Politik

E. T. A. Hoffmann: Meister Floh

Inhalt:

E. T. A. Hoffmann hat seinen Meister Floh unter der bedrohlichen Metternich-Zensur in seinem Todesjahr 1822 veröffentlicht. Die sieben verwickelten Abenteuer, in denen der Herr Peregrinus Tyß „manches Seltsame in und an sich trug“ und aberwitzige, groteske Erlebnisse hat, sind in der „berühmten schönen Stadt Frankfurt am Main“ angesiedelt. Darin verschmelzen Traum und Märchenrealität auf eine Weise, die die Gestaltungskraft des FAUST-Zeichners Alexander Pavlenko befeuerte. (Klappentext)

Rezension:

Klassiker neu herauszugeben, unterliegen der Schwierigkeit, dass man zunächst sich einmal den historischen Kontext ihrer Entstehungszeit ins Gedächtnis rufen muss, damit sie überhaupt noch funktionieren und eine Übertragung ins Heute funktioniert. Nicht anders ist es mit Hoffmanns Erzählung „Meister Floh“, die dieser nach der Niederlage gegen Napoleon zur Zeit der Restauration zwischen politischer Satire und Kunstmärchen angesiedelt hat.

Der Autor entführt uns nach Frankfurt am Main, wo unser Hauptprotagonist durch wundersame Ereignisse in eine Geschichte gerät, in der nicht mehr klar zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden ist, menschliche Charakterzüge ebenso aufs Korn genommen werden, wie der Versuch staatlicher Kontrolle, dargestellt durch ein mikroskopisches Glas, dessen Träger damit die wirklichen Gedanken seiner Gegenüber wissen lässt. Daraus entspinnt sich eine wundersame Erzählung in sieben Teilen, welche nicht nur ein politisches Großereignis jener Tage in den Fokus rückt, wenn auch verdeckt, ansonsten jedoch kaum zu greifen ist.

Wie angedeutet, nicht einmal das Genre ist auf dem ersten Blick klar umrissen, was es mitsamt der für uns heute ungewöhnlichen Sprache schwer macht, da hinein zu finden. Der Stil ist gewöhnungsbedürfig, wenn auch einzelne Abschnitte sehr klar wirken. Doch beschleicht beim Lesen einem das Gefühl, dass die Kapitel sehr willkürlich angeordnet sind. Einen einzelnen Tausch würde man kaum merken, so auch die Protagonisten anfangs ähnlich schwer zu greifen sind. Unklar umrissene Übergänge zwischen einzelnen Szenarien, sowie Auslassungen, die heute in moderner Prosa so wohl kaum gemacht werden würden, tragen das Übrige dazu bei.

Der reale Teil ist klar in der Zeit der letzten Lebensjahre des Autoren angesiedelt, als man diesen in einen innenpolitischen Konflikt hineinbugsieren wollte, so weist auch die Handlung einiger Kapitel nicht nur Namensähnlichkeiten in Bezug auf einzelne Protagonisten auf, durfte daher zunächst auch nur zensiert erscheinen. Der mrächenhafte Anteil in Gestalt des Oberhauptes der Flöhe, der dem Hautprotagonisten Zugang zu den tatsächlichen Ansichten seiner Gegenüber verschafft, stellt das ergänzende Element.

Nicht klar zunächst, die Positionen der einzelnen Figuren, geht es doch auch um menschliche Eigenschaften, von denen wir alle gute und weniger gute in uns tragen. Wie diese zu werten sind, ist Sache der Interpretation. Und diese fällt je nach zeitlichen Abstand oder Position von einem selbst unterschiedlich aus. Gerade das macht die Geschichte heute kaum greifen. Längen, die sicherlich damals nicht als solche empfunden wurden, fallen heute allzu sehr auf und machen ein Mitfühlen mit den Figuren mehr als schwer. In jede Richtung. Da nützen dann auch einzelne sprachlich immer noch sehr schöne Elemente wenig.

Immerhin, unterschiedliche Perspektiven bringen dann doch einen gewissen Wechsel, damit eine funktionierende Dynamik in die Erzählung, wenn auch die anstrengend zu lesen sind. Wer ist schon nach einem Monolog sofort aufnahmefähig für den nächsten? Hier wird Lesenden sehr viel Geduld abverlangt, die wahrscheinlich in Zeiten immer kürzerer Aufmerksamkeitsspannen nicht mehr vorhanden ist. Das geht dann auch auf Kosten des Verständnisses, zumal der Schreibstil damals funktioniert haben mag. Die Erzählung heute so geschrieben, funktioniert einfach nicht mehr mit der gleichen Wirkung.

Wer sich mit dem historischen Kontext ein wenig beschäftigt, wird die Erzählung mit mehr Gewinn lesen. Anderenfalls wird es schwierig, Zugang zu finden. Funktioniert haben die Verarbeitung von Denunziation und Kontrolle, auch mit diesem Wissen, die Anlehnung an damals geschehene politische Ereignisse. Die Umsetzung jedoch wirkt mehr als anstrengend, zudem Geduld und Vorstellungsvermögen arg auf die Probe gestellt werden. Die Antenne sollte man schon haben. Oder man liest es als geschichte eines durch eines Flohbisses in den Wahnsinn Getriebenen.

Um das Repertoire an klassischer Literatur zu erweitern, lohnt sich die Lektüre, aber auch um sich vor Augen zu führen, wie damals mit politischer Zensur und Kontrolle umgegangen, diese verarbeitet wurde. In Bezug dazu könnte man die Geschichte auch als Mahnmal dessen lesen, was uns blüht, wenn wir nicht aufpassen. Rein um des Lesegenusses wegen, geht dabei jedoch leider heute viel verloren.

Autor:

E. T. A. Hoffmann wurde 1776 geboren und war Komponist, Künstler und Schriftsteller. Nach einem Jura-Studium in Königsberg ging er 1798 an das Berliner Kammergericht, arbeitete ab 1800 in Posen, Plock (Weichsel) und Warschau. Danach wirkte er als Kapellmeister in Bamberg, 1814 als Mitglied des Kammergerichts Teil der Zensurbehörde. In mehreren Geschichten verarbeitete er diese Doppelexistenz. „Meister Floh“ ist seine letzte Erzählung, bevor er 1822 starb.

Illustrationen:

Alexander Pavleno ist ein deutsch-russischer Illustrator und Trickfilmzeichner. 1963 in Rjasan, Sowjetunion geboren, studierte er dort und in Moskau Kunst, Geschichte und Animation, nevor er für diverse Filmstudios und Medienunternehmen arbeitete. Seit 1992 lebt er in Deutschland. Seine Comics wurden in zahlreichen ländern publiziert. Für „Meister Floh“ von E. T. A. Hoffmann bediente er sich der Scherenschnitttechnik.

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Franziska Grillmeier: Die Insel

Inhalt:
Franziska Grillmeiers Aufzeichnungen erzählen detailliert und mit großem Einfühlungsvermögen vom Alltag an Europas Grenzen und vergegenwärtigen die systematischen Rechtsbrüche, die dort tagtäglich begangen werden. Ein genauso bewegender wie erschütternder Bericht über jene, deren Ausgrenzung nach ihrer Ankunft in Europa kein Ende nimmt, und über die unmenschliche Realität der Europäischen Union. (Klappentext)

Rezension:

Ein Pushback bezeichnet das unrechtmäßige, gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtenden von Grenzen, die diese versuchen zu überwinden. Alltag inzwischen, an Europas Außengrenze. Insbesondere Griechenland steht bereits seit längerer Zeit in der Kritik, sich solcherlei „Verfahren“ zu bedienen, immer auch dabei in Kauf zu nehmen, Menschenleben aufs Spiel zu setzen.

Erneut wurde kürzlich ein solcher Vorgang dokumentiert. Videoaufnahmen, die der Zeitung The New York Times zugesspielt wurden, zeigen vermummte Personen, die Flüchtlinge aufgreifen, die es bereits von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos geschafft hatten, und mithilfe eines Bootes auf ein Floß im Meer aussetzten, von dem sie später von der türkischen Küstenwache gerettet werden mussten. Dabei ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben, dass alle Flüchtenden ein Recht auf ein geordnetes Asylverfahren haben, zudem natürlich menschenwürdig behandelt werden müssen.

Doch auch das ist auf Lesbos nicht gegeben, wo sich zeitweise eines der größten Lager im Norden der Insel befand. Die Journalistin Franziska Grillmeier dokumentiert die Geschehnisse seit 2018 auf der Insel für verschiedene Zeitungenund erzählt nun anhand von jenen, die sich nicht wehren können, wie die Systematik der Ausgrenzung nach der Flucht erneut Traumata verursacht, wie Recht nahezu täglich gebrochen, auch Journalisten und humanitäre Helfende geblockt und kriminalisiert werden.

Immer mehr Frauen, Männer und Kinder wurden in dieser Zeit in einem eingezäunten Tanker am Hafen von Mytilini gebracht. Am 2. März verweigerte ein dänisches Boot, das im Rahmen der Frontex-Operation Poseidon im Einsatz war, den Befehl der Einsatzleitung. Es sollte 33 gerettete Menschen aus dem Meer in ihr Schlauchboot zurückbringen und aus den griechischen Hoheitsgewässern in türkische Gewässser ziehen. Die Besatzung war der Ansicht, dieser Befehl sei für die Menschen lebensgefährlich, […]. Der Grundstein für die alltägliche Praxis der illegalen Pushbacks war gelegt.

Franziska Grillmeier: Die Insel

„Die Insel“ ist ein erschütternder Bericht über menschliches Leid, welches versucht wird, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen zu halten, ist es doch die Politik, die keine anderen Antworten sucht, als immer neue Wege zu finden, Grenzen noch unüberwindbarer zu machen, als sie es ohnehin schon sind. Es ist ein orchestrierter Ausnahmezustand, der hier beschrieben wird, ein Tanz auf dem Vulkan, aus dessen Folgen beständig fatale Schlüsse gezogen werden. Zu Lasten derer, die einfach nur einen Ort für ein geordnetes und vor allem sicheres Leben suchen, zu Lasten aber auch der Anwohner, die die Wut über die Überforderung der eigenen Politik auf jene projizieren, die am wenigsten dafür können.

Die Journalistin hat über Jahre die unterschiedlichsten Menschen begleitet, die Lesbos mit dem Ziel erreichten, sich ein neues Leben aufzubauen, doch nicht nur, aber vor allem auf der Insel unzählige Steine und erneute Traumatisierungen in den Weg gelegt bekamen. Grillmeier zeigt jedoch auch, dass es immer noch jene gibt, die unermüdlich dagegen ankämpfen, auf lesbos und anderswo, sei es für sich selbst oder für andere, aus einem Mut der Verzweiflung heraus, der in dieser Situation nur bewundernswert genannt werden kann.

Als ich am 22. Juli wieder nach Samos kam, um die Baustelle für das neue Lager von Samos zu besucen, wirkte Choulis noch desillusionierter: „Es wäre ehrlicher zu sagen, die Grenzen sind dicht“, sagte er am Abend in einem Cafe, „und jeder, der versucht, rüberzukommen, auf den schießen wir.“ Das wäre auch nicht schlimmer als das, was im Moment an den Grenzen passierte. So oder so – viele müssten für ihren Versuch, in Sicherheit zu kommen, mit dem Leben bezahlen.

Franziska Grillmeier: Die Insel

Zudem werden Schicksale beschrieben, deren Leid einfach nur erschüttert, wütend macht, auf Entscheidungsträger, die nicht sehen wollen, welche physische und psychische Qualen sie provozieren. Auch wird die Doppelzüngigkeit einer Politik aufgezeigt, die zwischen guten und ungewollten Flüchtlingen unterscheidet, was widerum das Bild um einen anderen Aspekt vervollständigt.

Das wird anfangs von der Autorin selbst noch sehr nüchtern betrachtet, doch je länger sie mit Menschen spricht, um so emotionaler, um so näher ist sie dran am Beschriebenen, was sich auch in der Lektüre widerspiegelt. Man kann dann gar nicht mehr neutral sein, verfolgt wie Grillmeier eine immer unmenschlichere Spirale von Entscheidungen, die die Flüchtlinge betreffen, aber auch sie in ihrer journalistischen Arbeit im Laufe der Zeit immer wieder behinderten. Jedes einzelne Puzzleteil für sich genommen reicht an sich aus, sich zu empören. Fasslungslos liest man Zeile für Zeile. Speiübel wird einem da.

Die Gewalteskalation war das Ergebnis einer europäischen Politik, die keine Vorstellung und keinen Plan hatte, was mit den geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln passieren sollte. Man lies die Sache einfach laufen.

Franziska Grillmeier: Die Insel

Ohne Längen wird hier über das Leben in Moria und nach dessen Brand über die neu errichteten Lager erzählt, die kaum weniger entfernt von dem sein könnten, was man als Gefängnis bezeichnen könnte. Es wird von Menschen berichtet, denen medizinische Hilfe verwehrt wird, die nach ihrer Flucht vom Regen in die Traufe gerieten.

Man möchte dieses in unseren Zeiten unheimlich wichtige Buch sämtlichen europäischen Politikern um die Ohren hauen und zur Pflichtlektüre für all jene werden lassen, die Zahlengrenzen, Zäune, Mauern, Stacheldraht, Überwachungstechnik setzen und offenbar noch nichts von Menschenrechten gehört haben. Bitte, alle dieses Buch lesen.

Autorin:

Franziska Grillmeier wurde 1991 in München geboren und berichtet als freie Journalistin von der griechischen Insel Lesvos (Lesbos) und anderen Grenzorten. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender. Zuletzt war sie Mitglied des Recherchekollektivs zu den neuen Aufnahmelagern „Das neue Moria“ und Teil des Podcasts „Memento Moria“.

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Ina Conzen: Pablo Picasso

Inhalt:
Pablo Picasso (1881-1973) gehört zu den bedeutensten Künstlern des 20. jahrhunderts. Fantasievoll und experiementierfreudig hinterließ er ein atemberaubend umfangreiches OEuvre in nahezu allen Medien. Bis heute fasziniert die stilistische Wandelbarkeit seiner Werke, aber auch deren spannende Verankerung in Picassos Biografie. Souverän und kenntnisreich zeichnet Ina Conzen im vorliegenden Band Leben und Werk dieses Ausnahmekünstlers nach. (Klappentext)

Rezension:

Reduziert auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne wirkt das Wandbild nur auf den ersten Blick als eine wirre Kombinationen aus Formen und Symbolen, doch erschließt es sich nach und nach den Betrachtenden. Es symbolisiert die Schrecken des Krieges und gilt bis heute als bedeutenstes Werk des spanischen Künstlers Pablo Picasso. „Guernica“, welches dieser im Auftrag für die Weltausstellung 1937 unter den Eindrücken des Spanischen Bürgerkriegs anfertigte, ist heute in Madrid zu sehen, doch nicht nur dieses Werk ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Die Konservatorin und Autorin Ina Conzen hat sich auf Spurensuche begegeben. Entstanden ist dabei ein mehr als eindrucksvolles Porträt.

Wer mit relativ wenig Aufwand kompaktes Überblickwissen erlangen möchte ist mit Bänden der vorliegenden Reihe gut bedient. Das gilt für viele Themen, eben auch für die Kunst und so reiht sich nun dieses Bändchen mit ein, in welchem ein bedeutender Ausnahmekünstler beleuchtet wird. Diese Formulierung aus dem Klappentext darf man ruhig wörtlich nehmen, wenn gleich sich die Autorin sehr nüchtern der Biografie und dem Werk Picassos nähert. Sie verfolgt die Spuren dessen, der als Porträtmaler began und später die Grenzen des Künstlerischen Schritt für Schritt erweiterte, sich mitunter selbst zum Objekt seiner Betrachtung machte, von dessen Kindheit an. So gelingt ein eindrucksvoller Rundumblick.

Nicht immer ist das zugänglich. Zwar lockern hier mehrere Bildteile den Text auf, doch sollte man sich zuweilen schon auskennen mit verschiedenen Stilrichtungen der Kunst, die Laien zunächst kaum etwas sagen werden. Was ist das besondere an dem Punkt, wenn Picasso den Bereich des Gegenständlichen verlässt, um ins Surrealistische und Kubistische zu wechseln, um dann später wieder sich einer anderen Form des Gegenständlichen zu widmen? Diesen Zugang muss man sich selbst zusammenrecherchieren. Nicht an jeder Stelle ist hier ein Text für Laien gelungen, wenn man auch mit mehr Wissen aus der lektüre herausgeht, als man eingestiegen ist.

Die Autorin hangelt sich entlang der Perioden künstlerischen Schaffens Picassos, welcher dankenswert die Interpretationen gleich mitgeliefert hat, zuweilen für seine Zeitgenossen unverständlich, die teilweise fassungslos der Tatsache ins Auge sehen mussten, dass für scheinbar einfache Pinselstriche Millionen hingeblättert wurden. Schon zu Lebzeiten war der Künstler mehr als erfolgreich.

Im Privaten unruhig, blieb auch Picassos Kunst immer in Entwicklung. Auch mit den damaligen neuen Medien, der Fotografie, des Films experimentierte er ausgiebig. Auch diesen Aspekt seines Schaffens analysiert die Autorin mit Kennerblick, zeigt jedoch auch, dass Picasso nicht nur von Pinsel, Farbe oder Modellierung etwas verstand, sondern auch von Selbstvermarktung. Alle Aspekte werden in kompakter Form zueinander ins Verhältnis gesetzt, woraus sich ein Gesamtbild für die Lesenden ergibt, welches dazu einlädt die Werke Picassos einmal näher zu betrachten, sich damit zu beschäftigen. Ina Conzen lässt dabei jedoch nicht auch die Widersprüchlichkeiten der Charakterzüge Picassos außer Acht, gibt sich zuweilen kritisch, doch immer auch fasziniert von der Künstlernatur, die für jene, die mit ihm zu tun hatten, nicht immer ganz einfach gewesen sein muss.

Vielleicht ist genau dieser Band nicht unbedingt geeignet, in Leben und Werk Pablo Picassos einzusteigen. Zuvor sollte man zumindest einige von der Anschauung her kennen und vielleicht eine Idee der Grundzüge verschiedener künstlerischer Stile besitzen. Dann kann man sich dieser Lektüre annehmen und sie mit Gewinn sich zu Gemüte führen. Vorher wird man jedoch mehr als einmal über bestimmte Begrifflichkeiten stolpern. Später jedoch ergibt sich ein anderer Blick und dann erschließt sich auch die nüchterne faszination Ina Conzens für Pablo Picasso, der nicht nur mit „Guernica“ ein Werk für die Historie geschaffen hat.

Autorin:

Ina Conzen war bis 2021 Hauptkonservatorin für Kunst der Klassischen Moderne an der Staatsgalerie Stuttgart.

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Valeria Shashenok: 24. Februar und der Himmel war nicht mehr blau

Inhalt:

„Als Russland mein Land, die Ukraine, überfiel, flüchteten meine Eltern, mein Hund und ich in einen mir mehr als skurril erscheinenen Bombenschutzkeller. Und weil es dort WLAN gab und die Tage verdammt lange und auch langweilig waren, postete ich Videos, die mein neues Zuhause vorstellen sollten – manche davon gingen dann sogar um die Welt.

Aber meine Geschichte ist eigentlich eine ganz andere: Es ist die eines jungen Mädchens voll mit großen Träumen, das die Welt entdecken wollte und den Krieg für einen schlechten Scherz hielt- Bis zu dem Tag, an dem ich erkennen musste, dass ich mittendrin bin im größten Alptraum meines Lebens.“

Valeria Shashenok

Valeria beschließt, der Welt ihre Heimatstadt Tschernihiw zu zeigen und die wahren Geschichten zu erzählen. Es sind Bilder und Geschichten, die wir uns alle im 21. Jahrhundert mitten in Europa nicht vorstellen konnten und wollten.

Und das Grauen endet nicht einmal mit ihrer Flucht nach Mailand, denn dort angekommen, holen Putins Bomben sie ein und treffen sie mitten ins Herz. (Klappentext)

Rezension:

Wie macht man Außenstehenden begreiflich, was man selbst kaum zu verstehen vermag? Lange Zeit hielt sie es ja selbst kaum für möglich. Gesprochen wurde immer wieder darüber, gedacht haben es viele. Doch irgendwo war da immer die Hoffnung, dass sich die schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheiten sollten. Dennoch, sie taten es. Am 24. Februar 2022 beginnt für die in der Ukraine lebenden Menschen ein wahrer Alptraum. Bomben fallen. Schüsse sind zu hören. Russland versucht sich des Landes zu bemächtigen. Und Valeria, Tochter, junge Frau, dokumentiert das Grauen, was ihren Geburtsort und ihre Heimatstadt Kiew überkommt. Bis sie schließlich sich selbst entschließt, zu fliehen. Doch auch in der Ferne lässt sie das Grauen nicht los.

Gerade in unseren Zeiten ist es wichtig, dass solche Berichte eine große Öffentlichkeit finden, gerade wenn in Zeiten von Fake News aus einem zweifelhaften Weltbild heraus, bestimmte Gruppen auf Propaganda-Züge aufspringen und gar nicht so schnell schauen können, wie sie für sehr krude Zwecke eingespannt und nicht zuletzt gelenkt werden. Am Eindrücklichsten gelingt das, wenn man vom Unmittelbaren erzählt, die Auswirkungen auf einem selbst versucht zu verdeutlichen. Genau dies versucht Valeria Shashenok mit Videos und Bildern, die sie von Beginn des Kriegs gegen die Ukraine in den sozialen Netzwerken postet. Diese Schnipsel hat sie nun versucht, zusammenzusetzen. Entstanden ist dieser nahegehende Bericht.

Es ist eine Art Tagebuch, welches hier vorgelegt wird. Nicht in großen Worten wird hier beschrieben, die Autorin, so hat man beim Lesen das Gefühl, hat noch während des Schreibens versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Voller Emotionen, erschüttert natürlich über das Erlebte, schildert sie von der Zeit des Krieges und ihrer Flucht, aber auch von den Tragödien, die sie einholen werden, als sie sich bereits im sicheren Italien befindet. Wir können hier die Zeilen einer jungen Frau voller Träume lesen, die gerade noch zu Beginn eher irritiert beobachtet, versucht einzuordnen und eigentlich immer noch nicht fassen kann, was da gerade passiert. Mit ihr, ihrer Umgebung, den Menschen, die sie liebt. Allein auf dieser Ebene ist es gut, dass Shashenok dies dokumentiert, was man auch als Versuch einer Verarbeitung und Einordnung lesen kann.

Sprachlich wirkt das leider wie ein besserer Schulaufsatz, mehr nicht, wie ich an anderer Stelle in einer Rezension lesen musste. Dem kann ich nicht widersprechen. Das ist zuweilen recht anstrengend, an anderer Stelle liest sich das fast belanglos, was schade ist. Schließlich hat der Text seine Berechtigung und natürlich auch Relevanz, da ist dann dieser Abstrich, den man an der Stelle hinnehmen muss, unschön. Hier funktioniert es nicht Erwartungsmanagement und Relevanz in Übereinklang zu bringen. Vielleicht wirkt der Text noch mehr, wenn man die Instagram-Posts und Tiktoks dazu beachtet. Fotos zumindest gibt es ein paar. Doch reicht das leider nicht, um den Bericht, der hier in einer Art Tagebuchform vorliegt, vollständig abzurunden.

Eventuell liest sich das jedoch in ein paar Jahren anders. Das vermag ich nicht auszuschließen.

Autorin:

Valeria Shashenok wurde 2002 im Norden der Ukraine geboren und arbeitet als freiberufliche Fotografin. Den Angriff und ihre Flucht aus der Ukraine dokumentierte sie in den sozialen Netzwerken, worauf weltweit Medien auf sie aufmerksam wurden. Sie gab mehrere Interviews und damit den Menschen aus der Ukraine eine Stimme und ein Gesicht.

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Frank Vorpahl: Aufbruch im Licht der Sterne

Inhalt:

James Cook gilt als einer der größten Entdecker der geschichte. Doch seine Reisen durch die Südsee wären ohne die Hilfe der Indigenen gar nicht möglich gewesen. Frank Vorpahl rückt mit einer langen überfälligen Würdigung der drei Polynesier Tupaia, Maheine und Mai das kurzsichtige koloniale Bild der Cook’schen Entdeckungsreisen zurecht. Mehr noch: Vorpahl stellt das Auftauchen und das Agieren der europäischen Entdecker aus Sicht der Polynesier dar und erschließt uns so eine Welt, in der Cook und seine Männer sich bewegten, von der sie aber nicht sehr viel verstanden. (Klappentext)

Rezension:

Die erste große Herausforderung, die die Grundlage für den Erfolg der Expeditionen des Seefahrers James Cook bildete, war die, das ungehure nautische Wissen der Polynesier in die Bildsprache der Europäer zu übersetzen. Koordinaten und Orientierungspunkte waren für die Einhemischen in Legenden, Mythen und Geschichten verwoben. Dies umzuwandeln in ein eindimensionales Bild, welches ebenso genutzt werden konnte, gelang den Polynesier Tupaia, der die Briten schließlich auf seine erste Expeditionsreise begleiten sollte.

Er, Maheine und Mai, zwei andere Einheimische, interpretierten und vermittelten auf den einzelnen Fahrten zwischen den Welten und erlangten durchaus Achtung bei den Europäern, deren eurozentrisches Weltbild Jahrhunderte gelten sollte und sich gerade erst verschiebt. Öffentliche Anerkennung indes, bekommen sie bis heute kaum. Der Historiker und Wissenschaftsjournalist Frank Vorpahl ändert dies nun. Herausgekommen ist ein Sachbuch, in dem ein spannender und wichtiger Perspektivwechsel durchgeführt wird.

Das Material von Teilnehmern der Cookschen Expeditionen liegt verstreut in den westlichen Archiven, nicht zuletzt London oder etwa der Berliner Staatsbibliothek der Stiftung Preussischer Kulturbesitz und enthält doch verhältnismäßig wenige Informationen über die Polynesier, die entscheidend zum Erfolg von James Cook beitrugen, ohne den dieser nicht möglich gewesen wäre. Doch es gibt es.

Das Ergebnis dieser minutiösen Recherchearbeit liest sich beinahe wie ein spannender Abenteuerroman, in dem der damalas verengte Blick der Europäer aufgezeigt, aber auch dargestellt wird, welche Ziele Maheine, Mai und nicht zuletzt Tupaia verfolgten, dessen Weg wir zunächst verfolgen. Fast literarisch liest sich das. Passagenweise meint man einen gut recherchierten historischen Roman vorliegen zu haben, doch wird so detailreich erläutert, dass man am Ende eine sehr interessante Lücke für sich geschlossen hat.

Frank Vorpahl erläutert das Weltbild der Polynesier und setzt es im Kontrast zu denen Cooks oder des für die damalige Zeit fortschrittlichen Georg Forster, der die Überzeugung festhielt, dass die „Natur des Menschen spezifisch dieselbe“ sei. Im Strom von Geltungsbewusstsein der Europäer und dem Streben nach Kolonien geradezu ein revolutionärer Gedanke, den nicht alle Expeditionsteilnehmer teilten.

Im vorliegenden Werk geht der Autor so ausführlich auf beide Seiten ein, wobei klar der Fokus auf die bisher wenig gewürdigten Indigenen liegt. Dargestellt wird die Kultur und woher die Besetzung dieser Positionen kam, und wie sich die drei Polynesier im Zusammenspiel mit den Europäern wandelten, nicht zuletzt in ihren Zielen, aber auch wie Überzeugungen ins Wanken gerieten. Viele Fußnoten verweisen dabei immer wieder auf sehr interessante Quellen und daraus gefilterte Informationen, die man durchaus auch hätte im Haupttext einarbeiten können, der Lesbarkeit halber jedoch sich auf das vorliegende Format konzentriert hat.

So kommt, wer einfach nur den Perspektivwechsel mitmachen und nachvollziehen möchte eben so auf seine Kosten, wie jene, die gleichsam über den Tellerrand schauen will. Zu keiner Sekunde wirkt das schwergängig. Im Gegenteil, Längen werden vermieten.

Der Rest bringt der Schreib- und Erzählstil mit sich. Fast ist es so als stehe man auf den Schiff, welches in einer Bucht liegt und würde den Polynesiern beim Verhandeln mit einheimischen Inselbewohnern zuschauen oder die Qualen rauer See und der gefürchteten Skorbuterkrankung erleiden. Das Sachbuch wirkt wie ein sehr gut gemachtes Dokuspiel, mit dem Frank Vorpahl jedoch auch nicht in Gefahr läuft die beleuchteten Personen zu überhöhen. Eben umfassend zu würdigen, wozu dann auch die Schattenseiten gehören.

Hervorgehoben werden nicht nur die Unterschiede zwischen den Europäern und den drei Polynesiern, jedoch auch zwischen letzteren, die unterschiedlich wirken konnten und ihren Spielraum weidlich zu nutzen wussten. Auch das bringt Dynamik in die Lektüre. Geschichte kann spannend sein, wenn man sie zu erzählen weiß. Neben der grundlegenden Karte ergänzen zwei Bildteile das Werk, welches den gesamten Weg von Tupaia, Mai und Maheine so gut es die Quellen zulassen, nachvollzieht.

Nicht zuletzt ist Frank Vorpahl zudem mit einem Nachbau des Cook’schen Schiffes mitgesegelt. Wie müssen sich die damalige Besatzung und die drei Polynesier, so halb freiwillig zwischen den Welten, gefühlt haben? Wie handelten sie und warum? Was blieb davon? Dieses fehlende Puzzleteil zu ergänzen, ist hier umfassend gelungen. Die Perspektive zu verändern, interessant und wichtiger denn je. Der „Aufbruch im Licht der Sterne“ könnte spannender nicht erzählt werden.

Autor:

Frank Vorpahl wurde 1963 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. 1996 begleitete er als Redakteur für das Magazin „Aspekte“ die Enthüllung des Schliemann-Schatzes durch die Chefin des Puschkin-Museums. Seit dem verfolgt er die wissenschaftliche Debatte um Troja und den neueren Grabungen in Hissarlik, sowie die Restitutionsfragen rund um Schliemanns Funde. 2018 veröffentlichte er eine Biografie zu Georg Forster, der die Weltumsegelung James Cooks begleitete.

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Birand Bingül: Alles Propaganda!

Inhalt:

Hass, Wut, Fake News und vermeintliche Verschwörungen: Unsere Debattenkultur ist im Ausnahmezustand, und Polarisierung ist zu einem zentralen Phänomen unserer Gesellschaft geworden. Birand Bingül legt in seinem beunruhigenden Weckruf dar, dass dies Teil einer Propaganda-Strategie ist, die den Kollaps des gesellschaftlichen Dialogs anstrebt – und damit den Kern der liberalen Demokratie angreift. Deutlich wird: Um uns davor zu schützen, müssen wir der Propaganda ins Auge schauen. (Klappentext)

Rezension:

Konstruktiver Dialog und Kompromissfindung, zwei Kernelemente demokratischer Gesellschaften, bekommen weltweit immer stärkeren Gegenwind. Praktisch in jedem Themenbereich findet sich inzwischen aufgeheizte Rhetorik, die versucht den Diskurs zu bestimmen, was nicht zuletzt an Parteien und Personen liegt, die Macht um der Macht willen erlangen wollen und dazu mehr oder weniger offen ausgefeilte Strategien benutzen, die manipulativ die Diskussionen in eine bestimmte Richtung lenken und halten sollen.

Wenn man das Monster der Propaganda verstehen und seinen Schockwellen etwas entgegenstellen will, muss man zunächst das Wesen einer Propagandapartei erkennen. Landläufig kursieren verschiedene Bezeichnungen, die jedoch den Kern des Phänomens verfehlen.

Birand Bingül: Alles Propaganda! Wie Manipulation unsere Demokratie gefährdet

Doch wie funktioniert das, was man Propaganda nennt, eigentlich? Was ist das überhaupt? Wie unterscheiden sich Propagandisten und ihre Parteien von jenen, die dem gegenüber stehen? Welche Ziele haben diese und wie versuchen sie, die Oberhand in unseren Gesellschaften zu erlangen und zu halten? Dieser Thematik hat sich nun der deutsche Journalist und Autor Birand Bingül angenommen.

In der hervorragenden kleinen, aber um so wichtigeren Reihe „Zündstoff“ aus dem Atrium-Verlag, innerhalb derer sich verschiedene Autor:innen bereits mit dem strukturellen Problem des Rassismus beschäftigt haben oder etwa dem Zustand der Pflege, wird nun ein neuer Aspekt aufgerollt. In sehr kompakter Form und klarer Sprache geht es zunächst um die Unterschiede und Entwicklung von Propagandaparteien anhand verschiedener Beispiele weltweit.

Der Autor stellt verschiedene Stufen dar und erläutert sie etwa an der polnischen PiS oder der ungarischen Fidez, verliert zugleich jedoch nicht den Blick vor der eigenen Haustür. Auch in Deutschland sitzt mit der AfD eine Partei in den Parlamenten, die die Klaviatur der Propaganda perfekt beherrscht. Natürlich fehlt nicht die Rückschau auf unsere Geschichte, in der die Nationalsozialisten ihrerseits die Welt in den Abgrund stürzten und man sich zu manchen Aspekten heute noch fragen mag, wie konnte dies passieren?

Hier zeigt Bingül sehr sachlich und kompakt verschiedene Kommunikationsstrategien anhand verschiedener Quellen auf, mit derer Hilfe Propagandisten bestehende Normen zu ihrem Vorteil nutzen, umkehren, um ihren eigenen Spielregeln Wirkung zu verschaffen und warum es so schwierig ist, für liberale Demokratien, dagegen anzukämpfen, dem auch zu widerstehen.

Und wie sehen Lösungsstrategien gegen Propaganda aus? Die Antworten darauf rechtfertigen eigene Texte und so fehlen diese im Gegensatz zum Aufbau anderer Werke innerhalb dieser Reihe. Wichtig ist zunächst einmal, seinen Blick zu schärfen für Ursache und Wirkung von Propaganda, um die Anfälligkeit im Einzelnen dafür zu verringern. Das möchte Birand Bingül mit seinem Text erreichen, denn ohne Verständnis für die Funktionalität ist der versuchten Verhärtung der Fronten weltweit kaum zu begegnen.

Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass Propaganda einfach weggehen oder wegbleiben wird. […] Die Gefahr ist da. Immer.

Birand Bingül: Alles Propaganda! Wie Manipulation unsere Demokratie gefährdet

Das ist Grundlagenliteratur par excellence, die man gerade heute, wo Propagandisten mit ihren medialen Werkzeugen und auch sonst, Stück für Stück Vielfalt, Diversität und Kompromissfindung, eine sachliche Debattenkultur bekämpfen, benötigt. Man kann sich die Lektüre sowohl im universitären Bereich vorstellen als auch als Unterrichtsgrundlage für höhere Schulklassen, aber auch, wenn man selbst einen Überblick erhalten möchte, der einlädt, sich mit der Thematik näher auseinander zu setzen.

Autor:

Birand Bingül wurde 1974 geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Nach einem Studium der Journalistik in Dortmund arbeitete er beim WDR und als Reporter für verschiedene Nachrichtensendungen, u. a. der Tagesschau und den Tagesthemen. Von 2005 an trat er dort regelmäßig als Kommentator auf, zudem veröffentlichte er mehrere Werke, seinen ersten Roman im Jahr 2002, zudem mehrere Sachbücher.

Von 2010-2014 war Bingül stellvertretender Unternehmenssprecher des WDR, zudem ab 2020 Leiter der ARD-Kommunikation. Nach verschiedenen Stationen ist er seit 2022 Geschäftsführer einer Beratungsagentur. 2017 entschloss er sich unter Eindruck der gefährdeten Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei seine türkische Staatsbürgerschaft aufzugeben.

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Alexander Bätz: Nero – Wahnsinn und Wirklichkeit

Inhalt:

Seit eh und je fasziniert der römische Kaiser Nero (37-68 n. Chr.) die Nachwelt: als Muttermörder und Brandstifter, als Christenverfolger und tyrannisch-exzentrischer Anti-Kaiser, der sich zum Künstler stilisiert. Doch was gibt die antike Überlieferung eigentlich an verbürgtem Wissen über Nero her?

Alexander Bätz entdeckt Nero neu, indem er sein Leben und seine politische Karriere in die täglichen Rituale der römischen Kaiserzeit einfügt. Durch eine Neulektüre der antiken Quellen treten Nebenfiguren aus dem römischen Alltag in ihren Berührungspunkten mit Nero hervor: Senatoren, die abhängig waren von ihrer Nähe zum Kaiser, einfache Bürger, die ihr tägliches Auskommen im Moloch Rom suchten, jungfräuliche Priesterinnen, prominente Intellektuelle, Soldaten, Sklaven und ehemalige Sklaven, die – etwa als Ammen oder Vorkoster – dem Kaiser so nah kamen wie kaum jemand sonst. (Klappentext)

Rezension:

Der Herrscher schaut von einer Anhöhe auf einen orangeroten Gluthaufen. Feuer frisst sich durch die Straßen und fordert unzählige Opfer. Nero selbst tut nichts, erfreut sich an den Anblick der brennenden Stadt. Das Zentrum des antiken Weltreichs liegt in Trümmern. Es ist vor allem dieses Bild, welches uns aus den Überlieferungen von der Herrschaft Neros geblieben ist, doch muss sie differenzierter betrachtet werden.

Nero, der als Person zum Inbegriff für Inkompetenz, Unberechenbarkeit und Willkür werden sollte, bis heute, war genau das, gleichzeitig eben nicht nur. Größere Krisen erschütterten seine Zeit erst gen Ende seines Lebens, vor allem in seiner Person begründet. Ansonsten erlebte das Weltreich eine Stabilisierungsphase und wirtschaftliche Blüte. Der Historiker und Wissenschaftsjournalist Alexander Bätz hat sich nun die antiken Quellen vorgenommen. Müssen wir unser Bild von Nero neu justieren?

Wer sich mit den Geschehnissen der Antike beschäftigt, kann sich mitunter nur auf wenige ausführliche Quellen berufen, die gegen zu prüfen schwerfällt. Vergleichendes Material ist über die Jahrtausende, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft vorhanden und so beginnt diese Biografie mit der Aufstellung und Bewertung dessen, worauf sich die darauf folgenden Ausführungen und Analysen stützen werden. Bei Nero sind es vor allem drei Quellen antiker Geschichtsschreiber, die Nero selbst altersmäßig kaum gekannt haben dürften und sich ihrerseits vor allem auf Nachbetrachtungen beschränken mussten. Was ist von dem Bild Neros, welches wir heute haben, was unweigerlich auf diese Texte zurückgehen muss, also zu halten?

Der Autor greift weit zurück. Stützt sich zunächst auf Rom und seine Gesellschaft, um dann in die Analyse von Familienstrukturen zu gehen, die der antike Herrscher später nachhaltig durcheinander wirbeln sollte, aber auch für sich zu nutzen wusste. Wie ist die Kaiserwerdung zu betrachten, welche Feinheiten müssen bei Neros Handeln betrachtet werden, wenn der Ausgangspunkt die vorherige Regentschaften Claudius‘ und Caligulas gewesen sind?

Sehr nüchtern folgt die Analyse diesem Zeitstrahl, der schon bald erste Ausschläge zeigen sollte, aber auch, dass unser heutiges Bild höchst einseitig ist. Nero war durchaus erfolgreich, zeigt Alexander Bätz, verschreckte jedoch die römischen Eliten zu oft mit seinem Verhalten und seinen Reaktionen, als dass man dies unberücksichtigt lassen kann.

Die sehr detaillierte und ausführliche Biografie erfordert Konzentration ob der Vielzahl antiker Namen, doch werden Hintergründe sehr genau erläutert, so sie zum Verständnis auch Lesender beitragen, denen man nicht unbedingt geschichtliches Grundwissen attestieren kann. Dazu tragen die einzelnen Abschnitte bei, die in sich relativ kompakt formuliert sind und sich praktisch häppchenweise lesen lassen. Damit wird der Fließtext etwas aufgelockert, genau so wie durch zwei sich gut ergänzend einfügende Bildteile. Die Abschnitte fügen sich zusammen zu den Kapiteln, die ihrerseits sehr ausführlich einen kleineren Zeitabschnitt in Neros Leben und Herrschaft darstellen.

Dabei gelingt es Bätz das Bild Neros in seine Einzelteile zu zerlegen und, wo notwendig, zu korrigieren. Nero als Person und seine Zeit müssen differenziert betrachtet werden. Mord, Totschlag, Willkür und Unfähigkeit gehören dazu, aber eben nicht nur. In diesem Sinne ist das vorliegende Werk ein sehr wichtiger Bestandteil der modernen Betrachtung der antiken Welt und einer Person, die trotz dessen, dass sie von jedem nachfolgenden Herrscher verdammt wurde, in den Köpfen überdauerte. Wie auch Rom eben nicht vollständig niederbrannte.

Autor:

Alexander Bätz hat Alte Geschichte, Germanistik, Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Würzburg, Padua und Berlin studiert. Nach seiner Promotion arbeitete er bei der Zeitung Die Zeit und ist seit 2016 als wissenschaftlicher Bibliothekar für Altertumswissenschaften an der Universität Konstanz tätig. Als freier Autor und Wissenschaftsjournalist schreibt er für verschiedene Zeitungen und Magazine.

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Eric Vuillard: Die Tagesordnung

Inhalt:

20. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten.

Mit virtuoser Eindringlichkeit und satirischem Biss seziert Vuillard die Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten und macht deutlich: Die Deals, die an den runden Tischen der Welt geschlossen werden, sind faul, unser Verständnis von Geschichte beruht auf Propagandabildern. (Klappentext)

Rezension:

Nach Anhören oder Lesen einiger Rezensionen riet mir ein erster Impuls damals von der Lektüre ab, doch fiel mir später die Taschenbuchausgabe in die Hände. Meine Gedanken zu diesem Werk hatte ich dato längst verdrängt. Manchmal ist das Vergessen von Sachverhalten ja etwas Wunderbares, kann man sich doch so, in diesem Falle dem Text, einmal unbefangen nähern. Und so griff ich „Die Tagesordnung“ aus meinem Regal heraus und begann zu lesen.

Schon mit dem Lesen der ersten Abschnitte stellt sich die Frage, was dieses Werk eigentlich sein will? Sein soll? Ein Roman ist das nicht, dafür wirkt die Form zu starr. Die Kategorisierung Sachbuch trifft hier ebenso wenig zu. Vielleicht hat uns Eric Vuillard hier eine Mischform aufgetischt? Im Fernsehen würde man wohl Doku-Spiel dazu sagen. Tatsächliches Geschehen noch einmal nachgespielt. Hier eben in Textform. Bekannte Szenen aus der Anfangszeit des NS-Regimes als Postkartenmotiv in Hochglanzform.

Und das ist ein Problem. Das Ausgangsmaterial hat beinahe Jeder bereits in aller Ausführlichkeit im Geschichtsunterricht serviert bekommen. Auch die Ergebnisse sind bekannt. Nichts Neues an Erkenntnissen gewinnt man, wenn das alles noch einmal umgeschrieben zu lesen ist.

Der rote Faden, der Lauf der Geschichte, den hat Vuillard hier ausgefranzt. Mal passen Szenen nicht zueinander, Übergänge, die diese schleichende Machtergreifung noch mehr verdeutlichen könnten, wie sie die Nationalsozialisten fabrizierten, fehlen zu Teilen gänzlich. Das ist handwerklich schlecht gemacht und trägt der Brisanz nicht unbedingt Rechnung.

Zudem darf sich der Autor die Frage gefallen lassen, warum mitten im Geschehen der Text endet. Und der Verlag, warum man nicht nochmals über den Klappentext geschaut hat. Letzterer beschreibt eine Szene von vielen, leider von zu wenigen, die in diesem Werk vorkommen könnten.

Bei Ersteren, ja, es wird die Vereinnahmung Österreichs beschrieben, der Anklang der Münchener Konferenz, der die Tschechoslowakei zum Opfer fallen sollte, aber mehr eben auch nicht. Warum nicht? Warum hat Vuillard nicht mehr aus den Stoff herausgeholt, dem ihn die Geschichte bietet? Keine Lust, weiterzuschreiben, wenn wir einmal bei dem Text an sich sind, sich wenigstens zu entscheiden, ob man einen Roman, eine Novelle vielleicht oder doch ein literarisches Sachbuch machen möchte?

Nun liegt das Werk eben so vor. Es lässt sich auch leicht lesen, zumal alles jedem darin bekannt sein dürfte. Danach bleibt jedoch auch nichts mehr übrig. Nicht mehr als ein Vergleich zumindest. Zu Pandemie-Zeiten haben einige von uns erfahren müssen, wie es ist, zu essen und nichts zu schmecken. Man wird vielleicht satt, aber das war es dann halt auch.

Vielleicht demnächst wieder ein Sachbuch oder einen richtigen Roman.

Autor:

Eric Vuillard wurde 1968 in Lyon geboren und ist ein französischer Schriftsteller und Filmemacher. Er studierte Jura, Politikwissenschaften, Philosophie, Anthropologie und Geschichte an der Elitehochschule EHESSS und veröffentlichte 1999 erste Erzählungen. Dem folgten weitere Texte, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Im Jahr 2017 erhielt er den Prix Goncourt für „Die Tagesordnung“.

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W. E. B. Du Bois: „Along the color line“

Inhalt:

1936 reist der afroamerikanische Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois nach Deutschland. Als Kritiker des Rassismus in den USA beobachtet er das Leben in der totalitären Diktatur und die Entrechtung der Juden. Seine Reportagen aus diesen Monaten erscheinen hier erstmals auf Deutsch. (Klappentext)

Rezension:

Einige Wochen nach den Olympischen Spielen 1936 begab sich der afroamerikanische Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois auf eine Reise quer durch Europa und schrieb darüber, u. A. für den Pittsburgh Courier eine vielbeachtete Kolumne. Vor allem interessierte ihn Deutschland, welches sich zu den Sportereignissen der Welt in einem gewollt bestimmten Licht präsentiert hatte, wo jedoch Diskriminierung und Ausgrenzung des jüdischen Teils der Bevölkerung bereits auf Hochtouren lief.

Eine andere Art der Diskriminierung erfuhr der Soziologe und Journalist im Alltag seines Heimatlands, entlang der Farbenlinie, doch begann er mit seinen Artikeln bereits verschiedene Gewaltgeschichten zueinander in Beziehung zu setzen. Dieser Versuch nun, ist hier erstmals in deutscher Sprache zugänglich.

Die kompakten Artikel, die in diesem schmalen Band versammelt sind, sind Teile einer Zeitungskolumne und sollten auch so gelesen werden. Kompakte Zusammenfassungen wechseln sich ab mit ausschweifender Betrachtung kultureller und industrieller Institutionen, Auswüchse und Widersprüche, die der Autor in Bezug zu seinem eigenen Erfahrungsschatz setzt.

Offen, kontinuierlich und entschieden wird eine Kampagne des Rassenvorurteils gegen alle nichtnordischen Rassen geführt, vor allem aber gegen die Juden. Sie übertrifft an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles, was ich jemals erlebt habe, und ich habe vieles erlebt.

W. E. B. Du Bois: „Along the color line“ – Eine Reise durch Deutschland 1936

Wie haben die Deutschen, die damals schon verschreckende Politik ihrer Regierung, dieses System aus Terror, Willkür und Hörigkeit auf den außenstehenden Betrachter gewirkt, der doch stetig befürchten musste, selbst ins Blickfeld zu geraten? Sensibel näherte sich Du Bois den Objekten seiner Betrachtung aus intellektueller Perspektive an, spricht etwa mit Wissenschaftlern und Unternehmern und schuf so ein für seine Zeitgenossen in Übersee bezeichnendes Porträt dieses brodelnden Kessels, dessen Widersprüche er sah, mit kritischer Mine und vor allem Neugier betrachtete.

Bezeichnend, der Unterschied zwischen den Beiträgen, die bereits in Deutschland schrieb und von dort auf die andere Seite des Atlantiks schickte, anders lesen sich die Artikel, die er in der Sicherheit seiner Heimat verfasste. Der Rest findet sich zwischen den Zeilen wieder. Neben dieser spannenden soziologischen Betrachtung, die eine heute sehr interessante zeithistorische Sammlung geschaffen hat, ist es jedoch auch ein Musterstück journalistischer Arbeit, was die Auswahl der Themen und seiner Gesprächspartner betrifft, aber auch die Lenkung der Lesenden auf bestimmte Punkte seiner Ausführungen. Dies in einem kompakt gehaltenen Stil, immer wieder auch die Interessenten seiner Beiträge in Bezug dazu setzend.

Der Schreibende verfolgt eine Theorie, lesend nimmt man dazu einen eigenen Standpunkt ein. Zumal vergleichende Betrachtung schon im Kontext der Gegenwart kompliziert genug ist, mit dem Abstand von heute und dem, was immer noch an gesellschaftlichen Wandlungen in Europa und Amerika durchlaufen werden muss, liest sich das sehr brisant. Ohne die historische Komponente ist das immer noch ein hoch aktuelles Dokument.

Natürlich lässt sich das nach wie vor wie eine Zeitungskolumne lesen, in ihre Bestandteile zerlegt. Mit der Einordnung und den editorischen Anmerkungen, sowie denen zum Autoren selbst, ist jedoch das Fundament vorgegeben. Diese Perspektive konnte so nur selten eingenommen werden, umso wichtiger ist ein Werk wie dieses, welches wiederum als Gegenstück zu Lebenserinnerung etwa Hans Massaquois‘ gelesen werden kann, der sehr wohl Diskriminierung in Deutschland erlebt hat, wie sie Du Bois nur aus seiner Heimat kannte.

Zu Teilen erschütternd, zu Teilen bezeichnend, einen neuen Blickwinkel gebend. Das können die Texte Du Bois‘ heute noch.

Autor:

William Edward Burghardt „W. E. B.“ Du Bois wurde 1968 in Massachusetts geboren und war ein US-amerikanischer Historiker, Soziologe, Philosoph und Journalist, sowie in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Er starb 1963 in Ghana.

Ich verlinke hier ausnahmsweise Wikipedia, da die Biografie einfach zu interessant ist.

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Norris von Schirach: Beutezeit

Beutezeit von Norris Schirach

Inhalt:

Als Wladimir Putin im Januar 2000 Staatspräsident wird, verlässt der reich gewordene Rohstoffhändler Anton fluchtartig Moskau. Hinter ihm liegen acht atemberaubende Jahre im postsowjetischen Raubtier-Kapitalismus, vor ihm die gähnende Langeweile im gutsituierten Milieu New Yorks. Doch auch mit vierzig ist Anton noch immer ein unverbesserlicher Romantiker auf der Suche nach dem nächsten Kick. Da macht ihm ein Headhunter ein verlockendes Angebot in Zentralasien.

Beutezeit ist ein beeindruckend aktueller Roman über eine postsowjetische Gesellschaft, die im Sumpf aus Korruption und Terror versinkt. Norris von Schirach beschreibt meisterhaft, was wirtschaftliche Macht, Korruption und autokratische Hybris bedeuten können. (Klappentext)

Rezension:

Die flirrende Zeit des Tanzes auf den Vulkan, kurz vor dessen Ausbrauch. Antons Leben gleicht einem Drahtseilakt und so flüchtet er aus Moskau, als ein neuer Machthaber im Kreml sein Amt antritt. Im fernen Amerika herrscht Tristesse vor, da locken Abenteuer und die Möglichkeit nach viel Geld den reich gewordenen Rohstoffhändler ins zentralasiatische Kasachstan. Mit finanziellen Mitteln aus anonymer Quelle soll er ein Stahlwerk aufbauen. Vor Ort entwickeln die Geschehnisse jedoch ihre ganz eigene Dynamik, deren Strudel Anton kaum kontrollieren kann.

Dies ist die gut, unabhängig vom ersten Roman Norris‘ von Schirach zu lesende Erzählung, die ein Jahrzehnt später ansetzt und zu einem viel zu wenig beachtenden Schauplatz führt, jedoch ein Szenario von erschreckender Aktualität darstellt. Die temporeiche Geschichte, die die Dynamik solcher Orte sehr gut herausarbeitet, funktioniert, ebenso wie die Herausarbeitung des Protagonisten, der mit zunehmender Seitenzahl an Statur gewinnt.

Nichts ist schwarz oder weiß, die handelnde Hauptfigur agiert im Graubereich zwischen staatlicher Willkür, Korruption, Kapitalismus in seinen Extremen, Clan-Kriminalität und Seilschaften inklusive. Sehr viel Gesellschaftskritik bringt der Autor, der Land und Leute aus eigenem Erleben gut kennt, mit hinein, positioniert sich mit dem Wandel seiner Geschichte, ohne den Zeigefinger zu erheben. Fast immer ist es die Sicht des Hauptprotagonisten, aus der erzählt wird, wobei gezielt ruhige Momente Atempausen zwischen rasanten Szenarien eingesetzt werden. Lesend befindet man sich mitten im Geschehen. Man kann sich das gut als Vorlage für ein Drehbuch vorstellen.

Die Geschichte wird über einen Zeitraum von mehreren Jahren erzählt, der Wandel dargestellt vor allem aus der Sicht des Protagonisten auf sein eigenes Handeln, welches sehr flexiblen Denken unterliegt. Die Dynamik zwischen skrupellosen und trickreichen Geschäftsmann sowie Schöngeist mit moralischen Zweifeln, die der Autor hier geschaffen hat und bis zum Ende durchhält, ist faszinierend zu lesen. Andere Figuren dienen nur dazu, das Tempo der Erzählung zu erhalten oder nach ruhigen Momenten neu zu befeuern. Deren Hintergründe bleiben jedoch, zumindest in Teilen im Dunklen.

Durchweg spannend erzählt, mit einigen Momenten zum Durchatmen, sieht sich der Protagonist ständig neuen Ereignissen und Wendungen ausgesetzt, die glaubwürdig dargestellt werden, wenn auch an der einen oder anderen Stelle Logikfehler durchschimmern. Vielleicht erscheint das jedoch auch nur so, da für unser westliches Verständnis derart beschriebene Ungeheuerlichkeiten außerhalb des Möglichen erscheinen, kommen wir durch Medienberichte auch nur mit den Spitzen dieser Eisberge in Berührung und müssen nicht mit den Alltäglichkeiten solcher Systeme leben.

Ausschweifend ist allein die Anzahl der Dreh- und Angelpunkte, ansonsten beherrscht Norris von Schirach eine Erzählweise, die einen schnellen und spannenden Film im Kopf entstehen lässt. Zudem werden viele Problematiken zur Sprache gebracht, die schlicht Realität sind. Korruption, Machterhalt, Geldwäsche, der Rohstoffhunger Chinas, Gier … Noch mehr zusammenfassen als der Autor dies hier getan hat, ist kaum möglich. Dargestellt wird ein großes Puzzlespiel, dessen Teile wie Zahnräder einer Maschine ineinander greifen. Immer folgt auf eine Aktion eine Reaktion. Und auf einen Band der nächste. Der ist in den letzten Seiten angelegt.

Das ist das einzige Mal, dass ein Cliffhanger so mit einem derartigen Zeigefinger in der Geschichte platziert wird.

Autor:

Norris Benedikt von Schirach wurde 1963 in München geboren und ist ein deutscher Geschäftsmann und Schriftsteller. Er war zunächst kaufmännisch in London tätig, bevor er in Konstanz Verwaltungswissenschaften studiert, und anschließend in den USA, Kasachstan und Russland, 1993 – 2003, gearbeitet hat. 2018 veröffentlichte er seinen ersten Roman, zunächst unter Pseudonym, welches jedoch schnell enttarnt wurde. Sein Roman „Beutezeit“ erschien 2022.

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