Bericht

Reinhold Messner: Gobi

Gobi - Die Wüste in mir Book Cover
Gobi – Die Wüste in mir Reinhold Messner Dumont/mairdumont Erschienen am: 25.01.2019 Seiten: 272 ISBN: 978-3-7701-8294-7

Inhalt:

Mit 60 Jahren wagt Reinhold Messner einen letzten großen Grenzgang zwischen Leben und Tod. Einem alten Traum folgend, will er die Längsdurchquerung der Wüste Gobi versuchen – allein und völlig auf sich gestellt. Die 2000 Kilometer lange Wanderung durch die Westgobi und über das Altai-gebirge wird für ihn zu einer nie dagewesenen Grenzerfahrung, physisch und psychisch, und zu einem Akt der Selbstbestimmung mit ungewissem Ausgang. (Klappentext)

Rezension:

Um so mehr Technologie und Infrastruktur entwickelt werden, um so bezwingbarer ist die Natur. Eisflächen werden schon aufgrund des Klimawandels überwindbar. Berge schrumpfen förmlich zu Hügeln. Die Zeiten, in denen Bergsteiger und Abenteurer für kleine Fehler mit ihren Leben bezahlen mussten, sind auf wenige Momente zusammengeschrumpft.

Und doch, die Natur ist weiterhin in vielen Momenten unberechenbar. Der Bergsteiger und Extrem-Abenteurer Reinhold Messner machte sich 2004 auf, zu einer seiner letzten Expeditionen, dieses Mal nicht in der Vertikalen, sondern dem Horizont entgegen. Längs durch die Wüste Gobi.

Es ist ein eindrücklicher Erfahrungsbericht der hier neu aufgelegt wird. Ursprünglich 2005 in einem anderen Verlag erschienen, wird mit dieser Neuauflage einem der größten Abenteurer unserer Zeit noch einmal Tribut gezollt. Reinhold Messner hat in seinem Leben von Anfang an gezeigt, was mit genug Demut vor der Natur zu erreichen ist, nicht zuletzt, wenn man auf die örtlichen Gegebenheiten achtet und die Hilfe der Menschen vor Ort annimmt.

Der Bergsteiger, der nach 60 Lebensjahren ahnt, dass seine Kräfte für künftige Unternehmungen der Superlative nicht mehr ausreichen werden, wollte es 2004 noch einmal wissen und begab sich auf einen Trip, der fast mehr noch als die Besteigung des Mount Everest, ihn fordern sollte.

Die Gobi, uns Europäern nahezu unbekannte Wüste, Heimat eines stolzen Reitervolkes, Dschingis Khan. Mehr Assoziationen hat der Durchschnittseuropäer wohl nicht, um so faszinierender war für den Südtiroler die Erfahrung, sich von Nomadenlager zu Lager, von Jurte zu Jurte durchzuschlagen.

Immer im Kampf mit den wechselhaften Temperaturen, den Durst und den durch die Expeditionen geschundenen eigenen Körper, durchquerte er dieses Land und lernt überall hilfsbereite Menschen kennen, deren Land und Gesellschaft sich im Umbruch befinden. Auf Basis seiner unmittelbar dort entstandenen Notizen beschreibt er seine inneren Kämpfe, wirft einen Blick zurück in seine Kindheit und den Herausforderungen des Abenteuers in der damaligen und in unserer Zeit.

Ein Bericht, der immer dann stark ist, wenn Messner seinen Blick auf Landschaft und Menschen schweifen lässt oder von seiner Familie erzählt, jedoch Schwächen insbesondere in der Länge aufweist. Schwierig ist es teilweise nachzuvollziehen, wenn man reisetechnisch ganz anders gestrickt ist, wobei schwer zu sagen ist, ob diese einmaligen Erfahrungen als Reise zu bezeichnen sind. Wenn schon, dann als ewige immerwährende Suche, Selbstfindung.

Reinhold Messner ist vieles in seinem Leben gelungen. Auch das Scheitern, welches natürlich andere Extreme aufwies, als wir es im Laufe unseres Lebens kennenlernen. Dieser Trip brachte ihn jedoch an körperliche Grenzen, die ihn fast zum Abbruch der Expedition zwingen sollten. Diesen inneren Kampf mit sich selbst Zeile für Zeile nachvollziehbar zu machen, ist die Leistung des Autors Messner, dessen Abenteuer Jungenträume real werden ließen. Die Gobi als gnadenlose Herausforderung und Weg zur Selbsterkenntnis. Positiv wie negativ.

Autor:

Reinhold Messner wurde 1944 in Brixen/Südtirol geboren und ist ein italienischer Extrembergsteiger, Abenteureer, Buchautor und Regionalpolitiker. Auf seinen Expeditionen bestieg er alle vierzehn Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff und hat zudem zahlreiche Erstbesteigungen vorzuweisen.

Desweiteren durchquerte er die Antarktis , Grönland und die Wüste Gobi. Er ist zudem Begründer der Messner Mountain Museen und Autor zahlreicher Publikationen, rund um das Bergsteigen und seiner Geschichte. Er saß fünf Jahre lang im Europa-Palarment undist auch regionalpolitisch aktiv gewesen.

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Constanze John: 40 Tage Armenien

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40 Tage Armenien Reisebericht Mairdumont Taschenbuch Seiten: 376 ISBN: 978-3-7701-8298-5

Inhalt:
Die preisgekrönte Autorin Constanze John gibt Einblicke in die Gesellschaft, Mythologie und Geschichte des heutigen Armenien. Trampend von Kloster zu Kloster oder mit Bus, Marschrutka und Taxi zu archäologischen Grabungsstätten, zyklopischen Festungsanlagen und ins vulkanisch geprägte Hochland. Eine Reise in eines der ältesten christlichen Länder der Welt, das Land der Steine, an der Grenze zwischen Christentum und Islam, zwischen Europa und Asien. (Klappentext)

Rezension:
Reiseberichte lese ich persönlich zwar gerne, fasse sie aber mehr als kritisch mit den Fingerspitzen an. Das liegt an meiner Berufswahl und der nahezu täglichen Konfrontation mit den deutschen Blick, der am liebsten in die Ferne schweift, aber im Grunde Deutschland in Kleinformat in seinem Hotelzimmer haben möchte. Das funktioniert nicht einmal im nahen europäischen Ausland. Wie sieht es dann mit einer uns hierzulande geradezu unbekannten Region aus?

Über Armenien weiß der Durchschnittsdeutsche wahrscheinlich so gut wie nichts. Unseren mitteleuropäischen Nachbarn wird es kaum anders ergehen, warum also dorthin reisen? Constanze John hat sich aufgemacht, um Land und Menschen zu entdecken, die sich einem erst auf den zweiten oder dritten Blick erschließen, einem dann jedoch in ihre Herzen schließen. Quer durch’s Land reist sie mit den unterschiedlichsten Verkehrsmitteln durch das „Land der Steine“ und nimmt sich 40 Tage Zeit den Menschen Armeniens zu begegnen.

Streifzüge durch die Geschichte nimmt sie ebenso auf, wie sie zahlreiche Legenden Armeniens sammelt und den besonderen Bedingungen nachspürt, die Armenien so einzigartig machen. Spielball der großen Nachbarstaaten, das Drama um den Völkermord 1915 sitzt immernoch tief im Bewusstsein, sowie den geologischen Gegebenheiten und schwierigen poltischen wie wirtschaftlichen Sackgassen, in der sich die meisten Armenier befinden. Dieses Gebräu ist empfindlich, trotzdem ist der Optimismus und der Glaube an die Zukunft des Landes ungebrochen.

In kurzweiligen und abwechslungsreichen Kapiteln begleiten wir die Autorin durch ein überraschend vielschichtiges Land, welches mit als ältestes christliches Gebiet gelten darf und entdecken, wie ein Brot zum Nationalsymbol avanciert, Literatur gelebt wird und der Blick ins Positve trotz zahlreicher Rückschläge gelingen kann. Die Autorin zeigt sich dabei nicht unkritisch, jedoch mit genauer Beobachtungsgabe und fast ist es so, als würde man selbst die Kloster oder einen armenischen Markt betreten, über Literatur und Archäologie mit den Einheimischen diskutieren und die vielseitige Landschaft bestaunen.

Man erfährt viel, nimmt wie die Autorin die Freundlichkeit und das Wissen der Menschen um ihr Land auf, bekommt gerade zu Lust, dieses Land zu entdecken. Landkarten zu Beginn eines jeden kapitels dienen der Orientierung, gleichzeitig das Quellenverzeichnis mit ergänzenden Literaturhinweisen, etwa auf Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, welches die traurige Seite der Geschichte Armeniens im Gedächtnis der Menschen konserviert hat.

Dieser Reisebericht ist kein neutraler Reiseführer, sondern eine Ermunterung, auf die Menschen zuzugehen, die dort leben. So und nicht anders sollte man dies lesen und vielleicht als eines der nächsten Reiseziele Armenien ins Auge fassen. Es wäre kein Fehler.

Autorin:
Constanze John wurde 1959 in Leipzig geboren und ist eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte nach der Schule Germanistik, Geschichte und Pädagogik an der Universität zu Leipzig, lebte zeitweilig in Rostock und absolvierte ein Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig von 1984-1987. Seit 1998 ist sie freiberufliche Schriftstellerin, veröffentlichte jedoch seit 1987 Gedichte, sowie ein Werk über Sagen der Region Zwickau.

Seit 2012 leitet die Autorin die Schreibwerkstatt für Kinder und Jugendliche im Haus des Buches Leipzig. Für Deutschlandfunk und Deutschlandradio erarbietete sie mehrere Reisereportagen. Mehrere Auslandsreisen bildeten die Grundlage für ihre Veröffentlichungen im DuMont-Reiseverlag über Armenien und Georgien. Die Autorin wurde mehrfach ausgezeichnet.

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Lisa Brennan-Jobs: Beifang

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Beifang Lisa Brennan-Jobs berlin Verlag Erschienen am: 04.09.2018 Seiten: 381 ISBN: 978-3-8270-1364-4 Übersetzerin: Bettina Abarbanell

Inhalt:

„Achtundzwanzig Prozent der männlichen Bevölkerung der USA könnten der Vater sein.“ Das sagte Steve Jobs dem Time Magazine über seine Tochter Lisa. Für die Öffentlichkeit war er da schon ein Halbgott. Was bedeutet es, einen Vater zu haben, der lange nichts von einem wissen wollte?

Behutsam nähert Lisa Brennan-Jobs sich dieser für sie brennenden Frage und versucht, in ihren Kindheitserinnerungen Antworten zu finden. Aber, anderes als von vielen erhofft, ist dies Buch keine gehässige Abrechnung mit dem Apple-Guru geworden, sondern eine kluge und berührende Auseinandersetzung mit der überwältigenden Liebe zwischen Eltern und Kindern – allen Widrigkeiten zum Trotz. (Klappentext)

Rezension:

Es gab wohl kaum einen Menschen in der IT-Branche,der unser Bewusstsein für Technik und Design in jüngerer Zeit so beeinflusste und mitgestaltete, wie Steve Jobs und so ist der Gründer von Apple wohl einer der Menschen aus dem Silicon Valley, die am meisten bewundert wurden sind.

Der Computer-Revolutionär ist zugleich jedoch einer der Gestalten, die verhasst wurden und viele Neider auf sich zogen und so ist dieser Denker und Tüftler, dessen Erfolgsgeschichte, wie so viele andere, in einer Garage startete, eine der interessantesten Figuren unserer Tage gewesen. Lisa Brennan-Jobs erlebte Steve Jobs aus nächster Nähe, einen Menschen, der im Umgang mit den Massen und der Technologie Ideen in die Welt setzte und Richtungen bestimmte, im privaten Umgang jedoch äußerst kompliziert war.

Dies ist noch nett ausgedrückt, doch die Biografie „Beifang“ der Autorin versucht eine gerechte Annäherung an die Vaterfigur, die für sie selbst lange Zeit so unerreichbar war. Behutsam zeigt sie auf, wie Jobs‘ Charaktereigenschaften Menschen an sich banden, zugleich verletzten. Der Apple-Gründer als im Zentrum stehende Sonne, die Menschen als um ihn herumkreisende Planeten. Sie berichtet rückblickend von den schwierigen Jahren ihrer Kindheit, zwischen zwei gegensätzlichen Elternteilen und der Suche nach ihrem Platz in der Welt, in ihrer Familie und vor allem im Herzen ihres Vaters.

Still und leise, ohne schrille Zwischentöne, berichtet die Autorin, natürlich nicht frei von persönlichen Gefühlen. Es ist interessant, Steve Jobs im Privaten zu sehen. Dieses Bild, welches einen krassen Kontrast zum öffentlich bekannten setzt. Lisa Brennan-Jobs schafft dies, nachdenklich ohne Frustration und zeigt so diese andere Seite, die das kurze und geniale Leben dieses Machers prägte, aber auch alle Menschen und besonders Lisa um sich herum.

Viel persönliches erfahren die Leser in „Beifang“, nichts bewegendes oder gar Interna aus dem Apple-Universum. Wer das sucht, muss irgendetwas anderes lesen. Es ist hier nicht zu finden. Doch, interessanter ist der menschliche Blick hinter der Geschichte und der gelingt der Autorin sehr intensiv. Sie schafft es, eine andere Seite Steve Jobs‘ aufzuzeigen und vervollständigt somit ein Puzzle, welches bisher unvollständig geblieben ist und sich selbst eine Annäherung an ihren Vater, die ihr erst gegen Ende seines Lebens gelang.

Autorin:

Lisa Brennan-Jobs wurde 1978 geboren und ist die Tochter des Apple-Gründers Steve Jobs. Nach einem Gerichtsprozess erkannte Steve Jobs die Vaterschaft an, die Autorin lebe einige Zeit bei ihm und studierte danach in Harvard und am King’s College in London. Für verschiedene Firmen arbeitend, u.a. für mehrere Nachrichtenmagazine, arbeitet sie heute als Redakteurin und Autorin. Mit ihrer Familie lebt sie in Brooklyn/New York.

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Lorenz Wagner: Der Junge, der zu viel fühlte

Der Junge, der zu viel fühlte Book Cover
Der Junge, der zu viel fühlte Rezensionsexemplar/Sachbuch Europaverlag Hardcover Seiten: 214 ISBN: 978-3-95890-229-9

Inhalt:

Henry Makram zählt zu den bekanntesten Hirnforschern der Welt. Seine Arbeiten gewinnen Preise, die größten Universitäten umwerben ihn, doch dann wird sein Sohn Kai geboren. Schnell wird klar: Kai ist anders, er ist Autist. Henry fühlt sich so hilflos wie alle Eltern. Schmerzhaft wird ihn bewusst, wie wenig seine vielbeachteten Aufsätze ihn zu helfen vermögen und so stürzt sich der Forscher auf die Frage, was Autismus wirklich ist.

Erst als sich der Blick des Wissenschaftlers mit dem des Vaters verbindet, gelingt nach Jahren der Durchbruch. Seine Erkenntnisse stürzen um, was wir bisher über Autismus zu wissen glaubten. Lorenz Wagner hat Makram und seinen Sohn begleitet. Beide haben ihm ihre Geschichte erzählt.

Rezension:

Wer über Autismus spricht, meint zumeist eine bestimmte Spielart dieses Syndroms. Wir alle kennen Filme wie Mercury Puzzle oder Rain Men. Einigen von uns ist vielleicht die Reportage im Gedächtnis, wo für ein Autist über eine Häuserskyline geflogen wurde und diese hinterher fenstergenau auf einen Bogen Papier zeichnen konnte.

Zwischen vollständiger Zurückgezogenheit und Hochintelligenz scheint es nichts anderes zu geben und doch umfasst Autismus unzählige Varianten. Wer einen Autisten kennt, kennt genau einen und so ist es schwierig, ein allgemeingültiges Bild zu bekommen.

Das gilt für Laien, aber auch für die Wissenschaft. Zumindest seit kurzem. Einem, den das schmerzhaft bewusst wurde, ist der Hirnforscher Henry Makram. Der Journalist Lorenz Wagner hat ihn einige Wochen begleitet und dessen Geschichte aufgeschrieben.

Henry Makram ist nicht irgendwer, sondern jemand, der sein Fachgebiet versteht. Dort anerkannt, forschte er über Jahre hinweg über Zusammensetzung und Kommunikation zwischen Gehirnzellen und entwickelte sich zu einem gefragten Experten.

Seine Aufsätze waren viel beachtet, doch muss selbst eine Koryphäe irgendwann an seine Grenzen stoßen. Das geschah bei Makram jedoch nicht im wissenschaftlichen, sondern im privaten Bereich, als sein Sohn geboren wurde, der sich anders und langsamer entwickelte als gleichaltrige Kinder.

Schnell ist klar, Kai ist Autist und so stürzte Henry sich zur Problemlösung auch hier in die Forschungen. Was ist Autismus? Wodurch wird es ausgelöst? Wie kann man Betroffenen helfen und zugleich Verständnis der Mitmenschen für eben diese fördern?

Ein ums andere Mal stehen der Hirnforscher und sein Team vor einer Lösung, scheitern jedoch immer wieder, bis sie alle bisherigen Erkenntnisse in Frage stellen. Dann gelingt der Durchbruch. Lassen sich die Erkenntnisse auf die Allgemeinheit der Autisten übertragen? Der Rest der wissenschaftlichen Welt ist skeptisch und Kai, seinem Sohn, ist noch immer nicht geholfen.

Lorenz Wagner hat die Familie Makram über Wochen begleitet, für eine Reportageriehe des SZ-Magazins, aus der dieses Buch entstand.

Zunächst skeptisch, da ich selbst mit einer Spielart von Autismus umgehen muss, auch mit anderen Autisten im Alltag zu tun habe, Vorurteile kenne und Verallgemeinerungen skeptisch gegenüber stehe, war ich doch neugierig über die Ansichten Henry Makrams, der eine neue Sichtweise in die noch junge Autismusforschung hinein gebracht hat, die jedoch immer mehr Anhänger gewinnt.

Bisher war es so, dass in der Arbeit mit Autisten empfohlen wurde, diese bestimmten Reizen auszusetzen, um sie so in die „normale“ Welt zurück zu holen. was aber, wenn genau das falsch ist?

Wenn man eher die Zurückgezogenheit und Reizarmut fördern sollte, um sich so der Gefühlswelt von Autisten anzunähern? Was, wenn Autisten nicht gefühlsarm wären, sondern sich zurückzogen, weil sie in einer reizüberfluteten Welt zu viel fühlen mussten?

Waren dann nicht alle bisherigen Behandlungsansätze falsch? Wie genau muss sich unser Bild von Autismus ändern, damit Betroffene als vollwertig angesehen werden? Muss sich die Umgebung nicht den Autisten anpassen, nicht umgekehrt?

Der Journalist, der den Forscher und dessen Familie begleitet hat, entwarf das interessante Portrait eben dieser, welches zugleich den jüngeren Wandel in der Autismusforschung wiederspiegelt. Entstanden ist ein hoch interessantes Buch, welches die neuen Ansätze, die langsam in Betrachtung der Autisten Fuß fassen, Laien und Interessierten, sowie Angehörigen von Betroffenen, verständlich näher bringt.

Tatsächlich kann ich nicht wenige Erkenntnisse Makrams auf mich übertragen, die aus den Betrachtungen seines Sohnes Kai und aus seinen Forschungen heraus entstanden. Die neuen Ansätze werden in Zukunft helfen, einen freundlicheren und verständnisvolleren Umgang mit Autisten zu fördern, alleine dies ist schon ein großer Verdienst Makrams für die Forschung, denWagner hier hervorhebt.

Es geht jedoch noch weiter. Der Journalist beschreibt in verständlicher und einfacher Sprache, Laien zugänglich, in wie weit Henrys Arbeiten dazu beigetragen haben, Aktivitäten des menschlichen Gehirns zu entschlüsseln, wobei man mit den Forschungen noch lange nicht am Ende ist, und warum Tierversuche bis zu einem gewissen Punkt wichtig waren, um heute vielfach ohne Tierversuche auszukommen.

Diese kleinen Exkurse, die alle aus der beschäftigung mit Autismus heraus entstanden, zeigen zugleich den Wandel der medizinischen Wissenschaft und der Wirkung, die neue Erkenntnisse haben können.

In sofern ist dieses Portrait eben nicht nur Betroffenheitsbericht und Familiengeschichte, sondern zeigt auch den Wandel in der jüngeren Medizingeschichte. So einfach und verständnisvoll, dabei nicht einseitig und sehr aufgeschlossen betrachtet, liest man dies noch viel zu selten, weshalb jeden Interessierten die Lektüre zu empfehlen ist.

Manche Erläuterungen zwar, hätte ich mir persönlich etwas ausführlicher gewünscht, doch auch so dürfte Wagners feinfühlige Erzählweise und Makrams differenzierte Autismusforschung das Bild verändern, welches wir von Autisten haben. Dies ist Beider Verdienst.

Autor:

Lorenz Wagner wurde 1970 geboren, studierte u.a. Romanistik und schloss ein Wirtschaftsstudium ab. Nach dem Volontariat arbeitete er für die Financial Times Deutschland als Redakteur, derzeit schreibt er für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Bekannt wurde er durch das einzige private Interview mit BMW-Erbin Susanne Klatten.

Seine Artikel wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit den Theodor-Wolff-Preis. Zu den meistgelesenen Artikeln wurde die Erzählung der Geschichte des Hirnforschers Henry Makrams und seines autistischen Sohnes, woraus dieses Buch entstand.

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Leonie March: Mandelas Traum

Mandelas Traum Book Cover
Mandelas Traum Leonie March Erschienen am: 23.04.2018 Dumont/Mairdumont Seiten: 300 ISBN: 978-3-7701-8289-3

Inhalt:

Was hält Südafrika im Innersten zusammen? Wie nah am Ideal der Regenbogennation des Übervaters nelson Mandela ist das Land heute tatsächlich? Leonie March begibt sich auf eine große Erkundingsreise: von der Beachfront Durbans über die Drakensberge, vom Eastern bis zum Western Cape und durch die pulsierenden Metropolen Johannesburg und Kapstadt. „Mandelas Traum“ ist das Porträt eines faszinierenden Landens am Scheideweg. (Klappentext)

Rezension:

Wo Widersprüche sich in großer Anzahl sammeln, Kontraste größer nicht sein könnten, die Hautfarbe oder das Wohnviertel ausschlaggebend ist für Erfolg oder Misserfolg, dort ist Südafrika nicht weit. Das Land am Kap steckt über zwanzig Jahre nach dem Ende der Apartheid noch immer in alten Konflikten fest, neue sind bis heute hinzugekommen.

Doch, warum sind die Menschen dort immer noch voller Hoffnung, verfolgen unbeirrt ihre Pläne und suchen weiter nach den Weg zur Regenbogennation, die der erste schwarze Präsident Nelson Mandela sich für sein Land erträumte? Die freie Journalistin Leonie March begibt sich auf Spurensuche durch ihre Wahlheimat und entdeckt bisher unbekannte Facetten von Südafrika.

Reiseberichte können nie alle Aspekte und Ansichten innerhalb eines Landes wiedergeben, und so stellt auch dieser nur eine Momentaufnahme der detaillierten Beobachtungen der Autorin dar. Mehr möchte Leonie March auch nicht, muss sie auch nicht, denn alleine ihr Sammelsurium an Geschichten, die sie aufgetragen hat, vermag Faszination zu wecken.

Anhand von zwei Karten auf den Innenseiten des Umschlages und einer klaren Reiseroute hat sie viele Aspekte dieses Landes aufgefangen, die in keinem Reiseführer so zu finden sind. Klar, kaum jemand würde touristisch wohl in ein aktives Bergwerkgebiet fahren oder sich in die verrufensten Wege der Townships verirren, aber March gelingt es hiermit, mit den unterschiedlichsten Menschen aus verschiedenen Schichten ins Gespräch zu kommen.

In jedem Abschnitt wartet sie mit einer neuen Geschichte auf, und zeigt, dass es abseits der Klischees über Kriminalität, den üblichen touristischen Highlights und korrupten Politikern jede Menge Südafrikaner gibt, die mit Eigeninitiative Projekte führen, die ihnen und ihren Landsleuten eine Perspektive geben sollen.

Nicht immer gleich spannend sind diese Geschichten, doch die Begeisterung der Autorin ist gleichwohl ansteckend. Wenn auch sie selbst sich nicht immer ganz von ihrer rosaroten Brille entfernt. Am Interessantesten wird es, wenn sie kritisch hinterfragt, Überlegungen zur Geschichte oder Zukunft ihrer Gesprächspartner anstellt oder sich bei ihrer Reise einfach treiben lässt.

Fast beduert man es, dass die Fotos allesamt eher kleinformatig und in Graustufe gehalten sind, und von ihrer Anzahl eher gering. Gerne hätte man noch mehr bildliche Eindrücke, kann sich aber dank der guten Beobachtungsgabe der Autorin alles wunderbar vorstellen.

Noch ein paar Seiten mehr hätten „Mandelas Traum“ jedoch gut getan. Die Autorin konzentriert sich, zwar nicht ausschließlich, bei ihren Besuchen vor allem auf abkömmlinge der Stämme und Urvölker Südafrikas, um den entgegengesetzten Kontrast zu haben, hätte ich mir noch mehr Einblicke in die Geschichte des Landes gewünscht, die auch vorkamen.

Diese hätten mehr ausformuliert werden müssen. Natürlich fraglich, in wie weit man das in einer solchen Art Bericht umsetzen kann, aber ein Versuch wäre es wert gewesen. Ansonsten jedoch die faszinierende Momentaufnahme eines großen Landes und seiner Bevölkerung.

Autorin:

Leonie March wurde 1974 geboren und arbeitet als freie Journalistin in Südafrika und berichtet von dort von diesem und den Nachbarländern Simbabwe, Mosambik und Sambia. Sie ist Mitglied eines weltweiten Korrespondenten-Netzwerkes und erarbeitet für Zeitungen wie die Frankfurter Rundschau und verschiedenen Rundfunksendern Reportagen. Sie lebt mit ihrem Partner in Durban.

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Birgit Weidt: Das Lächeln der Vergangenheit

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Das Lächeln der Vergangenheit Rezensionsexemplar/Sachbuch Mairdumont Taschenbuch Seiten: 239 ISBN: 978-3-7701-8291-6

Inhalt:

Neukaledonien, Archipel am anderen Ender der Welt. Hier begibt sich Birgit weidt auf die Suche nach der geschichte hinter einem mysteriösen Talisman. Sie taucht ein in eine Welt, in der Schamanen die Zukunft aus Palmblättern voraussagen, Unterschiede zwischen den Geschlechtern anhand von Wurzeln erklärt werden und Frauen ihre Gesichtsfalten tragen wie kostbaren Schmuck. Eine Reise, die den Blick für das Magische öffnet, das uns überall und jederzeit umgibt. (Klappentext)

Rezension:

Unweit von Australien und doch am anderen Ende der welt erstreckt sich eine kleine Gruppe von Inseln, die in Europa kaum jemand kennt, und doch (noch) französisches Überseegebiet sind. Neukaledonien. Das ist die Heimat der Muskatnuss und das Gebiet des weltgrößten Nickelvorkommens. Und es war das Sehnsuchtsziel von Birigt Weidt.

Die freie Journalistin machte sich auf, um zu erfahren, wie die Menschen dort leben, was sie bewegt und beschäftigt, wie sehr ihr Leben sich von unserem unterscheidet und um ein Geheimnis zu lüften. Doch die Reise hält mehr Überraschungen und Begegnungen bereit, als die Autorin zu träumen gewagt hätte.

Sie erlebt uralte Bräuche, die Wirkung von tropischen Regen und warum die älteren Bewohner dieser Südseeinseln das Wasser scheuen. Doch vor allem öffnen die Bewohner Grande Terres, Lifou und Ouveas ihre Herzen und geben Einblick in ihr Leben. Fortan ist Weidt der Faszination Neukaledoniens erlegen.

Reisereportagen müssen den Spagat schaffen, journalistisch neutral aber gut recherchiert, spannend erzählt zu sein, aber auch die persönliche Komponente, den Eindruck, mit einzubringen. Kippt die Waage Richtung einer Seite entsteht ein Ungleichgewicht, welches entweder dazu führt, dass man es nur noch mit reinem Faktenwissen zu tun hat oder zur anderen Seite, und dann hat der Leser eine Gefühlsduselei sondergleichen vor Augen.

Birgit Weidt zumindest gelingt dieser Spagat weitgehend sehr gut, wenn auch zum Ende hin ein paar Ausrutscher zu verzeichnen sind. Doch, die autorin schafft es ungemein ein Gefühl des Fernwehs zu erzeugen. Praktisch so, als wäre man mit dabei, begleitet die Autorin auf ein Insel-Filmfest und beobachtet sie beim Vollrichten eines uralten Brauches, um Einblick in das Leben der Ureinwohner zu erhalten.

Viel erfährt man darüber, doch hat man unweigerlich das Gefühl selbst Neukaledonien bereisen zu müssen, um das Geschriebene nachzuvollziehen. Der Sand in den Schuhen, das Ploppen der Kokusnüsse, wenn sie reif von der Palme auf den Boden fallen, und die Suche nach dem richtigen Mittelweg zwischen Tradition und Moderne.

An manchen Stellen wirkt die Autorin selbst etwas überdreht, starkes Kontrastprogramm zur sonst nüchtern und beobachtend gehaltenen Erzählweise, die Informationen über die Inselwelten so ganz nebenbei einfließen lassen.

Wie sehen die Einwohner die Zukunft dieser bedrohten Idylle, wo Chancen, was macht es aus, dieses Leben? Birigt Weidt sucht diese Fragen und antworten darauf zwar nicht, doch stößt sie darauf, lässt sich treiben. Sie begegnet Businessfrauen, die ganz aus ihrer traditionellen Rolle fallen und Künstler, die sich von der sie umgebenden Natur inspirieren lassen, Wunderheiler und Häuptlinge, denen in der Gesellschaft immer noch ein hoher Stellenwert zukommt.

Der Leser wird sich wünschen, dass die Menschen Neukaledoniens auch weiter so ihren Weg gehen können und wird mit einer Fülle von Eindrücken die letzte Seite umschlagen, vielleicht eine Reise buchen, so als wäre man (fast) da gewesen. Und das ist doch etwas.

Wer dann immer noch nicht genug hat, kann auch die auf ihren Reisen durch die Südsee gesammelten Rezepte nachkochen. Damit wäre man dann auch endlich reif für die Inseln.

Autorin:

Birgit Weidt wurde 1962 geboren und lebt in Berlin. Die freie Journalistin schreibt Reisereportagen u.a. für GEO Saison, DIE ZEIT, Frankfurter Allgemeine Zeitung und NZZ. Zuletzt wurde sie für ihre Reportagen mit den unabhängigen Journalistenpreis des Niederländischen Büros für Tourismus & Convention ausgezichnet

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Marian Grau: Bruderherz

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Bruderherz Marian Grau Eden Books Erschienen am: 09.04.2018 Seiten: 208 ISBN: 978-3-95910-143-1

Inhalt:

Neun Jahre lang ist Marian der kleine Bruder vom schwerbehinderten Marlon. Neun Jahre lang gibt es nur Familienurlaube im Hospiz und das ständige Bangen um Marlons Leben. Trotzdem – Marian liebt jede Minute mit seinem Bruder. Als Marlon plötzlich stirbt, bricht für die Familie eine Welt zusammen.

Marian beschließt, aus der Trauer das Beste zu machen. Er will die Welt entdecken – für sich und seinen Bruder. Denn gerade durch das Leben mit Marlon weiß er, dass man das Leben schätzen und jede Sekunde genießen muss. Eine bewegende Geschichte darüber, wie wichtig es ist, für sich selbst die Welt zu erobern. (Klappentext)

Rezension:

Auf Portalen, wo Rezensionen veröffentlicht werden, wird oft zusätzlich nach einer Bewertung in Sternen oder Punkten verlangt. Doch, wie soll das gehen, insbesondere bei Erfahrungsberichten? Stellt man damit nicht eine gewisse Wertigkeit dar, und die eine Erfahrung, ein Leben über ein anderes?

Wer entscheidet, ob diese Erfahrungen relevant sind, erzählt zu werden und interessant genug, so dass sie breites Gehör finden? Ein Dilemma, welches ich dort umgehen möchte, wo keine Bewertungen verlangt werden. Da lasse ich den Text selbst sprechen. Überall woanders vergebe ich die höchste Punktzahl.

Warum eigentlich? Marian Grau schreibt in seinem Bericht „Bruderherz – Ich hätte dir so gern die ganze Welt gezeigt“, über seine Ausflüge rund um den globus, mit Tante oder Eltern in wechselnder Besetzung. Auf der Suche nach sich selbst, und der Nähe zu seinem älteren Bruder.

Der ist im Alter von zwölf Jahren an einer schweren Stoffwechselerkrankung verstorben, die ihm Zeit seines Lebens behinderte. Marlons Tod riss eine Lücke in Marians Leben, lenkte dieses aber auch in eine besondere Richtung. Alles nur Schicksal?

Das weiß Marian Grau nicht, wird die Antwort darauf wohl auch nicht finden, doch erzählt er sehr warmherzig von der Zeit, die er mit seinem Bruder verbringen durfte. Voller Empathie zu ihn und seiner Familie beschreibt der Schüler sowohl schwierige Tage als auch rare und kostbare Momente des Glücks.

Förmlich von der Seele hat er sich seine Gedanken geschrieben, die egal ob in Bangkok oder Moskau, immer auch bei seinem Bruder sind. Herausgekommen dabei ist ein faszinierendes Portrait, welches zeigt, dass materielle Werte für ihn zweitrangig sind, die Erfahrungen, die er machen durfte, sowohl hart waren, aber auch bereichernd.

Wie ist ein Leben an der Seite eines engen Familienmitgliedes, welches rund um die Uhr immer mehr Aufmerksamkeit bekommen muss, als man selbst? Welche Stärken zieht man aus den gemeinsamen Kampf ums Leben. Gibt es ein „weiter“ nach dem Tod?

Diese Fragen stellt sich Marian und findet für sich Antworten, die einen sehr reflektierten Jugendlichen zeigen, der das Leben als kostbares Geschenk betrachtet und das Beste daraus ziehen möchte. Über die Reisen bewältigt er den schmerzvollen Verlust und spürt noch heute diese enge Verbundenheit, dieser besonderen Geschwisterbeziehung.

Ein Bericht über die Reise durch Städte, Länder und Kontinente, auf der Suche nach Antworten auf Fragen, auf die es keine Antwort geben kann. Über eine ganz besondere Geschwisterbeziehung, und wie Trauer Horizonte erweitern kann. Ein ganz besonderes Reisebuch.

Autor:

Marian Grau wurde 2002 geboren und lebt mit seinen Eltern bei Stuttgart. Als er neun Jahre alt war, stirbt sein älterer Bruder Marlon, der an der Stoffwechselkrankheit Morbus Leigh erkrankt war. Ein Weg dies zu verarbeiten ist für Marian das Reisen, um Städte, Länder und Kontinente für sich und Marlon zu erschließen.

Mit 17 ist er Deutschlands jüngster Reiseblogger, der auf www.geomarian.de von seinen Abenteuern rund um den Globus berichtet. Der Schüler erliegt der Faszination der Moskauer Metro und thailändischen Kuriositäten. Seinen Bruder weiß er dabei immer an seiner Seite.

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Franziska Seyboldt: Rattatatam, mein Herz

Rattatatam, mein Herz Book Cover
Rattatatam, mein Herz Franziska Seyboldt Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 11.01.2018 Seiten: 253 ISBN: 978-3-462-05047-9

Inhalt:

„An guten Tagen wache ich auf und bin eine Schildkröte. Dann spaziere ich bepanzert bis an die Zähne durch die Straßen. Tunnelblick an und los. An schlechten Tagen wache ich auf und bin ein Sieb.

Geräusche, Gerüche, Farben plätschern durch mich hindurch wie Nudelwasser, ihre Stärke bleibt an mir kleben und hinterlässt einen Film, der auch unter der Dusche nicht abgeht. Ich taumele durch den Tag, immer auf der Suche nach etwas, woran ich mich festhalten kann.“ (Klappentext)

Rezension:
Wovor hatten Sie zuletzt Angst? Vor dem kläffenden Nachbarshund, den der Besitzer scheinbar nicht unter Kontrolle hat? Vor der Spinne, die sich gemächlich von der Zimmerdecke direkt vor ihrer Nase abseilt?

Vor zu engen, kleinen Räumen oder davor, vor vielen Menschen eine Rede halten zu müssen? Ängste, Phobien gibt es in den vielfältigsten Formen und Ausprägungen. Nahezu vor allen Dingen kann man Abneigungen entwickeln.

Was aber, wenn die menschliche Antenne, die uns vor Überreaktionen normalerweise schützt, nicht mehr funktioniert? Was, wenn plötzlich unser größter Alptraum überhand und die Angst in unseren Körpern einzieht und nicht mehr loslässt?

Franziska Seyboldt hat über ihre Erfahrungen, ihren Kampf mit ihrer Angst geschrieben. Entstanden ist eine spannende Auseinandersetzung, ein Dialog mit der Psychose und ein Kampf, ein selbstbestimmtes Leben zurück zu gewinnen.

„Rattatatam, mein Herz“, ist kein Ratgeber, soll es auch nicht sein, sondern Seyboldts Weg, ihre Ängste zu bekämpfen. Dies tut sie erfolgreich und beschreibt innere Auseinandersetzungen so amüsant wie möglich, so ernst wie nötig und gibt sich damit der Öffentlichkeit preis, dem Problem ein Gesicht.

Dies ist die Stärke des Erfahrungsberichts, der den steinigen Weg aufzeigt, mit welchen Schwellen Betroffene zu kämpfen haben, welche Rückschläge sie hinnehmen müssen, bis sie erste Erfolge wahrnehmen können.

Es ist ein unscheinbar daherkommendes Schriftstück, welches einen um so größeren Eindruck beim Leser hinterlässt, ohne die Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit von Ratgebern zu beinhalten, die die Einfachheit vorgaukeln, einen Weg in ein Leben ohne Ängste zu finden.

Franziska Seyboldt zeigt, warum Ängste zu ihren und unseren Leben gehören, auf welche Probleme sie für sich gestoßen ist und dass Anerkennung gerade dort ist, wo man sich zu seinen Ängsten bekennt und sich anderen mitteilt.

Sie zeigt, warum die Hilfe anderer wichtig sein und dass es mitunter sehr langwierig werden kann, bis sich die Angst selbst entlarvt. Das beeindruckende Portrait einer Frau, die sich lange von ihren Phobien unterkriegen lassen hat, ihre Angst am Ende jedoch besiegt.

Für alle Betroffenen und solchen, die verstehen wollen, eine beeindruckende Lektüre.

Autorin:
Franziska Seyboldt wurde 1984 geboren und studierte nach der Schule Modejournalismus und Medienkommunikation in Hamburg. Seit 2008 lebt und arbeitet sie in Berlin.

Als Autorin und Redakteurin schreibt sie Artikel für die taz und schreibt ihre eigene Kolumne über psychische Erkrankungen. Sie ist Autorin mehrerer Bücher für Kinder und Erwachsene. Dies ist ihr drittes Buch.

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Mirco von Juterczenka: Wir Wochenendrebellen

Wir Wochenendrebellen Book Cover
Wir Wochenendrebellen Sachbuch Benevento Verlag Hardcover Seiten: 242 ISBN: 978-3-7109-0017-4

Inhalt:

Wenn der Vater mit dem Sohne… Ursprünglich sollte es nur darum gehen, dem Jungen einen Lieblingsfußballverein zu suchen. Jason, geboren 2005, ist Asperger-Autost und seit seinem sechsten Lebensjahr mit seinem Vater Mirco unterwegs auf Groundhopping-Tour durch die Fußballstadien Deutschlands und des benachbarten Auslands. Das Buch ist Zeugnis einer ganz besonderen Vater-Sohn-Beziehung, ein humorvolles und lehrreiches Beispiel dafür, was möglich ist, wenn man versteht, dass Lieben ein Verb ist. (Klappentext)

Rezension:

Um sich zu entscheiden, welcher Fußball-Verein es würdig ist, ein Lieblingsfußballverein zu sein, muss man von jedem Verein mindestens ein Spiel gesehen haben. Oder geht es am Ende einfach nur darum, als Vater und Sohn gemeinsam unterwegs zu sein, die stärken udn Schwächen des anderen näher kennen zu lernen, einander die Sicht auf die Welt zu erklären und zuzuhören?

Egal, Mirco von Juterczenko beschreibt seinen Alltag, sein Familienleben und ganz besondere Wochenenden, die er miot Sohnemann Jason verbringt und das voller Liebe und Einfühlbarkeit. Das ist nicht immer einfach. Für beide nicht.

Jason hat das Aspergersyndrom, eine Form von Autismus, die es in so vielfältiger Form gibt, dass man sie für jeden Betroffenen einzeln betrachten muss. Dabei ist Asperger gleichsam Behinderung im Alltag und Behilflichkeit. Das offenbaren uns der Autor und sein Sohn in diesem Buch, sowie sie es schon in ihren gemeinsamen blog und Podcats getan haben, oder auch in Jasons Wissenschaftsblog „Der Spektrograph“.

Schwierige Themen, für beide, werden dabei nicht ausgespart. Nichts wird bescönigt. Doch, der Vater immer bemüht um eine Lösung für seinen Sohn, um ihn im Alltag behilflich zu sein, gibt nicht auf. Und Jason ebenso wenig, seine Sicht der Dinge zu erklären.

Es ist kein hohes Stück Literatur, was hier im Benevento-Verlag erschienen ist, auch kein Sachbuch oder Ratgeber für Eltern mit autistischen Kindern. Dieser müsste erst einmal geschrieben werden, was schwierig ist, denn Asperger und autismus genießen noch nicht lange die Aufmerksamkeit der Forschungen und müsste überdies so vielfältig sein, wie die unterschiedlichen Formen bei Betroffenen selbst.

Vielmehr ist es eine Hommage, eine Erklärung, wie es dennoch gelingen kann, beiderseits Zuneigung zu empfinden und einander die Welt zu erklären. Und man unterstützt mit Kauf des Buches zudem einen guten Zweck.

Wer beiden in den Podcats zuhört oder die eindrücklichen Blog-Artikel beider liest, wenn mal wieder ein Fußballspiel in irgendeinen Provinznest besucht wurde, ein gesellschaftlich oder wissenschaftlich relevantes Thema besprochen wurde oder man per Interrail kreuz und quer durch Südosteuropa unterwegs ist, wird entdecken, dass ein etwas anderer Blick auf die Umgebung uns allen nicht schaden könnte, wie ihn diese beiden pflegen.

Wer sich nicht für Fußball interessiert, sollte es lesen, um mehr über Asperger-Autismus zu erfahren, wie Alltag und Umgang miteinander gelingen kann. Für alle anderen lässt sich ein liebevolles Vater-Sohn-Verhältnis entdecken, von welchen sich andere selbst im Normalzustand eine Scheibe abschneiden könnten. Doch, was ist schon normal?

Autor:

Mirco von Juterczenka wurde 1977 in Solingen geboren und arbeitet als Manager in der Gastronomie. Seit 2011 ist er mit seinem Sohn auf Groundhopping-Tour durch Fußballstadien unterwegs und Blog mit ihm regelmäßig über diese besuche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Themen. Sein Blog gewann den Grimme Online Award 2017 in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“.

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Wladimir Kaminer: Goodbye, Moskau – Betrachtungen über Russland

Godbye, Moskau Book Cover
Godbye, Moskau Wladimir Kaminer Erschienen am: 20.02.2017 Goldmann Hardcover ISBN: 978-3-442-15916-1

Inhalt:

„Ach, mein Russland, was ist aus dir geworden?“ Betrachtungen über ein Land auf der Suche nach seinem Platz in der Welt.

Wladimir Kaminer schaut in diesem Buch zurück in die Vergangenheit, aber er betrachtet auch die gegenwärtige Situation in Russland anhand von Geschichten und eigenen Erlebnissen.

Und er fragt sich, wie es weitergehen kann mit jenem Land, das er als junger Mann verließ und dass ihm mittlerweile so fremd erscheint. (Klappentext)

Rezension:

Über Russland wird inflationär berichtet. Waren es Ende der 90er/Anfang der 2000er Jahre sehnsuchtsvolle Reiseberichte, dominiert heute die Berichterstattung über die Demokratur Putins, die Besetzung der Krim und darauf folgende Saktionen das Bild des russischen Bären in der deutschen Öffentlichkeit, der aber eigentlich nur ein Bärkaninchen ist, wenn man der Argumentation Wladimir Kaminers folgt.

Doch, wohin strebt dieses Land, in dessen Geschichte Kühlschränke gebaut wurden, in denen Gurken wie bei uns Socken in der Waschmaschine verschwinden?

Wie konnten sich die altersschwachen Führer der Sowjetunion auf den Bühnen des Roten Platzes stundenlang halten und Paraden abnehmen, obwohl sie kaum selbst stehen konnten und den Kreml nur in Liegeposition mit den Füßen voran verließen?

Weshalb gibt es ein Gesetz gegen trampelnde Katzen und wie schafft man es, ein Leben lang kostenfrei ins flugzeug zu steigen?

Diese und viele weitere Fragen nimmt Wladimir Kaminer mit lachenden Auge auf und berichtet humorvoll über die Gegebenheiten in Russlands Vergangenheit, Gegenwart und wundert sich selbst darüber, wohin dieses Land momentan treibt.

Ohne zu viel Wodka, trotzdem immer wieder die russischen Gewohnheiten vornehmend, wie z.B. die sowjetische Art des Lottospielens und warum sterben eigentlich dem Präsidenten ständig seine Tiere weg? Was hat das zu bedeuten? Nicht viel aber eben auch nicht wenig.

So springt Kaminer mit den Leser durch die kurzweiligen Kapitel und läd zum Mitlachen und Augenreiben ein, über ein Land, dessen Faszination sich erst auf den zweiten Blick erschließen lässt.

Die Politik ausgeklammert, schließt man spätestens nach der Lektüre des Autoren die Russen als liebenswertes, manchmal größenwahnsinniges, geist- und lebenskünstlerisches Volk in sein Herz.

Kurzweilig beschriebene Begebenheiten, die sich im flüssigen Schreibstil so schnell lesen lassen, dass man nur einen Wimpernschlag benötigt, um mit Kaminer auf die Reise nach Tschnernobyl, der Krim und natürlich Moskau zu gehen, machen diesen Zustandsbericht zur unterhaltsamen Lektüre.

Berlinerisch-russischer Humor in jeder Zeile, dem man folgen kann und der einem mindestens zum Schmunzeln bringt. Die Türme des Kremls und diverser Kirchen mögen in Russland golden, die Metro in stalinistischem Prunk ein Kunstwerk für sich sein, Kaminer kratzt an der Oberfläche und schaut, was sich dahinter versteckt.

Dem Überlebenskünstler Russland auf den Puls gefühlt, läd der Autor ein, hinter die Fassaden zu schauen und abseits der großen Politik den Menschen zu begegnen. Ob nun an den Stränden des schwarzen Märchens oder gedanklich mit Kaminer auf Reisen, ganz egal. Es lohnt sich.

Autor:

Wladimir Wiktorowitsch Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Kolumnist russisch-jüdischer Herkunft. Von 19851987 leistete er seinen Wehrdienst bei der sowjetischen Flugabwehr ab und arbeitete danach in einer Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk.

Kaminer studierte Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut und bekam 1990 humanitäres Asyl in der DDR, deren Staatsbürgerschaft er noch vor der Wiedervereinigung erhielt. Zuvor verdiente er sich seinen Lebensunterhalt beim Veranstalten von Partys und Untergrundkonzerten in Moskau.

Er veröffentlicht regelmäßig Texte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und organisierte die Veranstaltung „Russendisko“. Im Jahr 2000 erschien das gleichnamige Buch, seine Geschichte wurde auch verfilmt.

Bis dato hat Kaminer weitere Bücher und Kolumnen veröffentlicht, in denen er regelmäßig die russische Gesellschaft und Begegnungen seiner Familie auf’s Korn nimmt. Kaminer lebt mit seiner Familie in Berlin.

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