Veränderung

Thore D. Hansen: Taupunkt

Inhalt:

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hat Wissenschaftler Tom Beyer das auch im Weltklimarat umstrittene Phönix-Programm entwickelt, das schwerste Eingriffe in das gewohnte Leben der Menschen nach sich ziehen würde. Kein Wunder, dass die Regierungen der Welt nichts davon wissen wollen.

Frustriert zieht sich Tom nach Deutschland zurück, wo er mit seinem Forderungskatalog an die Öffentlichkeit tritt. Damit löst er eine mediale Hetzjagd aus, die sogar sein Leben bedroht. Auch der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt mit Toms Bruder Robert spitzt sich zu. Robert ist Großlandwirt in Norddeutschland, sein Land leidet unter der Dürre, er sieht seine wirtschaftliche Existenz bedroht und verliert sich in Verschwörungstheorien.

Doch dann verändert eine nie da gewesene Hitzewelle den lauf der Geschichte. Alleingelassen auf Roberts Hof, kämpft Familie Beyer ums physische Überleben und muss sich ihren Dämonen stellen. Die Trümmer vor Augen, wissen alle, dass etwas geschehen muss … (Klappentext)

Rezension:

Unser Klima verändert sich in einem atemraubenden tempo. Irgendwann wird diese Geschwindigkeit so sehr überhand nehmen, dass wir laufen müssen, um nicht zurückzubleiben. Das erfordert schon heute Maßnahmen im Kleinen wie Großen.

Die wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten stehen uns zur Verfügung, zumindest in den Industrienationen auch das dafür notwendige Know How und Geld. Nur, die politischen Entscheidungsträger agieren zu zögerlich, entweder da sie um die nächste Wiederwahl fürchten oder von Wirtschaft und Lobbyismus getrieben, praktisch wissend der Katastrophe entgegengehen. Nur, wozu führt das?

Der vorliegende Roman aus der Feder des Politikwissenschaftlers und Soziologen setzt einige Jahre danach an, nicht mehr weit, fürchtet man berechtigterweise beim Lesen und führt uns vor Augen, was es bedeutet, wenn alle notwendigen Maßnahmen soweit aufgeweicht wurden und zwangsläufig gescheitert sind, dass auch Mitteleuropa mit den unmittelbaren Wandel des menschengemachten Klimawandels zu kämpfen hat.

Kurzweilig und auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basierend entwirft der Autor ein Szenario, wie es eintreten könnte. Waldbrände an vielen Stellen in Deutschland gleichzeitig, dicht aufeinanderfolgende Dürreperioden, die auch hier Maßnahmen wie das Abstellen und Rationieren von Trinkwasser notwendig machen, flächendeckende Triage in Krankenhäusern, die aufgrund von dehydrierten Menschen vollkommen überlastet sind.

Dies ist der Raum in dem sich die Handlungsstränge dieser modernen Dystopie bewegen. Einerseits verfolgen wir hier dem Weg des Wissenschaftlers, der sowohl auf taube Ohren bei der Politik als auch bei der Öffentlichkeit stößt, die die Wahrheit nicht erträgt, andererseits mit den Dämonen der eigenen Familie. Toms Bruder ist als Landwirt direkt betroffen, bekommt die Auswirkungen unmittelbar zu spüren und leugnet dennoch, was er sieht.

In diesen Sphären bewegen wir uns im Laufe der Geschichte, in der Perspektive von Kapitel zu Kapitel wechselnd. Sehr sachlich ist das immer dann, wenn der Autor einem seiner Hauptprotagonisten praktisch “Fachvorträge” in den Mund legt.

Die Dynamik in der Geschichte entsteht jedoch vor allem durch die Konfrontation der Gegensätze in Form der unterschiedlichen Ansichten der Figuren. Wohltuend ist es, dass sich der Autor nicht nur bemüht hat, eine Seite auszuformulieren. Man kann die Gründe für das Denken der Gegenseite, hier in Figur von Toms Bruder, dadurch zumindest nachvollziehen.

Das gleicht entstandene Längen aus, führt dazu, dass man die spannende Geschichte weiterverfolgt, die innerhalb eines Zeitraums von wenigen Wochen spielt.

Auch das Wechselspiel zwischen den handlungsorten, der weltpolitischen Bühne des Weltklimarats, der Großstadt Berlin und der ländlichen Einöde tragen maßgeblich dazu bei, dass die Erzählung nicht kippt, sondern immer neue Punkte hineinbringt, die auch konsequent weiterentwickelt werden.

Der Autor hat sich in diesem Roman auf wenige Figuren konzentriert, diese auszugestalten, und zeigt dennoch gleichermaßen damit die Dramatik im Großen wie Kleinen gleichermaßen auf, während Nebenfiguren relativ blass bleiben. Diese spielen jedoch auch keine so große Rolle, als dass das entscheidend wäre. Die eine gewichtige Rolle spielenden Gegensätze sind nicht nur anhand dieser aber sehr minutiös ausgearbeitet, gerade das macht die Handlung oder die Entscheidungen der Figuren jedoch glaubhaft.

Mit den Figuren wechselt auch die erzählerische Perspektive. Fakten werden innerhalb der eingearbeiteten Vorträge eingebracht. Alleine für dieses Zusammentragen von Informationen, der plastischen Beschreibung, was dies gerade für Deutschland bedeuten kann, muss man dem Autoren Respekt zollen.

Beim Lesen hat man den Eindruck, dass Hansen immer wieder den Finger in die Wunde legen wollte, um aufzuzeigen, dass das, was heute gar nicht oder nur mit Lethargie angegangen wird, uns eines Tages auf die Füße fallen könnte, und nie dagewesene Maßnahmen erfordern würde. Und dafür ist ein Roman vielleicht die geeignetere Form. Einen solchen liest man eher als ein trockenes Sachbuch.

Der Roman ist mit all diesen Punkten sehr schlüssig, dazu spannend geschrieben. Interessant ist zudem das halboffene Ende, was zwar in seiner Ausgestaltung nicht verraten werden soll, aber auch hier wieder ein Fingerzeig des Autoren und vieler Wissenschaftler darstellt. So könnte es aussehen, wenn wir nicht aufpassen. Bei uns und nicht irgendwo anders auf der Welt, wo uns das “egal” sein könnte. Das wirkt unglaublich stark.

Ab Mitte der Erzählung gewinnt der Roman zudem gehörig an Erzähltempo, welches einem noch mehr in dieses Szenario hineinzieht, als man das zu Beginn des Lesens vielleicht ahnt. So schnell wie die Kapitel hochzählen, passend in Grad Celsius angegeben, die Anzeige des Thermometers klettert unerbittlich, so fix scheinen sich die Befürchtungen des einen Protagonisten zu bewahrheiten, wie auch ein immer bedrohlicher werdender Unterton im Text den Raum einnimmt.

Da das alles in Deutschland spielt und nicht irgendwo anders kann man sich als hier lebender Lesender gut vorstellen, wissen wir doch um staubtrockene Böden in Ostdeutschland, stetig steigende Waldbrandgefahr im Hochsommer oder Niedrigpegel in Flüssen, die für die Binnenschifffahrt oder zum Betrieb von Kraftwerken wichtig sind. Auch wegen Hitze strapazierte Straßen gab es hierzulande ja schon.

Thore D. Hansens Szenario lässt nachdenklich zurück. Möchten wir wirklich so etwas wie dieses erleben oder sollten wir nicht endlich etwas tun, klein im Privaten, groß in der Gemeinschaft. Wer mit wissenschaftlichen Studien nichts anfangen kann, diese schwer zugänglich findet, ist mit diesem wissenschaftlich unterfütterten Roman gut bedient, um Ansätze zu finden, wegen des Warums. Danach ist es vielleicht einfacher, sachlich über das Wie zu diskutieren. Wenn dazu Thore D. Hansens Text beitragen kann, ist viel gewonnen.

Autor:

Thore D. Hansen wurde 1969 geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er studierte zunächst in Hamburg und Boston Politikwissenschaft und Soziologie, bevor er für verschiedene Tageszeitungen und Magazine in Europa zu arbeiten begann. Stationen waren u. a. Deutschland, Österreich und Spanien. Für das Magazin Tomorrow begleitete er den Aufstieg und Fall der New Economy 2001 als Wirtschaftsredakteur, bevor er als Pressesprecher verschiedener Banken arbeitete. Seit 2010 ist er vorwiegend als Schriftsteller tätig. Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland ist er seit 2019.

Nach verschiedenen Arbeiten, etwa zu den Geheimdiensten oder zur Hochfinanzkrise, veröffentlichte er 2017 die Einordnung der Biografie Brunhilde Pomsels, welche die Sekretärin Joseph Goebbels gewesen ist. Basierend auf 30 Stunden Interviewmaterial des gleichnamigen Dokumentarfilms (“Ein deutsches Leben”) nimmt er in einen historischen Vergleich Analogien der Gegenwart auf.

Immer wieder verarbeitet Hansen so hochaktuelle und diskutierte Themen in seinen Werken.

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Thor Hanson: Von schrumpfenden Tintenfischen und windfesten Eidechsen

Inhalt:

Was haben geschrumpfte Humboldt-Kalmare, Eidechsen im Windkanal und erblasste Korallen gemeinsam? Sie alle haben sich im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe gewandelt. Die einen Arten sind damit heute Profiteure der Krise, die anderen zusehends vom Aussterben bedroht.

Feinfühlig, mit großer Neugier und einem seltenen Auge für Details, erzählt der Biologe und Feldforscher Thor Hanson die oft im verborgenen liegenden Geschichten über Hoffnung, Widerstandsfähigkeit und die Risiken, die mit den rapiden Änderungen unserer Umwelt einhergehen. Denn während wir Menschen noch über den Klimawandel diskutieren, musste die Natur längst auf ihn reagieren – und ihre Antworten sind ebenso beunruhigend wie auch faszinierend. (Klappentext)

Rezension:

In Teilen der Welt ist der Wandel des Klimas auch für uns Menschen längst spürbare Alltagsrealität geworden, die sich vor allem in immer häufigere und extreme Wetterwechsel manifestiert, doch ein Großteil von uns sinniert immer noch über Lösungsstrategien für die Zukunft. Nicht immer ganz so flexibel mussten einige Tier- und Pflanzenarten schon längst darauf reagieren. Der amerikanische Biologe Thor Hanson beobachtet seit Jahren die Veränderungen der Natur in seiner Heimat und der Welt, und stellt fest, unzählige Arten sind schon längst dabei, Strategien zu entwickeln. Es geht um nichts weniger als das nackte Überleben.

Zunächst jedoch wirft der Autor einen Blick in die Geschichte und stellt dabei sehr verdichtet mehrere Hauptursachen dar, dessen, was wir heute als ausschlaggebend für den Klimawandel ansehen. Das beginnt bei der Entdeckung von Kohlenstoffdioxid und seiner Wirkung über die Zusammensetzung der Atmosphäre und ihrer in der Erdgeschichte fortlaufenden Veränderung, bis hin zu der durch unseren technologischen Wandel verursachten Beschleunigung, mit der wir in naher Zukunft selbst zu kämpfen haben werden. Niederschwellig werden hier Ursache und Wirkung erklärt.

Zugleich erklärt Hanson seinen Hintergrund, der im Laufe der Jahre von der Naturschutzbiologie hin zum immer wichtiger werdenden Thema Klimawandel seine eigenen Beobachtungen anstellte.

Dieser liegt in die Betrachtung der Reaktion der umgebenden Tier- und Pflanzenwelt, den Austausch mit anderen und verwandten wissenschaftlichen Disziplinen, um die Auswirkungen dieser auf den Papier sehr theoretischen Materie zu verstehen. Hier beginnt der Biologe sehr schnell mit Beispielen diese Problematik zu veranschaulichen, die sonst so sehr abstrakt bleibt.

Welche Risiken ergeben sich etwa, wenn sich Insekten schneller an durchschnittlich wärmere Temperaturen anpassen als die Pflanzen, die sie bestäuben? Wie reagiert Fauna, wenn die natürlichen Verbreiter ihrer Samenkörner verschwinden und welche Möglichkeiten der Flexibilität bleibt in einer immer mehr unbeständigeren Welt?

So vielfältig wie die Natur, so unterschiedlich sind die Lösungsstrategien, die der Autor der Übersicht halber in kurzfristige und langfristige unterteilt und ihre Vor- und Nachteile unter verschiedenen Gesichtspunkten darstellt. Mit welchem Grundproblem konfrontiert, begegnet man am besten mit welcher Strategie und sichert diese wirklich längerfristig das Überleben? Ist Spezialisierung oder Opportunismus das Ideal? Gibt es einen Königsweg?

Welche neuen Fragen oder Problemstellungen werden dadurch aufgeworfen? Welche Folgen hat der Klimawandel schon jetzt und auch in Zukunft für die Tier- und Pflanzenwelt, abseits unserer Modellierungen?

Thor Hanson verfällt dabei nicht in den allseits umgreifenden Alarmismus, sondern analysiert sehr nüchtern, was war und stellt den Ist-Zustand dar, sehr fasziniert von seinen Beobachtungsgegenständen. Er zeigt an Beispielen, wie die Natur mit Veränderungen umgeht und warum es sich auch für uns lohnen sollte, Strategien und Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel und mit den nicht mehr unumkehrbaren Auswirkungen, zu entwickeln. Diese wiederum sind bereits vielfach Gegenstand anderer Literatur. Der Autor behält stringent seinen Fokus bei, der nur mit noch mehr spannenden Beispielen aus der Tier- und Pflanzenwelt hätte gespickt sein können.

Diese hat der Biologe in beide Richtungen, sowohl für geglückte als auch fehlgeleitete Strategien, die einmal mehr die Vielschichtigkeit der Problematik verdeutlichen, ohne den erhobenen Zeigefinger oder die Holzhammermethode anzuwenden. tatsächlich ist die Art der Darstellung sehr ruhig, was das Lesen erleichtert.

Fachbegriffe und Ergänzungen werden dabei in einem sehr umfangreichen Glossar und Anmerkungsverzeichnis ergänzt. Zusammen mit dem gut recherchierten Quellenverzeichnis ergibt sich ein gut zu lesendes Sachbuch, welches die Wichtigkeit der Beschäftigung mit dieser Thematik unterstreicht. Dieser Ansatz ist vor allem für jene geeignet, die mit abstrakten Modellen nichts anfangen können und einen anderen Zugang benötigen.

Die Botschaft ist von Beginn an klar: In der Natur kämpfen die Arten bereits darum, welche auch zukünftig existieren. Auch wir sollten uns langsam aber sicher die Frage stellen, ob wir dazugehören wollen.

Autor:

Thor Hanson ist ein amerikanischer Naturschutzbiologe, Umweltschützer und Wissenschaftskommunikator. Zunächst studierte er Biologie und arbeitete für ein Tourismusprojekt in Bezug auf Braunbären für den US Forest Service, nachdem er als Freiwilliger in Uganda arbeitete. Er betrieb Feldforschung zur Ökologie tropischer Bäume, Waldfragmentierung und deren Auswirkungen auf Vogelnestprädation, sowie zur Biodiversität. Er ist verantwortlich für zahlreiche Dokumentationen und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften und hat bereits mehrere Sachbücher veröffentlicht. Hanson ist Träger der John-Borrough-Medaille und des AAAs/Subaru-Science-Prize.

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Udo Lielischkies: Im Schatten des Kreml

Inhalt:

Seit Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, berichtete Udo Lielischkies als ARD-Korrespondent aus dem riesigen Land. In dieser Zeit hat er nicht nur die russische Politik, sondern auch den Wandel des russischen Lebens unter Putin hautnah miterlebt. Udo Lielischkies erzählt von seinen Erlebnissen zwischen Kreml und russischer Provinz und vor allem von den stillen Helden in den Weiten Russlands. Ein einzigartiges Bild des facettenreichen wie widersprüchlichen Landes. (Klappentext)

Rezension:

Fast zeitgleich, als Putin 1999 an die Macht kam, wechselte der ARD-Reporter Udo Lielischkies das Berichtsgebiet und begann einzutauchen, in das Leben und die große Politik des größten Landes der Erde. In seinem Sachbuch berichtet er, in der Neuauflage vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine, vom Wandel der russischen Gesellschaft, einem Staat, dessen Gesicht nun ein vollkommen anderes ist, aber auch von den Herausforderungen des Korrespondenten-Daseins, wenn nichts ist, wie es zunächst scheint.

Eingerahmt von Eindrücken des jüngsten Ereignisses beginnt der Autor das Erlebte von Beginn an, aufzurollen und zeigt die Schwierigkeiten des Reporterlebens in einem zunächst ihm unbekannten Land auf, sowie die Schnelllebigkeit der Ereignisse, die von Beginn an seine Tätigkeit bestimmte.

Dabei setzt er den Fokus auf einzelne Ereignisse, sowie auf seinen Begegnungen mit Menschen aus ganz Russland und portraitiert das Leben in Moskau ebenso, wie die Unzulänglichkeiten der Provinz, aber auch die Unberechenbarkeiten des Tschetschenien-Kriegs, das erste Geschehnis, welchem er für den ersten deutschen Fernsehsender auf den Grund gehen musste. Im Fokus dabei, neben der Einordnung politischer Entscheidungen für die Zuschauenden, immer auch die Menschen, die davon direkt betroffen waren, dabei einen vollkommenen und gefährlichen Umbau der russischen Gesellschaft zu erleben.

Kompakt reiht er Ereignis um Geschenis aneinander, zeigt die Konsequenzen auf und konzentriert sich dabei immer wieder auf einzelne Themen, wie die Gleichschaltung des einheimischen Journalismus’, sowie dem Ausschalten derer, die versuchen, so lange, wie möglich, noch ihre eigene Sicht der Dinge zu publizieren oder aber die Vereinnahmung von Ernten kleiner Bauern durch übermächtige Agrar-Konzerne mit Verbindungen, hinein in höchste politische Ebenen.

Warum sind trotz offensichtlicher Willkür und um sich greifender Korruption, spurlos verschwindender Gelder aus thematisch begrenzten Budgets, so viele Menschen immer noch für Putin? Was hält dieses Land zusammen, wo das Vertrauen nicht Weniger längst zerstört ist und Russland längst ausblutet?

Anhand von zahlreichen Beispielen gibt er Einblick in den schwierigen Alltag der Menschen, die oft das propagierte Bild im Einklang mit der Wahrheit bringen müssen, was immer schwieriger wird. Was nützt es, ständig von Erfolgen zu hören, wenn der eigene Kühlschrank leer bleibt, da Löhne und Renten nicht zum leben reichen, Dächer undicht sind und kein Zugang zu sauberen Trinkwasser vorhanden ist. Udo Lielischkies gibt jedoch auch Einblick in den schwierigen Reporter-Alltag, Recherchearbeit, Berichtsglück und der Entscheidungsfindung, was berichtet wird, wenn sich die Ereignisse mal wieder überschlagen.

Doch nicht die großen Eindrücke sind es, die diese Rückschau so interessant macht, sondern die zahlreichen dokumentierten Begegnungen, vor allem mit Menschen, die die Differenzen sehen, jedoch nicht gegen die Allmacht des Staates und seiner Anhängel ankommen. Einmal mehr gilt der Spruch, Russland schert sich nicht um das Lebensglück seiner Menschen. Fasslungslos nimmt man das Beschriebene auf, welches zudem durch umfangreiches Quellenmaterial unterfüttert wird, welches der Autor hintenan stellt.

Udo Lielischkies hat Wandel und Widerspruch portraitiert, authentisch zudem, da auch er inzwischen in Russland Familie hat und sozusagen den Alltag mitbekommt. Das Land, was er 2018 verließ, war da längst ein anderes, als das, von welchem er 1999 zu berichten begann, vier Jahre später sowie so.

Der Journalist schlägt sich auf keine Seite, beobachtet und ordnet ein und zeigt an zahlreichen Beispielen auf, wie Entscheidungen verschiedener staatlicher Ebenen, gewollt ein System der Willkür und Korruption geschaffen haben, welches längst ein Eigenleben führt. so gewollt von der obersten Führung.

Der Ton wechselt dabei von sachlicher zu emotionaler Ebene. Sowohl die Portraits der Ereignisse als auch der teilhabenden Menschen waren sehr spannend zu lesen, aber auch, wie Berichtsalltag in einem solch kaum fassbaren Land überhaupt funktioniert. Vom letzteren hätte es nicht geschadet, noch mehr Beispiele aufgeführt zu sehen, jedoch auch so ist ein sehr bezeichnender Bericht. Udo Lielischkies zeigt, was passiert, wenn sich Politik und Volk auseinander entwickeln und nur durch verschiedene Formen von Gewalt und Willkür zusammengehalten werden. “Im Schatten des Kreml” zeigen sich die Widersprüche.

Autor:

Udo Lielischkies wurde 1953 in Köln geboren und ist ein deutscher Journalist und ehemaliger Leiter des ARD-Studios in Moskau. Er studierte in Köln Volkswirtschaft und Soziologie, sowie Journalistik. 1980 begann er als Wirtschaftsredakteur beim WDR, nachdem er zuvor als freier Mitarbeiter tätig war.

Nach Stationen in verschiedenen Redaktionen wurde er 1994 Europa- und NATO-Korrespondernt in Brüssel, bevor er 1999 nach Moskau wechselte und von dort u. a. aus Tschetschenien und der Ukraine berichtete. Für seine Reportagen wurde er u. a. mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Ab 2006 war er kurzzeitig in washington tätig, kehrte jedoch bald für die ARD nach Moskau zurück und blieb dort bis zu seinem Ruhestand, 2018.

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J. M. G. Le Clezio: Bretonisches Lied

Inhalt:

Der französische Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clezio erinnert sich in zwei autobiografischen Erzählungen an seine Kinder- und Jugendzeit. An die urlaube mit der Familie in der Bretagne der 1950er-Jahre und an seine frühe Kindheit im besetzten Süden Frankreichs. (Klappentext)

Rezension:

Der französische Schriftsteller nähert sich den Orten seiner Kindheit, vermeidet dabei in Erinnerungen zu stöbern. Ihnen misstraut er, vermischen sie sich doch allzu oft mit Erzählten und dadurch als wahr Empfundenen, ohne wahrhaftig zu sein.

So stellt er zwei Episoden seines Lebens einander gegenüber, die nicht nur geografisch entgegengesetzt zu einander liegen. Le Clezios “Bretonisches Lied” ist dann auch keine Kindheitsbiografie. Den Lesenden liegt mit diesem Werk eine Art romanhafte Geschichtsstunde vor, deren Sog man sich kaum zu entziehen weiß.

In umgekehrter Reihenfolge beschreibt der Autor zunächst sehr sachlich den Wandel einer Region, ohne nostalgisch daherzukommen. Der Blick für das Vergangene ist geschärft durch das, was die Jahre über hinzukam oder verschwandt. Bilder ungezähmter Natur, archarisch wirkender Landwirtschaft und einer Gegend werden heraufbeschworen, die den Anschluss an die Moderne erst noch finden wird, mit all den Vor- und Nachteilen. Der beschriebene Landstrich spielte erst in Le Clezios späteren Kinderjahren eine Rolle. Die heraufbeschworenen Bilder sind absoluter, haben festere Konturen als die nachgestellten des Krieges.

Damit gemeint ist die zweite Erzählung, die biografisch gesehen, der zunächst ausgeführten vorangestellt hätte sein müssen. Diese Umkehr bricht das gewohnte Schema, wie auch der Ort nicht gegensätzlicher sein könnte. Vom Norden folgt der Lesende dem Erzählenden, der vermeidet, sich zu erinnern, an etwas, was er nur unbewusst erlebt haben kann.

Die Betonung liegt auf die Stimmung der Erwachsenen, die sich auf die Empfindungen der Kinder wiederspiegelt. Diese kennen nichts anderes als den Zustand des Jetzt, wissen nicht, wie es anders hätte sein können, ein Leben ohne Krieg. Gefühle lässt Le Clezio hier nicht an sich heran, wirkt auch nicht kalt, nur nüchtern. Die Auswirkungen des Krieges zeigten sich erst später. Der Gegensatz der zwei Erzählungen, die von einander getrennt sind, aber doch nicht losgelöst betrachtet werden können, wirkt hier um so stärker.

Wörtliche Rede findet sich in beiden Texten kaum. Die gleichen eher einer Zustandsbeschreibung, einem betrachtenden Monolog. Der Autor betrachtet sein früheres Ich oder eher das um das frühere Ich herum Geschehene. Aus Kindersicht passiert nicht viel, die Wucht der Ereignisse wird dem Erzählenden erst später bewusst.

Das Nüchterne wirkt poetisch, stark in der Übersetzung. Wie viel präsenter muss erst der Originaltext drängen? Die Kompaktheit tut ihr übriges. Kein Wort ist zu viel, zu wenig. Es ist ja auch nur ein überschaubarer Zeitraum, der beschrieben wird. Für das Kind, was später den Nobelpreis erlangen wird, gibt es an diesem Punkt nur das Hier und Jetzt.

Der Erzählende ist Dreh- und Angelpunkt der eigenen Geschichte. Andere Figuren spielen kaum eine Rolle, sind zu vernachlässigen und doch immer präsent. Immer wieder gibt es Sprünge zwischen den Hier und Jetzt. Der Wechsel stört nicht. Lesend steht man neben den Protagonisten, ist dieser selbst. Landschaften, Häuser, beschriebene Orte sind beinahe greifbar. Es ist so, als wäre man dort, zu dieser Zeit.

In diesen Texten können sich viele verlieren. Die Sprache ist karg, wie zuweilen die Region und die beschriebenen Jahre. Das muss man jedoch mögen. Wer gerne gewöhnliche Erinnerungen, Biografien liest, für den ist das nichts. Auf die Form muss man sich einlassen, sie auf sich wirken lassen.

Ein französischer Film ohne Handlung, jedoch mit Aussage und ganz viel Inhalt. Nur eben zwischen Buchdeckeln. Das funktioniert hier wunderbar. Die Melancholie wird kleingehalten. Aus anderen Regionen hat man über diese Zeit schon viel lesen können. Nach meinem Empfinden ist unser Nachbarland hier unterrepräsentiert. Es ist zu hoffen, dass es künftig noch mehr solche Erzählungen geben wird. Le Clezio hat hier ein interessantes Puzzleteil gesetzt.

Autor:

Jean-Marie Gustave Le Clezio wurde 1940 in Nizza geboren und ist ein französisch-mauritischer Schriftsteller. Er hat beide Staatsbürgerschaften und studierte nach der Schule zunächst in Bristol und London, während er gleichzeitig Französisch unterrichtete. In Nizza begann er ein Studium der Philosophie und Literatur, beendete dies 1964 und arbeitete im Rahmen seines Militärdienstes als Entwicklungshelfer. 1963 veröffentlichte er eine erste Erzählung, der weitere folgten. Im Jahr 2008 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

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Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Inhalt:

Ihr letzter Schultag fällt auf den 20. Juli. Am Vortag hat die Deutsche Aktion mit ihrem charismatischen jungen Führer bei der Landtagswahl 37 Prozent bekommen. Im Leistungskurs Geschichte entbrennt unter den Abitureienten und ihrem Lehrer eine hitzige Diskussion. Das Attentat auf Hitler kam am 20. Juli 1944 viel zu spät. Es hätte am 20. Juli 1931 begangen werden müssen. Was ist daraus zu lernen? (Klappentext)

Rezension:

Es gibt durchaus Schreibende im deutschsprachigen Raum, die ein gewisses Gespür für literarische Stoffe haben, wenn sie vor einem liegen, um diese zu etwas Großem, kaum Fassbaren verweben können. Ferdinand von Schirach ist so jemand, der eine tagesaktuelle Frage aufgreift, daraus ein Bühnenstück entwickelt hat, welches zugleich verfilmt wurde und für hohe Aufmerksamkeit und eine um sich greifende debatte gesorgt hatte. Nun zieht der andere große Literat, der ebenso historische mit aktuellen Fragen verbinden kann, nach und stellt seine Leserschaft und später sicher auch Theaterpublikum vor eine Denkaufgabe.

Wenn man es gewusst hätte… Aber es war noch weit weg. Das Strafrecht und das Völkerrecht erlauben kein präventives Zuschlagen. Und der Mut… wenn das Furchtbare weit weg ist, wenn man es zwar schon weiß, aber noch nicht spürt… hat man den Mut zum Handeln nicht erst, wenn man das Furchtbare vor sich hat?

Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Was wäre wenn? Was wäre, hätte man schon 1931 das versucht, was später mehrfach und schließlich 1944 als letztes Zeichen gesehen wurde, nämlich Hitler zu ermorden, der so viel Leid über die Welt gebracht hatte und Unzählige ermorden ließ? Was wäre, hätte man schon früh den Zeichen der Zeit Glauben geschenkt? Was wäre, wenn man die Nationalsozialisten schon damals ernst genommen und daraus Konsequenzen gezogen hätte?

Oder, anders gefragt, wie wäre eine solche Aktion, wie die der Widerständler vom 20. Juli 1944 zu bewerten, gäbe es heute eine ähnliche Situation, in der ein Mann, eine Partei, mit derart düsteren Vorzeichen kurz vor Ergreifung der Mechanismen der Macht stünde? Wäre dann sozusagen ein Präventivschlag gerechtfertigt? Moralisch und überhaupt? Auch, wenn man gar nicht genau benennen könnte, ob die Ziele dieses Mannes, dieser Partei, bis in letzter Konsequenz vollzogen werden würden?

Hättest du den Mut gehabt? Den Mut zu wissen, dass es geschehen muss? Dass es jetzt geschehen muss, damit Jahre später… Und dann den Mut, es zu tun?

Bernahrd Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Der Schriftsteller Bernhard Schlink stellt diese Fragen, seinen Protagonisten, die er in der Form eines Bühnenstücks in Diskussion treten lässt und zieht die Zuhörer, hier bei der vorliegenden Skriptform seine Leserschaft mit hinein ins Gedankenexperiment. Automatisch positioniert man sich, kann gar nicht anders, sieht die Widersprüche, in die sich die Figuren verwickeln.

Anfangs scheint die Fragestellung einfach zu beantworten sein, nach und nach schält sich die Komplexität und das moralische Dilemma heraus. Man ahnt, was in den Köpfen Stauffenbergs oder Goerdelers vorgegangen sein muss, um so shcwerer die Frage auf ein Szenario zu übertragen, was vielleicht nicht eintreten wird, vielleicht aber doch.

Der Autor überlässt es uns, das Urteil zu fällen, gibt uns keine Lösungsmöglichkeiten in die Hände, wobei man genau weiß, worauf Schlink abzielt. Er erhebt jedoch keinen moralischen Zeigefinger, zeigt nur Gedankengänge auf, denen man kaum entkommt. Immer schärfer wird die Tonalität zwischen den Protagonisten, immer schneller und abrupter werden die Wechsel.

Als ich im Krankenhaus war, hatte ich eine Freundin, wir lagen im selben Zimmer. Sie wusste, dass sie sterben würde, und wollte die Bilanz ihres Lebens ziehen. Aber sie belog sich nur immer wieder neu. Ein paar Selbstvorwürfe machen noch keine Lebensbilanz.

Sie sieht den Alten an.

Eine Bilanz wird auf einen Stichtag gezogen, und der Stichtag des Lebens ist der Tod. Nach dem Tod können nur andere die Bilanz ziehen.

Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Wer liest, steht neben den Figuren, befürwortet und verwirft Positionen. Einfach zu lesen ist es vielleicht, einfach zu Durchdenken keinesfalls. Bernhard Schlink hat hier ein Stück geschrieben, welches unbedingt herausfordert. Welches vielleicht wichtig wird. Welches nachwirkt und länger beschäftigt, nachdem die letzte Seite zugegschlagen ist.

Autor:

Bernhard Schlink wurde 1944 geboren und ist ein deutscher Jurist, ehemaliger Hochschullehrer und Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Jura in Heidelberg und Berlin, bevor er an verschiedenen Universitäten als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Nach einem Stipendium in Kalifornien promovierte er 1975 in Heidelberg, wurde 1981 in Freiburg im Breisgau habilitiert.

Von 1982-1991 war er Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn, darauf folgen Stationen wie Frankfurt/Main und Berlin. 1987 wurde er Richter am Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfallen, arbeitet in den Wendejahren am Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR mit. Später war er Mitglied u.a. der Vereinigung für Verfassungsgeschichte.

Sein schriftstellerischer Weg begann 1987, der ihm verschiedene Auszeichnungen einbrachte, zunächst mit Kriminalromanen. Im Jahr 1995 erschien sein erster Nicht-Kriminalroman “Der Vorleser”, der zu einem vielbeachteten Bestseller avancierte, später verfilmt wurde. Weitere Werke folgten. 2009 schenkte er seine literarischen Manunskripte und Korrespondenzen dem Literaturarchiv Marbach. Schlink ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und erhielt 1998 den Hans-Fallada-Preis. Im Jahr 2000 folgte die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft, 2004 das Bundesverdienstkreuz, 1. Klasse. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt.

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Nick Reimer/Toralf Staud: Deutschland 2050 – Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird

Inhalt:

Aprikosen aus Hamburg, öffentliche Kühlräume für Berlin. Steppenlandschaft in Brandenburg, Tigermückenplagen im Rheinland. Starkregen und Sturzfluten, Waldsterben, ausgetrocknete Seen. Der Klimawandel wird Deutschland schon bis 2050 tiefgreifend verändern. Was genau uns erwartet, beschreibt dieses Buch auf der Basis neuester Forschungserkenntnisse. (Klappentext)

Rezension:

In den letzten Jahren haben sich extreme Wetterwechsel die Klinke in die Hand gegeben. Örtlich begrenzt versinken Orte in einem Jahr für kurze Zeit im Schneechaos, während anderswo die Bewohner mit heftigen Regenfällen und Überschwemmungen zu kämpfen haben. Wieder andernorts fehlt Wasser in der Landwirtschaft und müssen die Menschen mit Hitzewellen zurecht kommen. Der Klimawandel ist keine abstrakte Bedrohung mehr. Er findet längst statt.

Nur, was bedeutet dies konkret für unser Leben. Die Journalisten und Autoren Toralf Straud und Nick Reimer haben recherchiert, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengetragen und mit Experten verschiedener Fachgebiete gesprochen. Herausgekommen dabei ist ein Blick in eine nicht all zu ferne Zukunft.

Zunächst, in diesem Sachbuch geht es nicht darum, wie Klimaschutz betrieben werden kann, also wie sich z.B. der Ausstoß von Treibhausgasen verringern lässt und hebt sich damit wohltuend von anderen vergleichbaren Werken ab. Auch wird sich nicht primär auf Ursachenforschung begeben. Hier liegt die Konzentration ganz konkret auf die Frage, wie unser Leben unter sich wandelnden Bedingungen gestaltet, wenn wir heute mit ein wenig oder viel mehr Klimaschutz beginnen würden, so dass sich die Erwärmung der Erde auf ein paar Grad begrenzen lassen würde und was dies für uns in Deutschland bedeutet.

Es wird ein Blick in die Zukunft gewährt, der als gesichert gelten darf. Da klimatische Veränderungen mit Verzögerungen ob der Ursachen auftreten, ist der Wandel, der auf uns zukommt, schon längst menschengemacht.

Hier beginnen die Autoren mit eiem Szenario, welches unser Leben im Jahr 2050 zeigt. Feingliedrig schildern Staud und Reimer, wie sich unser Leben in den Städten wandeln wird, mit welchen Problemen wir auf dem Land zu kämpfen haben werden, was die Änderungen für den Wald vor unserer Haustür etwa bedeuten, für Transportwege oder für die Landwirtschaft. Unaufgeregt übersetzen sie Studien verschiedenster Seiten, auch von Unternehmen, denen man jetzt kaum Öko-Affinität nachsagen dürfte, in ein verständliches Gesamtbild und zeigen die ersten Anzeichen auf, die uns schon heute begegnen.

Dass viele Tier- und Pflanzenarten im Regenwald oder in den Korallenriffen Fischarten durch menschliche Eingriffe und dem Klimawandel dezimiert und teilweise ausgerottet werden, bevor überhaupt die Chance bestand, sie zu entdecken, ist landläufig bekannt. Wie sieht es mit dem Überleben aber von einheimischen Insekten, den Bienen und Hummeln etwa, aus oder Vogelarten, wie den Kuckuck?

Kann ruhig aufgeklickt werden. Spoiler nur, wegen der Lesbarkeit des Haupttextes. Das Beispiel Kuckuck näher ausgeführt:

Spoiler

Der Kuckuck legt seine Eier in fremde Nester und lässt diese von den Wirtsvögeln ausbrüten. Das Küken wirft die Eier der Wirtseltern aus dem Nest und bleibt als einziges übrig. Nun ist der Kuckuck ein Zugvogel, der sich jedoch bislang nicht an die verändernden Vegetationsperioden hierzulande anpassen konnte. Hier bleiben immer häufiger Forstperioden aus, das Nahrungsangebot ändert sich. Viele Vogelarten brüten früher.

Wenn der Kuckuck aus Afrika zurückkommt, sind die meisten seiner Wirtstiere schon mit der Aufzucht ihrer Jungen beschäftigt. Dem Kuckuck fehlt die Möglichkeit, seine Eier dazu zu legen. Eine beliebige Auswahl hat dieser aber nicht, da er seine Eier nur zu der Vogelart legt, bei der er selbst aufgezogen wurde (und somit sichergestellt wird, dass die Eifarbe ungefähr gleich ist). In Folge geht die Anzahl der Kuckucks stetig zurück.

[Einklappen]

Welche Probleme bringen immer häufigere Wetterwechsel der Extreme in den Städten mit sich? Wird es auch in Deutschland Probleme mit dem Grundwasserhaushalt geben? Wie wird unser Wald in ein paar Jahren aussehen? Was bedeutet es für unsere Wirtschaft, Handelswege und Energieversorgung, wenn selbst große Flüsse immer weniger Wasser führen und sich die Fließgeschwindigkeit verringert? Die Autoren reihen diese und andere Fragen gleichsam einer Perlenkette aneinander und zeigen, wie bereits heute in verschiedenen Bereichen versucht wird, zu reagieren.

Nick Reimer und Toralf Staud werten dabei nicht, die Sprache wirkt zwar eindringlich, meist jedoch sehr nüchtern. Sie zeigen, warum es uns Menschen schwerfällt, in längerfristigen Zeiträumen Konsequenzen zu überdenken und warum für viele der Klimawandel zumindest noch für Deutschland kein großes Problem zu sein scheint, es jedoch dringend auf die Agenda gehört. Denn, so viel wird klar, einige der Konsequenzen werden unvermeidlich auf uns zukommen, die anderen können wir nur versuchen, abzumildern.

Es braucht solch eine nüchterne Beschreibung, wenn es darum gehen soll, Grundlage für Diskussionen und Verständnis zu schaffen, vor allem aber auch, da nicht alle Zeit, Muße und wissenschaftliche Kompetenz besitzen, um wissenschaftliche Studien in konkret formuliertes zu übersetzen. Die Autoren haben sich die Zeit genommen. Der Anhang ist eine öffentlich zugängliche und beeindruckende, unterstützende Auflistung von Quellen.

Wer sich dieses Buch zur Hand nimmt, wird danach mit anderen Augen durch den heimischen Wald gehen, durch angelegte Parks und Gärten, vielleicht auch die Dach- oder Kellerwohnung seines Wohnhauses anders betrachten. Ein nicht mit dem erhobenen Zeigefinger geschriebener Antrieb, dass wir uns ändern, ist das. Nicht mehr, nicht weniger.

Autoren:

Nick Reimer wurde 1966 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Während der Wende 1989/90 gründete er in Freiberg die erste überregionale Umweltzeitschrift der DDR und war Mitbegründer des Neuen Forums Mittelsachsens. Nach Abschluss seines Studiums begann er 1993 ein Volontariat bei der Berliner Zeitung, arbeitete ab 1996 für die Morgenpst und 1998 als Korrespondent der taz.

Von 2000-2011 war er als Wirtschaftsredakteur für die Themen Klima und Energie zuständig und arbeitete zusätzlich für andere Medien als freier Journalist. Er erhielt, gemeinsam mit Toralf Staud, den Otto-Brenner-Preis, 2012, in der Kategorie Medienprojekte. 2014 hatte er einen Lehrauftrag für Nachhaltigkeit und Journalismus an der Universität Lüneburg.

Toralf Staud wurde 1972 geboren und ist ein freier Journalist und Buchautor. Zunächsst war er bei der Altmark Zeitung tätig, studierte dann von 1991 bis 1998 Journalistik und Philosophie in Leipzig und Edinburgh.

Währenddessen arbeitete er für die zeitung Die Zeit und diverse Medien, schließlich von 1998 an als Polit-Redakteur für Die Zeit in Hamburg und Berlin. Seine Themen sind hauptsächlich der Klimawandel und die extremen Rechten. Für seine Recherche über die staatliche Reaktion auf Gwalt in Flüchtlingsunterkünfte würde er 2016 gemeinsam mit Kollegen mit dem Reporterpreis, in der Kategorie Datenjournalismus, ausgezeichnet.

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Jens Steiner: Ameisen unterm Brennglas

Ameisen unterm Brennglas Book Cover
Ameisen unterm Brennglas Jens Steiner Arche Verlag Erschienen am: 21.08.2020 Seiten: 240 ISBN: 978-3-7160-2790-5

Inhalt:

Eine Serie von Gewaltakten erschüttert die Schweiz: Ein unbekanntes Paar steckt ein Haus in Brand, schießt auf eine Raststätte, nimmt eine Geisel. Die Medien schreiben den Taten sogleich verschiedenste terroristische Hintergründe zu.

Auch die Bevölkerung versucht, sich einen Reim auf die Vorkommnisse zu machen, unter ihnen: Frühpensionär Toni Manfredi, Mittelschichtsvater Martin Boll und die alleinerziehende Mutter Regina Novotny. Sie alle wünschen sich Halt und Stabilität, doch ihre Welt gerät immer mehr aus den Fugen. Darauf reagieren sie mit Resignation – oder mit lautstarker Entrüstung und Aggression. (Klappentext)

Rezension:

Das brennende Haus zuerst, dann der Überfall auf den Fressbalken? Was mag da noch kommen? Könnte ja alles nur Zufall sein, aber man macht sich schon so seine Gedanken. Die kleine Stadt inmitten der Schweiz ist in jedem Fall in Aufruhr.

Ein jeder versucht, Erklärungen zu finden und geht mit der Situation anders um. Darin verwickelt ist man ja irgendwie auch, schließlich lebt man hier. Doch, was ist nur mit dieser Gesellschaft los? Jens Steiners Roman als Portrait unserer Gesellschaft hält uns LeserInnen den Spiegel vor.

Ameisen, die wir alle auf den Planeten leben, vermögen wir als Einzelne kaum etwas zu bewegen oder zu verändern, wirken jedoch als Gesamtheit dann doch. Nicht nur leider im Guten, sondern vielmehr auch im Schlechten und das beginnt schon bei den Erklärungsversuchen von Ereignissen und den Umgang mit diesen.

Stellvertretend für die Gesamtheit stellt der Autor dies an seiner Auswahl von Protagonisten dar, die allesamt unabhängig von einander agieren, deren Handlungen sich hin und wieder kreuzen, gegenseitig beeinflussen. fein gezeichnet sind sie, diese Charaktere, aus deren Sicht abschnittsweise die Geschichte erzählt wird.

Gemeinsam haben sie nur, die Region in der sie leben, ansonsten wirken sie in diesem Szenario zwar mittendrin, doch irgendwie verloren.

… Ein Abenteuer ist wie ein Fangnetz, da kommst du nicht mehr so schnell raus. Wie Donald Duck, der wieder mal in der Patsche sitzt, zappelst und tobst du, aber das nützt dir gar nichts. Musst eben mitmachen bei dem Abenteuer. Vielleicht ist das deine Mission. Hast nie gewusst, was deine Mission ist. Bitte schön, jetzt hast du eine. Mitmachen und alles sehen. Jedes Abenteuer braucht einen, der alles sieht und in seinem Gedächtnis behält.

Jens Steiner: Ameisen unterm Brennglas

Die Zeitspanne der Handlung ist etwas weniger als eine Woche, entsprechend verdichtet ist die Erzählweise, sehr erstaunlich, wenn man die Vielzahl der Protagonisten betrachtet. Die sind so gewählt, dass jede/r Leser/in seine Identifikationsfigur findet, egal welchen Alters und welcher Lebenssituation zugetan.

Der kleine durch die Gegend streunende Junge, wie das sich sorgende Oberhaupt, welcher sich sowohl in der Familie als auch im Büro zunehmend an den Rand gedrängt fühlt, die mit ihren angehäuften Ehrenämtern überforderte Mutter, wie der nur noch auf den Tod wartende Pensionär. Sie alle kreisen um sich selbst, sowie um die Ereignisse, denen sie sich ausgesetzt fühlen, denen sie nichts entgegenzusetzen haben.

Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, der man mit Resignation oder Wut begegnet. Die gegensätzlichen Charaktere reagieren entgegen ihrer Gewohnheiten oder stellen sich auf die veränderten Gegebenheiten ein. Überwiegend still wird die Geschichte aus der Feder Jens Steiners erzählt, unspannend ist das dennoch nicht. Gedankensprünge der Protagonisten bringen Bewegung in die Geschichte und verhindern langwierige Stellen.

Überraschungen gibt es nur mehr gegen Ende der Geschichte, auch manche Lücken im Handlungsverlauf, die sich jedoch logisch einfügen ins Ganze. Hier ist weniger mehr. Auch die Anzahl der Seiten ist begrenzt. Es zeigt sich, ein guter Roman muss kein Wälzer sein.

Jetzt ist er nur noch müde. Er will nicht mehr abhauen. Außerdem, was bringt es? Er macht ja sowie so alles falsch. Ist immer zur falschen Zeit am falschen Ort. Mama hat schon recht, dass sie ihm nachspioniert. Würde er auch machen, wenn er seine Mutter wäre. Hohlkopf. Volldödel. Hein Blöd.

Braucht man sich nicht zu wundern, wenn man am Schluss in diesem trüben Rübezahl-Landstrich landet. Trübezahl. Trüb und kahl. Müd und fahl.

Jens Steiner: Ameisen unterm Brennglas

Bildlich tauchen die Schauplätze vor den Augen der Lesenden auf. Jens Steiner vermag es, kurzweilig Orte und Situationen zu beschreiben, so dass man sie förmlich greifen kann. Ein Juwel im Bücherregal, ein Roman als Psychogramm der von außen ruhig wirkenden Schweizer Gesellschaft. Vom Autoren sollte noch mehr gelesen werden, unbedingt. Mit dieser verdichteten Erzählung kann man ja den Anfang machen. Der lohnt sich in jedem Falle.

Autor:

Jens Steiner wurde 1975 in Zürich geboren und ist ein Schweizer Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft eben dort und in Genf, bevor er als Lehrer und Lektor arbeitete. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis nominiert. Den Schweizer Buchpreis erhielt er 2013.

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Peter Graf: Was nicht mehr im Duden steht

Was nicht mehr im Duden steht Book Cover
Was nicht mehr im Duden steht Peter Graf Duden Verlag Erschienen am. 12.08.2020 (neu) Seiten: 240 ISBN: 978-3-411-70405-7

Inhalt:

Immer wenn ein neuer Rechtschreibduden erscheint, fragen die Journalistinnen und Journalisten zunächst nach den Wörtern, die erstmals Einzug in DAS Wörterbuch der Deutschen gehalten haben. Anhand dieser Wörter lässt sich Zeitgeschichte erzählen. Das gilt aber auch für die Wörter, die gestrichen wurden.

Was sagen sie uns über die Zeit, in der sie im Duden standen, und was über die, in der sie gestrichen wurden? In dieser aktualisierten Ausgabe stehen in 21 Essays samt Anhängen nun also Wörter im Mittelpunkt, die einmal wichtig waren und die uns sozial-, kultur- und sprachgeschichtliche Einblicke in die letzten gut 100 Jahre gewähren. (Klappentext)

Rezension:

Es gleicht einer Sisyphusarbeit, die sich die Redaktion des Wörterbuchs der Deutschen stellt, schließlich ist unsere Sprache im ständigen Wandel begriffen. Neue Wörter werden aufgenommen, andere fallen raus und so kann der Verlag heute aus einem sog. “Dudenkorpus” von über 5,6 Milliarden Wortformen schöpfen, von denen 148.000 Stück in der aktuellen 28. Auflage des Dudens zu finden sind.

Doch, wer wählt aus, was nicht mehr im wohl gebräuchlichsten aller Nachschlagewerke zu verzeichnen ist und wie schaffen es Wörter in den Duden hinein? Spannend ist sie, die Reise durch unsere Sprachgeschichte, seit 1880 Konrad Duden das erste “Vollständige Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache” vorstellte. Der Autor Peter Graf nimmt die Leser mit auf eine Reise zu Wörtern, die es nicht mehr gibt.

Thematisch geordnet ist sie, diese Sprachreise, die mal amüsant, mal sehr bedrückend scheint. So vielfältig sind auch die Gründe, warum Wörter neu in unserem Alltag integriert werden, dann wieder sang- und klanglos verschwinden.

LeserInnen finden heraus, um welche Wörter uns Medizin und Naturwissenschaften einst bereicherten, welche Begriffe in Technik und Handwerk gebräuchlich waren, was der Kolonialismus und der Nationalsozialismus mit unserer Sprache und letztendlich mit dem heute gelben Nachschlagewerk machten.

Präsentiert wird eine Auswahl, wie auch der Rechtschreibduden als erster Band der vom Verlag ständig aktualisierten Reihe, nur eine Auswahl der gebräuchlichsten Wörter unserer Zeit darstellt. Nur führt uns diese Reise in die Vergangenheit.

Wer weiß schon, was einst Automatenrestaurants gewesen sind, wo sie doch von großen Fastfoodketten erst von der Straße, schließlich aus dem Wörterbuch verdrängt wurden? Wen schimpfte man einst einen deutschen Knollmichel und wann ersetzten die Begriffe Nichte und Neffe entgültig das veraltete Wort Schwesterkind?

So spannend und teilweise witzig ist kein Deutschunterricht, wenn man auch hier mit einigen Längen kämpfen muss. Immerhin kann man sich hier in handlichen Kapiteln zu den Themen Wörter anlesen, die einem interessieren. Wie viele Anglizismen gibt es in unserer Sprache wirklich und wie viele kommen tatsächlich davon zur Anwendung?

Welchen Unterschied machten die Auflagen in Ost und West vor der Wiedervereinigung? Und geht Liebe nicht nur durch den Magen, sondern auch durch den Wortschatz? Sehr sachlich, immer wieder unterhaltsam beschreibt der Autor, was im Duden beschrieben wird, und warum.

Beeindruckend die Schilderungen, wie die Duden-Redaktion nicht nur bei der Auswahl der Wörter des Jahres eine Auswahl treffen muss, sondern auch bei jeder neuen Auflage dieses sehr komplexen Werkes und weshalb unsere Sprache immer noch sehr lebendig ist.

Ein interessanter Streifzug durch die Geschichte von Konrad Duden über den Versuch, ein Wörterbuch zu erstellen, welches dem Wortschatz Goethes gerecht wird, bis hinein in unsere Zeit. Viel Spaß dabei.

Autor:

Peter Graf leitet die Verlagsagentur Walde und Graf und ist einer der Gründer des Verlags “Das kulturelle Gedächtnis”.

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Maxim Leo: Wo wir zu Hause sind

Wo wir zu Hause sind Book Cover
Wo wir zu Hause sind Maxim Leo Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 14.02.2019 Seiten: 368 ISBN: 978-3-462-05081-3

Inhalt:

Wenn vier Menschen um einen Tisch sitzen, dann ist Maxim leos Berliner Familie schon fast vollständig versammelt. Die vielen anderen Leos, die in den 30er-Jahren vor den Nazis flohen, waren immer fern, über den ganzen Erdball verstreut. Zu ihnen macht er sich auf, nach England, Israel und Frnkreich, und erzählt ihre unglaublichen Geschichten.

Die von Hilde, der Schauspielerin, die in London zur Millionärin wurde. Die von Irmgard, der Jura-Studentin, die einen Kibbuz in den Golanhöhen gründete. Die von Ilse, der Gymnasiastin, die im französischen Untergrund überlebte. Und die ihrer Kinder und Enkelkinder, die jetzt nach Berlin zurückkehren, in die verlorene Heimat ihrer Vorfahren. (Klappentext)

Rezension:

In Interviews mit Schriftstellern fällt öfter der satz, am besten schreibe man über das, was man kennt. Doch, schon bei der eigenen Familiengeschichte wird es schwierig, ist sie doch etwas, was meist episodenhaft in den Köpfen einzelner Familienmitgleider herumgeistert und zumeist nicht tiefgehender erläutert wird. Wer wagt es schon, alte Wunden aufzureißen, genauer nachzufragen?

Wie wirken sich Entscheidungen, die einzelne Familienmitglieder Generationen zuvor getroffen haben, auf ihre Nachfahren aus und gibt es so etwas, wie ein kollektives Familiengedächtnis? Maxim Leo meint ja, und begibt sich auf Spurensuche quer über den Erdball zu den Wurzeln seiner Familie.

Die Geschichte seiner Familie ist vor allem in der beginnenden Verzweigung der 30er-Jahre die Geschichte von Frauen, denen besonderes abverlangt wurde in besonderen Zeiten. Der Autor führte Interviews mit den Nachfahren, Kindern und Enkeln und findet sich plötzlich wieder im Strudel der Geschehnisse, die die Familie quer über den Erdball verteilten und nur ein paar Leos in Berlin zurückließen. Die Stadt, in der alles ihren Anfang nahm.

Einfühlsam und emotional müssen die langen Gespräche gewesen sein, die Maxim Leo mit unzähligen Mitgliedern geführt haben muss und so spürt er minutiös seiner eigenen Vergangenheit nach oder dem, was heute noch nachwirkt. Das ist beeindruckend und macht nachdenklich, aber auch Lust, die eigene Familiengeschichte mal etwas näher zu betrachten, mal etwas tiefgehender zu hinterfragen.

Ungemein spannend beschreibt er die Besonderheit der Zeit, der seine Vorfahren ausgesetzt waren, aber auch, dass die drei Frauen, deren Kinder, Enkel und Urenkel, heute in Wien, Haifa, London und im ländlichen Frankreich zu Hause sind, nicht zum Opfer werden wollten, sondern für sich und ihre Nachkommen ums Überleben gekämpft haben.

Er vollzieht die Geschichte nach und die Erkenntnis, dass wir vielleicht weniger selbst entscheiden als in unserem kollektiven Gedächtnis festgelegt ist, folgt auf den Fuße. Bleibt die Frage, warum man jemand anderes Familiensagen sich zu Gemüte führen sollte? Ganz einfach, weil Familie eben das ist, was man sich nicht aussuchen kann, was bleibt und was wir zu dieser machen. Zudem ist es interessant zu erfahren, wie ähnlich und doch verschieden sich manche Biografien verhalten und dass eben nicht alles so “warm und selbstverständlich” ist, wie es zunächst scheint.

Autor:

Maxim Leo wurde 1970 in Ost-Berlin geboren und ist ein deutscher Journalisst, Drehbuchautor und Schriftsteller. Nach einer Ausbildung zum Chemielaboranten holte er 1990 das Abitur nach und studierte zunächst Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, sowie in Paris. Er war Nachrichtenredakteur bei RTL und seit 1997 ist er zudem Redakteur bei der Berliner Zeitung.

2002 bekam er für seine Arbeit den Deutsch-Französischen Journalistenpreis, 2006 den Theodor-Wolff-Preis verliehen. Er ist Autor mehrerer Spaß-Bücher, sowie 2011 eines biografischen Werkes, wofür er 2011 den Europäischen Buchpreis erhielt. 2018 erschien mit “Wo wir zu Hause sind” ein weiteres biografisches Buch. Leo schreibt Drehbücher für die Serie “Tatort” und lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Gretchen Dutschke: 1968 – Worauf wir stolz sein dürfen

1968 - Worauf wir stolz sein dürfen Book Cover
1968 – Worauf wir stolz sein dürfen Gretchen Dutschke Rezensionsexemplar/Sachbuch Verlag: kursbuch.edition Hardcover ISBN: 978-3-96196-006-4

Inhalt:

“Die drei Jahre zwischen 1966 und 1969 verliefen wie im Rausch, mal strahlend hell, mal im tiefsten Dunkel, euphorisch und verzweifelt, fast wie im Kino. Nur mit dem Unterschied, dass wir keine Zuschauer waren, sondern Akteure, mittendrin. Die Zeit hat uns geprägt, und wir haben die Zeit geprägt. Das gilt heute. darauf können wir und all die Millionen Menschen in Deutschland, die etwas von dem damals Erreichten verstanden haben und ihr Leben frei, bewusst, auch kritisch gestalten, stolz sein.” (Klappentext)

Rezension:

Im Reigen der seit kurzem zahlreich erschienenen Bücher über die späten 1960er Jahre, die allesamt die Studentenproteste in Deutschland zum Thema haben, sticht ein Werk besonders hervor. Weil es dieses Stück Zeitgeschichte aus unmittelbarer Nähe der Akteure beleuchtet, mit den Errungenschaften und zugleich den Fehlern der Neudenker, diese Formulierung ist gewollt, kritisch umzugehen vermag.

“1968 – Worauf wir stolz sein dürfen”, ist das Werk von niemand Geringeren als Gretchen Dutschke, der Lebensgefährtin des Mannes, der zeitweilig zum Wortführer der Studentenproteste werden sollte, Dreh- und Angelpunkt der Veränderungen, die sich abseits von dem sich noch bildenden Terrorismus der RAF formieren und Deutschland mit Hilfe von Diskussionen verändern wollten, die in eine revoplutionäre Umwälzung der Verhältnisse führen sollte.

Wie das von statten gehen sollte, was auf das althergebrachte System folgen sollte, wussten die Studenten auch nicht, doch Gretchen Dutschke macht deutlich, welche Rolle ihr Mann und seine Mitstreiter in dieser turbulenten Zeit spielten.

Es ist eine turbulente Zeit, die hier sehr klar und reflektiert beschrieben wird. In einfühlsamer Sprache wird der Strudel des Zeitgeschehens, in dem sich die Akteure befanden, beschrieben. Der kritische Blick geht dabei nicht verloren. Schon das ist eine Meisterleistung. So reflektiert ihre Situation zu hinterfragen, hätte ich einem Teilnehmer oder Teilnehmerin der dort beschriebenen Ereignisse nicht zugetraut, handelt es sich hier doch um ein sehr intensives Stück Personengeschichte, bei der man sich eindeutig positionieren muss.

Für Leser, die diese Zeit nicht erlebt haben, ist es ein unaufgeregter, aber positiver Blick auf Geschehnisse, die heute teils unwirklich erscheinen mögen, aber damals folgerichtig wohl auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse auch folgen mussten.

Erstaunt folgt man den Gedankengängen der Dutschkes und ihrer Mitstreiter, sieht Wendepunkte und vor allem, dass der Weg der 68er keine Einbahnstraße war, sondern vielfältige Richtungen einschlug. Manche davon liefen sich tot, andere führten in die Irrungen der Illegalität, andere widerum veränderten mit Diskussion und praktischen kleinen Schritten die Gesellschaft deutschlands.

Gretchen Dutschke ist ins Gelingen verliebt, und stellt, ohne den kritischen Blick zu verlieren, die positiven Aspekte dieser Zeit heraus. Zugleich auch die größte Schwäche ist die Knappheit der Schilderungen, von denen man gerne noch ein paar hundert Seiten mehr gelesen hätte.

An manchen Stellen fehlt die Ausformulierung des einen oder anderen interessanten Gedankengangs, der sich weiter zu verfolgen lohnen würde, insgesamt liegt dennoch ein ausgewogenes zeitgeschichtliches Portrait vor, welches sich trotz seiner Schwächen zu lesen lohnt.

Autorin:

Gretchen Dutschke wurde 1942 in Oak Park/Illionois geboren und ist eine Autorin und ehemalige Studentenaktivistin. Sie wurde als Witwe fes 1979 verstorbenen Rudi Dutschke bekannt. Nach einem Theolgiesttudium begann sie ein Kurs am Goethe-Institut in Münschen und lernte in West-Berlin 1964 Rudi Dutschke kennen, nach einer vorrübergehenden Rückkehr in die USA, zog sie 1965 nach Deutschland und bgegann ein Theologiestudium in Hamburg und Berlin, welches sie 1971 abschloss.

1966 heiratete sie Dutschke und half ihn nach dem Attentat seine Sprache wieder zu erlangen. Nach seinem Tod zog sie 1985 wieder zurück in die USA, lebt heute jedoch wieder in Berlin.

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