Vater

Jessica Lind: Kleine Monster

Inhalt:
Pia und Jakob sitzen im Klassenzimmer der 2B, ihnen gegenüber die Lehrerin ihres Sohnes. Es habe einen Vorfall gegeben, mit einem Mädchen. Pia kann zunächst nicht glauben, was ihrem siebenjährigen Kind vorgeworfen wird. Denn Luca ist ein guter Junge, klug und sensibel. Sein Vater hat daran kein Zweifel. Aber Pia kennt die Abgründe, die auch in Kindern schlummern, das Misstrauen der anderen erinnert sie an ihre eigene Kindheit.

Also lässt sie ihren Sohn nicht mehr aus den Augen und sieht einen Menschen, der ihr von Tag zu Tag fremder wird. Bis Pia bei dem Versuch, ihre Familie zu schützen, schließlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert wird. Ein fesselndes psychologisches Drama über die Illusion einer heilen Kindheit. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:
Die Abgründe in unser engsten Umgebung scheinen tiefe Gräben zu sein. Zugeschüttet, vernarbt sind sie, doch gibt es Ereignisse, die sie wieder schmerzlich aufbrechen lassen. In Jessica Linds Erzählung „Kleine Monster“ treten die Dämonen vergangener Tage hervor und scheinen sich in der Gegenwart zu spiegeln.

Doch hält eine Eltern-Kind-Beziehung dies aus, wenn dem eigenen Nachwuchs scheinbar nicht mehr zu trauen ist und noch weniger, sich selbst?

Feine Risse bekommt das Idyll in dem kompakt gehaltenen Roman, als die Hauptfiguren zu einem Gespräch in der Schule ihres Sohnes geladen werden. Ein Vorfall hätte es gegeben, genaues wisse man nicht. Der kindliche Protagonist schweigt sich darüber aus, währenddessen Fragen sich im Kopfe der Hauptfigur zu bilden beginnen und die Geschichte ins Rollen bringen.

Vieles spielt sich im Inneren von Pia ab, die durch ihre Gedankenwelt Konturen bekommt und zur Handlungstreibenden der Erzählung wird. Nach und nach bekommen sie und die anderen Figuren somit ihre Konturen. Eine ganz eigene Dynamik entfacht sich durch das Hinzuziehen weiterer Protagonisten und Pias Reaktionen darauf, die schon bald die Dämonen der eigenen Vergangenheit zu Tage treten lassen.

Zunächst hat sie damit alle Sympathien auf ihrer Seite, entwickelt sich jedoch nach und nach zu einer Protagonisten, die in ihrem Reagieren immer distanzierter wirkt und so auch handelt. Die Liebe von Eltern zu einem Kind hat bedingungslos zu sein. Doch was, wenn dieses Ideal in Frage gestellt wird. Dieses Gedankenkonstrukt wird sowohl anhand einer Vergangenheits- und auch einer Gegenwartsebene erzählt. Besonders die Hauptfigur ist damit doppelt belastet, aber auch ihre Umgebung ist davon nicht unbedingt unberührt.

Man leidet mit den Kind, den Eltern innerhalb dieser kompakten Erzählung, die über einen Zeitraum von wenigen Wochen spielt und durch zusätzlich beschriebene Ortswechsel noch kontrastreicher wirkt. Auch die Handlungsorte werden so zum Spiegelbild der Figuren, die allesamt ihr Gepäck zu tragen haben. Pias Perspektive bleibt jedoch die hauptsächliche, doch verursacht gerade diese Beibehaltung im Mittelteil für ein Absenken des Spannungsbogens, der nicht konsequent bis zum Ende durchgehalten wird.

Überraschende Wendungen sucht man in diesem Roman vergebens. Trotz teilweise fast filmischer Beschreibungen, den Hauptberuf der Autorin merkt man durchaus die gesamte Zeit über, liest man ein durchdachtes Konstrukt, was nur hin und wieder für einen gewissen Aha-Effekt sorgt. Dennoch ist eine gewisse Sogwirkung dem Text nicht abzustreiten, auch wird man sich manche Abschnitte atemlos zu Gemüte führen.

Je nach Erfahrungswerte und Stellung innerhalb eigener Familienkonstellationen kann dabei die Positionierung zu den einzelnen Figuren durchaus unterschiedlich sein. Die Handlungsorte dabei sind sehr plastisch geschildert, nachvollziehbar dargestellt, auch wenn sich ein gewisser Mehltau wie ein Schleier über die Erzählung legt.

Das Ende wirkt dabei nicht ganz rund. Halboffen ist hier der richtige Weg gewesen. Nicht alle offenen Fragen werden geklärt. Einiges findet im Kopf der Lesenden statt, doch irgendwie scheint das richtige Maß nicht getroffen worden zu sein. Zudem stößt man während des Lesens auch auf sprachliche Gegebenheiten, die eventuell regional verschieden gehandhabt werden. Kleinere Stolperfallen also, die aber nicht allzu sehr ins Gewicht fallen.

Die Schwächen einmal außer Acht gelassen, ergibt sich jedoch eine durchaus interessante Lektüre.

Autorin:
Jessica Lind wurde 1988 in St. Pölten geboren und ist eine österreichische Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Zunächst studierte sie an der Filmakademie Wien Drehbuch und Dramaturgie, bevor sie mit einem Literaturstipendium zu Schreiben begann. 2010 erhielt sie einen Förderpreis der Stadt St. Pölten, sowie 2012 das BMUKK Startstipendium für Literatur. Nach einer Teilnahme in einer Schreibwerkstatt erschienen einige ihrer Texte in Anthologien und Literaturzeitschriften. 2021 erschien ihr Autorinnendebüt. Zudem ist sie Autorin des Films „Rubikon“.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Jessica Lind: Kleine Monster Weiterlesen »

Hubertus von Prittwitz: Skarabäus

Inhalt:

Die Wahrheit ist die beste Lüge. Das lernt der achtjährige Friedrich von seinem Vater. Im Gerichtssaal sieht er seine Schwester das letzte Mal. Sein Vater, ein Spion des BND, trennt ihn für immer von seiner Mutter und seiner Unschuld. Im goldenen Käfig in Neuried bei München züchtigen der Missbrauch durch seine Stiefmutter und der Kontrollwahn des Vaters den Abtrünnigen. Nach mehreren gescheiterten Versucen gelingt die Flucht über Indien, Kairo und den Sudan in das Strafgefangenenlager des Menschenfressers.

Hubertus von Prittwitz rasanter Roman erzählt die Geschichte eines Überlebenden. Die Dichte des Milieus zieht den Leser tief hinein in das historische Erbe der Familienschuld. Im Spiel mit der Macht der Fiktion entspannt sich das Drama eines uralten Adelsgeschlechts. (Klappentext)

Rezension:

Am Ende steht ein Käfer als Symbol für den fortwährenden Versuch, seiner Familie zu entkommen. Diesen lebenslangen Versuch hat Hubertus von Prittwitz erzählerisch in seinem gleichnamigen Autorendebüt „Skarabäus“ verarbeitet. Eng an der eigenen Biografie und doch ganz weit weg.

Fast einem modernen Märchen gleich, springt der Roman zwischen Agententhriller, Politroman und Coming of Age Story entlang den Abgründen der Familie des zunächst achtjährigen Protagonisten. Bei kompakter Seitenzahl geradezu ausschweifend erzählt, begegnen wir Friedrich, der in seiner Kindheit bereits vom eigenen Vater entwurzelt wird, zugleich aber lückenlos kontrolliert. Dazu gesellt sich auch noch der seelische und physische Missbrauch durch die Stiefmutter. Mit der Zeit entwickelt der Junge, den wir bis ins frühe Erwachsenenalter begleiten, Überlebensstrategien, die sämtlichen Willen erfordert, die eine gebrochene Seele aufbringen kann.

Viel zu viele Faktoren für einen Roman, der sich zudem nicht gerade leichtgängig lesen lässt. Das Springen zwischen den Genres ist eine Sache, es gelingt einem jedoch auch nicht, sich dauerhaft an wenigsten einer der Figuren festzuhalten. Alleine die Anspielungen auf verschieden historische Ereignisse sind spannend eingebunden, in eine Erzählung, die keinen anderen roten Faden kennt als die innere Zerissenheit des Hauptcharakters. Zu Beginn weiß man da nicht, was man eigentlich liest. Es scheint, erst mit dem Voranschreiten der Kapitel, die zugegeben zuweilen filmisch wirken, hat der Autor seinen Stil gefunden. Dem entsprechend rund wirkt auch das Ende.

Der Hauptprotagonist ist zugleich Erzähler und Handlungstreiber, in einer Geschichte, die wie ein Schachspiel wirkt. Dabei entgeht dem zunächst sehr jungen Friedrich viel. Nach und nach wandelt sich jedoch die Figur und wird selbst zum aktiven Taktgeber. Dieser Platztausch ist dann doch spannend beschrieben, wobei erzählerische Längen dennoch nicht ganz ausgeblendet werden können.

Hubertus von Prittwitz hat ein Auge für Schauplätze, die er vor dem inneren Auge der Lesenden sehr plastisch wirken lässt. Doch es fehlt der springende Funke, der leider an einigen Stellen dem Gefühl weichen muss, irgendetwas Entscheidendes überlesen zu haben. Vielleicht braucht man einen bestimmten Zugang, diesen speziellen Mix der Genre ganz in sich aufzunehmen? Hier wäre zu schauen, wie ein Werk des Autoren sich liest, wenn es eine Konzentration auf ein bestimmtes Genre oder einen einzelnen Aspekt gäbe.

Eventuell hätte aber auch die Erzählung ganz anders gewirkt, wenn man sich vorher mit der Biografie des Autoren und seiner Familie beschäftigt hätte. Dies sei allen empfohlen, die „Sakarabäus“ lesen möchten. Manches wird da fassbarer.

Nur schade, dass das der Rezensent (ich) vorher nicht gemacht hat.

Autor:

Hubertus von Prittwitz wurde 1969 in München geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Er studierte Politikwissenschaften in München und Berlin, arbeitete als Eventmanager und als Texter, Redakteur und Übersetzer. Er ist für die Deutsche Welle tätig. „Skarabäus“ ist sein Debüt.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Hubertus von Prittwitz: Skarabäus Weiterlesen »

Doris Wirth: Findet mich

Version 1.0.0

Inhalt:

Erwin bringt das Geld nach Hause, seine Frau kümmert sich um Kinder und Haushalt. Doch als Erwin Mitte 50 seinen Job verliert und sein Vater stirbt, fällt er in eine akute Krise. Er pendelt zwischen Verzweiflung und Größenwahn. In seinem Kopf sprießen bizarre Pläne und die Gier nach einem puren, triebhaften Leben in der Wildnis. Eines Tages zieht er los und verschwindet.

Sprachlich intensiv und formal virtuos verwebt Doris Wirth Familienroman und Roadmovie. Sie zeichnet das komplexe Psychogramm eines Mannes, der eine manische Psychose durchlebt. Aus wechselnden Perspektiven erzählt Findet mich Erwins Geschichte und zeichnet die der Familie über drei Generationen nach: von der Unterdrückung individueller Wünsche über die Prägung durch patriarchale Strukturen bis zur Suche neuer Rollen in der Gegenwart. (Klappentext)

Rezension:

Das vorliegende Romandebüt der Schweizer Autorin Doris Wirth, die zuvor bereits mehrere Erzählungen veröffentlicht, spürt den Veränderungen innerhalb einer Familie nach, deren Alltag plötzlich durch eine psychische Krankheit dominiert wird. Seiner Handlungsspielräume beraubt und seines Platzes verwiesen, spürt das ehemalige Oberhaupt nur noch den Drang, sich privaten Zwängen und dem gesellschaftlichen Druck zu entziehen und nähert nicht nur sich damit einem dunklen Abgrund an.

Leichtgängig klingt dies schon im Klappentext nicht an. Auch in der Zusammenfassung wirkt es nicht besser, doch liest sich der Wandel des Hauptprotagonisten und aller, die ihn umgeben, durchaus flüssig, in sofern wir sofort Bezüge zu den einzelnen Figuren herstellen können. In unserer schnelllebigen Gesellschaft sind nicht wenige selbst von psychischen Zwängen und Krankheiten betroffen oder kennen dies zumindest aus dem engeren Umfeld und so fällt das Einfinden leicht.

Nur wenige Stellschrauben, Auslöser, braucht die Autorin, um Verbindungen herzustellen. Die beiden Hauptfiguren, die im Laufe der Erzählung um eine geringe Anzahl erweitert werden, bekommen durch ihre Vorgeschichte Konturen. Diese sind klar gehalten, nach und nach schält sich das Unheil heraus. Dunkle Momente werden immer zahlreicher, ehe sie schließlich handlungsbestimmend wirken.

Vor allem für den männlichen Hauptpart, dessen Handeln man beinahe atemlos verfolgt. In der Art und Weise dessen, wirkt dies folgerichtig, ohne Lücken oder unlogische Sprünge zu hinterlassen. Bilder schafft hier die Autorin vor allem sehr stark durch innere Monologe, gedankliche Ausführungen, womit die Figuren ihre Ecken und Kanten bekommen. Im Kontrast zu dem vor allem so aufgebauten Protagonisten wirken die umgebenden Personen um so stärker. Doris Wirth gelingt es hier zu zeigen, dass auch Familienmitglieder mit einer solchen Situation zu kämpfen haben, nicht nur die Betroffenen selbst und das der Weg da raus nur entlang von Bruchkanten verlaufen kann.

Dieser Balanceakt erzeugt starke Bilder vor dem inneren Auge, auch bringt der stete Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel eine temporeiche Dynamik mit sich. Dieser zu folgen ist dabei nicht sonderlich schwierig, wenn auch die Thematik nicht ohne ist. Man sollte dies vor dem Lesen wissen. Nicht jeder dürfte diese Erzählung einfach so weg lesen können. Auch der Genre-Mix trägt sein Übriges dazu bei. Psychogram und Roadmovie passen, das beweist Doris Wirth, hier wieder einmal gut zusammen. Schauplätze werden hier ebenso plastisch beschrieben wie Gefühlswelten, ohne ins Klischeehafte abzugleiten.

Immer wieder stolpert man dabei über einzelne Passagen, die hängen bleiben und nachdenklich machen. Manchmal ist es auch nur etwas Unbestimmtes, was beim Lesen zurückbleibt. Gerade für solche Momente lohnt sich das Lesen des Romans, in den man gerne den einzelnen Figuren neben dem Hauptprotagonisten noch mehr Raum geben würde, dabei wechseln die Sympathien durchaus von Kapitel zu Kapitel. Es hängt dann von den einzelnen Lesenden ab, welche Nachwirkungen hier Doris Wirth erzielt hat.

Ohne Spuren aber geht es nicht.

Autorin:

Doris Wirth wurde 1981 geboren und ist eine Schweizer Autorin. Zunächst studierte sie Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie in Zürich und Berlin, bevor 2014 ihr erster Erzählband erschien, dem weitere folgten. Für ihre Prosa mehrfach ausgezeichnet, erschien 2024 ihr Romandebüt. Die Gewinnerin mehrerer Literaturwettbewerbe lebt in Berlin.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Doris Wirth: Findet mich Weiterlesen »

Zora del Buono: Seinetwegen

Inhalt:

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die große Leerstelle der Familie. Wie kann jemand, der fehlt, ein Leben dennoch prägen? Die Tochter macht sich auf die Suche und fragt, was der Unfall bedeutet hat: für die, die mit einem Verlust weiterleben, für den, der mit einer Schuld weiterlebt. Seinetwegen erzählt Zeitgeschichte als Familiengeschichte – detailgenau, raffiniert komponiert, so präzise wie poetisch. (Klappentext)

Rezension:

Wir wirken Lücken auf uns, die praktisch immer schon existieren, wenn Verlust Dauerzustand ist und was macht dieser mit jenen, die ihn verursacht, aber ansonsten kaum Berührungspunkte haben? Vor allem nicht mit den Betroffenen, die darunter dann Zeit ihres Lebens leiden müssen. Die Schweizer Journalistin und Autorin Zora del Buono geht diesen und damit zusammenhängenden Fragen in ihrer biografischen Reportage „Seinetwegen“ nach und entdeckt anhand eines Teils der Familiengeschichte auch ein Stück ihrer Selbst.

Der Erzählton des vorliegenden Textes ist ruhig und doch spürt man das Drängen, mit dem die Schriftstellerin den letzten Stunden ihres Vaters nachgeht, welchem sie im Alter von acht Monaten bei einem Autounfall verlor. Die Mutter im Heim, längst in die Demenz abgeglitten, Zeit ihres Lebens hatte sie nicht darüber gesprochen, vom Verursacher des Unfalls existiert zunächst nur ein Name und ein kleiner Zeitungsartikel über den nachfolgenden Prozess.

Wenig für diejenige, die begreifen und ergründen möchte, doch del Buono spürt der Geschichte des Moments nac, der das Leben der Familie für immer verändern sollte. Ihr Bild des Unfallfahrers verschiebt sich dabei ebenso, wie jenes von der Schweizer Gesellschaft, von den 1960er Jahren bis heute.

So unaufgeregt das kompakte Werk daherkommt, so aufgewühlt ist im Inneren der Autorin zugegangen, die mit ihrer Recherche eine große Lücke in ihrem Leben zu füllen. Die rastlose Suche, die zwischen den Zeilen daherkommt und immer wieder an Glasdecken stößt, ergibt nur langsam ein vielschichtiges Bild, zunächst vor allem von einer Gesellschaft im wandel. Erst später wird sie beiden Personen nahekommen. Dem Verursacher, dessen Leben vom Wandel der Gesellschaft erzählt und ihrem Vater, der einst als Fremder in die Schweiz kam und sich dort ein neues Leben zu aufbauen versuchte.

Die Zeitstrahlen einerseits der vergangenen Jahrzehnte, andererseits der wochenlangen Suche laufen schließlich zusammen, doch sind es die Figuren selbst, die diese biografische Reportage zu etwas Besonderen machen. Dabei beschränkt sich die Autorin, die damit auch zum Gegenstand ihres Schreibens wird, auf wenige Personen. Nach und nach kann man sogar dem Unfallverursacher nachspüren. Jede Geschichte hat zwei oder mehr Seiten. So verarbeitet Zora del Buono das, was ihre Mutter nie so wirklich konnte. Braucht es also, zu der Erkenntnis könnte man gelangen, manchmal nur eine Generation Abstand?

Kurze prägnante Sätze wechseln sich mit ausschweifenden Gedankengängen ab, kulminierend in den Treffen der Freunde der Autorin, die im Verlust zu geliebten Menschen vereint sind. Rückblenden in die Kindheit durchbrechen den Text, der auch dadurch nahbar wird. Schauplätze werden zu Bildern. Del Buono lässt sie vor dem inneren Auge entstehen.

Es ist der Versuch der Verarbeitung etwas Unbegreiflichen. Ob dieser gelungen ist, kann nur die Autorin selbst entscheiden, er macht jedenfalls ordentlich Eindruck. Natürlich stellt sich die Frage, was dabei gewonnen ist, einem Menschen auf dieser sehr persönlichen Suche zu begleiten? Vielleicht können jene die Frage beantworten, welche selbst solch einen Verlust erlitten haben.

Für alle anderen bleibt die Erzählung des gesellschaftlichen Wandels. Dafür aber braucht es jetzt nicht unbedingt diesen Rahmen. Dieser kleine biografische Bericht lässt einem dennoch für einen Moment innehalten und nachdenklich zurück. Letztlich muss wohl jeder für sich entscheiden, ob dies genügt.

Autorin:

Zora del Buono wurde 1962 in Zürich geboren und ist eine Schweizer Architektin, Journalistin und Autorin. Zunächst studierte sie Architektur in Zürich und Berlin, wo sie bis 1995 als Architektin tätig war. Danach absolvierte sie ein Studium für Szenografie. 1996 war sie Mitgründerin der Zeitrschrift Mare, welche sie von 2001 bis 2008 als stellvertretende Chefredakteurin begleitete.

2008 erschien ihr Debütroman, dem weitere Werke folgten. Del Buono ist Mitglied des Schweizer PEN, erhielt 2024 den Schweizer Buchpreis und 2012 den ITB Buch Award.

Zora del Buono: Seinetwegen Weiterlesen »

Peter Arndt: Die Wetterseite der Bäume

Inhalt:

Kolja ist elf Jahre alt und wächst in der Vielvölkerwelt eines abgelegenen Landstrichs in der Ukraine auf. Als der Krieg ausbricht, geht es für ihn und seine Familie in einen überfüllten Umsiedler-Waggon in ein neues Leben, im Reichsgau Wartheland/Polen, was die Versprechungen der NS-Propaganda einzulösen scheint.

Wie ein Schlafwandler taumelt Kolja durch Jugendorganisation des NS-Regimes bis er sich als Kindersoldat in Berlin wiederfindet, währenddessen seine Familie im eisigen Winter 1945 versucht, vor der anrückenden Sowjetarmee zu fliehen. Gewissheiten brechen. Für alle zählt nur: am Leben bleiben. (gekürzter Klappentext)

Rezension:

Nicht zuletzt aufgrund der derzeitigen Geschehnisse in Europa erfährt der biografische Roman „Die Wetterseite der Bäume“ von Peter Arndt eine besondere Brisanz. Der Autor, der seiner Familiengeschichte, vor allem die seines Vaters, gekonnt erzählerisch nachspürt, hat damit ein eindrückliches Stück Erinnerungsliteratur innerhalb der Bücher gegen das Vergessen geschaffen, welche heute wichtiger denn je ist, zudem in einer sich immer mehr polarisierenden Welt.

Worum geht es? Wir folgen den Spuren Koljas und seiner Familie, die in einem kleinen Ort Wolhyniens zu Hause ist und dort innerhalb einer Vielvölker- und Sprachgemeinschaft eine kleine Mühle betreibt. Man hat nicht viel, aber mehr als man zum Leben braucht, kommt mit den Nachbarn gut aus, auch wenn sich im Miteinander die Zeichen des Krieges 1940 mehr und mehr bemerkbar machen. Da kommen die Umsiedlungspläne der Nationalsozialisten, die Polen zusammen mit der Sowjetunion besetzt und unter sich aufgeteilt haben, gerade recht. Eine Chance, die Koljas Vater nutzt. Nicht ahnend, welche Odyssee ihnen alle noch bevorstehen wird.

Auf Grundlage von Interviews, welches der Autor mit seinem Vater noch bis vor dessem Tod führen konnte, einigen Reisen und Archivmaterial entstand der beeindruckende Roman, der sehr kompakt gehalten mit hohem Erzähltempo die Wege verfolgt, die die Familie auf sich nehmen musste, zunächst um ein neues Leben zu beginnen, anschließend selbiges zu retten.

Dabei verfolgen wir zwei perspektivisch unterschiedliche Erzählstränge. Den Weg von Koljas Familie, zuletzt inmitten der großen Flüchtlingstrecks gen Westen, unter anderen Vorzeichen, denen heutiger Flüchtlinge psychologisch gar nicht mal so unähnlich, zum anderen Kolja, der vom nationalsozialistischen System nach und nach vereinnahmt wird und schließlich als Kindersoldat ums Überleben kämpfen muss.

Einige Jahre, zusammen mit Rückblenden, umfasst die Erzählspanne und wechselt, ohne dass man dabei den Überblick verlieren würde. Dies verleiht der Geschichte eine eindrückliche Dynamik, derer man sich nicht entziehen kann, zudem hilft auch eine stilisierte Landkarte am Anfang des Romans, die Übersicht zu behalten. Kurzweilig ohne Längen und, was noch viel wichtiger ist, ohne Verklärungen, weiß Peter Arndt von Hoffnung und Enttäuschung, Bangen und Grauen, aber auch den Momenten zu erzählen, die vielleicht mehr als einem Schutzengel zuzuschreiben sind.

In klarer Sprache wird eine Zeit wieder lebendig, die in abgewandelter Form auch heute noch für zu viele Menschen bittere Realität ist, zudem wieder Landstriche der Ukraine, zudem auch dieser heute gehört, umkämpft sind.

Hauptfigur dieses biografischen Romans ist Kolja, zu Beginn der Erzählung elf Jahre alt, weshalb „Die Wetterseite der Bäume“ sowohl als Jugendbuch funktionieren kann als auch, mit der Geschichte an sich als biografischer Roman, den man unabhängig davon lesen kann.

Der Protagonist ist dabei nicht unfehlbar, zeigt sich doch an ihm, wie leicht und systemisch die Vereinnahmung Jugendlicher damals vonstatten ging, auch dies hat sich unter umgekehrten Vorzeichen bis heute nicht geändert. Mit ihm und seiner Familie fühlt man jedoch gerne mit, kommt nicht umher die beschriebenen Personen um ihren Mut und Überlebenswillen zu bewundern.

Peter Arndts erzählerische Stärke liegt dabei nicht nur darin, den Figuren ihre Ecken und Kanten anzugedeihen. Auch Orts- und Situationsbeschreibungen verfehlen ihre Wirkung nicht. Fast ist es so, als stünde man neben den Jungen, der bald seinen geliebten Hund zurücklassen muss oder im Flüchtlingstreck mit knurrendem Magen, in klirrender Kälte. Immer wieder werden Atempausen zwischen den Extremen beschrieben, nur um dann im nächsten Moment ad absurdum geführt zu werden. Nichts ist normal in dieser Zeit.

Ohne die Aufnahmen zu kennen, Grundlage der Erzählungen sind Interviews, die der Autor mit seinem Vater geführt hat, könnte der Roman so in dieser Form auch als Hörbuch funktionieren. Die Tonalität ist vorhanden. Auch die Art des Erzählens macht es leicht, sich in die Protagonisten hinein zu versetzen. Auch dies macht „Die Wetterseite der Bäume“ zu einem wichtigen Buch im Rahmen derer gegen das Vergessenn. Was anders in Gefahr laufen würde, nur trocken daher zu kommen, wird hier in Romanform lebendig greifbar.

Von der Ausgestaltung der Protagonisten, sowie dem engen Entlanghangeln anhand der Familienbiografie ohne ins zu Trockene zu geraten, ist dieser biografische Roman sehr empfehlenswert.

Autor:

Peter Arndt wurde 1957 in Wiesentheid geboren und ist ein deutscher Soziologe, Organisationsprogrammierer und IT-Berater. Der Erlebnisfundus seiner väterlichen Vorfahren ist sein Lebensthema. 2024 veröffentlichte er seinen Roman „Die Wetterseite der Bäume“, die fiktionalisiert angelehnt die Geschichte seines Vaters verfolgt.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Peter Arndt: Die Wetterseite der Bäume Weiterlesen »

Kurt Tallert: Spur und Abweg

Inhalt:
Schon als Schüler muss Kurt Tallert erfahren: Was für weite Teile seiner Generation Schulbuchvergangenheit ist, ist für ihn lebendig, die Geschichte seines Vaters. Eines Vaters, der als „Halbjude“ von den Nazis verfolgt wird, der nach der Befreiung in Deutschland bleibt, Journalist wird und Mitglied des Bundestags. Und der doch ein Leben lang seinen Platz sucht. In „Spur und Abweg“ trifft Vergangenheit auf Gegenwart, Überliefertes auf Verdrängtes, Erlebtes auf Erinnertes, erzählt Kurt Tallert die Geschichte seines Vaters – und seine eigene. Ein Stück Gegenwartsliteratur, in dem die Scherben eines Lebens zu einem Spiegel der Gesellschaft zusammengelegt werden. (Klappentext)

Rezension:

Wie das Unfassbare begreifen? Diese Frage stellt sich Kurt Tallert und versucht die Geschichte seiner Familie, vor allem die seines Vaters, der viel zu früh verstarb, zu durchdringen und diese in Beziehung zu seinem eigenen Leben zu stellen, dessen Wahrnehmung schon in der Kindheit so ganz anders ist als die Gleichaltriger. An den brutalen Folgen der Nazi-Herrschaft leidend, vergeblich um Wiedergutmachung, Entschädigung kämpfend, geht die Vaterfigur zu Grunde als der Autor noch in der letzten Phase seiner Kindheit steckt, schon da hat die Spurensuche Tallerts nach dem Warum begonnen. Der Autor erzählt von ihr, tief in die Familiengeschichte eintauchend, um mehr über sie, nicht zuletzt auch über sich selbst zu erfahren. Kann dies gelingen?

Es ist eine besondere Art von Familien- oder Personenbiografie, die mit „Spur und Abweg“ hier vorliegt, die zugleich beinahe philosophisch die Frage nach der Verarbeitung vererbter Traumata aufgreift. Wissenschaftlich nachgewiesen, dass diese über mehrere Generationen hinweg unser Handeln und Leben beeinflussen können, weiß auch der Schreibende um diesen Fakt, möchte tiefgehender Ursachenforschung betreiben und begibt sich anhand von Dokumenten und Ortsbegehungen über die Jahre hinweg immer wieder in Konfrontation, nicht zuletzt zu sich selbst. Das Bild des Vaters, den er als Kind beinahe nur gebrochen kannte, bekommt dabei immer neue Facetten, Konturen, die eigentlich Klarheit bringen müssten, stattdessen immer mehr Fragen aufwerfen.

Das Puzzle, dessen Teile aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen oder Buchenwald-Besuchen bestehen entfaltet seine Wirkung, auf den Autoren selbst, der seine Erfahrungen in Bezug zu den Beobachtungen setzt, die er macht, wenn er seine Mitmenschen betrachtet. warum reagiert der Klassenkamerad während des Besuchs der Gedenkstätte anders als er, warum schießen Touristen später Selfies am Deportationsgleis, wo einst Familienmitglieder in ein ungewisses Schicksal blickten? Teile werden zusammengesetzt, allmählich wird die Familiengeschichte greifbar, der Autor gewinnt Sicherheit und wird zugleich unsicherer.

„Spur und Abweg“ ist die Art von Verarbeitungsliteratur, der Versuch zu verstehen, die man mit einer gewissen Konzentration konsumieren muss, nichts für schwache Nerven oder jene, die sich nicht auf philosophische Betrachtungen einlassen wollen. Dem Autor verschaffen sie einen Abstand, der die Betrachtung erst möglich macht, lesend begibt man sich auf Spuren eines Prozesses, der mehrere Leben reichen wird. Was machen die Erfahrungen vorangegangener Generationen mit uns, zudem wenn deren Leid von Gesellschaft und Politik nie wirklich anerkannt waren, wenn Protagonisten zwischen den Stühlen stehen und das Zugehörigkeitsgefühl zwangsläufig diffus bleiben muss?

Was macht es mit uns, wenn Identität verloren geht? Am Beispiel seines Vaters und nicht zuletzt sich selbst, erzählt Kurt Tallert davon. Gerade in heutiger Zeit wichtige Lektüre.

Autor:

Kurt Tallert wurde 1986 in Bad Honnef geboren und studierte Germanistik und Hispanistik in Aachen und Santiago de Chile. Unter den Künstlernamen „Retrogott“ prägt er als DJ, Rapper und Produzent, die deutsche Hip-Hop-Szene und veröffentlichte zahlreiche Alben. Dies ist sein schriftstellerisches Debüt.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Kurt Tallert: Spur und Abweg Weiterlesen »

Joachim B. Schmidt: Kalmann und der schlafende Berg

Inhalt:
Kalmann sitzt in der Tinte. Besser gesagt, er sitzt im FBI-Hauptquartier in Washington. Dabei wollte er eigentlich nur seinen amerikanischen Vater besuchen. Doch der lässt ihn hängen, und ehe Kalmann sich’s versieht, sitzt er wieder im Flugzeug zurück nach Island. Im Hohen Norden hat er aber auch keine Ruhe. Ein Mord ist geschehen, und die Spuren reichen zurück bis nach Amerika und in den Kalten Krieg. Und wer muss diesen explosiven Fall aufklären? Korrektomundo: Kalmann, der berühmte Sheriff von Raufarhöfn. (Klappentext)

Rezension:

Nach der Geschichte mit dem Eisbären hat man ihn die Mauser abgenommen, auch rausfahren zum Eishaiangeln darf er nicht und so findet sich der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn auf den Parkplatz eines Einkaufzentrums wieder. Dort soll er für Ordnung sorgen und wer könnte sich da besser eignen als er, Kalmann. Der steht jedoch bald vor ganz anderen Herausforderungen.

Das Kennenlernen seines Vaters endet in einem Verhörraum des FBI. Selbstredend, dass nach seiner Ankunft auch zu Hause die Dinge aus dem Ruder laufen. Kalman jedoch folgt den Spuren und stößt nicht nur auf einen mysteriösen Fall, sondern auch den dunklen Schatten der Vergangenheit Islands.

Der neue Band des isländisch-schweizerischen Autoren Joachim B. Schmidt ist eine, im Vergleich zum Vorgänger, durchaus temporeich scheinende Fortsetzung mit einem liebenswerten Protagonisten, der durch Ecken und Kanten, vor allem aber durch seine klare Sicht auf die Dinge um ihn herum besticht.

Dieser besondere Blick, hervorgerufen durch die Eigenarten der Hauptfigur, die im Erstling durchaus diffus erscheinen, wurden hier konzentriert in die Geschichte eingearbeitet, was dem Werk sehr zu Gute kommt. Der Autor kennt sich aus und gibt seinen Protagonisten Zeit, einzutauchen, um der Handlung so eine sehr besondere Dynamik zu verpassen.

Zum einen durch den temporären Ortswechsel als auch von der Zeit, in die Joachim B. Schmidt die Handlung angesetzt hat, bringen diese mit sich. Verwoben werden die Ausklänge der Pandemie mit den 6. Januar, als die Welt ungläubig nach Washington schaute und die Isländer auf eine im Rucksack steckende Fahne ihres Landes blickten, die aus dem Rucksack eines der Teilnehmenden des Aufruhrs steckte. Reale Ereignisse sind so hier kunstvoll in den Roman eingebunden, ohne überdreht zu wirken. Auch die Wendung innerhalb der Romanhandlung funktioniert.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist Kalmanns Sicht auf die Dinge, die, bedingt durch seine Einschränkungen so ganz anders ist als die seiner Mitmenschen, die damit interagieren müssen. Der Antagonist kommt dabei von unerwarteter Seite. Nichts ist wie es scheint zwischen isländischen Bergen. Der Protagonist ist auf seine Art und Weise zugänglich und macht es leicht, Lesende in seine Weltsicht einzufühlen.

Klare Sprache steht dabei im Kontrast zu wieder einmal wunderbar eingearbeiteten Landschaftsbeschreibungen, die nicht einmal kitschig wirken. Nur das Ende des Romans wirkt etwas over the top, ansonsten ist die Erzählung in sich schlüssig aufgebaut, ohne Logikfehler.

Joachim B. Schmidt verwandelt dies zusammen mit isländischen Kuriositäten in eine durchaus packende Erzählung, selbst Sprünge, wenn vorhanden, scheinen gewollt.

Die Geschichte funktioniert und hat in ihrem zweiten Band an Tempo gewonnen, auch die Ortswechsel bringen Spannungsmomente hinein, ob die etwas größere Konkretisierung des „Krankheitsbildes“ Kalmanns dienlich ist, muss man selbst für sich entscheiden. Der Hauptprotagonist wirkt in jedem Falle nahbarer. Noch mehr Geschichten vom Sheriff von Raufarhöfn wären wünschenswert.

Autor:

Joachim B. Schmidt ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller, der zunächst eine Ausbildung zum diplomierten Hochbauzeichner absolvierte. Mit einer Kurzgeschichte gewann er einen Schreibwettbewerb und veröffentlichte erstmals 2013 seinen ersten Roman. Als Journalist und Touristenquide arbeitet er in Reykjavik, Island, wohin er 2007 ausgewandert ist. Sein Roman „Kalmann“ erschien 2020 bei Diogenes.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Joachim B. Schmidt: Kalmann und der schlafende Berg Weiterlesen »

Christine Westermann: Die Familien der anderen

Inhalt:

Christine Westermann taucht ein in die wechselvolle Geschichte ihrer Familie – anhand der Bücher, die ihr Leben geprägt haben.

Elegant, ehrlich und warmherzig erzählt sie von Büchern, die die Familien der anderen beschreiben. Von Lektüren, die helfen, die eigene Geschichte besser zu verstehen.
(Klappentext)

Rezension:

Der Traum eines jeden bibliophilen Menschen. Christine Westermann träumt ihn schon als Kind. Eine Bibliothek mit Leiter soll es sein, um auch mal die oben stehenden Bücher zu erreichen. Dort oben, im Regal ihrer Eltern, stand z. B. „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, dieser Roman, der alleine schon durch seinen Umfang zu beindrucken weiß. Die Journalistin, die selbst jahrelang im Fernsehen und Rundfunk schon unzählige Bücher empfohlen und einige geschrieben hat, nimmt ihn sich nun vor, während sie ihr neues Werk schreibt, in dem sie sich entlang der Werke hangelt, die sie für ihr Leben prägten.

In diesem Sinne ist es keine klassische Biografie, die uns Lesenden mit „Die Familien der anderen“ vorgelegt wird, auch eine Art Ratgeber sucht man hier vergebens, obwohl die Werke von Christine Westermann in diese Rubrik einsortiert werden. Vielleicht sind es eher zu Papier gebrachte Überlegungen, ein wenig von allem.

So wie in der Öffentlichkeit sie nur Bücher empfehlen möchte, die ihr selbst zusagen, schreibt und erzählt sie, nachdenklich, melancholisch zuweilen, mit einer Prise Humor, denen die das lesen werden, zugewandt. Ausschweifend wie Thomas Mann, gar hochtrabend, wie der, der sein Vorwort Vorsatz nannte, möchte sie nicht sein. Kann sie auch nicht.

Das Lesen dieses Werks fordert, ist anstrengend, die Erinnerungen an erste Auftritte im Literarischen Quartett, an Lesereisen, an deren Ende meist ein Kölsch auf dem Tisch steht oder zermürbende Diskussionen in Sitzungen der Jury zum Deutschen Buchpreis, immer wieder auch das Rückbesinnen auf die eigene familiäre Vergangenheit, zudem, warum sie heute noch mehr an Familienkonstellationen, Brüchen und Wandlungen interessiert ist als an allem anderen.

Das Hochtrabende geht ihr ab, kompakt hangelt sich entlang der Bücher, die sie prägten. Eine sehr interessante Lektüreliste steht am Ende des Buches. Und „Der Zauberberg“ von Thomas Mann? Hat sie ihn beenden können, bewältigt diesen Berg? Muss man das überhaupt? Ist abbrechen auch eine Option, wenn man sehr lange schon anderen Bücher empfiehlt? Wenn nicht empfehlen, vielleicht selbst schreiben? Wie macht man das, wird Christine Westermann auf einem Klassentreffen gefragt.

Mir hat diese Art der biografischen Lektüre sehr gefallen. Der Wechsel zwischen Anekdoten der Vergangenheit und Gegenwart, dem Vergleichen mit gelesener Lektüre und wahrscheinlich nicht nur Abgabedatum des Manuskriptes im Nacken, sondern eben auch schwergewichtige Lektüre auf den Nachttisch. Das wirkt sehr locker, sehr nahbar. Was kann ich reinen Gewissens empfehlen, doch bitte nur das, was ich selbst gern gelesen habe. Verrisse versucht Christine Westermann Zeit ihres Lebens zu vermeiden.

Ein paar Anekdoten verraten viel, die Bücherliste der Autorin noch viel mehr, über sie selbst, die für ihre Auswahl der Lektüre oft genug gescholten wurde, nicht nur von Quartett-Kollegen. Doch, was nützt die beste Lektüre, wenn sie die Lesenden nicht erreicht. Das gelingt Christine Westermann mit „Die Bücher der anderen“ viel besser.

Autorin:

Christine Westermann wurde 1948 in Erfurt geboren und ist eine deutsche Moderatorin, Journalistin und Autorin. Nach der Übersiedlung von Erfurt nach Mannheim, machte sie nach der Schule ein Volontariat beim Mannheimer Morgen und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Von da an arbeitete sie als freie Journalistin für verschiedene Radio- und Fernsehsender, produzierte Filme und Reportagen.

Später moderierte sie im ZDF „Die Drehscheibe“, später bis 2002 die „Aktuelle Stunde“. Von 1996-2016 moderierte sie die Sendung „Zimmer frei!“ und wurde zusammen mit Götz Alsmann dafür mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Von 2015-2019 war sie eine der Teilnehmerinnen des Literarischen Quartetts, daneben präsentiert sie per Podcast und Radiosendung Bücher. Ihr erstes Buch erschien 1999, weitere folgten. Christine Westermann lebt in Köln

Christine Westermann: Die Familien der anderen Weiterlesen »

Charles Lewinsky: Sein Sohn

Inhalt:

Louis Chabos wächst in einem Kinderheim in Mailand auf. Nachdem er in Napoleons Russlandfeldzug den Krieg kennengelernt hat, möchte er nur noch eins: endlich zu einem menschenwürdigen Leben finden und Teil einer Familie werden. In Graubünden erlangt er ein kleines Stück des erhofften Glücks. Doch das verspielt er, als die Sehnsucht nach dem unbekannten Vater ihn nach Paris ruft und er zwischen Prunk und Schmutz seine Bestimmung sucht. (Klappentext)

Rezension:

Zwischen Realität und Fiktion schwankt diese Geschichte, in derer dem Hauptprotagonisten in seinem Leben gleich mehrere Schläge in die Magengrube gegeben werden. Dies ist die Grundlage vieler Erzählungen um fiktive und verbürgte Waisenkinder, die in diesem und nächstliegenden Zeitkolorit gesetzt werden, zumal seit „Oliver Twist“ von Charles Dickens. Nun gibt es eine ähnliche Geschichte aus der Feder eines Namensvetters (nur vom Vornamen her). Diese entführt uns Lesende nach Zentraleuropa.

Zuweilen nicht ganz so düster wie im englischen Vorbild wirkt Charles Lewinskys Roman „Sein Sohn“ und dessen Hauptfigur Louis Chabos, der zunächst das Glück für sich gepachtet zu haben scheint und der Suche nach seiner Herkunft immer wieder ein Stück weit näher kommt. Die Härte des Waisenhauses kommt Louis Chabos schon früh zu Gute, nicht zuletzt begegnet er den richtigen Menschen, durchbricht die Heimatlosigkeit gar. Vollkommen ist mit dem Finden einer Familie jedoch noch lange nichts. Für die Suche nach seinem Vater setzt er dann alles aufs Spiel.

So viel zur Geschichte, die so aufgeschrieben, viel harmloser wirkt, als sich der Text letztendlich liest. Der vom Autor ausgestaltete Hauptprotagonist hat im ersten der dreiteiligen Erzählung alle Sympathien auf seiner Seite, was sich im weiteren Handlungsverlauf verfestigt, gleichwohl schon da Widersprüche eingewoben werden, die im letzten Drittel des Romans aufbrechen. Der tiefe Fall folgt auf einem langen steinigen Weg zum Glück, welches Louis Chabos sogar in Großteilen verspielt.

Hier ist man lesend in der besseren Position. Man ahnt mit jeder Zeile mehr, mit jeder gelesenen Seite, dass das Unglück naht. Möchte den Protagonisten schütteln, stoßen. Der erwachsene Protagonist wirft weg, was das Kind Oliver Twist im gleichnamigen Vorbildroman mit allen Händen festhalten kann, sobald es das einmal erreicht hat. In dieser Warte schaut man lesend voraus, hofft dennoch auf eine Wendung, doch noch die glückliche Fügung, weiß, dass das alles nicht so enden wird, wie man sich es wünscht.

Nur eine Sichtweise verfolgt Charles Lewinsky, nicht alles wird gesagt. Viele Bilder entstehen trotz eines fast nüchternen klaren Schreibstils im Kopf. Ruhig wird dieses, ja fast Märchen erzählt, welches inmitten von drei in Umbrüchen befindlichen Ländern spielt. Der Protagonist nimmt Blick auf seine Umgebung. Einzelne Gegenstände, Häuser, Personen bekommen so Konturen. Nebensächliches verblasst dagegen. Wer auf ausschweifende Erzählweise Wert legt, wird enttäuscht werden. Es bleibt jedoch auch so genug Stoff im Kopf hängen, um den Gedanken nachzugehen.

Die Stärke des Autors liegt hier vor allem im Einweben des historischen Kolorits. In die Zeit Napoleons einzutauchen, ebenso, wie die Zeit der Restauration wird ebenso möglich, wie auch den Bezug zu unserer Zeit. Nur schlägt hier die Cholera Schneisen des Leides durch Landschaften und Städte. Zeitweise ist es interessanter, dem nachzugehen, als dem Empfinden des Hauptprotagonisten. Nur um dann dem nächsten Schicksalsschlag ausgeliefert zu sein. Vorsicht, in welcher Stimmung man das liest.

Autor:

Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren und ist ein Schweizer Drehbuchautor und Schriftsteller. Zunächst studierter er Germanistik und Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin, bevor er als Dramaturk und Regisseur am Theater, sowie als Redakteur des Schweizer Fernsehens tätigt wurde. 1984 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Es folgten weitere Bücher und Produktionen, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2011 wurde Lewinsky erstmals für den Schweier, 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Sein Werk wird in mehr als 14 Sprachen übersetzt.

Charles Lewinsky: Sein Sohn Weiterlesen »

Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau

Inhalt:

Was tut ein vierzehnjähriger Pariser Vorstadtjunge aus prekären Verhältnissen abends in der Bibliothek? Er hilft seinem Vater, der den Lebensunterhalt der Familie als Putzkraft verdient, und wischt Staub von den Büchern. Hin und wieder schlägt er eines auf, lernt neue Wörter und lacht sich kaputt.

Saphia Azzeddine erzählt leichthändig und schnell eine liebevolle Vater-Sohn-Geschichte voller Situationskomik und Galgenhumor. Ein unterhaltsamer, ironischer Bildungsroman über das bittere Leben am gesellschaftlichen Rand, der fest daran glaubt, dass nichts verloren ist, so lange es Bücher gibt. (Klappentext)

Rezension:

Gesellschaftskritik, Bildungsroman, Coming of Age, dieses Kurzstück ist irgendwie alles, soweit das möglich ist in dieser kompakten Form, die zwischen den Fingern zerrinnt, gleichsam eines Arthouse-Films, wie Fäden geschmolzenen Käses. Zunächst, das muss nichts schlechtes sein, funktioniert es unter der Feder Saphia Azzeddines‘ im Großen und Ganzen gut.

Wir begleiten den Jungen Paul, von seiner Familie Polo genannt, durch die Pubertät bis hinein ins junge Erwachsenenalter. In einer Zeit, die für die meisten seiner Altersgenossen ohnehin schon anstrengend genug ist, unterstützt er seinen Vater dabei, den Lebensunterhalt für die Familie als Reinigungskraft zu verdienen. Auch in einer Bibliothek finden sich die beiden wieder. Die Welt der Wörter wird für den Jungen fortan Flucht- und Mittelpunkt, nicht zuletzt auch, um mit der realen Welt klarzukommen.

Im Laufe der Zeit entdeckt der Junge immer neue Wörter und macht sie zu seinen eigenen, vergrößert damit gleichsam seinen Horizont. Doch, hilft das, sich ein besseres, ein anderes Leben als das seines Vaters aufzubauen? Seiner Schicht zu entfliehen? Emotional an der Grenze zur Nüchternheit erleben wir Lesende die Welt aus den Augen eines Jungen, der außerhalb der beinahe zum Ritual für Vater und Sohn werdenden Ausflüge kaum aus seinem Stadtviertel herauskommt und nebenbei den ganzen Ballast von Problemen, mit denen er jonglieren muss.

Beachtung, Nichtbeachtung, Wut und Verzweiflung, Melancholie, die erste Liebe. Die Autorin packt die großen Themen, reißt sie an, lässt sie offen. Nicht alle wird der Protagonist auflösen können. Das Leben ist nicht perfekt. Ein paar kluge Gedankengänge verlieren sich zwischen den Buchstaben. Andere Handlungsstränge werden weiter verfolgt.

Nur so hat es die Autorin geschafft, fast die Novellenform zu halten, trotz des umfassend beschriebenen Zeitraums. Um Gegensätze streift die Figur, berührt sie ab und an, durchbricht sie selten. Die Konzentration auf Dreh- und Angelpunkt wird beinahe stoisch gehalten. Kürzen kann man hier kaum mehr etwas. Ein paar Seiten mehr, dazu Tempo und weniger Melancholie hätten dem Roman gut getan.

Neben der Hauptfigur gewinnt nur der Vater des Protagonisten, zwangsläufig durch die Handlung bedingt, an Kontur, alles andere verblasst vor den Grautönen der Banlieue.

Wo es Paul fehlt, mangelt es auch dem Lesenden, wenn auch nicht an Schlüssigkeit und Konsequenz. Die wird fast bis zum Ende durchgehalten. Ohne näher darauf einzugehen, das ist weder zu klischeehaft, noch raffiniert gelöst. Die leichteste aller Varianten wurde da gewählt.

Da fehlt die sprichwörtliche Sahne auf den Kuchen, der auch ohne die sonst obligatorische Kirsche auskommen muss. Das entspricht ungefähr diesem Text. Man wird satt, bleibt das auch, weil’s nicht schlecht war, aber eben Standardessen. Man spürt den Staub, von dem Polo die Bücher befreit förmlich in den eigenen Atemwegen, stirbt aber auch nicht daran. Große Überraschungen darf man hiervon nicht erwarten, zumal nur Details erzählt werden, wenn sie das Interesse der Hauptfigur auf sich ziehen. Da sich daran von Beginn an nichts ändert, merkt man schnell, wohin die Geschichte führt, oder eher, wo sie stehenbleibt.

Es verstört geradezu, dass die Autorin ihrer Hauptfigur so gar keine Ambitionen verschrieben hat, sich, die Beziehung zu dem Vater einmal ausgenommen, da herauszuarbeiten, ansonsten jedoch kann man sich die Tristesse gut vorstellen, wie auch das Gefühlschaos des Jugendlichen. Der Funke, dass der Roman einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird, ist aber schlichtweg nicht vorhanden.

Für wen ist dann dieser Durchschnitt französischer Literatur gedacht? Bitte nicht für jene, die damit noch nie in Berührung gekommen sind. Die fassen doch danach kaum mehr als ein Asterix-Heft an? Wobei dort ja auch Staub aufgewirbelt wird, wenn auch nicht über Worte.

Autorin:

Saphia Azzeddine wurde 1979 in Agadir, Marokko, geboren und ist eine französisch-marokkanische Schriftstellerin und Journalistin. Sie wuchs in Frankreich auf, arbeitete als Diamantenschleiferin und studierte anschließend Soziologie. 2008 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, zudem schrieb sie mehrere Drehbücher. Sie arbeitet zudem als Journalistin.

Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau Weiterlesen »