Vertrauen

Doris Wirth: Findet mich

Version 1.0.0

Inhalt:

Erwin bringt das Geld nach Hause, seine Frau kümmert sich um Kinder und Haushalt. Doch als Erwin Mitte 50 seinen Job verliert und sein Vater stirbt, fällt er in eine akute Krise. Er pendelt zwischen Verzweiflung und Größenwahn. In seinem Kopf sprießen bizarre Pläne und die Gier nach einem puren, triebhaften Leben in der Wildnis. Eines Tages zieht er los und verschwindet.

Sprachlich intensiv und formal virtuos verwebt Doris Wirth Familienroman und Roadmovie. Sie zeichnet das komplexe Psychogramm eines Mannes, der eine manische Psychose durchlebt. Aus wechselnden Perspektiven erzählt Findet mich Erwins Geschichte und zeichnet die der Familie über drei Generationen nach: von der Unterdrückung individueller Wünsche über die Prägung durch patriarchale Strukturen bis zur Suche neuer Rollen in der Gegenwart. (Klappentext)

Rezension:

Das vorliegende Romandebüt der Schweizer Autorin Doris Wirth, die zuvor bereits mehrere Erzählungen veröffentlicht, spürt den Veränderungen innerhalb einer Familie nach, deren Alltag plötzlich durch eine psychische Krankheit dominiert wird. Seiner Handlungsspielräume beraubt und seines Platzes verwiesen, spürt das ehemalige Oberhaupt nur noch den Drang, sich privaten Zwängen und dem gesellschaftlichen Druck zu entziehen und nähert nicht nur sich damit einem dunklen Abgrund an.

Leichtgängig klingt dies schon im Klappentext nicht an. Auch in der Zusammenfassung wirkt es nicht besser, doch liest sich der Wandel des Hauptprotagonisten und aller, die ihn umgeben, durchaus flüssig, in sofern wir sofort Bezüge zu den einzelnen Figuren herstellen können. In unserer schnelllebigen Gesellschaft sind nicht wenige selbst von psychischen Zwängen und Krankheiten betroffen oder kennen dies zumindest aus dem engeren Umfeld und so fällt das Einfinden leicht.

Nur wenige Stellschrauben, Auslöser, braucht die Autorin, um Verbindungen herzustellen. Die beiden Hauptfiguren, die im Laufe der Erzählung um eine geringe Anzahl erweitert werden, bekommen durch ihre Vorgeschichte Konturen. Diese sind klar gehalten, nach und nach schält sich das Unheil heraus. Dunkle Momente werden immer zahlreicher, ehe sie schließlich handlungsbestimmend wirken.

Vor allem für den männlichen Hauptpart, dessen Handeln man beinahe atemlos verfolgt. In der Art und Weise dessen, wirkt dies folgerichtig, ohne Lücken oder unlogische Sprünge zu hinterlassen. Bilder schafft hier die Autorin vor allem sehr stark durch innere Monologe, gedankliche Ausführungen, womit die Figuren ihre Ecken und Kanten bekommen. Im Kontrast zu dem vor allem so aufgebauten Protagonisten wirken die umgebenden Personen um so stärker. Doris Wirth gelingt es hier zu zeigen, dass auch Familienmitglieder mit einer solchen Situation zu kämpfen haben, nicht nur die Betroffenen selbst und das der Weg da raus nur entlang von Bruchkanten verlaufen kann.

Dieser Balanceakt erzeugt starke Bilder vor dem inneren Auge, auch bringt der stete Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel eine temporeiche Dynamik mit sich. Dieser zu folgen ist dabei nicht sonderlich schwierig, wenn auch die Thematik nicht ohne ist. Man sollte dies vor dem Lesen wissen. Nicht jeder dürfte diese Erzählung einfach so weg lesen können. Auch der Genre-Mix trägt sein Übriges dazu bei. Psychogram und Roadmovie passen, das beweist Doris Wirth, hier wieder einmal gut zusammen. Schauplätze werden hier ebenso plastisch beschrieben wie Gefühlswelten, ohne ins Klischeehafte abzugleiten.

Immer wieder stolpert man dabei über einzelne Passagen, die hängen bleiben und nachdenklich machen. Manchmal ist es auch nur etwas Unbestimmtes, was beim Lesen zurückbleibt. Gerade für solche Momente lohnt sich das Lesen des Romans, in den man gerne den einzelnen Figuren neben dem Hauptprotagonisten noch mehr Raum geben würde, dabei wechseln die Sympathien durchaus von Kapitel zu Kapitel. Es hängt dann von den einzelnen Lesenden ab, welche Nachwirkungen hier Doris Wirth erzielt hat.

Ohne Spuren aber geht es nicht.

Autorin:

Doris Wirth wurde 1981 geboren und ist eine Schweizer Autorin. Zunächst studierte sie Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie in Zürich und Berlin, bevor 2014 ihr erster Erzählband erschien, dem weitere folgten. Für ihre Prosa mehrfach ausgezeichnet, erschien 2024 ihr Romandebüt. Die Gewinnerin mehrerer Literaturwettbewerbe lebt in Berlin.

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Rüdiger D.C. Kinting: Mein Freund Ybor

Inhalt:

Der elfjährige Felix bekommt von seinem Vater einen Roboter geschenkt. Den möchte er für seine Klasse beim Robotik-Wettbewerb antreten lassen – obwohl er von seinem Mitschüler Angus eingeschüchtert und bedroht wird. Doch „Ybor“, wie Felix den echten Roboter vom Planeten Origan nennt, hilft ihm dabei, an sich selbst zu glauben. Und so hält Felix an seinem Plan fest. Als Ybor am Tag vor dem großen Wettbewerb spurlos verschwindet, ist Felix verzweifelt. Ist Ybor weggelaufen? Oder steckt Angus hinter der Entführung?
(Klappentext)

Rezension:

Eine Geschichte über Freundschaft und Mut präsentiert uns Rüdiger D. C. Kinting mit seinem neuen Kinderbuch „Mein Freund Ybor“, in welchem ein kleiner Roboter seinem menschlichen Freund Felix hilft, über sich hinauszuwachsen. Dabei sieht sich der Elfjährige gegenüber der großen Schwester benachteiligt und von seinem Klassenkameraden Angus drangsaliert, wieder einmal im Hintertreffen, als es um die Teilnahme seiner Klasse an einem Robotik-Wettbewerb geht.

Schließlich würden sie ohnehin den Roboter von Angus nehmen, der sich mit dem Geld seines Vaters stets das Beste und Neueste leisten kann. Als sein Vater jedoch einen Blechroboter von der Arbeit mit nach Hause bringt und dieser schließlich von den Klassenkameraden zur Teilnahme ausgewählt wird, ändert sich alles. Bis Ybor plötzlich verschwindet. Schon da muss Felix über sich hinauswachsen. Ohne zu ahnen, dass seine größte Herausforderung noch bevorsteht.

Dieses feine Kinderbuch kommt zunächst in ruhigen Tönen daher und schafft gleich zu Beginn einen sympathischen Zugang zu den beiden Hauptprotagonisten, die einander kennenlernen und dem menschlichen Part nach und nach aufzeigen, dass nichts in Stein gemeißelt ist, auch und schon gar keine Rangordnung in Klassenzimmer, dass es sich lohnen kann, mutig zu sein. Ohne erhobenen Zeigefinger, in klarer Sprache, baut der Autor dabei nach und nach seine Figuren auf und versieht sie mit Ecken und Kanten. Die junge Leserschaft darf hinter die Kulissen schauen. Auch scheinbare Antagonisten haben nachvollziehbare Gründe für ihr Handeln. Auch innerhalb dieser überschaubaren Seitenzahl der leicht zugänglichen Kapitel handelt niemand einfach so.

Der Autor nimmt seine junge Leserschaft, von der man sich nur wünschen kann, dass sie zahlreich werden möge, ernst und erzählt eine Geschichte von wenigen Tagen, in denen sein Protagonist nicht nur Ängste überwinden muss. Dabei wechseln stets ruhige mit spannungsreichen Momenten ohne unlogische Brüche oder Längen entstehen zu lassen. Das führt wiederum dazu, dass man auch als Erwachsener nicht gelangweilt wird. Ein kleiner Kinderroman, der sich gut zum Vorlesen eignet, ist „Mein Freund Ybor“ auch.

Der psychische Wandlungsprozess der Hauptfigur ist schön gestaltet, ebenso wie die Zeichnungen, die die Erzählung illustrieren und ebenso Kintings Feder zuzuschreiben sind. Für Kinder nachvollziehbar ist die Geschichte durch die aufgebauten Szenarien. Viele werden wohl den Klassenbully kennen, schulische Wettbewerbssituationen oder, wenn sonst nichts schief geht, große nervige Geschwister. Mehr braucht es nicht für ein Abenteuer, oft genügen diese Faktoren jedoch für Herausforderungen, die für Erwachsene vielleicht nicht gerade groß, für Kinder manchmal um so mehr unüberwindbar scheinen.

Dies in kindgerechter Sprache zu verpacken, ohne moralische oder andere Holzhammer auszupacken, ist in „Mein Freund Ybor“ gelungen. Manche Elemente mögen bekannt vorkommen, aber das macht nichts, wenn das Gesamtpaket stimmt. Wen das nicht reicht, der kann sich dann selbst einen kleinen Roboter basteln. Die Anleitung für Ybor wäre auf der Autoren-Seite zu finden.

„Mein Freund Ybor“ ist ein liebevolles Kinderbuch, welches nicht nur seinen Protagonisten über sich hinauswachsen lässt. Nebst Sterne auch ein großes Herz dafür.

Autor:
Rüdiger wurde in Offenburg geboren und studierte Deutsche Philologie, Musik- und Erziehungswissenschaften in Heidelberg. Schon seit seiner Schulzeit schreibt und komponiert er und war zweifacher Preisträger des »Landeswettbewerbes Deutsche Sprache und Literatur Baden-Württemberg«. Seit 2015 veröffentlicht er Kurzgeschichten, Märchen und Bücher im Selfpublishing (http://www.ruedigerkinting.de). Seine Geschichten enthalten meist phantastische Elemente. Hauptberuflich arbeitet Rüdiger in einer Digitalagentur in Mannheim.

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Lize Spit: Der ehrliche Finder

Inhalt:

Seit er vor einem Jahr in Bovenmeer angekommen ist, sitzt Tristan in der Schule neben Jimmy, der klüger und einsamer ist als alle anderen und es sich zur Aufgabe macht, Tristan Ibrahimi durch das Schuljahr zu begleiten. Denn der hat nicht nur einen Krieg erlebt und eine Flucht durch ganz Europa, sondern er hat auch das, wonach Jimmy sich am meisten sehnt: eine intakte, große Familie, die Halt und Geborgenheit bietet.

Gemeinsam bauen sie sich eine eigene Welt voller geheimer Orte und einer Sprache, die beide verstehen, eine Welt, in der Freundschaft möglich ist. Bis jemand eine Entscheidung trifft, die nicht nur ihre Welt gefährdet und Jimmy und Tristan alles abverlangt. (Klappentext)

Rezension:

Seine Sammlung kennt er auswendig und für Tristan hat Jimmy ebenfalls eine eigene begonnen, schließlich ist er Experte für Flippos, Sammelbildchen, die sich in Chips-Tüten befinden. Ihm selbst fehlen nur noch wenige. Tristan ist sein bester Freund, genauer, sein einziger.

Welch ein Glück, dass sie in der Klasse nebeneinander sitzen, so kann der drei Jahre jüngere ihn, der aus den Kosovo flüchten musste, durch den Schulalltag helfen und er selbst bekommt wenigstens bei seinem Freund zu Hause das Gefühl von echter Familie. Doch ein Brief zerreißt die Idylle. Tristan und seiner Familie droht die Abschiebung. Ein Plan dagegen muss also her. Der ist schnell gefunden. Doch, was passiert, wenn sich Verhältnisse umkehren?

Normalerweise waren sie einander völlig ebenbürtig, doch jetzt, wo Jetmira sich eingemischt hatte, war zwischen ihnen plötzlich ein Unterschied entstanden. Jetmira hatte Tristan größer gemacht, während Jimmy nur noch kleiner geworden war.

Lize Spit: Der ehrliche Finder

Dieser feine kompakte Roman aus der Feder der niederländischen Schriftstellerin Lize Spit ist Schicksalserzählung und Coming-of-Age-Geschichte zugleich. In „Der ehrliche Finder“ beschreibt sie ein Abhängigkeitsverhältnis, welches sich urplötzlich umkehrt und Abläufe ins Rollen bringt, die nicht nur eine Freundschaft gefährdet, von der man gleich zu Beginn ahnt, dass sie einseitig ist, sondern auch Folgen hat, die die kleinen Protagonisten schnell nicht mehr unter Kontrolle haben werden.

Im Spagat zwischen Erzählung und Jugendbuch bewegend behandelt die Geschichte eine hochaktuelle Thematik und steuert mit hohem Tempo auf ein finales Ereignis zu, welches man intuitiv erahnt, nicht lesen zu wollen und doch nicht umhin kann, an den Figuren und ihren Handlungen dran zu bleiben.

Besonders die zwei Hauptpersonen sind stark gezeichnet, altersgerecht beschrieben, wobei ein Positionswechsel zum Handlungsgegenstand wird, der einem schlucken lässt. Jimmy als Jüngerer, genießt es, einen Freund zu haben, zu helfen, während Tristan später nicht anders kann als in die Enge getrieben, zum Spielball seiner Pläne werden zu lassen. Mit wenigen Worten hat es die Autorin hier geschafft, eine unter die Haut gehende immerwährende Spannung zu erzeugen.

Er würde nicht würgen, das musste er schaffen.

Lize Spit: Der ehrliche Finder

Der Zeitraum der Handlung sind nur wenige Stunden, die alles im Leben der beiden Jungen verändern. Innerhalb weniger Kilometer, für Jimmy die ganze Welt, spielt sich ein Drama ab, welches auf eine Katastrophe zusteuert.

Der Roman wird dabei aus Jimmys Sicht erzählt, der mit seiner Mischung aus Intelligenz und an Naivität grenzender Gutgläubigkeit für seinen Freund eigene Grenzen überwindet, schließlich war der gezwungen gewesen, zu Fuß halb Europa zu durchqueren. Doch bekommen beide Protagonisten in der Geschichte ihre Momente.

Bis auf eine Nebenfigur bleiben die anderen vergleichsweise blass. Die Kinder sind sich die meiste Zeit selbst genug, haben ja auch niemand anderes, in der einen oder anderen Art und Weise und doch schimmern zwischen den Zeilen tausend Gegensätze. Gerade wegen dieser Kombination ist „Der ehrlicher Finder“ berührend lesenswert.

Jimmy bekam keinen Daumen, keinen Daumen, keinen Ball, keine Münze. Keiner dieser Leute schien wirklich zu wissen, wer er war. Oder vielleicht wussten sie es schon […].

Lize Spit: Der ehrliche Finder

In sich schlüssig ist die Handlung und die Beweggründe der Protagonisten sind nachvollziehbar, ohne das sich unlogische Sprünge auftun. Dies gilt sowohl für das Verhalten der beiden Jungen als auch in Sprache und Ausdruck, sowie Denken.

Genug Geschichten, von denen der dieser traurige Roman inspiriert sein könnte, gibt es ja zu Hauf. Und so ist zwischen schmalen Buchdeckeln eine große Erzählung mit wenigen Worten entstanden, deren Clou vor allem am Ende in einem halb offenen Ende zu finden ist, welches je nach Gemütslage oder Position der Lesenden mindestens drei Interpretationen zulässt.

Nicht nur diese Wirkung hat die Übersetzerin Helga van Beuningen wunderbar ins Deutsche übertragen und so diesen wichtigen und quer durch die Altersgruppen lesenswerten Text von Lize Spit hierzulande zugängig gemacht.

Autorin:

Lize Spit wurde 1988 geboren und ist eine flämisch-belgische Schriftstellerin. Sie studierte in Brüssel am Königlichen Institut für Theater, Kino und Ton und gewann 2013 den Write Now! Award. Neben Romanen, für die u. a. mit den Preis des niederländischen Buchhandels ausgezeichnet wurde, schreibt sie Drehbücher und Kurzgeschichten. Lize Spit wird in über 15 Sprachen übersetzt.

Interview des S. Fischer Verlags mit der Autorin: Hier klicken.

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Wiebke von Carolsfeld: Das Haus in der Claremont Street

Das Haus in der Claremont Street Book Cover
Das Haus in der Claremont Street Wiebke von Carolsfeld Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 10.09.2020 Seiten: 361 ISBN: 978-3-462-05475-0 Übersetzerin: Dorothee Merkel

Inhalt:

Wie überlebt man das Undenkbare? Tom weigert sich zu sprechen, nachdem seine Eltern auf brutale Weise sterben.

Seine unfreiwillig kinderlose Tante Sonya nimmt ihn auf, kommt aber nicht an den traumatisierten Jungen heran. Bald ist Tom gezwungen, erneut umzuziehen, diesmal in die Claremont Street in der Innenstadt von Toronto, in der ihm seine liebenswert-chaotische Tante Rose und sein Weltenbummler-Onkel Will ein Zuhause geben.

Mit der Zeit wird Toms Schweigen zu einer mächtigen Präsenz, die es dieser zerrütteten Familie ermöglichst, einander zum ersten Mal wirklich zu hören. Ein Roman darüber, wie mit viel Humor und Liebe selbst aus den schlimmstmöglichen Umständen etwas Positives erwachsen kann. (Inhaltsangabe Verlag)

Rezension:

„Wir sterben.“ Mit letzter Kraft sind es diese Worte, die dem kleinen Hauptprotagonisten über die Lippen kommen. Dann lange nichts. Tatsächlich ist dieses Debüt, welches mit einem lauten Knall beginnt, ein zutiefst mitfühlendes, auch verstörendes Porträt, eine ansonsten ruhige, dafür um so düstere Erzählung, die nun aus der Feder Wiebke von Carolsfelds vorgelegt wird.

Hauptprotagonist und Mittelpunkt der Geschichte ist ein kleiner Junge, der unschuldiger nicht sein könnte und auf dessen kleinen Schultern nun die Last liegt, eines der schlimmsten Vorkommnisse innerhalb von Familien erlebt zu haben. Zuerst ist der Schmerz da. Sehr viel später wird die Trauer folgen, doch Tom schweigt zunächst, lässt niemanden an sich heran. Warum denn auch? Ist doch eh alles vorbei.

Tom packte sich eine Tonscherbe, die von der Wand abgeprallt und direkt neben seinem Fuß gelandet war. Mama hatte diese Tasse geformt, hatte seinen Namen in den feuchten Ton geschrieben. Aber Tom konnte sich nicht mehr an die Konturen ihrer Hände erinnern. Angewidert schloss Tom seine Finger zur Faust und genoss den Schmerz, den der scharfe Splitter ihn bereitete. Je fester er drückte, je tiefer der Schnitt, desto besser.

Wiebke von Carolsfeld „Das Haus in der Claremont Street“

Herzzerreisend lesen sich die Zeilen, in klarer einnehmender Sprache geschrieben, um diese chaotische Familie, deren Zuhause in glücklichen Tagen ein liebevolles wäre, doch nun versucht jeder Protagonisten das Unbegreifbare zu fassen. Nichts ist schwarz oder weiß in diesem Roman, mit jeder Zeile gleitet man tiefer in die Seelenleben der handelnden Personen, die wechselhaft sympathisch agieren, doch innerhalb des erzählten Schicksallschlags völlig logisch, manchmal kopflos.

Wechselhaft ist die Perspektive, über ein Jahr begleiten wir Tom und das, was von der Familie übrig geblieben ist. Wie trauern wir? Wie gehen wir mit der Trauer anderer Menschen um? Wie können wir einander beistehen, nahe sein, wo wir doch vielleicht selbst Halt brauchen? Ist es möglich, einander zu verstehen? Zu begreifen? Heilt die Zeit alle Wunden?

Tom streckte seine Hand aus, um näher an die rot glühenden Kohlen zu kommen. Er würde die Hand nicht zurückziehen, er würde es schaffen, den Kurs zu halten und diese Sache hier zu Ende zu bringen, die er angefangen hatte.

Wiebke von Carolsfeld „Das Haus in der Claremont Street“

Fragen werden aufgeworfen, in diesem relativ kompakten Roman, die nicht einfach zu beantworten sind. Sofern dies überhaupt möglich ist. daran entlang hangelt sich die Autorin und lässt ihre Protagonisten einen langen steinigen Weg gehen, der für jeden von ihnen unterschiedliche Fallstricke bereithält.

Mehr oder weniger geschickt, meistern diese das Bevorstehende, um das Zurückliegende zu begreifen. Der Lesende wird in die Handlung hineingezogen. Klare Sprache, in einem ruhigen und der Thematik angemessenen düsteren Handlungsrahmen.

Kleine Momente des Glücks blitzen auf. Mit Witz treten sie an der Oberfläche, um zunächst so schnell zu verschwinden, wie sie gekommen sind. Die Zeit bringt es mit sich, dass sie zahlreicher werden. Wird es ihnen am Ende gelingen, eine Art Abschluss zu schaffen?

Eine Erzählung über Trauer, Auseinandergehen und Zusammenhalt, Hilfe und Verarbeitung, darüber, was Familie wirklich bedeuten kann. Schon alleine deshalb ist Wiebke von Carolsfelds Roman einer der ganz großen, die es verdient haben, bekannter zu werden.

Kinder sind am Anfang eines solchen Weges die Schwächsten, können jedoch, wenn alle Umstände günstig liegen, am stärksten aus einem solchen Schlag hervorgehen. Die Autorin zeigt das mit sehr viel Einfühlungsvermögen, so dass ich einen allzu kitschigen Absatz gegen Ende gern überlesen habe. Unbedingt lesenswert.

Autorin:

Wiebke von Carolsfeld wurde 1966 in Deutschland geboren und lebt als Filmeditorin, Regisseurin und Drehbuchautorin in Montreal. Als Cutterin gewann sie zahlreiche Preise und gibt zahlreiche Kurse über das Drehbuchschreiben, Filmemachen und den kreativen Prozess. 2002 wurde sie für den besten Schnitt für den Genie Award nominiert. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch machte sie zuvor eine Ausbildung zur Verlagskauffrau. Dies ist ihr erster Roman.

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Kristina Palten: Allein durch den Iran

Allein durch den Iran Book Cover
Allein durch den Iran Kristina Palten Erschienen am: 08.04.2020 Kiepenheuer & Witsch seiten: 344 ISBN: 978-3-462-05412-5 Übersetzer: Paul Berf

Inhalt:

Kristina Palten ist 31, als sie zum ersten mal das Laufen für sich entdeckt. Nach einer Lebenskrise steigert sie ihr Pensum und bricht als Ultraläuferin alle Rekorde.

Doch auch das reicht ihr irgendwann nicht mehr: Sie will ihre eigenen Vorurteile und Ängste besiegen und allein durch den Iran laufen. Mit ihrer Geschichte zeigt uns Kristina Palten, was möglich ist, wenn wir unsere Angst überwinden. (Klappentext)

Rezension:

Undurchsichtig ist für die meisten Menschen in Europa dieses Land zwischen Kaspischen Meer und Persischen Golf, ein Hort der Unterdrückung und eine Quelle des Bösen für die anderen. Doch, wie ist es den Iranern von heute in ihrem Land zu begegnen, sich einzulassen auf eine uns fremde Kultur und Lebensweise?

Kristina Palten hat den Blick über den Tellerrand gewagt und sich selbst ein Bild gemacht. So weit die Füße tragen, läuft die gelernte Ingenieurin, die zuvor ihre Stelle bei einem schwedischen Mobilfunk- und Technikkonzern aufgegeben hatte, um sich vollkommen ihrem Hobby zu widmen. Über 1800 km sind es, quer durch das Reich der Mullahs, von der türkischen bis zur turkmenischen Grenze.

Die Läuferin berichtet von einer Strecke, die ihr alles abverlangte, zugleich jedoch zeigte, dass die Wirklichkeit vielschichtiger ist, als es uns die Medienwelt mitunter vorgaukelt.

Unter den Eindruck von Veränderungen in Arbeits- und Privatleben, beginnt Palten die planungen für ihre Reise, die sie umsichtig betreibt und ausführlich beschreibt. Welche Vorsichtsmaßnahmen sind zu treffen, wie Streckenabschnitte, Übernachtungen zu koordinieren?

Wird man sie als alleinstehende Frau überhaupt unbehelligt laufen lassen, in einem Land, welches unter den Deckmantel der Religion das Leben seiner Bürger kontrolliert? Wird sie frei mit den Menschen, auf die sie trifft agieren können? Wen kann sie überhaupt vertrauen?

Mit diesen und anderen Fragen und einen vollbepackten als Gepäckhilfe missbrauchten Kinderwagen beginnt sie im Spätsommer ihre Reise, die erst zwei Monate danach am anderen Ende des Landes beendet sein wird. Und trifft dabei auf Menschen, die ein völlig anderes Bild vermitteln, als sie es selbst vor ihrer Reise hatte.

Gastfreundschaft und Neugier begegnen der Schwedin, der überall Unterkunft gewährt und Begeisterung für ihr Vorhaben, welches sie ohne offizielle Genehmigung von staatlichen Stellen umsetzt, entgegen gebracht wird. Auch die andere Seite des Gottesstaates bekommt sie natürlich zu spüren, doch mit Unterstützung von Freunden gelingt ihr etwas, was den meisten iranischen Frauen nicht vergönnt sein wird.

Es ist das beeindruckende Portrait einer Frau, welches hier in Tagebuchform veröffentlicht wurde. Kristina Palten zeigt, wie leicht es sein kann, den Blick über den Tellerrand hinaus zu öffnen, aber auch, welche Grenzen dem immernoch in unserer Welt gesetzt sind.

Die Läuferin beschreibt ihre Reise, setzt dabei den Fokus auf die Tätigkeit und vor allem, auf die Menschen, denen sie begegnet. Palten zeigt, wie es ihr gelang, Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen und in welchem Zwiespalt sich die Menschen bewegen. Einfühlsam beschreibt sie in klaren Sätzen Erlebtes, Trauriges, Ernüchterndes und Hoffnungsvolles. Schwedische Gelassenheit und Grundoptimismus traf hier auf Neugier, Offenheit, mancherlei Grenzen.

In kurzweiligen Kapiteln zeigt die Autorin jedoch, was möglich ist, wenn man Mut beweist und einander vertraut. Wenn dies gelingt, ist schon viel gewonnen.

Der Film:

Auf Teilstrecken wurde Kristina Palten von einem Kameramann begleitet. Viel filmte sie zudem selbst. Daraus entstand ein Film über einen sehr besonderen Lauf. Diesen kann man downloaden und ansehen. Hier klicken.

Trailer zum Film über Paltens Lauf durch den Iran.

Mehr Informationen, hier. Über Kristina Palten, hier klicken.

Autorin:

Kristina Palten wurde 1971 in Nordschweden geboren, ist eine Ingenieurin und hält mehrere Rekorde in Marathon- und Ultraläufen. Mit dem Plan, Ängste und Vorurteile abzubauen ist sie knapp zwei Monate, nachdem sie ihren Job aufgegeben hatte, um sich vollkommen dem Laufen zu widmen, 1840 km durch den Iran gelaufen. Von der türkischen bis zur turkmensichen Grenze.

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Sasha Filipenko: Rote Kreuze

Rote Kreuze Book Cover
Rote Kreuze Autor: Sasha Filipenko Diogenes Erschienen am: 26.02.2020 Seiten: 288 ISBN: 978-3-257-07124-5 Übersetzerin: Ruth Altenhofer

Inhalt:

Alexander ist ein junger Mann, dessen Leben brutal entzwei- gerisssen wurde. Tatjana Alexejewna ist über neunzig und immer vergesslicher. Die alte Dame erzählt ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte, die das ganze russische 20. Jahrhundert mit all seinen Schrecken umspannt.

Nach und nach erkennen die Beiden ineinander das eigene gebrochene Herz wieder und schließen eine unerwartete Freundschaft, einen Pakt gegen das Vergessen. (Klappentext)

Rezension:

Nach Tolstoi und Dostojewskij darf man sich die Frage stellen, wie geht russische Literatur eigentlich heute? Zumal der Blogschreiber kaum etwas anderes kennt als Lukianenko oder Glukhovsky, vom letzteren Schreiberling nicht ganz so begeistert war, wie vom ersteren. Wobei, Viktor Jerofejew vermochte zu faszinieren. Nun, also Sasha Filipenko.

Erstmals ins Deutsche übersetzt erzählt der weißrussische Schriftsteller, der auf russisch veröffentlicht und heute in St. Petersburg lebt, von der Begegnung zweier Menschen, die sich nach und nach das Trauma ihrer jeweiligen Leben von der Seele sprechen, dabei nach und nach Vertrauen zueinander finden.

Der zweiperspektivische Roman fokussiert sich ganz auf die beiden protagonisten. Die Eine, über neunzig Jahre alt, erzählt von der Angst, innerhalb eines Regimes zu leben und ein Leben lang auf der Suche zu sein, der andere muss gleichsam ein Drama in seinem noch jungen Leben verarbeiten.

Das Aufeinandertreffen der Beiden ist für die Eine ein Abschluss, für den Anderen der Punkt, über den Sinn des Lebens nachzudenken. So viel zum Inhalt. Mehr sei nicht verraten.

Wie oft begegnen wir einander im Treppenhaus und wissen doch so gut wie nichts, voneinander? Einerseits schön, man kann praktisch überall von Neuem an beginnen, andererseits fehlt die Gemeinschaft in einer immer mehr vereinsamten Gesellschaft.

Dieses Thema als oberflächlicher Aufhänger, nutzt Filipenko geschickt, um ein anderes aufzugreifen, was weder in seiner Geburtsstadt Minsk einfach sein dürfte, noch in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er übt Kritik am Geschichtsverständnis beider Länder, deren obere Zehntausend stetig versuchen, die Deutungshoheit zu gewinnen und umzukehren, und rüttelt dabei an Grundfeste.

Während in den Neunziger Jahren noch Archive geöffnet wurden, von Behörden, Geheimdiensten und anderen Institutionen, stehen Recherchierende heute oftmals vor verschlossenen Türen.

Subtil arbeitet sich der Autor daran ab, zumindest seine Leser mitzunehmenund einem Funken der Geschichte aufzugreifen, der heute in Teilen Russlands zu gerne umgedeutet wird. Kritik ist nicht gerne gesehen, doch sowohl Filipenko als auch seine Hauptprotagonistin Tatjana Alexejewna legen ihre Finger in noch nicht längst geschlossene Wunden.

Erzählerisch nimmt der stetige Perspektivwechsel die Position zweier unterschiedlicher Pole ein, die zum Einen Spannung verursachen, im passenden Moment wieder beruhigen.

Das ist notwendig, um nicht in der Falle der Übertreibung zu gelangen und doch einen Spannungsbogen zu schaffen, der einem den Atem gefrieren lässt. Und dies auf, um den Bogen zur klassischen russischen Literatur a la Tolstoi wieder zu schaffen, vergleichsweise wenigen Seiten.

Wenn es überhaupt einen Kritikpunkt gibt, ist diese Stärke zugleich die Schwäche seines Romans. Beim Lesen würde man vielleicht gerne mehr erfahren über die beiden Protagonisten, die einem Seite für seite ans Herz wachsen. Sasha Filipenko beschränkt sich jedoch auf’s Wesentliche.

Auch gut.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine satire-Show und Fernsehmoderator.

Dies ist sein erster Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde.

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