Rezension

Karoline Klemke: Totmannalarm

Inhalt:

Herr Matzke vergewaltigt fünf Frauen, sitzt seit dreißig Jahren in Haft, fühlt sich aber unschuldig. Herr Knieriemen missbraucht seine kleine Nichte. Er genoss ihn, diesen Moment, in derm er endlich selbst ohne Angst sein konnte. Frau Krüger, die ihr Baby, den kleinen “Murkel”, totgeschlagen hat, will nie wieder Opfer sein – auch nicht hinter Gittern.

Meisterhaft erzählt die forensische Psychologin und Psychotherapeutin Karoline Klemke von erschütternden Begegnungen im Maßregelvollzug. Die Geschichten führen die Brutalität und die beweggründe der Täter vor Augen. Sie spiegeln aber auch, wie die Psychotherapeutin um Kontrolle kämpft und um Fassung ringt – im festen Willen zu helfen. Intensive Einblicke in eine geschlossene Welt. (Klappentext)

Rezension:

In den Welten zwischen Realität und Fiktion gelingt der Spagat häufig genug nicht. Gerade bei sehr sensiblen Themen scheitern Schreibende oft genug und kippen entweder zu sehr ins Kitschige oder aber wirken so abgehoben, dass die Lektüre kaum mehr möglich ist. Die Psychotherapeutin Karoline Klemke hat sich dennoch daran gewagt, eine für die Mehrheit der Gesellschaft vorwiegend im Dunklen liegende Thematik diese zugänglich zu machen. Herausgekommen dabei ist das Gegenteil eines literarischen Sachbuchs, über die Abgründe in den Köpfen hinter Gittern.

So schwer wie die Zuordnung des Genres fällt, so ist auch das Erzählte kaum verdaulich. Die Autorin nimmt uns mit in eine abgeschlossene Welt der Mörder, Sexualstraftäter, die aus unterschiedlichsten Beweggründen heraus ihre kaum in Worte zu fassenden Taten begangen haben, zu denen jene Zugang finden müssen, die darüber entscheiden, wie viel Menschsein noch in diesen steckt und wer vielleicht noch eine Chance auf ein Leben da draußen hat, ohne erneut eine Gefahr für die Gesellschaft zu sein.

Da die Realität manchmal zu grausam ist und ja, auch weil die Arbeit mit Patienten gewissen Richtlinien unterliegt, wird fiktionalisiert und so liegt hier ein Roman vor, der abgeändert von den Erfahrungen der Autorin mit ihrer Arbeit erzählt, in Form der Gestalt der fiktiven Psychotherapeutin Christiane Richter, die frisch aus dem Studium ihre Arbeit im Maßregelvollzug aufnimmt. Künftig soll auch sie entscheiden, bei wem Chancen auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft bestehen und wie dies zu bewerkstelligen ist. Doch wie macht man das, immer einen Finger in der Nähe des Alarmknopfs haltend?

Lesend hangeln wir uns von Fall zu Fall, dringen in die Köpfe derer ein, denen wir nie begegnen wollen und erleben gleichzeitig sowohl bei diesem das Wechselbad der Gefühle als auch bei der Hauptprotagonistin selbst, die von Seite zu Seite mehr Konturen bekommt. Anfangs blass und unsicher wirkt die Figur immer mehr fassbar, doch steigert sich damit auch die Fallhöhe für den Charakter, der merkt wie er selbst von dieser Tätigkeit verändert wird. Immer wieder steht die Frage im Raum: Wie hält man das nur aus?

Die einzelnen Fälle sind sehr kompakt, kapitelweise dargestellt, zudem verwoben mit den privaten Herausforderungen der Protagonistin, die schon bald auch außerhalb ihrer Arbeit glaubt, der berufliche Blick verändere die Wahrnehmung. Gerade in der Ausformulierung dieser und anderer Kippmomente liegt die Stärke der Autorin, die permanent trotz relatiiv ruhigem Erzähltempo die Spannung hochzuhalten versteht.

Der Part der Antagonisten ist von Beginn an klar, hier ist die Veränderung zum Guten oder zum noch Schlechteren, die Spiegelung des Gegenübers und die Reaktion sehr interessant, übrigens auch in dem Sinne, was das mit jenen macht, die das Buch zur Hand nehmen. Sind bestimmte Reaktionen aus ihrer Sicht heraus nicht logisch und folgerichtig, so schlimm die Konsequenzen auch sind? Stimmt man nicht hier und da überein, würde man sich in die einzelne Figur hineinversetzen? Diese Gedanken bleiben, so schnell wie sie kommen, im Halse stecken. Allein, dass die Autorin sie heraufbeschwören kann, zeigt ihre Erzählkunst.

Handlungsort bedingt könnte das ganze an ein Kammerspiel erinnern. Nur der Humor fehlt, tatsächlich ist sehr viel Sachkenntnis in den Roman eingeflossen. Unweigerlich wird man sich fragen, welche der Geschichten wahr sind, welche erfunden, welche details verändert wurden, um ein Thema zu fassen, welches einem sonst durch die Finger rinnt. Wer weiß sonst schon, wie die Arbeit mit Straftätern aussieht, welche Ziele erreichbar sind und was passiert, wenn das Schlimmste eintritt, was man sonst zu verhindern sucht?

Immer ist es dieses Gegenüberstellen der Protagonistin mit zumeist einer anderen Figur, Rollenverteilung ohne Zweifel. Ersterer wird, wie in der Realität der aktive Part in diesem Roman seit. Der Informationsstand von uns Lesenden ist stets der gleiche, aber eben auch das Umhergeworfen werden, welches um so heftiger wird. Auf Überraschungsmomente ist man gefasst und wird dennoch von ihnen überrumpelt. Der Roman beleuchtet einige sehr interessante aspekte der therapeutischen Arbeit unter erschwerten Bedingungen, immer wieder durchsetzt von Zeitsprüngen und Rückblenden, die eine ganz eigene Dynamik entwickeln.

Man gewinnt ein klares Bild davon und ist am Ende heilfroh, sich nicht näher damit beschäftigen oder konfrontieren zu müssen. So sehr zieht die Erzählung Karoline Klemkes einem in den Bann, so real wirkt der Schauplatz, der zum Hauptteil das kleine Büro der Protagonistin ist.

Zwischen der Kriminalliteratur und spannenden, oft genug effekthaschender True Crime Büchern, dazu noch Romanen, steht “Totmannalarm” irgendwie dazwischen und doch außerhalb, wozu nicht nur die Sachkenntnis der Autoerin beiträgt, was das ganze lesenswert macht, wenn man sich an die Lektüre denn heran traut. Wer das tut, denkt jedoch über die Arbeit von Psychotherapeuten hinterher anders, kann sogar vielleicht einzelne Entscheidungen nachvollziehen, wie sie zustande gekommen sind, was vorher so nicht möglich war. Wenn nur ein Bruchteil dieser Zeilen davon solch eine Wirkung erzielt, hat sich die Lektüre schon gelohnt.

Autorin:

Karoline Klemke wurde 1973 geboren und ist eine deutsche Psychologin und Psychotherapeutin. Nach dem studium betreute sie obdachlose jugendliche und arbeitete von 2002-2007 in einer Klinik für Forenische Psychiatrie. Nach ihrer Approbation als Psychologische Psychotherapeutin wurde sie für kriminalprognostische Gutachten herangezogen und arbeitete mit Gruppen im Bereich Verhaltenstherapie. Seit 2011 betreibt sie eine psychotherapeutische Praxis in Berlin, war zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forensisch-therapeutischen Ambulanz der Berliner Charite tätig. Dies ist ihr erster Roman.

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Daan Heerma van Voss: Die Sache mit der Angst

Inhalt:

“Du hast zu viel Angst vor dem Leben.” Als der Autor Daan Heerma van Voss mit dieser Begründung von seiner Freundin verlassen wird, reist er von Amsterdam über Jakarta nach San Francisco, um die Ursachen seiner Angststörung endlich tiefer zu ergründen. Was ist Angst? Woher kommt sie? Und welche Rolle spielen unsere Gene? Dieses Buch hilft, einen Weg zu finden, Angsgefühle, Panik und Phobien zu verstehen und ihnen etwas entgegenzuhalten. (Klappentext)

Rezension:

Jeder von uns kennt sie, die Angst. Sie schützt uns, doch oft genug dominiert sie auch unser Leben. Seit seiner Kindheit leidet der Autor, Journalist und Historiker Daan Heerma van Voss unter Angstzuständen und hat sich an einem der Wendepunkte seines Lebens, die durch eben diese willkürlich auftretenden Angstattacken markiert sind, aufgemacht, diese zu ergründen.

Sein Weg führte ihn einmal rund um den Globus, quer durch die eigene Familiengeschichte und nicht zuletzt durch einen Schnitt vieler Themengebiete, von der Wissenschaft bishin zur Popkultur. Entstanden ist dabei ein einfühlsamer und informativer Bericht über ein Phänomen, das uns alle betrifft.

In der Medizin ist man sich einig, die Anzahl der Menschen, die unter chronisch immer wiederkehrenden Angstzuständen leiden, wächst seit Jahren, sowie der Medikamentenmarkt, der darauf nicht immer heilvollen Einfluss nimmt. Doch wie kam es dazu, dass heute die verschiedenen Angstzustände als medizinisch zu betrachtende Gegenstände behandelt werden? Wie entwickelte sich die Betrachtung der Angst über die Jahrhunderte bis in unsere heutige Zeit? Woran liegt es, dass einige Ängste, wie bestimmte Phobien gesellschaftlich anerkannt sind, andere nicht?

Anhand dieses sehr persönlichen Sachbuchs holt der Autor eine brisante Thematik aus der Tabuzone und versucht zu verstehen, womit die meisten Menschen irgendwann in ihrem Leben einmal zu känmpfen haben und warum immer mehr von uns sich in einer Spirale gefangen sehen? Was machen wir mit der Angst? Was macht die Angst mit uns.

Entlang des Zeitstrahls der eigenen Familiengeschichte hangelt er sich durch die verschiedenen Arten, dieses Phänomen zu betrachten und ergründet sowohl den historischen Umgang als auch die Schlussfolgerungen für die heutige Zeit. Zunächst ein philosophisches Problem erläutert er die Entwicklung hin zur medizinischen Betrachtung, ergründet die Wahrnehmung chronischer “Angsthasen”, deren Bandbreite von Ängsten vor Spinnen bis hin zu “Angst, dass eine bestimmte Person mein Essen isst.”, reicht.

Was auf den ersten Blick humorvoll klingt, manifestiert sich in soziale Einschränkungen, die der autopr ebenfalls versucht, nachzuvollziehen, zudem jenen zu erläutern, die nicht betroffen sind.

Das mündet hier in eine Art Verständnis schaffendes Geschichtsbuch. Ein Ratgeber ist das nicht und hebt sich somit wohltuend ab von der Sparte Selbsthilfebücher, die mehr zerstören als aufbauen und eher in die Esoterikecke gesteckt werden sollten, mit Warnzeichen versehen.

Wenn es ein Kritikpunkt gibt, ist es bezogen auf medizinische Begrifflichkeiten zu empfehlen, sich sehr auf die Lektüre zu konzentrieren und den einen oder anderen Sachverhalt nochmals nachzuschlagen. Spätestens beim dritten genannten Wirkstoff von Medikamenten gerät man durchaus etwas ins Trudeln, sofern man sich damit noch nicht beschäftigen musste und dann das Hintergrundwissen zumindest in Ansätzen fehlt. Ansonsten jedoch ist das sehr informative Sachbuch zu empfehlen, vielleicht um sich selbst, in jedem Fall Betroffene besser in ihren Ängsten nachvollziehen und verstehen zu können.

Autor:

Daan Heerma van Voss wurde 1986 geboren und ist ein niederländischer Autor, Jozurnalist und Historiker. Er schreibt regelmäßig für internationale Magazine und Zeitschriften. Seine journalistischen Texte wurden mit dem De Tegel-Preis ausgezeichnet. Dies ist sein erstes Sachbuch.

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Benedikt Bösel: Rebellen der Erde

Inhalt:

Klimawandel, Artensterben und Bodendegeneration bedrohen unsere Existenz. Jede dieser Krisen ist mit den anderen verbunden und alle drei treffen sich in der Landwirtschaft. Einerseits gefährden sie diese, andererseits hat die Landwirtschaft selbst großen Anteil an der Verschärfung dieser Bedrohungen. Dass es nicht so weitergehen kann, ist offensichtlich. Die gute Nachricht: Die Transformation der Landwirtschaft könnte sie wieder zukunftsfähig, resilent machen und profitabel, gleichzeitig allen drei Megakrisen die Stirn bieten.

Benedikt Bösel, der das elterliche Gut in Brandenburg übernommen hat, zeigt, wie das funktionieren kann. In einer der landwirtschaftlich schwierigsten Gegenden Deutschlands, wo Dürre auf extrem sandigen Untergrund trifft.

(Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Buchtrailer Benedikt Bösel “Rebellen der Erde” (Scorpio Verlag)

Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann die Transformation der Landwirtschaft Richtung Massenproduktion, um eine stetig wachsende, damals zudem hungrige Bevölkerung zu ernähren. Erst schleichend, dann in einem immer höheren Tempo wurden etwa Streuobstwiesen von Feldern riesiger Monokulturen verdrängt. Ein Phänomen, welches in unterschiedlicher Ausprägung weltweit zu beobachten war und deren Auswirkungen Landwirte überall zu spüren bekommen.

In der Welt und zunehmend auch unmittelbar bei uns. Extremwetterperioden vernichten Ernten, die mit immer weniger natürlichen Nährstoffen auf überdüngten Böden zurechtkommen müssen. Vielerorts wird versucht, mit Einsatz von Chemie und Pestiziden oder, wer sie sich leisten kann, teurer Technik, dagegen zu halten. Doch, wie lange geht das noch gut? Diese Frage, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, stellen sich immer mehr Landwirte. Jahr um Jahr geben immer mehr Höfe auf.

Praktisch vor der Situation bzw. der Frage, wie das elterliche Gut zukunfts- und überlebensfähig gemacht werden kann, stand Benedikt Bösel als er dieses übernahm, in einer der trockensten und damit landwirtschaftlich schwierigsten Gegenden Deutschlands. Technische Neuerungen, das war schnell klar, waren nicht zu finanzieren, von Pesitiden und Chemie wollte er sich nicht abhängig machen. Das Problem, Hitzeperioden und der nährstoffarme Boden. Könnte man zumindest an diesem arbeiten?

So viel sei schon mal verraten, dem Autor blieb keine andere Wahl als dies zu versuchen. Er beschreibt seinen Weg in die Landwirtschaft, der keineswegs vorherbestimmt und geradlinig war, doch voller Interesse und der Annahme von Herausforderungen, die sich dieser Tage stellen und zeigt, was mit Ideenreichtum und Austausch alles verwirklicht werden kann. Entstanden ist dabei ein Bericht ohne erhobenen Zeigefinger, in dem Bösel darstellt, wie etwa Forst- oder Weidewirtschaft, der Anbau von Pflanzen neu gedacht werden muss, damit auch in Zukunft landwirtschaftliche Betriebe bestehen können. Mit und trotz des Klimawandels.

Das dies nicht einfach war und Stellschrauben von Ideen anderer angepasst werden mussten, zeigt er anhand verschiedener Projekte, um seinen Betrieb, die er und sein Team im Laufe der letzten Jahre aufgebaut haben. Dargestellt werden die einzelnen Elemente moderner Landwirtschaft, die sich dort teilweise immer noch in einer Art Versuchsphase, wissenschaftlich begleitet befinden und was im Kleinen bereits funktioniert, wie die Zukunft aussehen kann. Klar ist, die traditionelle Landwirtschaft kann so wie bisher nicht mehr weitermachen, zudem immer mehr Menschen sensibler für das Klima werden und nicht zuletzt dafür, was auf ihre Teller kommt.

Bösel gelingt es, diese Geschichte von Lebensmitteln zu erzählen, die es künftig brauchen wird, zeigt, welche Ideen und Grundlagen bereits seit Jahrzehnten existieren, nur neu oder weitergedacht werden müssen für unsere Zeit. Dies tut er mit so viel Zugewandtheit und Begeisterungsfähigkeit, ohne Rückschläge oder Herausforderungen zu verheimlichen, dass sich nicht nur sein Betrieb von der Masse abhebt, sondern auch die Lektüre von der sonstigen Schwarzmalerei.

Natürlich ist das kein Patentrezept, aber immerhin eine Blaupause dessen, wie dezentrale Landwirtschaft bereits funktioniert und eine beeindruckende Wirkung innerhalb von wenigen Jahren entfalten kann. Kann es etwa gelingen, unsere Felder vielseitiger und doch profitabel zu gestalten? Wie müssen künftig landqwirtschaftliche Nutztiere in dieses System integriert werden? Kann man beinahe tote Böden helfen, sich selbstständig zu regenieren oder Wälder umbauen, dass die kranken Monokulturen auch dort der Vergangenheit angehören? Ja, sagen Bösel und sein Team und beschreiben in diesem Sachbuch das Wie.

Es ist die Verbreitung eines Konzepts gleichsam einer Zukunftsvision, die hier vorgelegt wird, jedoch nicht nur reine Theorie. Lektüretipps, die man getrost für den heimischen Garten im Kleinen anwenden kann, finden sich da ebenso wie die zahlreichen wunderbaren Illustrationen von Romina Rosa, die das Beschriebene visualisieren. So gelingt nicht nur die Mahnschrift, sondern eben auch viel Positives zu transportieren.

Mit jeder Seite Lektüre wird man beeindruckter, auch von diesem riesigen Projekt, in dem nicht nur der Autor selbst so viel Leidenschaft hineinsteckt. Inzwischen hat dies zu einer Ansammlung weiterer Projekte dort im brandenburgischen Madlitz geführt, die allesamt Landwirtschaft in ihren Facetten neu denken. Wenn dies im Kleinen so funktioniert, man stelle sich das überall in Deutschland vor. Bösel selbst hat diese Vorstellung schon. Wird sie flächendeckend real, wäre die Landwirtschaft nicht mehr Teil des Problems sondern ein großer Baustein der Lösung. Anfangen kann man dafür unbedingt mit der Lektüre.

Autor:

Benedikt Bösel wurde 1984 geboren und studierte Business Finance in Großbritannien, dann Agrarökonomik in Berlin. Er arbeitete zehn Jahre in der Finanzindustrie, übernahm später jedoch den ökologisch bewirtschafteten Hof seiner Eltern in Alt Madlitz. Die Erfahrungen aus der Wirtschaft gepaart mit den großen Herausforderung eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs nutzt er, um den Beweis anzutreten, dass die Landwirtschaft zum Schlüssel für uns und nachfolgende Generationen werden kann. Mit seiner Passion konnte Bösel inzwischen zahlreiche Partner und Mitstreiter anstecken, die sein Projekt zu einer beherzten Gemeinschaftsaktion machen.

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Franziska Tanneberger/Vera Schroeder: Das Moor

Inhalt:

Das Moor ist nicht nur neblige Sumpflandschaft, wo Vögel nisten, Schild oder Torfmoose wachsen. Auch eine grüne Wiese, auf der Kühe weiden, kann sich als Moor entpuppen, wenn man genau hinschaut. Eine berührende Lektüre über einen einzigartigen Lebensraum. (Klappentext)

Rezension:

In Film oder etwa Literatur sind die seltener werdenden Moorlandschaften vom Gefühl her negativ besetzt. Dunkel und Nebeligkeit, trostloses unnützes Land war dies jahrhundertelang, bis die Menschen begangen, es urbar zu machen, zu bewirtschaften, was vor allem hieß, es trocken zu legen und landwirtschaftlich zu bebauen. In unseren Breiten gibt es sie daher kaum noch, die natürlichen Moore, in denen seltene Moose oder Tierarten, wie der Seggenrohrsänger zu Hause sind.

Andere, wie das große Wasjugan-Moor in Sibirien sind für die Wissenschaft aufgrund der politischen Ereignisse derzeit in weite Ferne gerückt. Doch es gibt auch Hoffnung für die Moore, in Mitteleuropa und weltweit. Immer mehr Menschen erkennen die wichtige Rolle der Moore als Bestandteil nachhaltigen Klimaschutzes. Für die Ökologin Franziska Tanneberger ist dies nur eine von vielen faszinierenden Facetten, die uns die Moorlandschaften bieten. Nun hat sie diese, zusammen mit der Wissenschaftsjournalistin Vera Schroeder in einem für die Thematik einnehmenden Sachbuch veröffentlicht.

Werke, die sich mit den Kapriolen der Klimakatastrophe beschäftigen, zeichnen sich zurecht ob des menschengemachten Wahnsinns durch Schwarzmalerei, verbunden mit zahlreichen erhobenen Zeigefingern aus. Fast bekommt man beim Lesen den Eindruck, dass alles ohnehin zu spät ist, jeder Fetzen guter Wille eines Einzelnen vielleicht dazu geneigt ist, das eigene Gewissen zu beruhigen, ansonsten aber kaum Auswirkungen zu haben scheint.

Tanneberger, die über ihre Profession zum Klimaschutz gekommen ist, geht die Sache anders an und berichtet zunächst von den Bestandteilen und Arten der Moorlandschaften, bevor sie einzelne Beispiele zur näheren Erläuterung hervorhebt, sowie auf die Geschichte des Zusammenspiels zwischen Mensch und Moor eingeht. Darauf aufbauend hebt sie dann, mit wissenschaftlicher Expertise unterfüttert, die Bedeutung der Moore für den Klimaschutz hervor und warum es trotz der Gefährdung dieser Landschaften auch vielerorts positive Beispiele gibt, die aufzeigen, was bereits heute funktioniert und zukünftig mit den Mooren möglich sein kann.

Die positive, hier kaum melancholische Grundstimmung des typischen Nature Writing vermischt mit wissenschaftlicher Expertise ist dies, was das Werk so lesenswert macht. Handlich kompakte Kapitel laden dazu ein, sich mit einer sonst eher stiefmütterlich behandelten Thematik zu beschäftigen, ohne jetzt allzu sehr ins Theoretische abzugleiten. Man findet leicht dort hinein, um vielleicht beim nächsten Spaziergang mit anderen Augen die Umgebung zu betrachten, zumal für eine verkannte und hier selten gewürdigte Landschaftsform.

Angenehm ist die Herangehensweise der Wissenschaftlerin, die keine absolute Position bezieht, sondern in ihre Projekte immer auch die Menschen und deren unmittelbare Umgebung mitdenkt. Warum sollte ein Landwirt seine Äcker wieder vernässen? Wie damit wirtschaften? Taugt ein mit regionalen Unternehmen, Behörden und Landwirten entwickeltes Konzept auch anderswo? Wovon und wie sollen diese dann leben, zudem, wenn herkömmliche Maschinen auf einem moorastigen z. B. Kartoffelacker versinken und geeignete Technik eher Marke Eigenbau denn Serienreife sind?

Diese Arbeitsweise des Miteinander wird ebenso zwischen den Buchdeckeln verdeutlicht, wenn nicht nur anhand zahlreicher Beispiele Zusammenhänge erklärt werden, sondern auch Landwirte am Ende eines jeden Kapitels in Form eines Interviews zu Wort kommen, die hier und anderswo heute wirkliche Pionierarbeit leisten.

Ein Thema so zu transportieren und einmal zu zeigen, was bereits funktioniert und möglich ist, ja zum Teil schon umgesetzt wird, um so die Wichtigkeit zu unterstreichen, die für den Erhalt und der Wiedervenässung, nicht Renaturierung; warum dies der falsche Begriff ist, wird ebenso erklärt; ist unglaublich wohltuend und hebt dieses Sachbuch von so vielen anderen aus diesem Bereich ab. Ohne Moorleichen, dafür ganz viel Liebe für bisher verkannte Details.

Autorinnen:

Franziska Tanneberger studierte zunächst Landschaftsökologie und Naturschutz in Greifswald, arbeitete als Gutachterin bei Naturschutzprojekten in Polen und Belarus, sowie beim Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. 2012 kehrte sie an die Universität Greifswad zurück und leidet dort das hießige Moor Centrum. Sie forscht und berät zu wiedervernässten Mooren und wie wir sie nutzen können.

Vera Schroeder ist Journalistin und arbeitet im Wissenschaftsressort der Süddeutschen Zeitung. Sie studierte Politik und Kommunikation. Bevor Sie bei der SZ 2021 begann, war sie Chefredakteurin von NEON und Nido, sowie Begründerin von SZ Wissen.

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E. T. A. Hoffmann: Meister Floh

Inhalt:

E. T. A. Hoffmann hat seinen Meister Floh unter der bedrohlichen Metternich-Zensur in seinem Todesjahr 1822 veröffentlicht. Die sieben verwickelten Abenteuer, in denen der Herr Peregrinus Tyß “manches Seltsame in und an sich trug” und aberwitzige, groteske Erlebnisse hat, sind in der “berühmten schönen Stadt Frankfurt am Main” angesiedelt. Darin verschmelzen Traum und Märchenrealität auf eine Weise, die die Gestaltungskraft des FAUST-Zeichners Alexander Pavlenko befeuerte. (Klappentext)

Rezension:

Klassiker neu herauszugeben, unterliegen der Schwierigkeit, dass man zunächst sich einmal den historischen Kontext ihrer Entstehungszeit ins Gedächtnis rufen muss, damit sie überhaupt noch funktionieren und eine Übertragung ins Heute funktioniert. Nicht anders ist es mit Hoffmanns Erzählung “Meister Floh”, die dieser nach der Niederlage gegen Napoleon zur Zeit der Restauration zwischen politischer Satire und Kunstmärchen angesiedelt hat.

Der Autor entführt uns nach Frankfurt am Main, wo unser Hauptprotagonist durch wundersame Ereignisse in eine Geschichte gerät, in der nicht mehr klar zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden ist, menschliche Charakterzüge ebenso aufs Korn genommen werden, wie der Versuch staatlicher Kontrolle, dargestellt durch ein mikroskopisches Glas, dessen Träger damit die wirklichen Gedanken seiner Gegenüber wissen lässt. Daraus entspinnt sich eine wundersame Erzählung in sieben Teilen, welche nicht nur ein politisches Großereignis jener Tage in den Fokus rückt, wenn auch verdeckt, ansonsten jedoch kaum zu greifen ist.

Wie angedeutet, nicht einmal das Genre ist auf dem ersten Blick klar umrissen, was es mitsamt der für uns heute ungewöhnlichen Sprache schwer macht, da hinein zu finden. Der Stil ist gewöhnungsbedürfig, wenn auch einzelne Abschnitte sehr klar wirken. Doch beschleicht beim Lesen einem das Gefühl, dass die Kapitel sehr willkürlich angeordnet sind. Einen einzelnen Tausch würde man kaum merken, so auch die Protagonisten anfangs ähnlich schwer zu greifen sind. Unklar umrissene Übergänge zwischen einzelnen Szenarien, sowie Auslassungen, die heute in moderner Prosa so wohl kaum gemacht werden würden, tragen das Übrige dazu bei.

Der reale Teil ist klar in der Zeit der letzten Lebensjahre des Autoren angesiedelt, als man diesen in einen innenpolitischen Konflikt hineinbugsieren wollte, so weist auch die Handlung einiger Kapitel nicht nur Namensähnlichkeiten in Bezug auf einzelne Protagonisten auf, durfte daher zunächst auch nur zensiert erscheinen. Der mrächenhafte Anteil in Gestalt des Oberhauptes der Flöhe, der dem Hautprotagonisten Zugang zu den tatsächlichen Ansichten seiner Gegenüber verschafft, stellt das ergänzende Element.

Nicht klar zunächst, die Positionen der einzelnen Figuren, geht es doch auch um menschliche Eigenschaften, von denen wir alle gute und weniger gute in uns tragen. Wie diese zu werten sind, ist Sache der Interpretation. Und diese fällt je nach zeitlichen Abstand oder Position von einem selbst unterschiedlich aus. Gerade das macht die Geschichte heute kaum greifen. Längen, die sicherlich damals nicht als solche empfunden wurden, fallen heute allzu sehr auf und machen ein Mitfühlen mit den Figuren mehr als schwer. In jede Richtung. Da nützen dann auch einzelne sprachlich immer noch sehr schöne Elemente wenig.

Immerhin, unterschiedliche Perspektiven bringen dann doch einen gewissen Wechsel, damit eine funktionierende Dynamik in die Erzählung, wenn auch die anstrengend zu lesen sind. Wer ist schon nach einem Monolog sofort aufnahmefähig für den nächsten? Hier wird Lesenden sehr viel Geduld abverlangt, die wahrscheinlich in Zeiten immer kürzerer Aufmerksamkeitsspannen nicht mehr vorhanden ist. Das geht dann auch auf Kosten des Verständnisses, zumal der Schreibstil damals funktioniert haben mag. Die Erzählung heute so geschrieben, funktioniert einfach nicht mehr mit der gleichen Wirkung.

Wer sich mit dem historischen Kontext ein wenig beschäftigt, wird die Erzählung mit mehr Gewinn lesen. Anderenfalls wird es schwierig, Zugang zu finden. Funktioniert haben die Verarbeitung von Denunziation und Kontrolle, auch mit diesem Wissen, die Anlehnung an damals geschehene politische Ereignisse. Die Umsetzung jedoch wirkt mehr als anstrengend, zudem Geduld und Vorstellungsvermögen arg auf die Probe gestellt werden. Die Antenne sollte man schon haben. Oder man liest es als geschichte eines durch eines Flohbisses in den Wahnsinn Getriebenen.

Um das Repertoire an klassischer Literatur zu erweitern, lohnt sich die Lektüre, aber auch um sich vor Augen zu führen, wie damals mit politischer Zensur und Kontrolle umgegangen, diese verarbeitet wurde. In Bezug dazu könnte man die Geschichte auch als Mahnmal dessen lesen, was uns blüht, wenn wir nicht aufpassen. Rein um des Lesegenusses wegen, geht dabei jedoch leider heute viel verloren.

Autor:

E. T. A. Hoffmann wurde 1776 geboren und war Komponist, Künstler und Schriftsteller. Nach einem Jura-Studium in Königsberg ging er 1798 an das Berliner Kammergericht, arbeitete ab 1800 in Posen, Plock (Weichsel) und Warschau. Danach wirkte er als Kapellmeister in Bamberg, 1814 als Mitglied des Kammergerichts Teil der Zensurbehörde. In mehreren Geschichten verarbeitete er diese Doppelexistenz. “Meister Floh” ist seine letzte Erzählung, bevor er 1822 starb.

Illustrationen:

Alexander Pavleno ist ein deutsch-russischer Illustrator und Trickfilmzeichner. 1963 in Rjasan, Sowjetunion geboren, studierte er dort und in Moskau Kunst, Geschichte und Animation, nevor er für diverse Filmstudios und Medienunternehmen arbeitete. Seit 1992 lebt er in Deutschland. Seine Comics wurden in zahlreichen ländern publiziert. Für “Meister Floh” von E. T. A. Hoffmann bediente er sich der Scherenschnitttechnik.

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Karin Hofmann (Übers.): DK History – Momente der Geschichte

Inhalt:

Von den jubelnden Menschen bei den antiken Olympischen Spielen über den Ausbruch des Vesuv, der die Stadt Pompeji erschüttert, bis zum verqualmten Maschinenraum der Titanic. Erlebe die bedeutensten Momente der Geschichte hautnah und staune über atemberaubende 3-D-szenen, die Ruinen, Wracks und Ausgrabungsstätten zum Leben erwecken! (Klappentext)

Rezension:

Begeben wir uns auf eine Reise durch die Zeit, können wir einem spannenden Ritterturnier bewohnen, erleben, wie Piraten im Auge des Sturms gegen das Sinken ihres Schiffes ankämpfen oder Mongolen versuchen, das Bollwerk der chinesischen Mauer zu überwinden. Unsere Geschichte steckt voller faszinierender Momente. Inzwischen gibt es zahlreiche Sachbücher für Kinder, die diese lebendig werden lassen. Dorling Kindersley ist einer der Verlage, die sich im schwierigen Sachbuchsegment auch da einen Namen gemacht haben und für die wir vom üblichen Rezensionsschema abweichen müssen.

DK History: Momente der Geschichte – Vom Bau der Pyramiden bis zum, Untergang der Titanic, Buchtrailer (Verlagsvideo)

Coffee Table Books sind die dort erscheinenden Werke beinahe allesamt. Bücher also, die schon ein Blickfang sind, wenn man sie auch nur von außen betrachtet und in die man versinken kann, sobald man sie aufblättert. Und das gilt, nicht nur hiermit, durchgehend für alle Altersgruppen. Tatsächlich funktioniert dieses Werk für jeden, der sich für Geschichte begeistern kann. Herausgestellt werden 21 Momente und Ereignisse, vom Anbeginn der Menschen bis hin zum Ersten Weltkrieg.

Jedes Ereignis nimmt einen Rahmen von nur wenigen Seiten ein. Großflächige Darstellungen, Zeichnungen und zahlreiche Fotos werden ergänzt durch Textboxen, in denen das Gezeigte erläutert wird. Man kann das sich in einem Rutsch zu Gemüte führen, immer wieder hin- und herspringen, sich in Details verlieren oder den Überblick über das Große und Ganze behalten. Gerade jüngere Kinder, die noch nicht die Aufmerksamkeitsspanne für detaillierte und ausführliche Texte behalten können, werden ihre Freude damit haben, egal ob vorgelesen wird oder erstes flüssiges Selbstlesen stattfindet. Es ist ein Buch, was gemeinsam so gut funktioniert wie allein.

Gut recherchiert ist es außerdem. Erste Wissensgrundlagen werden gelegt oder vertieft, zudem die Reihe mit dem kommenden Verlagsprogramm fortgesetzt wird. Dass es im Übrigen nicht nur für Kinder funktioniert, brauche ich wohl nicht mehr zu schreiben, ich tue es aber dennoch. Es ist sehr lobenswert, dass auch weniger bekannte historische Ereignisse dargestellt werden. Immer folgen auf eine Überblicksseite eine oder mehrere Seiten, die nochmal den Blick für Details öffnen.

Übersetzung:
Karin Hofmann ist freiberufliche Übersetzerin.

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Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Inhalt:

Ilse Koch war eine der wenigen verurteilten NS-Täterinnen. 1947 wurde ihr von einem US-, 1951 von einem deutschen Gericht der Prozess gemacht. Ausgiebig berichtete die internationale Presse über die als besonders grausam geltende ehemalige SS-Ehefrau. Die Historikerin Alexandra Przyrembel skizziert in einer fundierten Spurensuche Ilse Kochs frühe Mitgliedschaft in der NSDAP und das Leben der Familie Koch in der SS-Führersiedlung in Buchenwald.

Sie beschreibt die Nachkriegsprozesse gegen Ilse Koch und die internationale Berichterstattung darüber sowie Kochs Zeit im Frauengefängnis in Aichach, die Unterstützung der ‘Stillen Hilfe’ und ihre Korrespondenz mit den Kindern. Eine kluge, erhellende Studie der Erzählungen über das ‘Böse’, das von der Nachkriegsgesellschaft außerhalb der menschlichen Sphäre verortet wurde.

(Klappentext)

Rezension:

In der Erzählung unmenschlicher Grausamkeiten gelten die begangenen und vermeintlichen Taten von Ilse Koch als Ausdruck des absolut unfassbaren Grauen, Abgrund des Bösen. Die Frau des Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald soll gezielt Häftlinge gesucht haben, diese töten lassen, um deren tätowierte Haut für Gebrauchsgegenstände wie Buchumschläge und Lampenschirme verarbeiten zu lassen.

Vor zwei Gerichten wurde dies und anderes in der unmittelbaren Nachkriegszeit verhandelt. Für den Mythos allein fehlten letztlich die Beweise. Die Bestandteile des Lampenschirms konnten nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Dennoch blieb genug Unmenschliches, um eine der wenigen NS-Täterinnen nicht nur einmal zu lebenslänglicher Haft zu verurteilen.

Wer war Ilse Koch? Diese Frage stellt sich die Geschichtswissenschaftlerin Alexandra Przyrembel und legt nun nach jahrelanger Recherche ein umfassendes Werk der Zusammenfassung ihrer Studien vor, welches versucht das Ungreifbare fassbar zu machen. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die qua ihres Ranges außerhalb des Systems stand, dem sie diente, was jedoch ihre Taten in der Nachbetrachtung noch grausamer erscheinen lässt, als sie es ohnehin schon sind.

Die Historikerin exerziert zudem ein Stück internationaler Mediengeschichte, zudem die Schaffung eines Geschichtsbildes und das Einspannen für die systemischen Zwecke in der Gesellschaft beider sich nach dem Krieg konstituierender deutscher Staaten.

Der Fall Koch beschreibt die Verflechtungen der SS-Ehefrauen mit der Welt der Konzentrationslager: als Partnerin und Gefährtin, als Mutter und vor allem als Staatsbürgerin des ‘Dritten Reichs’. Ilse Kochs Handeln hatte allerdings nur deshalb eine juristische Aufarbeitung zur Folge, weil sie sich außerhalb der als “normal” betrachteten Ordnung bewegte […].

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Dieser Teil der Rezeption nimmt einen bedeutenden Teil der Biografie ein. beschreibt zudem ein wichtiges Stück Justizgeschichte, sowie medienpolitische Betrachtung und den Versuch der Deutungen Herr zu werden, diese einzuordnen. So ist auch die Kapitelordnung zu verstehen, wenn sie in Bezug zu den Taten Ilse Kochs genommen wird, trotzdem liest sich das zuweilen sehr theoretisch, um im nächsten Moment den Lesenden um so mehr die Schrecken vor Augen zu führen.

Alexandra Przyrembel gelingt der Spagat einerseits einer Wegbeschreibung, andererseits einer nüchternen Einordnung im Kontext der Zeitgeschichte, zugleich jedoch Mythen aus dem Weg zu räumen und Verarbeitungsprozesse näher zu beleuchten.

Alles in allem lässt sich also festhalten, dass sich vor Gericht sowohl Menschen wiederfanden, die […] als Juristen mit Partei- oder SS-Mitgliedschaften in das nationalsozialistische Deutschland verstrickt waren, als auch solche, die zu den Verfolgten des NS-Regimes und Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager gehörten. Möglicherweise liegt hierin, nämlich in seiner Inszenierung als demokratisch, die eigentliche Leistung des Gerichtsverfahrens gegen Ilse Koch, und nicht in der konkreten justiziellen Aufarbeitung von Schuld […].

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Eine unideologische Betrachtung Ilse Kochs hat für die geschichtsinteressierten Laien bis dato gefehlt, was nun hiermit geschaffen sein dürfte. Keineswegs eine einfache Lektüre sollte dieser Ausarbeitung künftig einen gewissen Stellenwert zukommen, innerhalb der Sachliteratur gegen das Vergessen.

Dafür muss man sich Zeit nehmen, da zwischen Theoretischem und geschichtlicher Einordnung, Betrachtung, hin- und hergesprungen wird. Es ist eben alles miteinander verwoben. Wer sich darauf einlässt, vervollständigt sein Geschichtsbild um einen weiteren Aspekt. Das Grauen und wozu ein Mensch in dafür geschaffenen Zeiten fähig ist, bleibt unfassbar.

Autorin:

Alexandra Przyrembel wurde 1965 geboren und ist eine deutsche Historikerin. Seit 2015 ist sie Universitätsprofessorin und Leiterin des Lehrgebiets Geschichte der Europäischen Moderne an der Fernuniversität Hagen. Nach ihrer Promotion 2001 an der TU Berlin beschäftigte sie sich mit der Globalgeschichte des Wissens im 19. und frühren 20. Jahrhundert. 2010 habilitierte sie sich in Göttingen zur Geschichte des Tabus und forscht zur transnationalen Geschichte Europas.

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Bernd Kaufholz: Der Mörder wohnt im selben Haus

Inhalt:

“Oberkommissar ehrenhalber” Bernd Kaufholz ermittelt wieder! die zehn Fälle aus dem ehemaligen Bezirk Halle trugen sich zwischen 1978 und 1988 zu. Neun der recherchierten Straftaten waren Tötungsverbrechen, beginnend mit der Ermordung einer Frau in Dessau, deren Leiche erst nach Tagen in der Elbe im damaligen Kreis Burg angeschwemmt wurde. Der Mord an einer jungen Frau in Wittenberg 1986 endet zwanzig Jahre später mit dem Suizid des Täters in der Haftanstalt von Cottbus-Dissenchen. Warum ein Mörder zweimal zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt werden konnte, schildert der Fall aus Weißenfeld 1987.

Eine Ausnahme bildet der Fall des “Klo-Königs” von Halle, der mit seinen zehn Pachttoiletten mehr als eine halbe Million DDR-Mark in die eigene Tasche wirtschaftete. In gewohnt brillanter Weise rekonstruiert der Autor die Kriminalfälle, die zu DDR-Zeiten für große Unruhe in der Bevölkerung sorgten, und begleitet die Ermittlungsarbeit der Kriminalisten bis hin zur Urteilsverkündung. (Klappentext)

Rezension:

Nichts ist, wie es scheint und so standen auch die Kriminalisten zu DDR-Zeiten vor manch verzwickten Rätsel, um den Angehörigen der aufgefundenen Opfer Klarheit zu verschaffen und, in den meisten Fällen, die Täter zu überführen. Der Autor und Journalist Bernd Kaufholz hat sich nun zehn neue Fälle vorgenommen und rekonstruiert diese, vom Begehen der Tat bis hin zur Urteilsverkündung, manchmal auch darüber hinaus. Und so liegt hier ein weiterer Band kompakten True Crimes vor, dessen Bandbreite von der Beziehungstat bis hin zur Wirtschaftskriminalität reicht.

Zehn Fälle stellt der Autor in sehr nüchterner Sprache vor und beschreibt deren Verlauf mitunter in einer manchmal zu kompakten Form. Gerade bleibt genug Zeit in einem Fall einzutauchen, bekommt man bereits die Auflösung serviert, um so gleich zum nächsten Fall zu springen. Ergänzend dazu, Fotografien aus den Ermittlungsarchiven, die das Geschehen veranschaulichen und das Grauen unterstreichen.

Der Tonfall, in dem erzählt wird, wirkt in etwa so, als würde man direkt die zur damaligen Zeit angelegten Akten lesen, doch reichen die Auswirkungen der beschriebenen Taten mitunter bis in die heutigen Tage. Der Autor erzählt jeden Fall, so weit möglich zu Ende, auch wie mit Urteilen umgegangen, mitunter gehändelt wurde, über die Wendezeit hinweg. Und das ist an manchen Stellen fast noch spannender zu lesen. Die manchmal doch sehr trockene Sprache gewinnt dann an Dynamik, gleichwohl aufgrund der Kompaktheit durchgehend nicht wirklich Längen entstanden sind.

Der Eine oder Andere, wer in unmittelbarer Umgebung des Geschehens oder zumindest in der betroffenen Region gelebt hat, mag sich an bestimmte Dinge im Dunstkreis der Ermittlungen erinnern, heute wohl nur, wenn eine gewisse Legendenbildung stattgefunden hat, doch auch sonst ist dieses Dokument durchaus interessant. Wie funktionierte damals Ermittlungsarbeit? Wo stieß diese, schon aufgrund damals noch nicht verfügbarer Kriminaltechniken, wie sie heute zur Verfügung stehen, an ihre Grenzen? Alleine schon für diese Details, wenn sie auch in überschaubarer Anzahl daherkommen, lohnt sich die Lektüre.

Intensive Recherche ist dem Autoren nicht in Abrede zu stellen, genau so wie den Umgang mit Personen, die teilweise heute noch unter uns sind, auch verkneift sich Kaufholz jeden sensationsheischenden Kniff. Dennoch fehlt es vielfach an Ausführlichkeit, Tiefe, das sehr kompakte Beschreibung nimmt viel von den Spannungsmomenten, die typische True Crime Lektüre eigentlich hat. Wer jedoch Unaufgeregtes sucht, fast berichtsmäßig oder lokalhistorisches Beschreiben, der fährt mit dieser Auswahl gut.

Autor:

Bernd Kaufholz wurde 1952 in Magdeburg geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Zunächst studierte er Maschinenbau, darauf hin Journalistik und war ab 1977 als Redakteur der Mageburger “Volksstimme” tätig. Ab 1993 arbeitete er als Chefreporter und berichtete aus Kriegs- und Krisengebieten der Welt. Er veröffentlichte mehrere Bücher zu kriminalistischen Fällen aus Mitteldeutschland.

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Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Inhalt:

Im November 1519 kommt es zur weltberühmten Begegnung von Hernando Cortes mit dem Aztekenherrscher Moctezuma. Was damals passierte und was danach geschah, ist oft erzählt worden, aber vor allem so, wie die Spanier es uns präsentiert haben. Camilla townsend stellt in ihrem glänzend erzählten, preisgekrönten Buch die faszinierende, vielschichtige Geschichte der Azteken konsequent aus deren eigener Perspektive dar. (Klappentext)

Rezension:

Der Gewinner bestimmt die Sichtweise. So war es für lange Zeit. Doch seit einigen Jahren nimmt die korrigierende Geschichtsschreibung einen immer größeren und gewichtigeren Raum ein. Das ist so in Bezug der Interpretion der Kolonialhistorie Afrikas der Fall, kürzlich auch in Blick auf Tahiti und Polynesiens geschehen. Nur konsequent ist es daher, dass nun auch die eurozentrische Sichtweise auf die Azteken und ihre Kultur korrigiert wird, zumal für das Selbstverständnis ihrer Nachfahren.

Camilla Townsend, ihres Zeichens Historikerin, widmet sich seit langem dieser Aufgabe und hat dazu die Texte studiert, die uns die Indigenen, die sich selbst Mexica nannten, studiert. Nach der Ankunft der Spanier nutzten diese das lateinische Alphabet, um ihre Geschichte in der ihnen eignen Sprache Nahuatl aufzuschreiben. Heute ergibt sich daraus das Portät einer sehr wundersamen und herausfordernden Zeit, sowie ein menschlicheres Bild als das, welches immer noch in unseren Köpfen vorherrschend ist.

Produkt dieser ausgiebigen Recherchen, die nur der Beginn weiterer Forschungsarbeiten sein können, ist das hier vorliegende sehr ausführliche Sachbuch, welches zunächst einen Einblick in das Werden der aztekischen Gesellschaft in der Zeit vor der Entdeckung durch die Europäer gibt, ihr Leben und ihre Kultur darstellt. Entlang eines Zeitstrahls werden dann erste Aufeinandertreffen geschildert, und die Neuordnung der mittelamerikanischen Gesellschaft über die kommenden Jahrhunderte.

Schnell wird klar, die Geschichte der Azteken, sie hat nie geendet. Anhand der in den von den Indigenen verfassten Texten dargestellten Personen, stellt die Autorin einen Wandel dar und zeigt, dass die Indigenen schnell die Unterschiede zwischen den Europäern und sich selbst erkannten, aber auch im Laufe von Generationen Technologien übernahmen und politische Loyalitäten neu ausrichteten, um zu überleben. Dennoch hatten die spanische Konquista und von ihr eingeschleppte, bis dahin unbekannte Krankheiten, verheerende Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Bevölkerung dort und damit auch Einfluss auf das Leben der aztekischen Gesellschaft. Auch dies wird nicht unterschlagen.

Jede Geschichte der azteken muss die erfahrungen eines einst mächtigen Volkes erforschen, das mit einer ungeheuren Katastrophe konfrontiert war und irgendwie überleben musste. Die Konquista war, trotz ihrer Bedeutung, weder ein Beginn noch ein absolutes Ende. Die Azteken lebten jahrhundertelang vor der Katastrophe und sie sind immer noch unter uns.

Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Camilla Townsends Schilderungen sind immer dann stark, wenn sie die Perspektive bestimmter Personalbiografien einnimmt und Konfrontations- und Reibungspunkte beschreibt. Nur dort, wo uns die Texte der Mexica kaum oder nur wenig Auskunft geben können oder gar gänzlich lückenhaft sind, greift sie auf die, in manchen Teilen doch tendenziösen Hinterlassenschaften der Europäer zurück, trotzdem verliert sie nicht den Blick und kommt immer wieder sehr schnell darauf zurück, die ursprüngliche Perspektive wieder einzunehmen.

Das liest sich zuweilen ungewohnt, eröffnet jedoch eine neue Facette, die wir künftig mitdenken sollten. Die Mexica waren eben nicht nur die menschenopfernden Krieger, die alle um sie herum lebenden Völker unterdrückten, sie sind auch nicht mit dem Auftauchen der Spanier spurlos verschwunden. Im Gegenteil, es gibt sie heute noch. Über eine Million Menschen können z. B. heute noch ihre sprache verstehen und mitunter sprechen.

Zuweilen ergeben sich bei dieser Art von Darstellung Längen, was nicht nur am Schreibstil liegt, sondern auch aufgrund des durch die intensive Recherche entstandenen Detailgrads, der seines Gleichen sucht. Man muss schon den Willen und die Konzentration für die Lektüre aufbringen, wenn sie gewinnbringend sein soll, doch lohnt sich das, da Townsend auch von sehr vielen spannenden Ereignissen und Momenten dieser Geschichte zu berichten weiß.

Die “Fremdlinge für uns Menschen hier”, rücken während des Lesens aber in jedem Fall näher.

Autorin:

Camilla Townsend wurde 1965 geboren und ist eine US-amerikanische Historikerin und Professorin für Geschichte an der Rutgers University. Zunächst studierte sie am Bryn Mawr College und promovierte an der Rutgers University in vergleichende Geschichte. Von 1995-2006 lehrte sie Geschichte an der Colgate University in Hamiliton, New York und begann sich in die Sprache Nahatl einzuarbeiten.

2010 erhielt sie ein Guggenheim-Stipendium und studierte die historischen Primär- und Sekundäquellen, der in dieser Sprache von den Azteken verfassten Texte und spezialisierte sich damit auf die Historie und Frühgeschichte amerikanischer Ureinwohner, sowie die Geschichte Lateinamerikas. Ihr Sachbuch wurde 2020 mit dem Cundill History Prize ausgezeichnet.

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Franziska Grillmeier: Die Insel

Inhalt:
Franziska Grillmeiers Aufzeichnungen erzählen detailliert und mit großem Einfühlungsvermögen vom Alltag an Europas Grenzen und vergegenwärtigen die systematischen Rechtsbrüche, die dort tagtäglich begangen werden. Ein genauso bewegender wie erschütternder Bericht über jene, deren Ausgrenzung nach ihrer Ankunft in Europa kein Ende nimmt, und über die unmenschliche Realität der Europäischen Union. (Klappentext)

Rezension:

Ein Pushback bezeichnet das unrechtmäßige, gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtenden von Grenzen, die diese versuchen zu überwinden. Alltag inzwischen, an Europas Außengrenze. Insbesondere Griechenland steht bereits seit längerer Zeit in der Kritik, sich solcherlei “Verfahren” zu bedienen, immer auch dabei in Kauf zu nehmen, Menschenleben aufs Spiel zu setzen.

Erneut wurde kürzlich ein solcher Vorgang dokumentiert. Videoaufnahmen, die der Zeitung The New York Times zugesspielt wurden, zeigen vermummte Personen, die Flüchtlinge aufgreifen, die es bereits von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos geschafft hatten, und mithilfe eines Bootes auf ein Floß im Meer aussetzten, von dem sie später von der türkischen Küstenwache gerettet werden mussten. Dabei ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben, dass alle Flüchtenden ein Recht auf ein geordnetes Asylverfahren haben, zudem natürlich menschenwürdig behandelt werden müssen.

Doch auch das ist auf Lesbos nicht gegeben, wo sich zeitweise eines der größten Lager im Norden der Insel befand. Die Journalistin Franziska Grillmeier dokumentiert die Geschehnisse seit 2018 auf der Insel für verschiedene Zeitungenund erzählt nun anhand von jenen, die sich nicht wehren können, wie die Systematik der Ausgrenzung nach der Flucht erneut Traumata verursacht, wie Recht nahezu täglich gebrochen, auch Journalisten und humanitäre Helfende geblockt und kriminalisiert werden.

Immer mehr Frauen, Männer und Kinder wurden in dieser Zeit in einem eingezäunten Tanker am Hafen von Mytilini gebracht. Am 2. März verweigerte ein dänisches Boot, das im Rahmen der Frontex-Operation Poseidon im Einsatz war, den Befehl der Einsatzleitung. Es sollte 33 gerettete Menschen aus dem Meer in ihr Schlauchboot zurückbringen und aus den griechischen Hoheitsgewässern in türkische Gewässser ziehen. Die Besatzung war der Ansicht, dieser Befehl sei für die Menschen lebensgefährlich, […]. Der Grundstein für die alltägliche Praxis der illegalen Pushbacks war gelegt.

Franziska Grillmeier: Die Insel

“Die Insel” ist ein erschütternder Bericht über menschliches Leid, welches versucht wird, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen zu halten, ist es doch die Politik, die keine anderen Antworten sucht, als immer neue Wege zu finden, Grenzen noch unüberwindbarer zu machen, als sie es ohnehin schon sind. Es ist ein orchestrierter Ausnahmezustand, der hier beschrieben wird, ein Tanz auf dem Vulkan, aus dessen Folgen beständig fatale Schlüsse gezogen werden. Zu Lasten derer, die einfach nur einen Ort für ein geordnetes und vor allem sicheres Leben suchen, zu Lasten aber auch der Anwohner, die die Wut über die Überforderung der eigenen Politik auf jene projizieren, die am wenigsten dafür können.

Die Journalistin hat über Jahre die unterschiedlichsten Menschen begleitet, die Lesbos mit dem Ziel erreichten, sich ein neues Leben aufzubauen, doch nicht nur, aber vor allem auf der Insel unzählige Steine und erneute Traumatisierungen in den Weg gelegt bekamen. Grillmeier zeigt jedoch auch, dass es immer noch jene gibt, die unermüdlich dagegen ankämpfen, auf lesbos und anderswo, sei es für sich selbst oder für andere, aus einem Mut der Verzweiflung heraus, der in dieser Situation nur bewundernswert genannt werden kann.

Als ich am 22. Juli wieder nach Samos kam, um die Baustelle für das neue Lager von Samos zu besucen, wirkte Choulis noch desillusionierter: “Es wäre ehrlicher zu sagen, die Grenzen sind dicht”, sagte er am Abend in einem Cafe, “und jeder, der versucht, rüberzukommen, auf den schießen wir.” Das wäre auch nicht schlimmer als das, was im Moment an den Grenzen passierte. So oder so – viele müssten für ihren Versuch, in Sicherheit zu kommen, mit dem Leben bezahlen.

Franziska Grillmeier: Die Insel

Zudem werden Schicksale beschrieben, deren Leid einfach nur erschüttert, wütend macht, auf Entscheidungsträger, die nicht sehen wollen, welche physische und psychische Qualen sie provozieren. Auch wird die Doppelzüngigkeit einer Politik aufgezeigt, die zwischen guten und ungewollten Flüchtlingen unterscheidet, was widerum das Bild um einen anderen Aspekt vervollständigt.

Das wird anfangs von der Autorin selbst noch sehr nüchtern betrachtet, doch je länger sie mit Menschen spricht, um so emotionaler, um so näher ist sie dran am Beschriebenen, was sich auch in der Lektüre widerspiegelt. Man kann dann gar nicht mehr neutral sein, verfolgt wie Grillmeier eine immer unmenschlichere Spirale von Entscheidungen, die die Flüchtlinge betreffen, aber auch sie in ihrer journalistischen Arbeit im Laufe der Zeit immer wieder behinderten. Jedes einzelne Puzzleteil für sich genommen reicht an sich aus, sich zu empören. Fasslungslos liest man Zeile für Zeile. Speiübel wird einem da.

Die Gewalteskalation war das Ergebnis einer europäischen Politik, die keine Vorstellung und keinen Plan hatte, was mit den geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln passieren sollte. Man lies die Sache einfach laufen.

Franziska Grillmeier: Die Insel

Ohne Längen wird hier über das Leben in Moria und nach dessen Brand über die neu errichteten Lager erzählt, die kaum weniger entfernt von dem sein könnten, was man als Gefängnis bezeichnen könnte. Es wird von Menschen berichtet, denen medizinische Hilfe verwehrt wird, die nach ihrer Flucht vom Regen in die Traufe gerieten.

Man möchte dieses in unseren Zeiten unheimlich wichtige Buch sämtlichen europäischen Politikern um die Ohren hauen und zur Pflichtlektüre für all jene werden lassen, die Zahlengrenzen, Zäune, Mauern, Stacheldraht, Überwachungstechnik setzen und offenbar noch nichts von Menschenrechten gehört haben. Bitte, alle dieses Buch lesen.

Autorin:

Franziska Grillmeier wurde 1991 in München geboren und berichtet als freie Journalistin von der griechischen Insel Lesvos (Lesbos) und anderen Grenzorten. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender. Zuletzt war sie Mitglied des Recherchekollektivs zu den neuen Aufnahmelagern “Das neue Moria” und Teil des Podcasts “Memento Moria”.

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