man kaum aus den Erstaunen herauskommen, welches Leid die Autorin unter der Tyrannei ihres Vaters zu erdulden hatte, dessen bipolare Störung zur Zerreißprobe für den gesamten Clan geworden ist, dessen beim Streit aufgeplatzte Wunden bis heute nicht verheilt sind.

Nach der Lektüre wird man den Faktor Bildung einen größeren Wert als bisher bemessen, innerlich die Autorin an manch beschriebenen Ereignissen in den Arm nehmen, dann wieder mit den Kopf gegen die Wand des Naheliegenden stoßen wollen.

Eindrucksvoll beschreibt Westover die ihr gestellten Hürden, die sie ohne Hilfe liebenswerter Menschen nicht hätte überwinden können. Tränen, Traurigkeit, Glücksgefühle, Wut. All das wechselt so schnell nacheinander, dass man innehalten muss, um zu Atem zu kommen.

Tara Westover beschreibt ihren Weg in Eigenständigkeit und Selbstwertgefühl, welcher steiniger nicht hätte sein können. Was muss es nur für eine Überwindung und Kraft gekostet haben, diese Zeilen zu Papier zu bringen?

Der Lehrer rief mich auf, und ich las den Satz vor. Als ich an das Wort kam, hielt ich inne. “Dieses Wort kenne ich nicht”, sagte ich. “Was bedeutet es?”

Tara Westover: “Befreit”

An manchen Stellen möchte man brechen. Für mich gehören Eltern, die krank oder nicht, so die Sicherheit ihrer Kinder gefährden wie Westovers dies getan haben, die ihre Kinder jede reelle Chance auf Bildung und damit Freiheit genommen haben, in Gewahrsam.

Um so größer die Bewunderung für Tara Westover, die dennoch einen Funken Liebe noch in sich bewahrt hat, für die zeit, in der ihre Eltwern und sie vielleicht eines Tages aufeinander zugehen können. Diese Biografie ist ein Mahnmal für das, was Zwänge anrichten und was Bildung bewirken kann. Grenzen zu überschreiten, benötigt Zeit.

Manchen macht die Geschichte Tara Westovers hoffentlich Mut genug, ihren eigenen Weg zu gehen. Wenn das dieses Buch schafft, wäre viel gewonnen.

Autorin:

Tara Westover wurde 1986 in Idaho, USA, geboren und lebt heute in Großbritannien. 2008 erwarb sie den Bachelor of Arts an der Bringham Young University, am Trinity College in Cambridge erhielt sie 2009 ihren Abschluss als Master of Philosophy und promovierte 2014, nach einem Abstecher in Havard in Geschichte. “Befreit” ist ihr erstes Buch.

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Anja Tuckermann: “Denk nicht, wir bleiben hier!”

"Denk nicht, wir bleiben hier!" Book Cover
“Denk nicht, wir bleiben hier!” Rezensionsexemplar/Sachbuch dtv/Hanser Taschenbuch Seiten: 303 ISBN: 978-3-42362682-8

Inhalt:

Hugo Höllenreiner wächst in München auf; sein Vater betreibt ein kleines Fuhrunternehmen. 1943 wird Hugo mit seinen Eltern und fünf geschwistern deportiert. Er ist erst neun und weiß nicht, wohin die Reise geht, die im Zigeunerlager von Auschwitz-Birkenau endet. Im April 1945 befreien ihn englische Soldaten aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dazwischen liegen zwei Jahre, über die er erst der sechzigjährige zu reden vermag. In diesem Buch erzählt Hugo Höllenreiner vieles zum ersten Mal. Er möchte davon berichten, damit junge Menschen erfahren, wie es wirklich gewesen ist. (Klappentext).

Rezension:

In politisch schwierigen Zeiten sich zu erinnern und das Erlebte in Schriftform zu veröffentlichen ist ein mutiger Schritt, den die letzten jahre viele Menschen gegangen sind. Grausamkeiten, Schrecken jahrzehntelang her, kaum mehr wandelnde Täter unter uns, aber eine Gesellschaft im Umbruch, zumal die Zeitzeugen rar werden, welchen besseren Zeitpunkt gäbe es, als jetzt?

Hugo Höllenreiner erzählt die Geschichte von sich und seiner Familie. Herausgekommen dabei ist eine eindrückliche und nachdenklich machende Kindheitsbiografie.

Der Klappentext verrät genug vom Inhalt, daher muss man dazu nicht viel mehr sagen. Es ist schon bedrückend genug, den Text zu lesen. Die Grausamkeiten, die Höllenreiner und seine Geschwister durchmachen mussten, sind eigentlich unmöglich zu beschreiben. Wortgewandt ist es ihm dennoch gelungen.

Immer wieder eingewoben, Gesprächsfetzen und Gedanken, hat Anja Tuckermann die Interviews zu einem biografischen Roman verarbeitet, der es in sich hat. Fast kommt ein Leser sich so vor, als schaue er ein Dokuspiel mit eingeblendeten Interviews und Kommentaren, nur ist all das Beschriebene wirklich erlebt.

Höllenreiner erzählt von Ausgrenzung und Unterdrückung, von Mut und Verzweiflung, Überlebenswillen und Durchhaltevermögen. Wie gelang es ihm die tollwütigen Aufseher Bergen-Belsens zu überstehen, die Experimente Mengeles in Auschwitz?

Wie hält man Tage durch, ohne jedes Zeitgefühl, bestimmt von Hunger und Krankheiten, ausgesetzt der Willkür anderer? Welche Last muss ein Mensch ertragen, bis er zerbricht? Wie findet man wieder ins Leben zurück, nachdem man jahrelang nur als leblose Hülle agiert?

Es ist schwer, nicht emotional zu werden. Einfühlsam wird die Geschichte Höllenreiners erzählt, dem seine Kindheit genommen wurde, und der später versuchte, das Beste daraus zu machen. Sofern möglich.

Eine literarische Dokumentation des Überlebenswillen eines kleinen Jungen, und ein Zeichen dafür, was Menschen anderen Menschen antun können, so einmal eine bestimmte Schwelle überschritten ist. “Denk nicht, wir bleiben hier!”, ist ein Lehrstück dessen, was die Zukunft bringt, wenn wir nicht aufpassen. Solch ein Leid, wie hier beschrieben, darf nicht noch einmal passieren. Dafür dieses Buch.

Autorin:

Anja Tuckermann wurde 1961 in Selb/Bayern geboren und ist eine deutsche Autorin von Romanen, theaterstücken und Journalistin. In Berlin aufgewachsen veröffentlichte sie zuerst Texte in einer von ihr gegründeten Zeitschrift und arbeitete für einen Jugendverband. Dort organisierte sie Reisen für Kinder und Jugendliche.

Von 1988-1992 arbeitete sie als Redakteurin, bis 1997 freiberuflich für die Kinderfunkredaktion des RIAS. Seit 1993 leitet sie Schreibwerkstätten zum Schreiben von Prosa und Theaterstücken. Mehrere Romane schrieb sie über das Schicksal von Sinti-Kindern im Dritten Reich. Tuckermann ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller.

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Jan Gerber: Karl Marx in Paris

Karl Marx in Paris Book Cover
Karl Marx in Paris Jan Gerber Piper Erschienen am: 03.04.2018 Seiten: 239 ISBN: 978-3-492-05891-9

Inhalt:

Seitdem sich die Elendszonen des Weltmarkts erneut ausweiten und die westlichen Metropolen erreichen, wird auch dort wieder verstärkt von Arbeit und Kapital, der Klasse und ihrem Kampf gesprochen: Im 200. Jahr nach seiner Geburt hat Marx erneut Hochkonjunktur.

Jan Gerber legt auf der Grundlage neuester Forschungen eine auseinandersetzung mit dem Leben und dem Werk von karl Marx vor. Marx’ erster Paris-Aufenthalt von Oktober 1843 bis Februar 1845 wird dabei zum Dreh- und Angelpunkt.

Denn in dieser Zeit entwickelte er die zentralen Begriffe seines Denkens: Marx traf als Radikaldemokrat in Paris ein und verließ die Stadt als überzeugter Klassenkämpfer und Kommunist. (Klappentext)

Rezension:

Die Geburt eines der größten und umstrittensten Denker der Neuzeit jährt sich dieses Jahr zum 200. Mal und so ist es nicht verwunderlich, dass auf den Büchertischen zahlreiche Publikationen vorliegen, die sich mit Karl Marx, seinen Weggefährten und Ideen beschäftigen.

Doch, wer war dieser Mensch, Fabrikantensohn, den alle Türen der damaligen Zeit offenstanden, wie entwickelte er seine Ideen, die Jahrzehnte nach seinem Tod missbraucht und falsch verstanden, umgesetzt werden und zur Unterdrückung eines Großteils des Erdballs führen sollten?

Jan Gerber analysoert schonungslos die Entwicklung eines tönernen Kollosses an Theorien, die schon zu Entstehungszeiten Widersprüche aufwiesen, und kaum zu halten waren. Zumindest nicht, bei genauen Hinschauen.

Der promovierte Historiker nimmt das Theoriengespinst auseinander, zeigt die Begrifflichkeiten von Klasse bis Proletariat auf, stellt einen Zusammenhang mit einem entscheidenden Teil des Lebensweges eines Menschen auf, der mit seiner Freundschaft zu Friedrich Engels ein Indenkonstrukt entwickeln sollte, welches nie so ganz stimmig werden sollte.

Schonungslos, dennoch wohlwollend ist diese Analyse, auf die sich der Leser einlassen muss. Ohne Konzentration geht es nicht. Zu dicht folgen die Schlüsselereignisse in Marx’ Leben aufeinander, zu schwer wiegen die Begrifflichkeiten, die jeder für sich fragwürdig sind, zumal der große Philosoph und Autor zahlreicher Schriften am Anfang seines Lebens mit diesen etwas ganz anderes meinte, als in seinen letzten Lebensjahren.

Umgesetzt wurde vieles davon später nochmals anders, so dass die Frage nach Entstehung des Kommunismus diskussionswert ist und vom Autoren jan Gerber dies auch angestoßen wird.

Was bedeuteten damals Begrifflichkeiten, wie Klasse oder Proletariat, weshalb waren Teile dieser Theorie schon damals zu Marx’ Lebzeiten schlicht und einfach falsch, und was ist davon heute noch übrig, kann möglich in anderer Form erneut als Ratgeber und richtungsweisend dienen?

In klarer Sprache ist dieses Essay geschrieben, man muss sich jedoch auf viele zu verfolgende Gedankengänge einlassen. Die Stationen der Biografie von Karl Marx sind da noch die einfachsten, jedoch wird man für den Rest des Inhalts seine gesamte Konzentration benötigen. Ohne die geht es schlicht und einfach nicht.

Zu komplex ist die Struktur des Marxchen Weltbildes, zu vielschichtig die prägenden Momente im Leben dieses Mannes. Der Autor stößt den Leser auf die Problemstellungen die sich aus den Theorien von Marx und Engels ergeben, stellt sie in einem historischen Zusammenhang dar, und stellt Fragen in den Raum, über die es sich zu nachdenken lohnt.

Haarscharf an der Form einer populärwissenschaftlichen Ausarbeitung vorbei, schadet Vorwissen nicht. Zumindest aber Interesse sollte man schon mitbringen. Ohne dieses wird man schnell aus der Lektüre aussteigen. Zum bloßen nebenher Informieren eigenet sich “Karl Marx in Paris” nicht.

Insgesamt stellt dieses Buch eine gute Grundlage für eine, zugegeben eher intellektuelle, Diskussion dar. Zumindest die biografischen Züge sind jedoch interessant genug, um am Ball zu bleiben. Auf alles andere muss man sich jedoch einlassen können, sonst funktioniert diese Lektüre kaum, und man wird ihr auch sonst nicht gerecht.

Dies gilt es zu vermeiden. Die dichte Quellenlage unterfüttert und regt zur weiteren Lektüre an, zeigt die Rechercheleistungen auf, die zur gar nicht so einfachen Ausarbeitung des vorliegenden Werkes nötig gewesen waren. Im 200. Marx-Jahr und nicht nur dann, ein wichtiges Diskussionsmaterial.

Autor:

Jan Gerber ist ein promovierter Politikwissenschaftler und habilitierter Historiker. Er lehrt an der Universität Leipzig und ist leitender Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (seit 2010). Seit 2004 lehrt er zudem an der Universität Halle.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von geschichte und Wirkung des Holocausts, sowie zur Arbeiterbewegung und der politischen Linken. Er veröffentlichte zahlreiche wissenswchaftliche und populärwissenschaftliche Ausarbeitungen zu Themen dieser Bereiche.

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Hala Kodmani: Sie können mir den Kopf abschlagen, aber nicht meine Würde nehmen

"Sie können mir den Kopf abschlagen, aber nicht meine Würde nehmen" Book Cover
“Sie können mir den Kopf abschlagen, aber nicht meine Würde nehmen” Hala Kodmani dtv Erschienen am: 29.03.2018 Seiten: 144 ISBN: 978-3-423-26183-8 Übersetzerin: Elisabeth Liebl

Inhalt:

Tagsüber war sie Lehrerin für Philosophie an einer Mädchenschule, abends schrieb sie zornige Kommentare auf Facebook: Ruqia Hassan lebte in Rakka und postete unter Pseudonym gegen Assad und den IS. Bis sie verraten und vom IS ermordet wurde.

Hala Kodmani erzählt Ruqias Geschichte und lässt Ruqia mit ihren Original-Facebook-Einträgen zu Wort kommen. Kodmani hat das Lebensumfeld von Ruqia genau recherchiert. So gelingt es ihr, Ruqias Ängsten, ihren Hoffnungen, ihrer Liebe zu ihrem Land und ihrer wachsenden Wut Ausdruck zu verleihen. (Klappentext)

Rezension:

Inzwischen ist es ein undurchsichtiger Kampf an vielen Fronten geworden. Die Nachbarstaaten ringen um Einfluss im zerrüttelten Krisengebiet, Großmächte diesseits und fernab der Grenzen ergreifen mal Partei für die eine, mal für die andere Seite. Örtliche Machthaber tun ihr Übriges, um das Land im Zangengriff zu halten.

Leidtragende sind die Bewohner Syriens. Eine von ihnen ist Ruqia, die sich unter den Pseudonym Nissan Ibrahim bemerkbar macht, und auf Facebook den Beginn und Zerfall des Arabischen Frühlings kommentiert, schließlich die Schreckensereignisse unter Assad, schließlich den IS, kommentiert.

Die schlaue junge Frau beobachtet ihre Umgebung sehr genau, fällt schließlich den Ereignissen selbst zum Opfer. Zurückbleibt eine Facebookseite als Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit.

Hala Kodmani beschäftigt sich seit Jahren bereits mit der Situation Syriens und nimmt diese Geschichte zum Anlass, wachzurütteln. Stellvertretend für das Leben Tausender nimmt sie sich das Schicksal Ruqias vor, zeigt, wie die Ereignisse aus dem Ruder liefen, und vollzieht nach, wie dieses junge Leben mit Füßen getreten wurde.

Dabei herausgekommen ist ein eindrücklich halbdokumentarisches Portrait einer Frau, die wusste, was sie wollte, jedoch sich ob der schrecklichen Ereignisse nicht verwirklichen und leben konnte, wie sie wollte. Sensibel wird das Leben Ruqias dargestellt, nichts geschönt, was zeigt, wie hart und grausam der Alltag zu den Menschen in Syrien geworden ist, wo jeder Tag ein neuer Kampf ums Überleben ist.

Mehr gibt es dann auch nicht zum Inhalt zu sagen. Zu bedrückend ist diese Geschichte, diese biografische Kurzstück. Klar, in eindeutiger Sprache beschreibt Kodmani den Weg Ruqias in den syrischen Widerstand gegen Assad und den Terror des IS, zumindest der verbale auf Facebook, welches zum wichtigsten Austauschobjekt der syrischen Opposition wurde.

Anhand ihrer dortigen Einträge lässt sich der Leidensweg der Menschen im Spannungsfeld des Krieges nachvollziehen. Mehr braucht es nicht, um Wut und Verzweiflung zu verdeutlichen, der Weg, der in die Katastrophe führt.

Ein Augenzeugenbericht, die Biografie einer Zeitzeugin, die man nicht vergessen darf, deren Geschichte viel mehr verbreitet und bekannter werden muss. Stellvertretend für alle Menschen in Syrien ein Hilfeschrei, den man erhören sollte. Unbedingt lesenswert.

Autorin:

Hala Kodmani ist Mitglied der Internationalen Organisation für Frankophonie und ehemals Mitarbeiterin der Arabischen Liga in Paris. Als Redakteurin schreibt sie für “Liberation”, und beteilt sich an dokumentarische Arbeiten zum Nahen Osten.

Sie ist die Schwester der Mitgründerin des Syrischen Nationalrats (der syrischen Opposition in Paris). Im Mai 2011 gründete sie den Verband Souria houria, der sich für den Sturz von Assad einsetzt. 2013 wurde sie für ihre Berichterstattung zu Syrien ausgezeichnet.

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Autoren-Interview auf der Leipziger Buchmesse 2018: Mr. History Guido Knopp

NH: Geschichte im Fernsehen. Die Präsentation von Themen ist abängig von verschiedenen Faktoren, etwa der Quote. Vielleicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht ganz so entscheidend, aber unterlag Ihre Arbeit jemals diesem Einfluss oder waren Sie frei und unabhängig zu entscheiden, welche Themen Sie wie bearbeiten?

GK: Zum einen war ich in meinen Entscheidungen wegen des Programmes wirklich völlig frei. Keiner hat mir reingeredet. Kein politischer Druck, kein Druck von Außen, dafür war ich sehr dankbar. Was nun die Rücksicht auf die Quoten betrifft, so ist es natürlich wenn man einen Programmzeitpunkt erhalten hat, der um 20:15 Uhr liegt, also die beste Zeit im Hauptprogramm, eigentlich selbstverständlich, dass man schaut, dass man möglichst viele Zuschauer bekommt.

Nicht nur die jenigen, die eh schon alles wissen oder zu wissen glauben, sondern auch die jenigen, die durch die Art der Filme für etwas interessieren kann. Und wenn diese Art so ist, dass sie nicht nur Insider abholt, sondern auch z.B. den Arbeiter, der abends müde von der Werkbank kommt und eigentlich Unterhaltung sehen will, aber von der Art des Gebotenen, die Spannung, die Emotion, so gefesselt wird, dass er dran bleibt, hat der Autor des Filmes die Chance Informationen zu liefern.

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Guido Knopp über "Meine Geschichte".

NH: Sie haben das gemacht, in dem Sie teilweise neue Stilmittel für Dokumentationen verwendet haben, die es so vorher zumindest hierzulande nicht gab und wurden dafür des Öfteren auch kritisiert.

GK: Die Stilmittel, die ich verwendet habe, waren einerseits bekannte, die ich nur perfektioniert hatte. Historisches Material ist das Eine bei historischen Dokumentationen, Zeitzeugen sind das Andere. Ich habe sie nur anders dargeboten. Perfekter geschnitten, perfekter kommentiert. Was neu war, was wir als erste gemacht haben, dass wir Spielszenen in Dokumentationen integriert haben, sogenannte. Reenactments.

Da wurden wir am Anfang von den Althergebrachten, die gewohnt waren, dass Dokumentationen dies nicht machen dürfen, natürlich dann und wann kritisiert. Das hat sich aber durchgesetzt. Wir waren die Pioniere und haben das weltweit verbreitet. Unsere Filme wurden weltweit vertrieben und verkauft. Heute ist das ein Stilmittel, was überall angewandt wird und das auch anerkannt ist.

Wenn Sie Sachverhalte haben, zu denen Sie keine Bilder besitzen, die aber bekannt sind, dann ist es völlig legitim, wenn Sie das sehr gut inszenieren und die dokumentarischen mit den Spielsequenzen ergänzen. Das ist eine Fortführung der Dokumentation.

NH: Ein anderer Kritikpunkt waren die anzahlmäßig vielen Dokumentationen zum “Dritten Reich”, aber es gab ja auch andere Themen, wozu etwas gemacht wurde. Gab es irgendeinen Plan, ein Schema, welche Themen aufgearbeitet werden sollten?

GK: Ich hatte die Zuständigkeit in meinem Sender für das gesamte 20. Jahrhundert. Und wenn man das hat, darf man keinen Bogen um das sogenannte “Dritte Reich” machen. Es war natürlich, vor allem in den Jahren zwischen 1995 und 2005 ein Schwerpunkt, nicht der einzige Schwerpunkt.

Und ich habe mir gesagt: Wenn ich das Thema behandle, will ich es systematisch angehen. Ich habe angefangen mit einer Serie über den Tyrannen an der Spitze “Hitler – Eine Bilanz”, wie in der Form einer Pyramide. Dann die zweite Stufe der Pyramide “Hitlers Helfer”, “Hitlers Generäle” und am Ende die Basis der Pyramide, die Phänomene der Tyrannei.

Hitler - Eine Bilanz von Guido Knopp
Hitler – Eine Bilanz von Guido Knopp
Autor: Guido Knopp
Titel: Hitler - Eine Bilanz
Seiten: 320
ISBN: 978-3-442-15352-7
Verlag: Goldmann

Das sind zunächst die Hitlerjugend, die SS, der Holokaust, das sind Flucht und Vertreibung und der Bombenkrieg als Phänomene der Zeit. Das war die Phase zwischen 1995 und 2005. Danach war das für uns zwar noch nicht auserzählt, aber die Systematik war in diesem 10-Jahres-Rythmus schon ganz bewusst gewollt. All die anderen Themen kamen immer wieder dazu.

Bei den Monarchien war es so, dass ich gesagt habe: Wir brauchen für den Sommer in unserem Programm ein leichteres Thema und da bot sich das Thema -Monarchie- an, was ja nicht nur ein Bunte-Blätter-Thema ist.

Man hat dort auch eine historische Relevanz, denn all diese Königshäuser leben ja nur, weil sie ihre Untertanen, ihre Bevölkerung, mitnehmen und das Gefühl geben, dass die Geschichte diese royalen Themen und Traditionen in das Volk hineinträgt und das Volk dadurch Identität gewinnt.

NH: Sie haben dadurch natürlich viele Zeitzeugen befragt, nehmen wir z.B. Für die Reihe “100 Jahre – Der Countdown”, bei der ich mich immer noch ärger, dass sie nicht vollständig auf DVD vorliegt (so im Nebensatz gesprochen)…

GK: Darf ich erzählen, woran das liegt?

NH: Ja, bitte.

GK: Dass liegt daran, dass wir 75 Prozent der Sendung mit einer Produktionsfirma produziert haben. 25 Prozent sind Eigenproduktionen und der Produzent hatte das Recht, die Produktionen, die er gemacht hat, auf DVD zu vertreiben, aber die 25 Prozent, die wir selber hergestellt haben, eben nicht. Ich gebe Ihnen den Rat: Wenn diese Sendung demnächst wieder bei Phoenix läuft, die gesamten 20 Stunden aufzunehmen.

Inzwischen legendär. 
Die 1000 minütige Dokumentation "100 Jahre - Der Countdown"

NH: Ich hatte einen Geschichtslehrer, der diese Dokumentation verwendet hat, um uns Schüler dafür zu begeistern. Woher kommt Ihre Begeisterung für Geschichte.

GK: Das höre ich vielfach. Das ist eine Sache, die schon lange in meiner Jugendzeit zurückliegt. Ich hatte eine Familie, die natürlich von der Geschichte berührt war, wie so viele deutsche Familien. Väterlicherseits kommt meine Familie aus Oberschlesien, von Flucht und Vertreibung betroffen. Das war ein Thema, wenn man als Kind die Großeltern besuchte.

Ich hatte aber auch einen exzellenten Geschichtslehrer, der schon in den 60er Jahren etwas getan hat, was andere auch hätten tun können, aber nicht getan haben. Er benutzte die Medien der damaligen Zeit, als da waren Tonbänder, Schallplatten und Filme, die man von den Landesfilmbildstellen ausleihen konnte. Das hat er alles im Unterricht eingesetzt.

Meine Geschichte von Guido Knopp
Meine Geschichte von Guido Knopp
Autor: Guido Knopp
Titel: Meine Geschichte
Seiten: 320
ISBN: 978-3-570-10321-0
Verlag: C.Bertelsmann
Rezension: hier klicken

Und das war natürlich eine spannende bildkräftige Geschichte. Wir haben uns auf diesen Unterricht immer extrem gefreut. Das hat meinen latenten Wunsch, dieses Fach später selber mal zu studieren, sehr beflügelt. Ich habe dann auch Geschichte und Politik studiert.

NH: Später haben Sie dann für die Dokumentationen Zeitzeugen befragt, normale Menschen aber auch prominente. Gab es da besonders beeindruckende Begegnungen?

GK: Das kann ich gar nicht sagen. Es waren oft ganz einfache Menschen, die von Wendepunkten ihres Lebens erzählten, die erzählt haben, wie Geschichte in sie eingegriffen hat, Erlebnisse im Holokaust, von Flucht und Vertreibung. Das waren sehr beeindruckende Begegnungen, gerade wenn es um Kinderschicksale ging.

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Die Befragung von Zeitzeugen mündete u.a. in den Projekt "Gedächtnis der Nation". Im Zeitzeugen-Portal werden die Berichte von Zeitzeugen, berühmt oder nicht, gesammelt. Zeitzeugen-Portal.de - Gedächtnis der Nation.

Wenn ich jetzt an prominente Zeitzeugen denke, dann war es immer sehr eindrucksvoll etwa mit Simon Wiesenthal zu sprechen. Ich habe mit ihm acht Stunden aufgenommen. Ich habe mit Hans-Dietrich Genscher neun Stunden aufgenommen, über die Facetten seines Lebens. Davon wurde eine Stunde gesendet. Die gesamten neun Stunden lagern noch, sorgfältig archiviert, in unserem Filmarchiv. Und ich habe auch sehr oft mit Helmut Kohl gesprochen, über die Hintergründe der Wiedervereinigung.

Das war sehr interessant, weil er sehr offen über die Frage gesprochen hat, dass wir letzten Endes doch ziemliches Glück gehabt haben, denn dieser Prozess war zeitweise sehr gefährdet. Es gab schon im Sommer 1990 einen sehr ernsthaften Putschplan gegen Gorbatschow. Die selben Leute, die dann 1991 diesen tatsächlich durchgezogen haben, den Jelzin dann niedergeschlagen hat.

Die wollten Gorbatschow von der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in die DDR einladen, um ihn dort zu verhaften, um einen Marshall der Sowjetunion an seine Stelle zu setzen. Im letzten Augenblick ist der Marshall, der dafür vorgesehen war, Sergei Achromejew, abgesprungen, da er kalte Füße bekommen hat. Wenn der Putsch tatsächlich Erfolg gehabt hätte, hätten wir die Wiedervereinigung vergessen können und deshalb sagt Helmut Kohl, nicht zuletzt wegen solcher Dinge haben wir enorm viel Glück gehabt.

NH: Für Ihre Arbeit mussten sie teilweise sehr ungewöhnliche Wege gehen. In dem Buch ist eine Episode erwähnt, wo Sie Staubsauger in den Kreml transferieren mussten.

GK: Das war die Frage, ob wir im Kreml eine Diskussion aufzeichnen durften. Es war die Situation der späten 80er Jahre, als wir im ZDF mit dem sowjetischen Fernsehen sehr viel gemeinsam produziert haben. Das war eine besondere Zeit der deutsch-russischen Beziehungen, die später leider versandet ist. Eine dieser Diskussionen wollte ich im legendären Katharinensaal des Kreml aufzeichnen, wo der Vertrag Brandt-Breschnew 20 Jahre vorher unterzeichnet worden war.

Und das wollte man zuerst nicht, denn der Katharinensaal ist heilig, und wir haben lange verhandelt. Die Verhandlungen waren zäh, und irgendwann flog ein Engel durch den Raum. Wir haben eher durch Zufall die Russen gefragt, sagt mal Leute, können wir euch irgendwie behilflich sein? Braucht ihr irgendetwas? Dazu muss man wissen, dass es in der Sowjetunion damals eine regelrechte Wirtschaftskrise gab.

Sie überlegten einen Moment, schauten sich an, schauten uns an. Dann sagten sie, wenn Sie uns so fragen, wir bräuchten Staubsauger. Gesagt, getan. Wir haben eine Luftbrücke gebildet, von Frankfurt nach Moskau, und haben 20 nagelneue Staubsauger der Marke Kärcher, der Name sei genannt, in den Kreml transferiert. Die Diskussion fand statt. Man sieht, was Staubsauger positiv für die deutsch-russischen Beziehungen leisten können.

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Guido Knopp: "Wir haben 20 Staubsauger in den Kreml transferiert."

NH: In Anbetracht der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen, in der Politik, stellt man sich die Frage, ob man wieder mehr Geschichte im Fernsehen braucht. Ist dem so?

GK: Wenn Sie einen Historiker fragen: Natürlich brauchen wir mehr Geschichte im Fernsehen. Alle sollten über Geschichte etwas wissen. Nicht nur über die Geschichte des sogenannte “Dritten Reiches”, aber vor allem auch, denn man wird ja doch außerhalb der Landesgrenzen immer wieder gelegentlich konfrontiert. Wie hältst du es denn damit? Wie stehst du denn dazu?

Das muss jeder eigentlich wissen. Ich sage: Es gab 1933 keine Einbahnstraße in den Nationalsozialismus. Vieles war so angelegt, dass es dazu kommen konnte, aber es hat nicht zwangsläufig dazu kommen müssen. Es hätte durchaus anders kommen können, wenn die Handelnden, die Verantwortungsträger von Weimar, anders gehandelt hätten. Die Möglichkeiten hätten sie gehabt. Wenn es aber dazu gekommen und die Tyrannei schon angelaufen ist, wenn man sich dann dazu bequemt und abnickt, einem Ermächtigungsgesetz zustimmt, dann ist es schon zu spät.

Die Lehre heißt: Wehret den Anfängen. In der Nachschau muss man sagen, und das hat mir Simon Wiesenthal gesagt, Schuld ist nie kollektiv, für nachfolgende Generationen nicht. Schuld ist immer individuell, aber Verantwortung ist es. Und daher haben wir als nachfolgende Generationen dafür zu sorgen, dass so etwas zumindest in unserem Lande nie wieder passiert.

NH: Die Dokumentationen wurden ja nicht nur hier gerne gesehen, auch im Ausland. Wie waren da die Reaktionen?

GK: Sehr positiv, und auch mit Genugtuung, dass endlich einmal Filme über das sogenannte “Dritte Reich” aus Deutschland kamen. Als wir anfingen, hatte die BBC global betrachtet fast schon ein Alleinvertretungsrecht für dokumentarische Darstellung von Geschichte, nicht zuletzt deutscher. Wir fanden, dass das gar nicht geht.

Wir sind selbst verantwortlich für die Darstellung von Geschichte und müssen uns selbst kümmern. Man war wirklich froh, dass wir das getan und große Serien gemacht haben. Die Tatsache, dass diese Serien zum Teil in über 150 Ländern gelaufen sind, ist ein Indiz dafür, dass dieser deutsche Zugang für Darstellung von Geschichte international angekommen ist.

Es war am Anfang so, dass das Interesse sich auf die Thematik “Drittes Reich” konzentrierte. Es hat ein wenig gedauert, bis ich unsere Partner dazu bewegen konnte, sich auch für andere Themen der deutschen Geschichte zu interessieren. Ich erinnere mich noch, wie ich meinen Freund Charlie (Nachname fehlt), den Chef des History Channel, dazu zu überreden versuchte.

Der Wettlauf zum Suedpol von Guido Knopp
Der Wettlauf zum Suedpol von Guido Knopp
Nicht nur Hitler. Guido Knopp "Der Wettlauf zum Südpol".

Wir haben so gute Serien jenseits der Nazizeit, etwa über die Geschichte der Bundesrepublik, die Geschichte der Bundeskanzler. (Charlie) How boring, Guido! Wie langweilig. What’s your next Hitler-project? Das war so eine Phase. Gott sei Dank hat sich das gelegt und sie haben allmählich auch andere Serien genommen, unsere Reihe über die Geschichte der Deutschen, wo wir aus dem Ghetto des 20. Jahrhunderts ausgebrochen und bis ins 10. Jahrhundert vorgedrungen sind und die Geschichte von den Anfängen bis heute erzählt haben.

NH: Das war eine Reihe, mal komplett mit Spielszenen.

GK: Nicht komplett, es gab Historiker-Kommentare, aber wenn Sie außerhalb des 20. Jahrhunderts etwas machen möchten, müssen Sie Spielszenen verwenden. Es gibt ja nichts anderes. Die müssen auf einem sehr hohen Niveau sein, dass sie vom Publikum angenommen werden. Wir haben da ein wenig Geld in die Hand genommen und es so gemacht, dass das alles sehr Prime-Time-fähig ist. Es ist sehr gut angenommen worden. Man sah schon bei der ersten Folge, über “Otto und das Reich”, da hatten wir 6,5 Millionen in der Spitze und das war ein großer Erfolg.

NH: Zur Prime Time läuft ja oft ein Krimi oder ein Tatort und dergleichen. Da ist es doch an sich ein Wagnis, eine Dokumentation zu bringen. Wie war die Zuschauerstruktur?

GK: Einer meiner Chefredakteure, Nikolaus Brender, hat mal gesagt, das ZDF wird durch Geschichte jung. Er hat das deshalb gesagt, da unser Zuschauerschnitt jünger war als der des ZDF im Allgemeinen. Es ist ja ein Phänomen von ARD und ZDF, dass wir ein relativ altes Publikum haben. Alt im Sinne, so ab 65 Jahre.

Wir hatten teilweise einen Schnitt ab 59 Jahren und jünger, eine deutliche Verjüngung. Und wir hatten auch in der Gruppe der 14 bis 49-jährigen mehr Zuschauer als es das ZDF im Allgemeinen hatte. In sofern ist das ein Indiz, dass wir die Zuschauer von 8 bis 99 Jahren interessieren wollten, die Hundertjährigen natürlich auch, relativ nah herangekommen sind. Nicht nur, was die Altersstruktur betrifft, sondern auch die Bildungsstruktur.

NH: Für die Dokumentationen haben Sie mit Wissenschaftlern, Historikern zusammen gearbeitet. Sind Sie manchmal Gefahr gelaufen, es zu wissenschaftlich zu gestalten?

GK: Es war von Anfang an mein Ansatz, nicht in diese Falle zu tappen. Wissenschaftler als Berater haben bei einem Film nur zwei Mal eine wichtige Aufgabe. Wenn es am Anfang darum geht, ein Drehbuch anzuschauen und abzunehmen, und Fehler zu korrigieren. Und dann drehen die Teams und dann nehme ich später den Rohschnitt ab, und kläre den Kommentartext ab.

Wenn der abgenommen ist, geht der wieder an die wissenschaftlichen Berater, und die schauen, ob der Kommentar verifiziert ist, mit den wissenschaftlichen Kenntnissen übereinstimmt. Das hat wunderbar geklappt. Bei “Die Deutschen” war es so, dass wir aufgrund mangels Zeitzeugen, Wissenschaftler auch im On (Einspieler mit Interview) integriert haben, für kurze Statements zu bestimmten Sachverhalten der Geschichte. Das war eine Ausnahme.

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Spielszenen machen in Dokumentationen Geschichte begreiflich.

NH: Es bleiben zahlreiche Dokumentationen. Welche hätten Sie gerne noch gemacht?

GK: Wenn Sie mich so fragen, dann sage ich: Was ich nicht gemacht habe, und zwar aus verschiedenen Gründen, ist eine große Geschichte der Bundesrepublik ab 1945.

Ich habe eine Serie über Kanzler gemacht, und viele Einzeldokumentationen für das Spätabendprogramm “ZDF History”, aber eine groß angelegte Geschichte, 14-18 teilige Reihe, habe ich nicht gemacht, weil wir genau wussten, von den Vorhersagen, der Medienforschung, dass ist auf einem Prime Time Termin nicht präsentabel.

Das wird nicht genügend Zuschauer haben. Das kann man machen, bei einem Spätabendtermin oder bei unseren Tochtersendern, wie Phoenix, für die ich immer noch aktiv bin. Die haben aber nicht die Mittel, die es braucht, um das hochattraktiv und groß zu machen. Es ist ein zweischneidiges Schwert, weshalb ich das nicht realisiert habe.

NH: Eine letzte Frage. Eine Zeitreise. Wo würden Sie gerne hinreisen, mit der Option natürlich, wieder zurückreisen zu können?

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Guido Knopp: "Goethe und Napoleon. Mit der Medizin von heute."

GK: Ich würde gerne in die Zeit, Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, die Napoleonische Ära aber auch die Goethe-Ära. Da ist wahnsinnig viel passiert, in Deutschland, in Europa. Eine Umbruch-Zeit. Man sieht es an der Mode, die damals angesagt war, an den Möbeln. Ich sammle antike Möbelstücke und mich interessiert diese Phase, spätes Rokoko und Empire. Diese Zeit des Aufbruchs und Umbruchs zu erleben wäre natürlich reizvoll. Am liebsten in Weimar. Aber, und das mit einem großen Aber, mit den medizinischen Möglichkeiten von heute.

NH: Herr Knopp, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview ist redaktionell geschützt und darf ohne Genehmigung nicht vervielfältigt oder andersweitig verwendet werden. Die Rechte liegen bei C. Bertelsmann, Guido Knopp und findosbuecher.com

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Autoren-Interview auf der Leipziger Buchmesse 2018: Mr. History Guido Knopp Read More »