Geschichte

Jean-Jacques Sempe: Benjamin Kiesel

Inhalt:
Benjamin Kiesel wird ständig rot, einfach nur so (nur dann nicht, wenn er etwas angestellt hat), und alle lachen ihn aus. Er träumt von einer Fee, die ihn heilen kann, und findet stattdessen … einen Freund, der ihn nicht auslacht, sondern versteht. Denn auch Rudi Rettich leidet an einer seltsamen Krankheit: Er muss ständig niesen,, selbst wenn er nicht erkältet ist. Eine melancholische wie lustige Geschichte über zwei tapfere Außenseiter, die ihre Freundschaft sogar ins Erwachsenenalter retten können. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft begeistert seit 1971 die Lesenden und könnte nicht besser in die heutige Zeit passen. Grund genug für eine revidierte Neuausgabe mit entsprechender Übersetzung, in der der deutsche Titel „Carlin Caramel“ an den Titel der Geschichte des französischen Originals angepasst wurde.

Viel gibt es nicht über die kleine Erzählung, die man rein von den Textzeilen her als kurze Kurzgeschichte betrachten kann, zu sagen. Beschrieben wird eine Kinderfreundschaft, zweier, die eines gemeinsam haben, nämlich etwas, was sie nicht kontrollieren können und sie so zu Außenseiter macht. Doch, zusammen ist man weniger allein und vor allem immer stärker und so verbringt man fortan viel gemeinsame Zeit, kann sich auch für die Hobbys und Talente des jeweils anderen begeistern. Und das klappt auch, nachdem man sich eine Zeit lang aus den Augen verloren und sich erst im Erwachsenenalter wiedergefunden hat.

Eine Erzählung über Unterschied und Zusammenhalt, Freundschaft und das Interesse für einander, wie es uns in unserer hektischen Zeit zu Oft verloren geht, ist alleine schon deshalb erwähnenswert, hinzu kommen aber noch die liebevollen Zeichnungen von Jean-Jacques Sempe, der nicht nur dem kleinen Nick seine Abenteuer verschaffen hat, sondern auch hier seine Begabung für Wimmelbilder zeigt, die mit schnellen Strich Wimmelbilder entstehen haben lassen, in die man sich verlieren darf.

Großflächig zeichnend hat Sempe eine Unmenge Details in seinen Zeichnungen versteckt, wenn man das Gewusel einer Großstadt betrachtet oder die Massen am Ferienstrand und dort die beiden lieben Protagonisten sucht.

Über die Charaktere lässt sich nicht viel mehr sagen, was auch nicht notwendig ist, tzrotzdem kann man sich mit den beiden gut identifizieren. Bei uns allen gibt es schließlich irgendetwas, was uns irgendwo zu Außenseitern macht, auch wenn für uns dieses Merkmal etwas ganz Normales darstellt, was eben zu uns gehört. Toleranz und Akzeptanz so komprimiert darzustellen und so ein Plädoyer zu schaffen, dass es okay ist, einfach nur man selbst zu sein, sich nicht verbiegen zu müssen, wird hier komprimiert gekonnt dargestellt.

Für mich ist dies eine Geschichte, die man in vielerlei Hinsicht einfach nur liebhaben kann. Anderes ist nicht notwendig.

Autor:
Jean-Jacques Sempe wurde 1932 geboren und war ein französischer Zeichner und Karikaturist. Gemeinsam mit Goscinny entwarf er die bekannte Kinderbuchreihe „Der kleine Nick“, nebst veröffentlichte er zahlreiche Bildbände. Nach dem Militärdienst veröffentlichte er regelmäßig Zeichnungen in verschiedenen Printmedien Frankreichs und im Ausland. Er arbeitete mit Künstlern und Autoren wie Goscinny und Patrick Süßkind zusammen. Kennzeichen seiner Bilder waren großformatige Tuschezeichnungen mit schnellem Strich. Er starb 2022.

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Limor Regev: Der Junge von Block 66

Inhalt:

1944 wird der 13-jährige Moshe Kessler mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. An der Rampe in Birkenau von seiner Familie getrennt, ist er von nun an auf sich allein gestellt. Er entgeht den Tod in den Gaskammern, überlebt monatelange Zwangsarbeit und die Todesmärsche im eisigen Winter, bevor er im Konzentrationslager Buchenwald ankommt. Doch auch dort kann er nur dank der Kühnheit und Entschlossenheit der Untergrundorganisation, der es es gelang, vor Eintreffen der US-Truppen mit gestohlenen Waffen die Wachmannschaft des Lagers zu überwältigen und gefangenzunehmen, im Kinderblock 66 den sicheren Tod zu entkommen.

Dr. Limor Regev hat den anschaulichen Bericht Moshe Kesslers festgehalten und so der Nachwelt ein Zeugnis über den Triumph eines ungebrochenen Lebenswillens vermittelt. (Klappentext)

Rezension:

Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Fast 14 Jahre alt ist Moshe Kessler als er in Zeiten der Unmenschlichkeit und des Terrors zusammen mit anderen unter Aufsicht von Antonin Kalina kommt, der zusammen mit anderen KZ-Häftlingen mit den Mut zur Verzweiflung unzähligen Kindern und Jugendlichen das Leben rettete, ausgerechnet im Konzentrationslager Buchenwald, einer der letzten Stationen des Leidenwegs. Zuvor hatte der Junge bereits Todesmarsch und Auschwitz überlebt.

Dies ist die Geschichte eines ungarischen Jungen, dessen Erinnerungen im hohen Alter aufflackern, bei der Bar Mizwa seines jüngsten Enkels, der umgeben ist von seiner ihn lebenden Familie. Moshe Kesslers Bar Mizwa fand dagegen zu einem Zeitpunkt statt, als das Donnergrollen kaum noch zu überhören war und längst einige Familienleben gefordert hatte. Nach Jahrzehnten erinnert und beschreibt Kessler die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, die man ihn und unzähligen anderen raubte. Dieses Stück biografischer Erinnerung liegt hier mit „Der Junge von Block 66“ übersetzt vor.

Solche Stücke Erinnerung bilden einen wichtigen Zweig innerhalb der Bücher gegen das Vergessen, als Mahnmal vor allem, wenn sie ohne erhobenen Zeigefinger, sondern nur durch ihre Schilderungen wirken. Diese sind eindrücklich. In klarer, eindeutigiger Sprache schildert die Autorin die Erlebnisse des Kindes, welcher ihr diese Geschichte sehr viel später anvertrauen wird. Dabei wird deutlich, wie sehr Sekunden der Entscheidung über Leben und Tod bestimmen konnten und dass es selbst in unmenschlichen Orten gerade so viel Menschlichkeit gegeben hat, die einigen wenigen geholfen hat, Schreckliches zu überstehen.

In kompakten Kapiteln fügen sich die einzelnen Stationen des Leidensweges zu einem Band zusammen, welches bis ins Mark erschüttert, ergänzt durch ein anschauliches Personenregister, ein Begriffsglossar, welches vor allem dann hilfreich ist, wenn man lesend nicht mit Begrifflich- und Gegebenheiten des jüdischen Glaubens im Einzelnen vertraut ist, sowie einen Fototeil. So eignet sich die Lektüre für Geschichtsinteressierte, aber auch für Jugendliche, zumindest wenn man einige Fußnoten überliest.

Diese wurden zum besseren Verständnis durch die Herausgeberin angefügt, wirken an manchen Stellen wertend und relativierend. Hannah Arendt wird da z. B. als „allgemein etwas überschätzt“ bezeichnet. Solche und andere Meinungen kann man ja durchaus haben, doch gehören sie nicht in den biografischen Bericht eines anderen hinein. Ob der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung über 90-jährige Moshe Kessler um diese Kommentare weiß, sie teilt, die von der Herausgeberin und Übersetzerin stammen, bleibt zwangsweise offen.

Wenn gleich andere Informationen, die in den Fußnoten erscheinen, akribisch recherchiert und behutsam ergänzt worden sind, und es erst einmal überhaupt bemerkenswert ist, einen solchen Bericht für die Nachwelt erhalten zu dürfen, können einen solche Schnitzer eines eigentlich lesenswerten Berichts verhageln. Es bleibt hier also die Empfehlung, den Bericht zu lesen und die Fußnoten einer Überprüfung zu unterziehen. Alles was Augenzeuge und Autorin jedoch zusammengetragen haben, ist es aber wert, gesehen zu werden.

Autorin:

Limor Regev wirkt an der Hebrew University of Jerusalem im Institut für Internationale Beziehungen und hat zuvor über die Auswirkungen des territorialen Rückzugs in Israel geforscht. Ihre weiteren Forschungsarbeiten befassen sich mit territorialen Austritten, Konfliktlösung, internationaler Mediation und israelischer Bedrohungswahrnehmung.

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Michaela Maria Müller: Zonen der Zeit

Inhalt:

Jan Schneider ist Historiker und Archivar. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und pendelt zwischen einem süddeutschen Dorf und Berlin. Jan hat etwas vor sich, von dem niemand etwas weiß: Er muss die Akten des Auswärtigen Amtes des Jahres 1991 bearbeiten – das Jahr, das sein Leben als Zehnjähriger von Grund auf verändert hat. Er kann plötzlich nicht mehr auf Geschichte blicken, ohne seine eigene darin zu sehen. Dann trifft der zögerliche Jan auf Enni van der Bilt, Notrufdisponentin einer Feuerwehr-Leitstelle. Enni ist das Gegenteil von Jan: Sie packt an, will Dinge verändern. Sein Zögern ist ihr fremd. Doch vom ersten Moment an haben die beiden eine Verbindung, ohne dass sie zunächst sagen können, worin diese besteht … (Klappentext)

Rezension:

Ein Roman über Veränderungen, jedoch vor allem über das Dazwischen ist die Erzählung „Zonen der Zeit“, deren Titel in vielerlei Hinsicht Programm ist. Die aus der Feder von Michaela Maria Müller stammende kompakte Geschichte zweier Menschen, die sich zufällig begegnen, deren Leben sich kreuzen und schließlich so weit verwickeln, so dass sie sich nicht mehr voneinander lösen können, beginnt ruhig und ohne Aufregung, in einer Tonalität, die über den gesamten Erzählstrang anhalten wird. Gespickt mit einzelnen Sätzen, die um so mehr ins Mark treffen.

Erzählt wird die Geschichte zweier Hauptfiguren über einen Zeitraum von wenigen Wochen, in derer sich beide Charaktere einander annähern und ihre Leben beiderseits dabei infrage stellen. Jan lebt in der Routine eines festgefahrenen, aber Sicherheit gebenden Jobs für die Vergangenheit und für die Aufgabe, sie zu exerzieren und Übersichten zu erstellen, sowie in einer festgefahrenen Beziehung, während Enni in ihrem Job durch eine Männerdomäne kämpfen muss, ansonsten für den Moment lebt. Gegensätze ziehen sich an. Hier reichen ein Blick und ein Haselnusseis. So klischeehaft, wie das klingt ist es jedoch nicht.

Sehr schnell bekommen die Figuren ihre Ecken und Kanten, zumal in der Betrachtung des jeweils anderen. Auch die Dynamik der Erzählung ergibt sich durch eben diesen Perspektivwechsel. Immer wieder stechen einzelne Sätze hervor, Kontraste, die es jedoch auf so wenigen Seiten auch braucht. Trotz der ruhigen Tonalität hat man so das Gefühl, förmlich durch die Geschichte zu raßen, zwar nicht auf eine Katastrophe zuzusteuern, auch hat Michaela Maria Müller nichts überdreht, aber der sich aufzeigende Konflikt ist alltagstauglich, könnte so oder in ähnlicher Form durchaus passieren.

Trotzdem Jan und Enni sich schnell sympathisch sind, bilden sie alleine durch ihre Charakterzüge den perfekten Kontrast zueinander. Beide wirken glaubwürdig in ihren Handeln, ihrer Unsicherheiten, ihren Zweifeln. Gegensätze entstehen in diesem Kurzroman auch durch die Wahl der Schauplätze, ein Ort im beschaulichen Speckgürtel von München etwa, die pulsierende und zu weilen chaotische, sich ständig im Umbruch befindende pulsierende Großstadt Berlin, praktisch das Äquivalent zu beiden Protagonisten. Andere Figuren bleiben dabei vergleichsweise blass, kommen kaum über ein Zwischenstadium von Impulsgeber und Sidekick hinaus. Mehr als zwei Protagonisten braucht es hier nicht, um eine kurze und bündige Erzählung zu schaffen.

Müllers Geschichte kommt ohne überraschende Wendungen aus, zudem sich die Autorin auf Wesentliches beschränkt. Kein Wort ist zu viel. Auch Überraschungen sind da nicht wirklich vorhanden. Das kann man bedauern, zumindest ein paar Gedankensprünge und Rückerinnerungen der Protagonisten, die damit dem Titel eine zweite Ebene verschaffen, gibt es. Hier ist es gelungen, wie auf einem Foto erzählerisch Momente einzufangen. Es reicht aus, um sich in die Erzählung hinein zu versetzen, zudem auch die Schauplätze greifbar wirken. Gerade Ortsbeschreibungen sind zuweilen sehr plastisch geraten und gerade wer die Großstadt kennt, dürfte dann auch sofort den Geruch eines Kiosks in der Nase haben.

Wie es jedoch mit Gerüchen so ist, verflüchtigen diese sich meist schnell, so auch der Roman über das Dazwischen für eben genau diesen Zeitraum geeignet ist. Er tut nicht wirklich weh, zumal Konflikte sehr schnell und eher komplikationslos aufgelöst werden. Steig in die nächste U-Bahn ein und der Ort ist verlassen oder zieh gleich um, das Problem liegt hinter dir. Wenn das nur immer so einfach gehen würde. Auf einem Raum von mehr Seiten wäre dies zu wenig. Trotz der Kompaktheit, ist dies ausreichend?

Autorin:

Michaela Maria Müller wurde 1974 in Dachau geboren und ist eine deutsche Autorin und Journalistin. Nach einer Ausbildung zur Verlagskauffrau arbeitete sie in München und New York, bevor sie Geschichte und Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin zu studieren begann. Nach Abschluss des Studiums war sie als freie Journalistin für verschiedene Zeitungen tätig, u. a. Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung und Zeit Online. 2015 erschien ihre erste Erzählung, der weitere folgten. Zudem erschienen von ihr einige Essays. Seit 2017 ist die in Berlin lebende Autorin Mitglied des PEN Zentrum Deutschland, auch war sie Gründlungsmitglied 2022, des PEN Berlin.

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Peter Arndt: Die Wetterseite der Bäume

Inhalt:

Kolja ist elf Jahre alt und wächst in der Vielvölkerwelt eines abgelegenen Landstrichs in der Ukraine auf. Als der Krieg ausbricht, geht es für ihn und seine Familie in einen überfüllten Umsiedler-Waggon in ein neues Leben, im Reichsgau Wartheland/Polen, was die Versprechungen der NS-Propaganda einzulösen scheint.

Wie ein Schlafwandler taumelt Kolja durch Jugendorganisation des NS-Regimes bis er sich als Kindersoldat in Berlin wiederfindet, währenddessen seine Familie im eisigen Winter 1945 versucht, vor der anrückenden Sowjetarmee zu fliehen. Gewissheiten brechen. Für alle zählt nur: am Leben bleiben. (gekürzter Klappentext)

Rezension:

Nicht zuletzt aufgrund der derzeitigen Geschehnisse in Europa erfährt der biografische Roman „Die Wetterseite der Bäume“ von Peter Arndt eine besondere Brisanz. Der Autor, der seiner Familiengeschichte, vor allem die seines Vaters, gekonnt erzählerisch nachspürt, hat damit ein eindrückliches Stück Erinnerungsliteratur innerhalb der Bücher gegen das Vergessen geschaffen, welche heute wichtiger denn je ist, zudem in einer sich immer mehr polarisierenden Welt.

Worum geht es? Wir folgen den Spuren Koljas und seiner Familie, die in einem kleinen Ort Wolhyniens zu Hause ist und dort innerhalb einer Vielvölker- und Sprachgemeinschaft eine kleine Mühle betreibt. Man hat nicht viel, aber mehr als man zum Leben braucht, kommt mit den Nachbarn gut aus, auch wenn sich im Miteinander die Zeichen des Krieges 1940 mehr und mehr bemerkbar machen. Da kommen die Umsiedlungspläne der Nationalsozialisten, die Polen zusammen mit der Sowjetunion besetzt und unter sich aufgeteilt haben, gerade recht. Eine Chance, die Koljas Vater nutzt. Nicht ahnend, welche Odyssee ihnen alle noch bevorstehen wird.

Auf Grundlage von Interviews, welches der Autor mit seinem Vater noch bis vor dessem Tod führen konnte, einigen Reisen und Archivmaterial entstand der beeindruckende Roman, der sehr kompakt gehalten mit hohem Erzähltempo die Wege verfolgt, die die Familie auf sich nehmen musste, zunächst um ein neues Leben zu beginnen, anschließend selbiges zu retten.

Dabei verfolgen wir zwei perspektivisch unterschiedliche Erzählstränge. Den Weg von Koljas Familie, zuletzt inmitten der großen Flüchtlingstrecks gen Westen, unter anderen Vorzeichen, denen heutiger Flüchtlinge psychologisch gar nicht mal so unähnlich, zum anderen Kolja, der vom nationalsozialistischen System nach und nach vereinnahmt wird und schließlich als Kindersoldat ums Überleben kämpfen muss.

Einige Jahre, zusammen mit Rückblenden, umfasst die Erzählspanne und wechselt, ohne dass man dabei den Überblick verlieren würde. Dies verleiht der Geschichte eine eindrückliche Dynamik, derer man sich nicht entziehen kann, zudem hilft auch eine stilisierte Landkarte am Anfang des Romans, die Übersicht zu behalten. Kurzweilig ohne Längen und, was noch viel wichtiger ist, ohne Verklärungen, weiß Peter Arndt von Hoffnung und Enttäuschung, Bangen und Grauen, aber auch den Momenten zu erzählen, die vielleicht mehr als einem Schutzengel zuzuschreiben sind.

In klarer Sprache wird eine Zeit wieder lebendig, die in abgewandelter Form auch heute noch für zu viele Menschen bittere Realität ist, zudem wieder Landstriche der Ukraine, zudem auch dieser heute gehört, umkämpft sind.

Hauptfigur dieses biografischen Romans ist Kolja, zu Beginn der Erzählung elf Jahre alt, weshalb „Die Wetterseite der Bäume“ sowohl als Jugendbuch funktionieren kann als auch, mit der Geschichte an sich als biografischer Roman, den man unabhängig davon lesen kann.

Der Protagonist ist dabei nicht unfehlbar, zeigt sich doch an ihm, wie leicht und systemisch die Vereinnahmung Jugendlicher damals vonstatten ging, auch dies hat sich unter umgekehrten Vorzeichen bis heute nicht geändert. Mit ihm und seiner Familie fühlt man jedoch gerne mit, kommt nicht umher die beschriebenen Personen um ihren Mut und Überlebenswillen zu bewundern.

Peter Arndts erzählerische Stärke liegt dabei nicht nur darin, den Figuren ihre Ecken und Kanten anzugedeihen. Auch Orts- und Situationsbeschreibungen verfehlen ihre Wirkung nicht. Fast ist es so, als stünde man neben den Jungen, der bald seinen geliebten Hund zurücklassen muss oder im Flüchtlingstreck mit knurrendem Magen, in klirrender Kälte. Immer wieder werden Atempausen zwischen den Extremen beschrieben, nur um dann im nächsten Moment ad absurdum geführt zu werden. Nichts ist normal in dieser Zeit.

Ohne die Aufnahmen zu kennen, Grundlage der Erzählungen sind Interviews, die der Autor mit seinem Vater geführt hat, könnte der Roman so in dieser Form auch als Hörbuch funktionieren. Die Tonalität ist vorhanden. Auch die Art des Erzählens macht es leicht, sich in die Protagonisten hinein zu versetzen. Auch dies macht „Die Wetterseite der Bäume“ zu einem wichtigen Buch im Rahmen derer gegen das Vergessenn. Was anders in Gefahr laufen würde, nur trocken daher zu kommen, wird hier in Romanform lebendig greifbar.

Von der Ausgestaltung der Protagonisten, sowie dem engen Entlanghangeln anhand der Familienbiografie ohne ins zu Trockene zu geraten, ist dieser biografische Roman sehr empfehlenswert.

Autor:

Peter Arndt wurde 1957 in Wiesentheid geboren und ist ein deutscher Soziologe, Organisationsprogrammierer und IT-Berater. Der Erlebnisfundus seiner väterlichen Vorfahren ist sein Lebensthema. 2024 veröffentlichte er seinen Roman „Die Wetterseite der Bäume“, die fiktionalisiert angelehnt die Geschichte seines Vaters verfolgt.

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Hans-Christian Dany: Schuld war mein Hobby

Inhalt:

Ein Düsseldorfer Galerist macht Hans-Christian Dany das Angebot, gegen einen Pauschalbetrag zwölf Texte zu schreiben, die online veröffentlicht werden sollen. Ohne Vorgabe von Thema oder Umfang. Der Auftrag mutiert zur literarischen Reise in den Zerfall einer Familie, der sich als Symptom für das Leben in einem kranken Land der Nachkriegsgeschichte erweist.

Dany schreibt über sein Erbe im juristischen und im übertragenen Sinne, über buchhalterische wie emotionale Forderungen und Verbindlichkeiten und über den eigenen (fast unglaublichen) Weg vom Künstler und Schriftsteller zum verschuldeten Firmenerben, Arbeitgeber und »Minusmillionär«. Die Reflexionen zwischen Kunst und großem Geld sind nicht nur autobiografische Essays, sondern auch Versuche einer eigenen Standortbestimmung im ausklingenden Neoliberalismus. Doch, was ist, wenn es sich, wie abzeichnet, bewahrheitet, dass der Galerist die versprochenen Honorare nicht zahlt? (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Am Rande des Abgrundes zwei Schritte voran, sieht sich der Sohn, als er mehr oder wenig gezwungen das beinahe bankrotte Familienunternehmen übernimmt, obwohl er ja eigentlich vom Schreiben leben wollte. Doch nun muss er Schulden jonglieren und Bilanzen lesen, die weit entfernt von rosig sind. Die Glanzzeiten des Aufstiegs sind da schon lange vorbei, hatte der Verfall auch schon zu Zeiten seiner Kindheit begonnen, doch, wer Schulden macht, mutiert zum Liebling der Banken. Die Rolle also, die er künftig spielen wird, ist schnell gefunden. Am Leben gehalten, durch den Künstler, der jetzt schreiben muss, um zu überleben.

Hans-Christian Dany erzählt vom tiefen Fall einer Hamburger Kaufmannsfamilie, den berühmten Beispiel von Thomas Mann in ihrem Eifer gar nicht so unähnlich und doch kompakt in seinem Essay „Schuld war mein Hobby“. Dabei spürt er dem Kippen der wirtschaftlichen Stabilität hinein ins Ungewisse nach, welches wie ein Gleichnis auf die sich nach dem Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik lang anhaltende Krise wirkt, für die die Familie ein Beispiel von vielen ist.

Immer nah am Abgrund spürt der Autor den einzelnen Familienmitgliedern nach, dem Vater etwa, der den Betrieb schwerkrank übergeben muss, obwohl der jüngere Bruder dessen eigentlich dafür vorgesehen war, der jedoch selbst psychisch krank mit den eigenen inneren Dämonen zu kämpfen hat, der Mutter, nie wirklich in die Geschäfte ihres Mannes eingeweiht und der älteste Sohn darum kämpfend, eine bröckelnde Fassade aufrecht zu erhalten.

Was sind wir unseren Familien, Angehörigen, viel mehr uns selbst schuldig? Wie gehen wir mit vererbten Lasten physischer und psychischer Natur um? Was macht dies mit uns? Fragen, die nur ein jeder für sich selbst beantworten kann, da die Gesellschaft um uns herum, viel zu wenige Antworten dafür bereit hält. Diskussionsmaterial und Denkschrift zugleich, pendelt der Text entlang der Biografie und philosophischer Überlegungen, die durch das Beispiel greifbar werden.

Hoch spannend erzählt der Autor zugleich von einer spannungsgeladenen Beziehung zu Eltern und dem jüngeren Bruder und zeigt, was es mit uns macht, wenn wir die Last der Verantwortung schultern, ohne dem wirklich gewachsen zu sein, aber auch wie viele Berge Kampfes- und Überlebenswille zu versetzen vermag, ohne dass uns am Ende immer klar sein muss, wie wir Hindernisse überwunden haben. Stoff zum Nachdenken immerhin, manchmal etwas schwergängig, jedoch durchweg spannend, wenn man sich auf diese Mischung einlässt.

Autor:

Hans-Christian Dany wurde 1966 geboren und lebt als Künstler in Hamburg. Seine Texte erscheinen u. a. bei Edition Nautilus. Um vom Schreiben leben zu können, geht er wechselnden Tätigkeiten nach. Von einigen ist hier in diesem Essay die Rede.

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Florian L. Arnold: Das flüchtige Licht

Inhalt:

Für den Monsignore, einen großen Filmemacher, ist das ganze Leben ein Schauspiel. Doch für den routinierten Regisseur ändert sich alles, als er das Straßenkind Enzo vor die Kamera holt. „Das flüchtige Licht“ erzählt die Geschichte von vier Menschen, deren leben durch das Kino und die Leidenschaft eines exzentrischen Geschichtensammlers bestimmt wird. (Klappentext)

Rezension:

Es ist eine Illusion, die nach dem Willen eines einzelnen Mannes entsteht, doch sobald die Linse ihren Auftrag erfüllt hat, verschwindet diese von Kameras eingefangene Welt. Der trockene Staub legt sich in den überhitzten Gassen, wenn die Schauspielenden und ihr Filmemacher verschwinden und den schönen Schein in Kisten verpacken. Fortan geht ein jeder wieder seine Wege. Bis zum nächsten Mal. Für Enzo, der einst eher zufällig in die Aufnahmen des Monsignore hineinplatzt, ist diese sehr flüchtige Welt real oder zumindest viel zugetaner als die Wirklichkeit, die es schon in seiner Kindheit nicht gut mit ihm meint.

Ausgeschlossen ist er dort gewesen, immer am Rande einer Gruppe von Jungen, die ihm den Zugang zu der kleinen und verschworenen Gemeinschaft verwehren, bis diese sich auflöst, als sie alle nach und nach aus ihrem Heimatdort ausbrechen. Doch auch danach lässt sie der rothaarige Schatten ihrer Kindheit nicht los. Die Welt der Illusionen hat Enzo da schon verschlungen.

Florian L. Arnolds Roman „Das flüchtige Licht“ ist eine Hommage an eben diese, der Hochzeiten des italienischen Kinos und dem Mann, der sie erheblich mitgeprägt hat. Fellini ist das Vorbild des Monsignore, der Figur, der Enzo Halt zu geben vermag, so lange dieser bereit ist, seine Geschichten zu erzählen, für die er dann ein Leben in der Welt der Cinecitta bekommt, die ihm jedoch immer wieder durch die Hände rinnt.

Langsam und behutsam nähern wir uns den Protagonisten an, deren Verhältnisse zueinander sich im Verlauf der Erzählung umkehren werden und doch nicht aus ihrer Haut heraus können. Dieses Spannungsverhältnis bestimmt den Roman, der selbst wie einer dieser italienischen Streifen wirkt. Man kann sie förmlich vor sich sehen, die Gassen, die Suche von Enzo nach sich selbst, der sich in die Abhängigkeit eines einzelnen Mannes begibt, der doch selbst von ihm, einmal in den Bann gezogen, nicht von ihm los kommt.

Die ruhig gehaltene Erzählung wirkt durch ihre Figuren, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird. Die verschworene Gemeinschaft, die sich einst schwor, immer zusammen zu bleiben, Kontakt zu halten, um sich dann letztendlich doch zu verlieren auf der einen Seite. Enzo auf der anderen, der da nie hinein finden wird und auch in der Welt des Monsignore die Rolle des Außenseiters übernehmen muss, um auf irgendeine Art und Weise doch dazu zugehören. Ist der Film im Kasten endet oft auch das, bis zum nächsten Mal.

Figuren entstehen zu lassen, die nicht mit-, aber eben auch nicht ohne einander können, schafft Arnold mit prägnanten Sätzen, auf den Punkt ausformuliert, ohne dass ein Wort zu viel wäre. Nur manchmal scheint diese beschriebene flüchtige Welt beim Lesen durch die Finger zu rinnen, wie es eben dem Medium eigen ist, welches Hauptgegenstand der Erzählung ist. Viel näher würde man gerne an den einzelnen Protagonisten dran sein. Es hätte nicht geschadet, hier und dort etwas länger zu verweilen.

Orte, die zu einander gegensätzlich sind, sind es auch, die diesen Roman ausfüllen. Der Kinosaal etwa, in dem man sich der Illusion für ein paar Stunden hingeben kann, im Kontrast zu den Gassen, die nach dem Dreh wieder einsam und verlassen sind. Auch das verschafft der Erzählung starke Momente.

Dieses Zusammenspiel verschafft mitsamt der Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel einen Lesefluss, innerhalb dessen man die eine oder andere Figur für einen Moment verliert, um im nächsten einen einzelnen Satz zu lesen, der präzise formuliert die Geschichte vorantreibt. Wenn die Protagonisten dann zurückblicken, holt sie die Wirklichkeit mit ihrer ganzen Wucht schnell wieder ein, insbesondere Enzo, dessen Leben gleichsam der Filme, derer Bestandteil er ist, plötzlich leer scheint, als die letzte Szene gedreht, die letzte Geschichte erzählt ist.

Der Roman, der selbst wie ein Film wirkt, schafft es trotz seiner ruhigen Art und Weise, einem in den Bann zu ziehen. Auf jeder Seite ist das Herzblut des Autoren zu spüren, der an der Erzählung jahrelang gearbeitet hat, verpackt in wunderschöner Sprache, die ihr Ziel erreicht. Einzelne Momente hätte ich mir noch etwas mehr ausformuliert gewünscht, auch, dass einige der Charaktere einem nicht so schnell durch die Finger rinnen. Auch eine Bitte hätte ich, könnte sich jemand um die filmische Umsetzung kümmern?

Es wäre genial.

Autor:

Florian L. Arnold wurde 1977 in Ulm geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Illustrator. Er studierte in Augsburg Kunstwissenschaftler und war danach freiberuflich als Grafiker und Schriftsteller tätig und gab u. a. das Kunst- und Kulturmagazin ES heraus. Arnold ist Initiator und Programmleiter des Literaturfestivals Literaturwoche Donau in Ulm/Neu-Ulm und stellt dort seit 2013 die Arbeit unabhängiger Verlage vor. Auchin Neu-Ulm initiierte er das Begegnungsformat Literatur unter Bäumen, zudem kuratiert und moderiert er zahlreiche Veranstaltungen der Aegis-Buchhandlung in Ulm. Er veröffentlichte mehrere Romane, Erzählungen und ein satirisches Wörterbuch.

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Verlagsgeschichte: 60 Jahre Wagenbach

Wie überlebt man gute Bücher? Besser als schlechte jedenfalls! Der unabhängige Verlag für wildes Lesen feierte im letzten Jahr sein sechzigjähriges Bestehen und das, obwohl er sich anfangs gegenüber politischen Widerständen durchsetzen musste und heute ebenso wie andere mit steigenden Produktionskosten und den Schwund von Leserinnen und Lesern zu kämpfen hat. Nicht einfach, wenn man weder dem Mainstream folgen möchte, Nischen entgegen wirtschaftlicher Erwägungen besetzt hält und sich ganz und gar dem Genuss schön gemachter Bücher hingeben möchte. Wie in den Anfangsjahren eben auch.

Dabei hat der Verlag viel zu bieten, anfangs kontrovers diskutierte Themen, anspruchsvolle Essays und Lesestücke, sehr schnell viel Literatur aus Italien, Lateinamerika, Spanien und innerhalb seiner „roten Reihe“ Alan Bennetts „Die souveräne Leserin“, die lesende britische Monarchin und nicht nur sie als bemerkenswerten und überraschenden Bestseller innerhalb der Verlagsgeschichte. Auf die kann man zurückblicken und dabei überraschend vielseitige Texte, nach Erscheinungsjahr im Verlag geordnet, lesen. In diesem wunderbaren Almanach zum Jubiläum und dabei auch Einblick in Verlagsgeschehen nehmen. Wie ging das damals eigentlich, das schöne Buch? Und wie geht das heute?

Zettel und Stift daneben legen, zum Notieren, ist jedenfalls zu empfehlen. Sei es, um Namen für das spätere Recherchieren herauszuschreiben oder die Wunschliste zu verlängern. Letzteres wird in jedem Fall passieren.

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Andrea Löw: Deportiert

Inhalt:

Der Deportationsbefehl war unerbittlich – ein Koffer war erlaubt, es blieb kaum Zeit, um alles zu regeln und Abschied zu nehmen. Dann wurden sie aus ihrem bisherigen Leben gerissen. Ab Herbst 1941 wurden die im Deutschen Reich verbliebenen Jüdinnen und Juden systematisch „nach Osten“ deportiert.

Meisterhaft verwebt Andrea Löw ihre Geschichten zu einer Erzählung, deren Lektüre die ganze Ungeheuerlichkeit des Verbrechens emotional bewusst macht. Indem sie selbst zu Wort kommen, werden die Menschen sichtbar – als Mütter, Kinder, Großeltern, als Liebende, als Junge und Alte. Sie schildert ihre Ängste und Hoffnungen, die Stationen bis zur Abreise, den Transport. Die meisten erwartete am Ziel der sichere Tod, die Überlebenden berichten von Gefangenschaft, Flucht und Rettung. (Klappentext)

Rezension:

Am Anfang mussten sie entscheiden, was sie auf die Fahrt ins Ungewisse mitnehmen sollten. Nicht mehr als ein Koffer voll durfte es sein. Was würde man in der Fremde, Zielort unbekannt, benötigen? Viele liebgewonnene Dinge, Erinnerungsstücke, mussten sie zurücklassen. Den wenigen, die es schafften, bis Kriegsende die Qualen und unvorstellbare Gewalt durchzustehen, blieb zum Schluss kaum mehr das Leben und das, was sie am Leibe trugen.

Zu viele Jüdinnen und Juden war dies nicht vermocht. Einige der überlebenden Jüdinnen und Juden jedoch legten nach dem Krieg Zeugnis von dem unmenschlichen Grausamkeiten ab. Wie erlebten sie den Erhalt des Deportationsbefehls, die Deportation selbst, das Leben im Ghetto, die Razzien der SS, Konzentrationslager Todesmärsche? Wie schafften es einige zu überleben, was zu vielen zum Verhängnis wurde?

Ich weiß nicht, was vor mir liegt, vielleicht ist das gut so.

Andrea Löw: Deportiert

Die Historikerin Andrea Löw hat anhand von Berichten, Tagebüchern und transkribierten Interviews eine Chronik der schrecklichsten Ereignisse der jüngeren Zeitgeschichte aus Sicht derer geschaffen, die ihr zum Opfer fielen, was gerade jetzt immer wichtiger wird, je weniger Zeitzeugen uns davon erzählen können. Entstanden ist so aus hunderten Quellen ein Gesamtbild, welches verständlich zu machen versucht, was kaum zu begreifen ist.

Zu begreifen war, bereits zum Zeitpunkt des Geschehens, wurden zumindest die ersten Opfer des Holocaust zu Beginn noch im Unklaren über ihr weiteres Schicksal gelassen, während später nach und nach aus Gerüchten aus dem Osten ein immer klareres Bild die grausame Realität zeigte.

Wenn so etwas möglich war, was gibt es dann noch? Wozu noch Krieg? Wozu noch Hunger? Wozu noch Welt?

Andrea Löw: Deportiert

Dabei erläutert die Autorin zunächst ihre Herangehensweise anhand der Quellenlage, die sich vor allem aufgrund ihrer Anzahl auf die deutschsprachige jüdische Gemeinschaft beschränkt, sowie auf die Ghettos in Litzmannstadt und Riga konzentriert, wobei auch andere Schauplätze beleuchtet werden. Erzählt wird ab dem Zeitpunkt des Deportationsbescheids, die vorhergehende menschliche Entrechtung wird zugunsten des Blickwinkels außen vorgelassen, wobei hier auf bereits zahlreich existierende Literatur verwiesen wird.

Entlang eines Zeitstrahl hangelt sich die Autorin durch eine immer dichtere Abfolge von unmenschlichen Grausamkeiten, bei der winzige intuitiv gefällte Entscheidungen über Weiterleben oder Tod entscheiden konnten.

Auf der Seite liegend, Oberkörper und Füße von verschiedenen Nachbarn eng gepresst, erzeugte dieses Liegen das Gefühl sich bereits in einem Massengrab zu befinden […]

Andrea Löw: Deportiert

Ungeschönt erzählt das Sachbuch von einer Vernichtungsmaschinerie aus der Sicht ihrer Opfer, die sich einer immer brutaleren Unausweichlichkeit entgegen sahen, jedoch auch, was menschlicher Überlebenswille und Erfindungsreichtum zu überstehen vermag. Dicht verweben sich die einzelnen Biografien zu einem Gesamtbild, welches nicht unberührt lassen kann.

Andrea Löw setzt damit jene, über die sie schreibt und allzu vielen, deren Gedanken nicht dokumentiert wurden, ein Denkmal und hat mit „Deportiert“ einen wichtigen Bestandteil innerhalb der Bücher gegen das Vergessen geschaffen. Ergänzt wird die Lektüre mit einem ausführlichen Personenregister und Quellenverzeichnis zur Unterfütterung des Gelesenen.

Autorin:

Andrea Löw wurde 1973 in Hagen geboren und ist eine deutsche Historikerin. Sie studierte Geschichte, Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Bochum, wo sie promovierte. Von 2004 bis 2007 war sie an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig.

Seit 2007 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Zeitgeschichte beschäftigt, zunächst in Berlin, danach in München. Dort ist sie seit 2013 stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien. Des Weiteren lehrt sie an der Universität Mannheim . wirkt als Redakteurin des Online-Journals Sehepunkte mit. Sie forscht und betreut Projekte zur NS-Judenverfolgung, insb. zum Themenkomplex Ghettos im deutsch besetzten Polen. Löw ist Autorin mehrerer Bücher.

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Dirk Wulff: Hannah Arendt – Erforscherin des Bösen

Reihe:

Das Werk gehört zur verlagsinternen Reihe „Philosophie für unterwegs“, in Zusammenarbeit mit verschiedenen Autoren und Autorinnen. Da jedes Buch aus der Reihe aus einer anderen Feder stammt und unabhängig voneinander gelesen werden kann, haben wir hier keine Band-Reihenfolge aufgelistet, da sonst das Rezensionsverzeichnis durcheinander käme.

Inhalt:

Hannah Arendt (geb. 1906 in Hannover, gest. 1975 in New York), durchlebte einen großen Zeitraum des „weltverändernden“ 20. Jahrhunderts. Bildung, Denkfähigkeit, Freiheitswille sowie persönliche Erlebnisse befähigten sie – die 1933 vor der Judenverfolgung aus Deutschland emigrierte -, scharfe Beobachterin und Analystin dieser Epoche zu werden.

Das „tätige Leben“ der Menschen, die Entwicklung totalitärer Regime, Freiheitsentzug, Flucht und die Vernichtung Andersdenkender sind „politische Themen“, mit denen sie sich beschäftigte und die sie „weltloser, akademischer“ Philosophie vorzog. Ihre Forschungsergebnisse zur Entstehung totalitärer Herrschaft sowie die Reportage zu „Eichmann in Jerusalem“ mit der intensiv geführten Debatte über die „Banalität des Bösen“ sind von bleibender Aktualität. (Klappentext)

Rezension:

Der immer höhere Grad an Automatisierung bringt es mit sich, dass die Auswirkungen unserer Taten wir immer indirekter zu spüren bekommen, ja damit gar nicht mehr in Berührung kommen. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat den Schreibtischtäter möglich gemacht, ohne den keine Mechanik in Gang gesetzt werden kann, der jedoch nicht wahrzunehmen braucht, welche Folgen sein Handeln, sein Entscheiden hat. Adolf Eichmann konnte so den Massenmord des NS-Regimes organisieren, mit der gleichen Leidenschaftslosigkeit, mit der er auch hätte Aktenordner sortieren können.

Das was er tat war in Zahlen messbar, Tot und Massenmord als Zahlenfolge, die emotionalen Folgen erreichten den Bürokraten aufgrund der physischen Entfernung zu den zentralen Handlungsorten nicht. Das Böse ist banal, schlussfolgerte die Publizistin und politische Theoretikerin Hannah Arendt, deren eigene Themen des Lebens zugleich die eines Großteils des 20. Jahrhunderts waren. Der Wissenschaftler Dirk Wulff nimmt sich ihrer an und gibt mit seinem Exzerpt einen kompakten Überblick über das Leben dieser beeindruckenden Frau, sowie über derer wichtigsten Werke.

In wie weit aber lässt sich die Arbeit eines Menschen so dermaßen kompakt herunterbrechen, wie es innerhalb dieser Buchreihe geschieht, in derer sich verschiedene Autoren und Autorinnen den großen Denkenden der Geschichte annehmen? Dirk Wulff zumindest gelingt es, hauptsächliche Punkte herauszuarbeiten und damit auch ihrer Urheberin Gestalt zu geben. Es ist anzunehmen, dass dies im Rahmen der Reihe mit einer gewissen Kontinuität geschieht, so dass es sich wohl lohnt, die „Philosophie für unterwegs“ im Blick zu behalten. Der Verlag hat diese ausgebaut und so finden sich von Camus über Sokratis, von Karl Marx bis hin zu Simone Weil schon sehr viele, mit deren Gedankengängen es sich zu beschäftigen lohnt.

Zumindest für einen Anknüpfungspunkt, um einen Zugang zu finden. Dafür ist die Reihe in jedem Fall geeignet und das gelingt Dirk Wulff mit „Hannah Arendt – Erforscherin des Bösen“ sehr gut. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis gibt im Anschluss weitere Anregungen für eine ausführlichere Beschäftigung, doch für das Grundsätzliche genügen diese wenigen Seiten, auf denen beschrieben werden, wie die Publizistin Flüchtlinge sah, zu denen sie selbst gezwungenermaßen gehören musste und aus welchen Elementen und Ursprüngen heraus totalitäre Gesellschaften ihres Erachtens folgen können.

Abgerundet wird die Denkschrift zusätzlich mit Überlegungen, was sich Hannah Arendts Betrachtungen im Heute schlussfolgern lässt. Sprachlich ohne Schnörkel stellt Dirk Wulff dies dar, jedoch ohne trocken oder gar überheblich daherzukommen. Vielleicht liegt dies am Format, welches keine größeren Abstrahierungen erlaubt, ist damit jedoch um so zugänglicher für Laien, so dass man Werk wie Reihe unbedingt weiter verfolgen sollte.

Autor:

Dirk Wulff wurde 1941 in Wittenberg geboren und arbeitete bis 2004 als promovierter Chemiker an Forschungsprojekten in der chemischen Industrie. Er war an unzähligen Patenten, wissenschaftlichen Publikationen sowie am Wissensspeicher CHEMICA beteiligt. Seit 2004 widmet er sich philosophischen und soziologischen Themen. Wulff ist Mitglied der Nietzsche-Gesellschaft e. V. und veröffentlichte im Jahr 2009 „Kapitalismus und weiter?“.

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Anthony Bale: Reisen im Mittelalter

Inhalt:

Ob Pilgerinnen oder Kaufleute, Ritter, Mönche oder Spione – die Leidenschaft für das Reisen packte die Menschen bereits im Mittelalter. Getrieben von Fernweh und Abenteuerlust die einen, auf der Suche nach religiöser Erleuchtung oder Ruhm auf dem Kreuzzug die anderen. Für alle war der Weg lang und gefährlich, gute Vorbereitung und Reiseführer mit Tipps für Rast und Übernachtung und Hinweisen auf Gefahren waren unerlässlich.

Anthony Bale nimmt uns mit auf eine Reise nach Nürnberg und Aachen, nach Paris und Rom, in das von Touristen bevölkerte Venedig und nach Rhodos. Wir erkunden Konstantinopel und Jerusalem und gelangen bis in die sagenhaften Länder der Amazonen, Riesen und Fabelwesen, nach China, Äthiopien und Indien. Ein farbiges Panorama der mittelalterlichen Welt, gesehen durch die Augen derer, die sie bereisten. (Klappentext)

Rezension:

Als Martin Behaim, Kaufmann und Seefahrer, einen der ersten europäischen Versuche präsentierte, die ganze Welt auf einem physischen Globus darzustellen, war dieser bereits überholt, doch konnte sich damit Nürnberg als prosperierender Handelsplatz präsentieren. Heute noch erhalten und im Germanischen Nationalmuseum von Nürnberg zu besichtigen, zeigt der Globus uns die mittelalterliche Welt als Produkt dieser besonderen Konstellation von Zeit und Ort. Ein Blick darauf offenbart die Sicht auf die Welt, in der die Menschen schon damals im regen Austausch zueinander standen. Der Historiker Anthony Bale folgt ihren Spuren und nimmt uns mit auf eine ebenso spannende, wie abenteuerliche Zeitreise.

Entlang historischer Reiseberichte entfaltet der Autor eine Welt, in der Reisen noch mit Abenteuer verbunden, dennoch nicht weniger durchorganisiert war, als heute. Auf unterschiedlichen Pfaden und Handelsrouten begegnen wir dabei Menschen, die Handel trieben und zu einer der ersten Vernetzungen der Welt beitrugen, Pilger, Missionare, Ritter und Kämpfer für ihren Glauben und entdecken die ersten Touristen, die nur für sich selbst unterwegs waren und dabei auf allerhand Erstaunliches stießen.

Damals, so erfahren wir, in den nach Routen und Zielen unterteilten Kapiteln, war Reisen mit zahlreichen Schwierig- und Unwägbarkeiten verbunden. So konnte eine Flaute auf See die Menschen zum Innehalten zwingen, Brief und Siegel eines Königs jedoch dabei helfen, Grenzen zu überwinden. Der Historiker zeigt anhand zahlreicher Beispiele die sich verändernden Sichtweisen Fremder auf Gegenden und Orte, die sie bereisten, aber auch, dass Reiseberichte von damals immer eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion, sowie politischer und religiöser Standpunkte waren.

Anhand gleichsam philosophischer Überlegungen erläutert Bale Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Reiseetappen damals und heute. Warum reisen wir? Was macht dies mit uns? Welche Ziele haben wir? Was bleibt nach der Reise selbst? Die Gedanken dazu bilden das tragende Konstrukt nebst zahlreicher historischer Überlieferungen für dieses spannende Sachbuch, welches zudem nicht nur die Sichtweise damaliger Reisenden erläutert, sondern auch jener, die sie besuchten. Dabei bleibt Bale nicht eurozentrisch verhaftet, erläutert auch das Unterwegssein aus anderen Teilen der Welt heraus.

Spannend vermischen sich historische Reiseberichte, philosophische Überlegungen, die ergänzt werden mit einer ausführlichen Quellenangabe und Personenregister zu einem bunten Portrait des Unterwegssein in damaliger Zeit. Auf den Spuren von venezianischen Kaufleuten wie Marco Polo, ehrwürdigen Mönchen und doch zahlreichen Frauen wie Margery Kempe, für die das Reisen noch ganz andere Herausforderungen bereithielt, bewegt sich dieses kurzweilige Sachbuch, welches sprachlich schön, sowohl von an der Historie als auch am philosophischen Aspekt des Reisens Interessierten gelesen werden kann.

Autor:

Anthony Bale wurde 1975 geboren und ist ein britischer Historiker. Er lehrt Mittelalterstudien am Birkbeck College der University of London und erhielt 2011 den Philip Leverhulme Prize für herausragende junge Wissenschaftler. 2019 war er Fellow der Harvard University. Für sein Buch ist er den Routen mittelalterlicher Globetrotter gefolgt.

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