Ort

Florence Aubenas: Er ist keiner von uns

Inhalt:

Ein Dorf in der französischen Provinz, Dezember 2008. Um 8:30 Uhr schließt Catherine Burgod die kleine Postfiliale in der Dorfmitte auf. Eine halbe Stunde später ist sie tot, mit achtundzwanzig Messerstichen brutal ermordet. Die aufgebrachte Bevölkerung sucht einen Schuldigen, und der Verdacht fällt auf den Fremden im Dorf …

Nach jahrelanger Recherche erzählt die preisgekrönte Journalistin Florence Aubenas die Geschichte dieses bis heute ungelösten Kriminalfalls – atmosphärisch, packend und erschütternd. (Klappentext)

Rezension:

Eigentlich ein vergleichsweise belangloser Kriminalfall, ist der im französischen Monreal-la-Cluse geschehene Mord an einer Postangestellten ein Geschehen, welches bis heute viel mehr Fragen aufwirft als beantwortet werden können, zumal der für lange Zeit Hauptverdächtige kurz vor einer letzten Gegenüberstellung spurlos verschwand.

Die Journalistin Florence Aubenas hat recherchiert und nicht nur ein Ermittlungsporträt erstellt, auch ein spannend zu lesendes Psychogram eines Menschen, der tiefer kaum fallen konnte.

Hierzulande kaum bekannt, dürfte dieser Fall in Frankreich ein paar Wellen geschlagen haben, ist der des Mordes Hauptverdächtige kein geringerer als der für seinen Film “Le petit criminel” 1991 mit dem Cesar ausgezeichnete Jungschauspieler Gerald Thomassin, dessen Biografie schon zuvor mit zahlreichen Hindernissen und Stolpersteinen gespickt war.

Aufgrund von Drogen- und Beziehungsproblemen verschlug es ihn später in den Ort, der Jahre später zum Schauplatz eines Verbrechens werden sollte, was die Region erschüttern sollte. Aufgrund von getätigten Aussagen und Formulierungen Thomassins selbst, rückt dieser schnell in der stetig kleiner werdenden Liste der Hauptverdächtigen, was eine über Jahre andauernde Dynamik ins Rollen bringen sollte.

Die Autorin rollt den Fall auf und beleuchtet von allen Seiten die Biografie Thomassins und die Dynamik eines Geschehens, welche eine örtliche Gemeinschaft auseinanderbrechen ließ und nicht nur ein Leben zerstörte. Beinahe an der Grenze zum Roman schlüsselt Aubenas Ereignisse auf, sucht Wendepunkte und Puzzleteile zusammen zu setzen.

Dabei streift sie die Abgründe der Gesellschaft, ebenso den Kontrast zur gegensätzlichen französischen Filmwelt, aber eben auch die Innereien einer Justiz- und Ermittlunsgarbeit, die zwangsläufig irgendwann auf die Stelle tritt, wenn alle Spuren und Indizien kaum handfeste Ergebnisse zu Tage befördern.

Vor allem versucht sie einen Charakter zu verstehen, welcher schon zu Zeiten seines schauspielerischen Schaffens für die ihn Umgebenden kaum zu fassen gewesen sein muss, beschäftigt sich jedoch auch mit der gegenüberstehenden Seite. Was macht dies mit den Angehörigen, denen man das Liebste nimmt? Welche Sichtweisen entstehen, wenn man die für selbstverständlich wahrgenommene Sicherheit herausnimmt?

Sehr sachlich, ruhig geht die Journalistin hier vor, so dass man das Gefühl hat, ohne die Quellenlage freilich genau zu kennen, dass hier intensiv recherchiert und befragt wurde. Vom Stil her kann man diese Reportage den Büchern Asne Seierstads zuordnen oder Michelle McNamara, die ebenfalls zu Fällen ihrer Heimatländer recherchierten.

Vieles bleibt aufgrund der Informationslage dennoch im Verborgenen, so musste Aubenas ergänzen und Schlüsse ziehen. Wirklich gelöst wurde der Fall nie, wenn auch gegen Ende der Ermittlungen sich ein neues, anderes Bild ergab als dies zunächst schien.

Wer sich mit dem französischen Film etwas tiefgehender beschäftigt, wird um die Geschichte des Schauspielers Gerald Thomassin und seine Verwicklungen in diesem Kriminalfall wohl früher oder später kaum drum herumkommen. Für andere mag die beschriebene Dynamik oder Arbeit des Rechts- und Justizsystems eines anderen Landes ein interessanter Aspekt sein, sowie die psychologische Komponente oder gesellschaftliche Wahrnehmung.

Der Schreibstil, oder die Übersetzung haben hier ein paar Längen entstehen lassen, zumal man gen Ende lesend genauso ratlos sein wird, wie Angehörige, ermittelnde und die Journalistin selbst. Wird dieser Fall jemals gänzlich gelöst werden können?

Autorin:

Florence Aubenas wurde 1961 in Brüssel geboren und ist eine französische Journalistin. In Paris studierte sie bis 1984 an der Journalistenschule “Centre de formation des journalistes” und arbeitete anschließend bei einem Wirtschaftsmagazin.

Seit 1986 ist sei bei der Zeitung “Liberation” tätig und war als Kriegs- und Krisenreporterin in Ruanda, Kosovo und Afghanistan im Einsatz. Über den Völkermord von Ruanda und über die Globalisierung schrieb sie viel beachtete Bücher. 2010 wurde ihr im Stile Günter Wallraffs veröffentlichter Bericht über die Erfahrungen als Putzfrau in Frankreich ein Beststeller, der auch ins Deutsche übersetzt wurde.

Während ihrer Arbeit in Bagdad wurde sie entführt und erst nach fünf Monaten Geiselhaft wieder freigelassen. Ihre literarisch aufgearbeiteten Recherchen wurden mehrfach ausgezeichnet.

Auch interessant:

Wikipedia-Eintrag zu Gerald Thomassin

Dokumentation über den Kriminalfall (französisch)

Trailer zu “Le petit criminel” mit Gerald Thomassin

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Stephen King: Die Leiche

Inhalt:

In einer heißen Sommernacht brechen der zwölfjährige Gordie und seine drei Freunde in die Wälder Maines auf. Die Leiche eines vermissten Jungen soll dort irgendwo an den Bahngleisen liegen. Schon bald erfahren sie, dass Monster nicht etwa unter dem Bett oder im Schrank auf einen lauern, sondern sich in jedem von uns verstecken. (Klappentext)

Rezension:

Der letzte Sommer der Kindheit hält mitunter Magisches bereit und das eine oder andere große Abenteuer. Dies ist es, was der Schriftsteller Stephen King 1982 in seiner Novelle „Die Leiche“ beschrieben hat und auch in einigen seiner anderen Geschichten hier ebenso zur Perfektion getrieben hat. Melancholisch angehaucht ist die Erzählung, in der der Großmeister
amerikanischer Literatur Realität mit Fiktion verwoben hat.

Schnell findet man hinein und beginnt sozusagen einen Roadtrip zu Fuß, aus der Sicht des zwölfjährigen Hauptprotagonisten Gordie, der sich mit seinen Freunden auf den Weg
macht, um die Leiche eines gleichaltrigen Jungen zu finden, der in der Gegend verunglückt sein soll.

Die Aussicht auf den Fund, eine Bande älterer Jugendlicher trüben die Ereignisse, zudem hat jeder der vier sein Päckchen zu tragen, was zumeist mit den älteren Brüdern oder der Familienbande allgemein zusammenhängt. Auf den Weg, der unbewusst zum Ziel selbst wird, kommen Ängste, Hoffnungen und Träume zum Vorschein. Besonders der Hauptprotagonist und sein bester Freund Chris werden über sich hinauswachsen müssen. Gelingt das?

Ich versuchte nicht, ihm etwas anderes zu erzählen. Man erschrickt, wenn man erfährt, dass ein anderer, und sei es ein Freund, genau weiß, wie schlecht es um einen bestellt ist.

Stephen King: Die Leiche

Kurz gesagt, ja. Stephen Kings Fähigkeiten, sich mehr oder weniger in vielen literarischen Genres zu bewegen, dürfte mittlerweile unbestritten sein, doch diese Novelle ist unter seinen Werken, natürlich neben „Es“ ein Klassiker, auf den man sich einlassen kann. Auch hier schafft der Autor wieder ein Gefüge von Kindern und lässt unterschiedliche Charaktere aufeinanderprallen, dies innerhalb eines sensiblen kleinstädtischen Gefüge, welches man wohl schon damals zu den abgehängten Regionen Amerikas zählen dürfte.

Über einen Zeitraum von einigen Tagen erstreckt sich die Geschichte, die mit Rückblenden und nicht zuletzt der Phantasie des erzählenden Hauptprotagonisten breiter aufgefächert wird. Zudem wird aus dem Off erzählt, sozusagen aus der Vogelperspektive des Erwachsenen, der die Geschehnisse der Vergangenheit reflektiert.

Das funktioniert wunderbar, wobei besonders die Konstruktion der Gegensätze gelungen ist. Die befreundeten Kinder, noch unschuldig, neugierig einerseits, die jedoch mehr verstehen, als die meisten Erwachsenen glauben, die der Jugendlichen, die bereits abgehängt sind, bevor sich ansatzweise Chancen auftun könnten.

Freunde kommen und gehen wie Kellner im Restaurant, oder ist das bei euch anders? Wenn ich jedoch an den Traum denke, an die Leichen im Wasser, die mich erbarmungslos herabziehen wollen, dann erscheint es mir richtig, dass es so ist. Ein paar ertrinken, das ist alles. Es ist nicht fair, aber es passiert. Ein paar ertrinken.

Stephen King: Die Leiche

Interessant hierbei übrigens die Parallele zur späteren Verfilmung „Stand by me“, deren Kinderdarsteller real schablonenartig ähnliche Schicksalsschläge erleiden müssen, wie sie auch der Autor für seine Protagonisten erdacht hat. Wer die Verfilmung kennt, es ist beinahe so, wenn auch nur marginal, als hätte Stephen King etwas vorweg genommen, um dies dann zu verarbeiten. Auf ein paar seiner Kindheitserlebnisse, die sich dort wiederfinden, trifft auch das zu.

Trotzdem liest sich das leicht, die Handlung ist nachvollziehbar, sowie auch die Charaktere der einzelnen Protagonisten bis hin zu den Nebenfiguren wunderbar ausgestaltet sind, was lt. Rezensionen einiger neuerer Werke von Stephen King dort nicht immer der Fall ist.

Abwechslung bringen die Einschübe in Form von Geschichten, die der Hauptprotagonist seinen Freunden erzählt etwa, und später als Schriftsteller zu Papier bringen wird. Auch dies ist ein wiederkehrendes Element. Der kindliche Protagonist ist später Schriftsteller. Auch ein manchmal unvorhersehbarer Autor hat eben seine Schablonen und Motive, die immer wieder funktionieren und ja, mitunter auch erwartet werden.

Wechsel, Rückblenden und Einschübe erhöhen hier die Spannung einer Geschichte, bei der man schnell ahnt, wie sie ausgehen könnte, was jedoch nicht stört, da diese Coming of Age Erzählung damit spielt und den Bogen nicht überreizt. Tatsächlich wird man in ein Amerika hinengezogen, welches es noch vor gar nicht allzu vielen Jahren gab. Alleine schon dafür lohnt es sich. Hier können alle etwas für sich herausziehen.

Wir wussten genau, wer wir waren und wohin wir wollten. Es war herrlich.

Stephen King: Die Leiche

Wer gerne Coming of Age, Roadtrips (zu Fuß) liest, liegt hier ebenso richtig, wie jene, die sich einfach vom Setting begeistern lassen oder vom Aufeinanderprallen gegensätzlicher Charaktere, wenn auch mein Bild der Figuren durch die Schauspieler geprägt wurde. Den Film sah ich nämlich zuerst, ohne zu wissen, auf welchen Roman dieser beruht. Macht hier nichts. Die Umsetzung ist super, ohne qualitative Abstriche.

Zurück zur Novelle. Die funktioniert so ziemlich für alle. Jugendliche und Erwachsene. Letztere erinnern sich gleichsam an den Sommer, den sie als den letzten ihrer Kindheit definieren dürften, an all die kleinen und großen Abenteuer, Schwierigkeiten und Probleme, denen man ausgesetzt war, wogegen jüngere Lesende an die Hauptprotagonisten altersbedingt einfach nah dran sind. Zudem, was hier im amerikanischen Nirgendwo stattfindet, könnte man auch mühelos in ein bayerisches Kuhdorf und Umgebung dieser Zeit verfrachten. Das würde wohl ähnlich funktionieren.

Diese Geschichte aus der Feder Stephen Kings, der noch viele weitere folgen sollten (und hoffentlich noch folgen werden), ist zudem ein wenig herausgestellt, da sie keine
übernatürlichen Elemente enthält und statt Horror eher unterschwelligen Grusel, und das auch nur ganz leicht. Das hat mir sehr gut gefallen. So kann es dafür nur eine klare Leseempfehlung geben.

Autor:

Stephen Edwin King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren und ist ein US-amerikanischer schriftsteller. Unter verschiedenen Pseudonymen und unter seinem eigenen Namen verfasste er vor allem Horror-Literatur, aber auch zahlreiche Kurzromane. Seine Bücher wurden in über 50 Sprachen übersetzt, womit King zu den meistgelesensten und kommerziell erfolgreichsten Autoren der Gegenwart zählt.

Nach der Schule studierte er Englisch, unterrichtete in diesem Fach und arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor er seinen ersten Roman veröffentlichte. Sein Werk “Carrie” erschien 1974 in deutscher Übersetzung als erstes Werk von King. Zahlreiche seiner Werke wurden verfilmt.

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Andreas Moster: Kleine Paläste

Inhalt:

Mehr als dreißig Jahre haben sich die früheren Nachbarskinder Hanno Holtz und Susanne Dreyer nicht gesehen. Als jugendlicher verließ Hanno die heimatliche Kleinstadt urplötzlich, nun ist er zurückgekehrt, um sich nach dem Tod der Mutter um den Vater zu kümmern. Unsicher streift er durch eine Welt, die im näher und fremder nicht sein könnte. Susanne sieht ihm dabei zu.

Seit Jahrzehnten hat sie das Haus der Familie Holtz nicht aus den Augen gelassen. Als sie Hanno ihre hilfe anbietet, treffen Erinnerungen an ein Fest im Sommer 1986 aufeinander. Niemand blieb damals unversehrt – und niemand kann nun verhindern, dass immer mehr Licht durch die Risse der kleinen Paläste dringt. (Klappentext)

Rezension:

Das Haus herausgeputzt, den Sohn vor versammelter Nachbarschaft dazu angetrieben, sein Instrumentenspiel vorzuführen. Schiefe Töne, schiefe Blicke. Des Nachbarsmädchens und der Nachbarn, jene Gemeinschaft, die sich allesamt näher sind als sie glauben und doch wie Geier einander umkreisen. Nur keine Schwäche zeigen. Nur die Fassade wahren. Keinen Blick dahinter zulassen.

Der Übersetzer und Schriftsteller Andreas Moster hat sie geschrieben, diese Erzählung, die nach und nach unter die Haut geht, niemanden unberührt lässt. Es ist ein leiser Roman, zumindest zu Beginn beinahe unscheinbar. Langsam ist das Erzähltempo, doch schon die ersten Kapitel fordern die Lesenden heraus.

Perspektiven wechseln ebenso abrupt, wie Zeitebenen, ohne dass dies besonders gekennzeichnet wäre. Nur in der Draufsicht bemerkt man, wer wen beobachtet. Erinnerungen werden aus der Sicht der Protagonisten, alles kreist um die beiden Hauptfiguren, die nach und nach das Puzzle der Vergangenheit freisetzen, klarer.

Dieser Gesellschaftsroman zeigt die typische Dynamik einer Kleinstadt auf, in der alle einander zu kennen glauben und doch, einmal aufgedeckt, nichts mehr ist, wie es mal war. Die Fallhöhe der Protagonisten, in die der Autor mit immer schnelleren wechseln, die jedoch allesamt nachvollziehbar bleiben, ist unglaublich hoch.

Die Lesenden beobachten, was über Jahrzehnte zwischen den beiden Hauptfiguren unausgesprochen bleibt. Als würde man direkt in deren Umgebung sein und einem Konflikt beiwohnen, der nur sie etwas angeht. Hölzern, fast linkisch, scheu begegnen sie sich zunächst und spielen sich ein. Ein Team wider Willen und doch willens. Mit inneren ungelöst aufgestauten Konflikten.

Sprachlich ist das so unscheinbar ausgearbeitet, dass einzelne Sätze einem mit einer Wucht überfallen, die man nicht erwartet, die einem nachdenklich werden lassen. Was wäre, wenn Unaussprechliches in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschehen würde?

Was würde passieren? Wie würden Verhältnisse sich neu ordnen? Welche Bindungen wären nicht mehr zu kitten? Was wäre für immer zerstört? Wie hätte man eingreifen, bestimmte Dinge verhindern können? Große Fragen, die Protagonisten beginnen zu Beginn der Geschichte die Verarbeitung.

Jeder Handgriff am pflegebedürftigen Vater Hannos, jeder Handgriff am renovierungsbedürftigen Elternhaus steht symbolisch dafür. Der leise Schrei, der hätte laut sein sollen, aber nie die Chance dazu hatte, so zu werden. Andreas Moster ist das Kunststück gelungen, dies auf Papier zu bringen.

Autor:

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren und ist ein deutscher Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete danach als freier Übersetzer. 2017 erschien sein erster Roman “Wir leben hier, seit wir geboren sind”. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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Kyle Perry: Die Stille des Bösen

Inhalt:

Das Verschwinden einer Gruppe Teenager in der abgeschiedenen Wildnis der tasmanischen Berge versetzt das Städtchen Limestone Creek in Alarmbereitschaft. In den Achtzigern sind hier schon einmal junge Mädchen verschollen, und die Legende des Hungermanns verfolgt die Gemeinde noch immer.

Als schließlich die übel zugerichtete Leiche eines der Mädchen am Fuß eines Berges gefunden wird, fällt der Verdacht auf wilde Tiere. Doch Detective Badenhorst ist skeptisch – warum ist die Leiche barfuß? Und wie kommen ihre Schuhe auf den Gipfel des Felsens, fein säuberlich zugeschnürt? (Klappentext)

Rezension:

Jeder Ort hat seine ihm ganz eigenen Geheimnisse und nicht alle legen wert darauf, entdeckt zu werden und so quält sich ein kleiner Ort inmitten Tasmaniens mit der grausigen Legende des Hungermanns, der der Meinung der Einheimischen nach, in den 1980er Jahren mehrere Mädchen hat verschwinden lassen. Als plötzlich erneut mehrere Teenager verschwinden und die Geister der Vergangenheit geweckt zu sein scheinen, werden Ereignisse von ungeheurer Tragweite in Gang gesetzt.

Er hockt in den Bergen versteckt, um zu töten.
Er hockt in den Höhlen versteckt, um zu warten.
Der Hungermann, der Hungermann,
er steht auf kleine Mädchen,
auf die hübschen Gesichter aus unserem Städtchen.
Glaub ja nicht, was die Erwachsenen sagen,
der Hungermann wird’s wieder wagen.
Drum geh ich da oben nie allein durch den Wald,
sonst kommt der Hungermann und macht mich kalt.

Kyle Perry: Der Hungermann

So beginnt das Thriller-Debüt des australischen Sozialarbeiters Kyle Perrys, der seine Leserschaft in die magische und auch harte Welt der größten Insel Australiens mitnimmt und auf eine Berg- und Talfahrt sondergleichen schickt. Dabei hält sich der Autor nicht großartig mit einer ausführlichen Einführung der Protagonisten auf. Zu umfangreich ist die Seitenzahl.

Man wird später noch genug Zeit haben, die Charaktere kennen zu lernen. Die Geschichte beginnt sofort mit der auslösenden Handlung und setzt sich in einem immer höheren Erzähltempo fort. Der Schreibstil wirkt zunächst hölzern, je mehr die Protagonisten durch Perry geformt werden, um so feingliedriger jedoch wird die Handlung, die aus Sicht der Charaktere kapitelweise erzählt wird.

Dabei hat sich der Autor viel vorgenommen. Erzählt wird von der Eigensinnigkeit der Kleinstadtbewohner ebenso, wie von den Gegensätzen zwischen Einheimischen und Fremden, ganz normalen Teenager-Problemen und Erscheinungen unserer Zeit in ihren schrecklichsten Formen. Das funktioniert, da Perry in seinem Debüt nichts an Schilderungen ausspart, die Handlung jedoch nur gerade so ausbreitet, wie es notwendig ist, den Geschehnissen zu folgen und ansonsten bis beinahe zum Ende im Unklaren zu bleiben.

Die Protagonisten sind mit Ecken und Kanten versehen, bleiben fast durchgehend glaubwürdig. Nur zum Ende hin wirkt die Geschichte eine Spur zu dick aufgetragen. Da merkt man das Debüt dann doch, ansonsten wird ein Spannungsbogen von Beginn an gezogen, den man mit leichtem Schauer verfolgt. Pluspunkt, Perry bleibt in seinen Schilderungen von Gewalt zurückhaltend, setzt diese nur dort, wo es für die Handlung notwendig und folgerichtig erscheint. Ansonsten ist „Die Stille des Bösen“ ein Psychothriller mit hohem Kriminalromananteil.

Wem dies liegt, kann sich gerne auf die Spuren des Hungermanns begeben. Mit aller Vorsicht.

Autor:
Kyle Perry lebt in Tasmanien und arbeitet als Therapeut und Sozialarbeiter in verschiedenen Highschools, Jugendeinrichtungen und Entzugskliniken. Er stammt aus der Gegegnd der Great Western Tieras, die in seinem Debüt eine bedeutende Rolle spielen. “Die Stille des Bösen” ist sein Erstlingswerk.

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Christa von Bernuth: Tief in der Erde

Inhalt:
Ein entführtes Mädchen. Ein Grab im Wald. Und ein Dorf, das bis heute schweigt.

Oberbayern, 1981: Die zehnjährige Annika Schön ist mit dem Fahrrad auf dem Heimweg, doch sie kommt nie zu Hause an. Nach Tagen des qualvollen Wartens macht die Polizei einen erschütternden Fund…

In ihrem True-Crime-Roman, inspiriert von einem spektakulären Fall, der die Republik erschütterte, begibt sich Christa von Bernuth auf die Suche nach der Wahrheit. (Klappentext)

Rezension:
Als im Jahr 1981 ein kleines Mädchen auf ihrem Nachhauseweg entführt wurde, ahnte niemand, dass sich der Vorfall später zu einem der rätselhaften und unheimlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte entwickeln sollte. Das Kind wurde nur wenig später tot aufgefunden. Der Prozess der Aufarbeitung dauert bis heute an.

Ich höre nichts außer meinem eigenen panischen Keuchen, einem kläglichen, heißeren Stöhnen, das nicht zu mir zu gehören scheint. Ich versuche mich zu bewegen und stoße mit dem Kopf, mit dem Rücken und mit der linken Schulter auf etwas Hartes, aber doch nicht so hart wie Beton. Holz.“

Christa von Bernuth: Tief in der Erde

Zu viele Personen haben sich an den Ermittlungen beteiligt. Noch immer gibt es ungeklärte Fragen oder zumindest solche, die Zweifel am Tatgeschehen erkennen lassen. Der Versuch, einen solch polarisierenden Fall zu fiktionalisieren, ist ein schmaler Grad, der selten genug gut gelingt.

Die Journalistin und Autorin hat dies dennoch gewagt und so ist aus der Idee einer Reportage um den Fall Ursula Herrmann ein packender Kriminalroman entstanden, der nicht nur seinen Protagonisten den Atem nimmt. Das Tatgeschehen abgeändert, die Personenanzahl verdichtet, entwickelte die Autorin einen spannenden Handlungsbogen, der über zwei Zeitebenen die Leserschaft mitnimmt.

Das unmittelbare Geschehen vor und nach der Entführung bildet das Grundgerüst der Geschichte und nimmt dabei die Lesenden mit in den kleinen Ort in Oberbayern, in dem danach nichts mehr so sein sollte, wie zuvor.

Hier konzentriert sich die Autorin auf die aufreibende Ermittlungsarbeit, deren Schwierigkeiten und Fallstricke sie verarbeitet, wie auch die zum Himmel schreiende Verzweiflung der Angehörigen. Von Bernuth spielt gekonnt mit den Emotionen der Leserschaft. Man kann dies jedoch auch beinahe dokumentarisch lesen. Wer sich nur ein wenig mit dem Tatgeschehen auskennt, weiß Wahrheit und Fiktion mühelos zu unterscheiden.

Der darauf aufbauende Handlungsstrang verfolgt die Protagonistin Julia Neubacher, die als Gerichtsreporterin einer regionalen Zeitung den wieder aufgerollten Prozess zwanzig Jahre später verfolgt. Ihre Beobachtung und Interaktion mit dem inzwischen erwachsenen Bruder des Opfers treiben die Handlung beider Linien voran und verdichten sich zu einem immer schneller verlaufenden Geschehen, welches selbst Julia nicht unberührt lässt.

Hier sind vor allem die Parallelen zur Autorin Christa von Bernuth spannend, die selbst als Journalistin den Fall in einer Reportage aufarbeiten wollte und dabei alle Recherchemöglichkeiten nutzte, die ihr zur Verfügung standen.

Dies verwebt sie gekonnt in ihrem Roman, in dem selbst die Nebenfiguren nicht konturlos bleiben und gekonnt eingesetzt werden, um die Handlung voranzutreiben oder die Gefühlswelt und Verzweiflung zu verdeutlichen, in der die unmittelbare Umgebung des Opfers sich befindet.

“Hey Frosch.”
Er ist zusammengezuckt, weil die Stimme wie aus dem Nichts kam.
“Hey Frosch. Glück gehabt.”

Christa von Bernuth: Tief in der Erde

Im Genre True Crime ist „Tief in der Erde“ eine der Geschichten, die funktionieren und dabei einladen, selbst zu recherchieren. Was waren der Antrieb, das Motiv, die Beweggründe der Täter? Wer war das überhaupt? Was macht solch ein Schlag mit den Angehörigen? Bis hin zur Frage, wie Kompetenzgerangel die Ermittlungsarbeit zum Negativen beeinflussen kann, all dies berücksichtigt die Autorin in ihrem packenden Roman.

Ein Fall, der tiefe Wunden gerissen hat, die nie vollständig verheilen werden, wurde hier spannend verarbeitet und wird die Lesenden immer mehr für sich einnehmen. Das bleibt so, bis zur letzten Zeile. Eine unbedingte Leseempfehlung gibt es dafür.

Hintergrund:

Christa von Bernuth über ihren Roman “Tief in der Erde”. (Buch-Trailer des Verlags)

Die Vorlage: Der Fall Ursula Herrmann (Wikipedia.de)

Autorin:

Christa von Bernuth ist eine deutsche Schriftstellerin und Journalistin. Sie wurde 1961 geboren und hat nach ihrem Abitur in Schondorf am Ammersee in München Germanistik und Französisch studiert, arbeitete nach ihrer Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München für diverse Zeitschriften und Magazin.

1999 veröffentlichte sie ihren ersten Kriminalroman. Mehrere ihrer Werke wurden bereits fürs Fernsehen verfilmt und in einige u. a. Ins Schwedische, Niederländische und Russische übersetzt. Zudem arbeitet von Bernuth für das Magazin Echte Verbrechen. Mit ihrer Familie lebt sie in München.

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Samantha Harvey: Westwind

Westwind Book Cover
Westwind Samantha Harvey Atrium Verlag Erschienen am: 18.09.2020 Seiten: 383 ISBN: 978-3-85535-077-3 Übersetzer: Steffen Jacobs

Inhalt:

England, 1491. In dem kleinen, abgelegenen Dorf Oakham bereitet man sich gerade auf die bevorstehende Fastenzeit vor, als eines Nachts ein Unglück geschieht. Thomas Newman, der wohlhabendste und einflussreichste Mann im Ort, wurde von der Strömung des Flusses mitgerissen.

Ein paar Tage später taucht seine Leiche auf. War es ein Unfall, Mord oder Selbstmord? Dies herauszufinden, obliegt dem örtlichen Priester John Reve. Während sich durch die Beichten der Dorfbewohner langsam ein Porträt der Gemeinde zusammensetzt, kommen immer dunklere Geheimnisse ans Licht. Die Schuldfrage wird immer dringlicher. (abgeänderte Inhaltsangabe)

Rezension:

Szenarien bietet die Epoche des finsteren Mittelalters genug, so dass Fans historischer Romane sicher genug Auswahl haben. Die Themen sind so vielfältig, wie die historischen Figuren, selbst, wenn man frei schreibend, sich nicht an tatsächliche Geschehnisse orientiert.

So oder ähnlich hätte es ablaufen, die Stimmung unter den Protagonisten sein können. Dieses Gefühl mit einer Geschichte bei der Leserschaft zu wecken, dabei zu unterhalten, sollte das Ziel sein. Gelingt das, ist alles gut. Und dann gibt es noch Romane, wie den vorliegenden von Samantha Harvey.

Historische Romane bieten Platz für das ganz große Kino, was man rein, den Klappentext betrachtend, erwarten darf. Ein Priester in Konfrontation mit dem Glauben, die Dorfbewohner durch den Tod eines Menschen verunsichert, der am wenigsten dafür prädestiniert zu sein schien.

Ausufernde Intrigen, temporeiche, sich überschlagende Spannungsmomente und die Düsternis der Zeit. Auf diese freut man sich, nach dem Lesen der Inhaltsangabe, der ersten Zeilen, die aus der Sicht des Hauptprotagonisten geschrieben sind. “Westwind”, bietet jedoch allenfalls nur Schmalspur.

Gleichsam wie das beschriebene Dorf ist auch in dieser Erzählung alles mehrere Nummern kleiner. Spannungsmomente können ihre Wirkung kaum eine Seite lang halten, so dass das Tempo dem eines vor sich hin plätschernden Baches gleicht.

Das ist auf der Strecke ermüdend, zumal nur die Hauptprotagonisten einigermaßen vielschichtig sind, während der Rest der Figuren relativ farblos erscheint. Die Stimmung, die Samantha Harvey erzeugen wollte, kommt hier nicht auf, zudem das Ende mich unbefriedigt zurückgelassen hat.

Liegt es am Hintergrund des gestalteten Protagonisten, dem Szenario, der Idee dahinter? Nein, aber Sprache bedingt Wirkung, Spannungsbögen halten Lesende bei der Stange. Beides setzt die Autorin auf’s Spiel, zudem hier mehr Zwiespalt innerhalb der Figurenkonstellationen gepasst hätte und vielleicht noch die eine oder andere Verwicklung mehr.

Mit dem vorliegenden hätte man weniger Seiten besser füllen können. Unter historischer Spannungsliteratur stelle ich mir anderes vor, auch als detektivischer Roman, angesiedelt im Mittelalter, ist mir das zu dünn. Leider.

Autorin:

Samantha Harvey wurde 1975 geboren und ist eine englische Autorin. Zunächst studierte sie Kreatives Schreiben und Philosophie, bevor sie ihren ersten Roman im Jahr 2009 veröffentlichte. Kreatives Schreiben unterrichtet sie zudem an der Bath Spa University, wo sie als Dozentin tätig ist.

Harvey wurde mehrfach ausgezeichnet und erhielt u.a. den AMI Literature Award. Im Jahr 2010 wurde sie von The Culture Show zu einer der zwölf besten neuen britischen Schriftstellerinnen ernannt.

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Erik Fosnes Hansen: Ein Hummerleben

Ein Hummerleben Book Cover
Ein Hummerleben Erik Fosnes Hansen Kiepenheuer & Witsch Hardcover Seiten: 384 ISBN: 978-3-462-05007-3

Inhalt:
Ein grandios erzählter Roman, der vor wunderschöner Kulisse den Niedergang eines einstmals mondänen Hotels in den norwegischen Bergen beschreibt, und eine Geschichte über Lügen, Geheimnisse, falsche Erwartungen und großelterliche Liebe. (Klappentext)

Rezension:
Mehr gibt der Klappentext nicht her und man braucht im Grunde auch nicht mehr zu wissen, doch zum Zwecke der Rezension, einige Ausführungen ohne zu spoilern. Ein neues Jahrzehnt bricht an, welches viele Veränderungen mit sich bringen wird, die auch vor der tiefen norwegischen Provinz nicht Halt machen.

Dies macht sich besonders im verhalten der Touristen bemerkbar, die nicht mehr länger im eigenen Land, sondern lieber weiter weg ihre Ferien verbringen möchten und so herrscht im Ort Favnesheim, in den norwegischen Bergen, gähnende Leere im ortsansässigen Hotel, welches Sedds Großeltern in nachfolgender Generation betreiben. Zunächst den Schein wahrend, beginnt mit dem Ausbleiben der Gäste der schleichende Niedergang.

Zunächst noch unbemerkt von Sedd, den geliebten Enkel, der schon früh gelernt hat, mitzuhelfen, dreht sich die Abwärtsspirale spätestens seit einem unglücklichen Abendessen, bei dem der ortsansässige Bankdirektor stirbt, immer schneller. Doch, der Schein muss sein. Was nicht ausgesprochen wird, passiert auch nicht. Wie lange geht das gut? Sätze, wie folgende, nehmen dies vorweg.

Das Schaben von Hummerscheren verfolgte mich die ganze Nacht.

Erik Fosnes Hansen “Ein Hummerleben”

Dies ist die Ausgangslange eines familiären Romans, mit dem Fosnes Hansen nichts weniger gelungen ist als eine Antwort auf die hierzulande hinlänglich bekannten Buddenbrooks zu geben. Den schleichenden Verfall in so einfühlsamen Worten zu packen und mit so liebenswerten Protagonisten zu besetzen, gelingt dem Autoren über den gesamten Spannungsbogen des Buches hinweg.

Die Handlung wird aus der Perspektive des potenziellen Hotelerben und Enkels beschrieben, der alle Sympathie ob seiner Blauäugigkeit, Starrköpfigkeit, seines Witzes und seiner Intelligenz, auch Naivität bekommen kann, aber auch so sich seine ganz eigenen Gedanken macht. Er ist der genaue Beobachter, der den beginnenden Untergang zunächst nur ahnt.

Auch die anderen Protagonisten sind allesamt nicht unsympathisch, wenn auch der Einstieg in den Roman durch deren Art und Weise teilweise etwas schwierig ist. Man braucht als Leser ein wenig, um in die Handlung hinein zu finden, was Schreib- und Erzählstil von Fosnes Hansen geschuldet ist, bekommt jedoch dann eine wunderbare Erzählung, in der norwegische Natur und Familientradition auf die Unerbittlichkeit des wirtschaftlichen Überlebens treffen.

“Und ebenso”, führ ich fort, “muss es sich auch mit Argentinien und den Engländern verhalten. Entweder kamen die zuletzt Genannten zuerst und die zuerst Genannten zuletzt, oder die zuerst Genannten kamen zuerst und die uletzt Genannten zuletzt, falls nicht noch eine dritte Partei im Spiel sein sollte, die…”

Erik Fosnes Hansen “Ein Hummerleben”

Solche sprachlichen Feinheiten, durchsetzt immer wieder mit einer Prise Nachdenklichkeit und manchmal auch unerbittlichen Humor durchziehen das gesamte Schriftstück und machen den Roman zu einem wahren Lesegenuss. Heruntergebrochen passiert dabei nicht mehr als im Klappentext ersichtlich, dies ist jedoch vollkommen ausreichend, wenn man auch von der einen oder anderen Länge absieht, die eine solche Geschichte mit sich bringt.

Manche Ausführungen des Hauptprotagonisten wirken zu lang, zu ausschweifend, doch Fosnes Hansen fängt sich hier immer wieder, so dass es trotzdem eine insgesamt runde Sache bleibt. Ob der Roman endet, wie das große Vergleichsstück von Thomas Mann, muss der Leser selbst herausfinden. Mit einer Prise norwegischer Gelassenheit ist dies jedoch möglich. Humor sollte jedoch nicht fehlen.

Auf unseren Friedhof stehen die Gräber dicht,
doch ist da noch Platz für eine ganze Herde.
Willkommen sei uns jede Seele, bei der erlischt das Licht.
Je mehr, desto besser, wir bringen euch unter die Erde.

Erik Fosnes Hansen “Ein Hummerleben”

Ist das nicht toll?

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Alastair Bonnett: Die allerseltsamsten Orte der Welt

Die allerseltsamsten Orte der Welt Book Cover
Die allerseltsamsten Orte der Welt Alastair Bonnett C.H. Beck Verlag Erschienen am: 14.02.2019 Seiten: 268 ISBN: 978-3-406-73441-0 Übersetzer: Andreas Wirthensohn

Inhalt:

Eines haben die sehr verschiedenen Orte, von denen Alastair Bonnett in seinem neuen Buch berichtet, gemeinsam: Sie lassen uns darüber staunen, welche Geheimnisse in unserer durchkartierten Welt noch zu entdecken sind.

In der Arktis gibt das zurückweichende Eis nie von Menschen betretene Inseln frei, der Likouala-Sumpf im Kongo wartet bis heute auf eine geographische Erfassung, Städte wie Hongkong oder Sao Paulo verlieren buchstäblich ihre Bodenhaftung. Doch das Allersonderbarste, so die feste Überzeugung des Autors, ist fast immer vor der eigenen Haustür zu finden. (Klappentext)

Rezension:

Kaum mehr weiße Flecken gibt es auf unseren Welt. Sämtliche Gegebenheiten werden von Satelliten erfasst und von jedem Ort der Welt können die Menschen in die Ferne schweifen, ohne das heimische Wohnzimmer verlassen zu müssen. Was mit Flugzeug oder Schiff erreichbar ist, zu Fuß erkundet werden kann, liegt nahe. Nicht-Orte, so scheint es auf den ersten Blick, gibt es nicht mehr. Die zeit der großen und kleinen Entdeckungen und damit verbundenen Abenteuer ist vorbei.

Auf den zweiten Blick aber, kann man sich jederzeit und überall vom Gegenteil überzeugen. Alöastair Bonnett, der schon für sein erstes Buch die grenzen des geographischen Raumes erkundet und erweitert hat, begab sich erneut auf Spurensuche, weltweit. Er erkundet erschreckende Utopien und begibt sich auf die Suche nach Geisterstraßen, die nur auf Stadtplänen zu finden sind, nicht aber in der Realität.

Inseln, die auftauchen und wieder verschwinden, besucht er ebenso, wie Städte, deren Oberschichten sich neue Ebenen abseits des Straßenpflasters erschließen. Fußgängerbrücken als gescheiterte architektonische Projekte werden in Augenschein genommen, sowie gewollte Nicht-Orte, die das Entsetzen der Bevölkerung hervorrufen.

In kurzweiligen Kapiteln erläutert der Autor seine Faszination für das Nahbare und Augenscheinliche, lässt den Leser fortan mit einem genaueren Blick auf seine Umgebung zurück. Geografie ist längst nicht nur der faltbare Stadtplan, sondern ein spannender Blickwinkel, aus dem sich Orte betrachten und einordnen lassen. Bonnet wagt den Versuch, Probleme aufzuzeigen, Chancen zu sehen und sieht das Besondere im Selbstverständlichen.

Eine große Stärke dieses kleinen Sachbuches, welches sich sowohl in einem Rutsch, trotz einiger Längen, als auch häppchenweise lesen lässt. Und vielleicht sucht man bei seinem nächsten Städtetrip, auch vor der eigenen Haustür geht das, so der Autor, nach diesen und anderen, dann gar nicht mehr so seltsamen Orten und erschließt sich so seine ganz eigene Landkarte. Die gilt es schließlich zu füllen. Weiße Flecken aber, dies macht der Autor uns bewusst, werden bleiben. Ohne sie wäre die Welt jedoch nur halb so interessant.

Autor:

Alastair Bonnett ist Professor of Social Geography an der Universität Newcastle uund Autor zahlreicher wissenschaftlicher Werke und Herausgeber der psychogeographischen Zeitschrift “Transgressions: A Journal of Urban Exploration”. Er lebt in Newcastle upon Tyne in England.

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Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter

Der Sommer meiner Mutter Book Cover
Der Sommer meiner Mutter Rezensionsexemplar/Roman C.H. Beck Hardci´over Seiten: 189 ISBN: 978-3-406-73449-6

Inhalt:

Sommer 1969. Der elfjährige Tobias fiebert am Standtrand von Köln der ersten Mondlandung entgegen, während sich seine eher konservativen Eltern mit den neuen, politisch engagierten udn flippigen Nachbarn anfreunden. Deren dreizehnjährige Tochter Rosa bringt Tobias nicht nur Popmusik und Literatur bei, und zwischen den Ehepaaren entwickelt sich eine wechselseitige Anziehung. Aber die Liebe geht andere Wege, als vermutet. Und so erleben Tobias und seine Mutter beide eine erotische Initiation… (Klappentext)

Rezension:

Auf je mehr Seiten eine Geschichte erzählt wird, um so größer sind die Chancen, dass das Gesamtbild stimmig ist. Einfach der Tatsache geschuldet, dass ein Autor bei einer umfangreichen Erzählung mehr Zeit und Platz hat, Handlungen und Protagonisten auszugestalten und Tiefe zu geben. Dann gibt es jedoch auch die Autoren, die es schaffen, auf wenigen Seiten viel und gut zu beschreiben, was den einzelnen Figuren passiert und Ulrich Woelk gelang mit “Der Sommer meiner Mutter” genau dies.

Wir schreiben das Jahr 1969, das Jahr politischer Auf- und Umbrüche. Tobias, gerade erst elf Jahre alt geworden, lebt mit seinen Eltern in einem ländlichen Vorort von Köln und interessiert sich für Raumfahrt, zumal die erste Mondlandung kurz bevorsteht. Das Einzelkind, umsorgt von seinen Eltern, bekommt mit, wie sich diese immer mehr auseinanderleben, seine Mutter versucht für sich eine neue Rolle zu finden, der Vater hält noch an seinem althergebrachten Gesellschaftsbild fest und da kommt es gerade recht, dass im Nachbarhaus eine neue Familie einzieht. Das völlige Gegenteil von Tobias’ Familie, deren Leben sich nun verändert.

Geschildert werden sanft die vorstädtisch ländliche Idylle, einhergehend mit sesiblen Charrkaterbeschreibungen und einem ziemlich unspektakulären Handlungsverlauf. Es passiert auf diesen wenigen Seiten nicht viel, aber es reicht vollkommen aus, um Tobi und Rosa lieb zu gewinnen und das Umfeld, welches sich aus Kindersicht immer schneller dreht, am Ende den Abgrund entgegen gehen wird, wie ein Schwamm aufzunehmen. Zudem ist nicht nur die Handlung oder das lieb zusammengestellte Protagonistenensemble zu erwähnen, sondern auch die Sprache, die solche tollen Sätze hervorbringt, wie:

Ich möchte nicht, dass du den Mond verlierst.

Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter // C.H.Beck Verlag

Das ist doch großartig. Der Autor hat, das merkt man diesen Roman an, auch Philosophie studiert, drängt dies seinen Lesern jedoch überhaupt nicht auf, hat dies fein in diese Geschichte eingewoben. Es geht hier jedoch nicht nur um Sprache, Philosophie oder der ersten Mondlandung selbst. Woelk hat es vielmehr fertig gebracht, so ganz nebenbei den gesellschaftlichen Wandel zu jener Zeit, Emanzipation und Rollenfindung, ja selbst den Coming-of-Age-Teil stimmig unterzubringen. Präzise und glaubwürdig. Auf so wenigen Seiten.

Aus den C.H. Beck Verlag ein Kleinod und kleiner großer Roman, dessen Komponenten so stimmig sind, wie die Teile des Raumfahrtprogrammes der NASA es waren, welche zur Mondlandung führten. Der Autor hat es nicht nur geschafft, seinen beiden Berufen, den des Schriftstellers und des Astrophysikers Respekt zu zollen, sondern eine vielschichtige und lesenswerte Geschichte vorgelegt, die sich zu lesen lohnt.

Autor:

Ulrich Woelk wurde 1960 in Bonn geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Von 1980-1987 an, studierte er physik und Philosophie an der Universität Tübingen. Er arbeitete bis 1995 an der Technischen Universität Berlin, sowie in Göttingen als Astrophysiker. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1990. 1991 promovierte er über Weiße Zwerge in engen Doppelsternsystemen. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Er schreibt Theaterstücke, Romane und Hörspiele. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

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Anne-Laure Bondoux: Die Zeit der Wunder

Die Zeit der Wunder Book Cover
Die Zeit der Wunder Anne-Laure Bondoux Übersetzung: Maja von Vogel Carlsen Taschenbuch Seiten: 189 ISBN: 978-3-551-31285-3

Inhalt:

Koumail ist Franzose, so hat seine Ziehmutter es ihm erzählt. Zusammen fliehen sie vor den Kriegswirren des Kaukasus nach Frankreich, ins Land der Menschenrechte. Dabei hat er ein klares Ziel: seine Mutter wiederfinden. Eine lange Odyssee liegt vor ihm, doch Koumail verliert nie den Mut – und auch nicht den Glauben an das Glück. (Klappentext)

Rezension:

Ein junger Mann sitzt in der Abflughalle eines Flughafens und zieht einen Brief aus der Tasche und seinen Pass. Und erinnert sich. An seine Vergangenheit, seine Kindheit.

Koumail ist 12 Jahre alt als er auf der Flucht von der französischen Polizei aufgegriffen wird und hat für sein Alter schon eine Menge erlebt. Der Junge kennt nichts anderes als Chaos, Krieg, Hunger und die Ungewissheit, wie der nächste Tag sein wird, doch eigentlich sollte ihn das nicht schrecken.

Denn, eigentlich heißt er ja Blaise, Blaise Fortune und ist Bürger der französischen Republik. Doch, seine Kindheit liegt in den Kriegswirren des Kaukasus, eine Region, die man nicht verstehen kann, die er nicht verstehen muss, so seine Ziehmutter Gloria, die sich um ihn kümmert, ihn antreibt und Hoffnung gibt, dass sich eines Tages alles ändern wird, wenn sie es schaffen vor den Milizen zu fliehen.

Dann ist Gloria plötzlich verschwunden und er allein. Zum ersten Mal hat Koumail/Blaise das Gefühl, von seinem Glück in Stich gelassen worden zu sein. Eine anrührende geschichte von brutaler Aktualität ist das, was uns hier Anne-Laure Bondoux vorlegt. Eine Geschichte, die für Kinder und Jugendliche geschrieben wurde, um die Problematik begreifbarer zu machen. Falls das überhaupt möglich ist.

Und sie spricht ein Thema an, welches in den Debatten über Flüchtlingszahlen, Quoten und Unterkünften untergeht und mehr Beachtung finden muss. Egal welcher Konflikt, egal wer die Flüchtlinge sind, am meisten leiden Kinder darunter, die viel zu schnell erwachsen werden müssen und um ihre Unbekümmertheit betrogen werden.

Weil die Erwachsenen Konflikte auf ihren Rücken austrägt. Und so gibt es dann auch immer Kinder, die Eltern verlieren, die nur Krieg kennenlernen und gar unbegleitet flüchten müssen. In der Hoffnung, dass sich ihrer jemand annimmt. Auf der Flucht und irgendwann im fernen Zielland.

Traumatisch und nichts beschönigend, aus Kinderaugen, schildert Anne-Laure Bondoux ein Kinderschicksal, wie es sich zu allen Zeiten, in allen Krisenregionen der Welt abspielen könnte. Ja, gerade jetzt hundertfach abspielt. Und jetzt. Und jetzt. Und in Zukunft.

Dieser kleine Roman ist eine Mahnung an die Erwachsenen, was sie mit ihren Konflikten gerade den jungen Menschen auf dieser Welt antun und ein Fingerzeig auf die Scharfmacher, die zu gern Zahlenspiele und Schreckenszenarien durchspielen, den einzelnen Menschen dahinter nicht sehen. Eine Mahnung, einmal inne zu halten und mehr “Zeit der Wunder” zu zulassen, gerade die Jüngsten unter den Flüchtlingen aufzunehmen und willkommen zu heißen.

Der Schreibstil lässt flüssiges Lesen zu, ist einfühlsam und ehrlich. Nichts wird beschönigt. Bondoux lässt aber dem Protagonisten den Glauben an eine bessere Zukunft und dem Leser das Gefühl, dass es wichtig ist, nie aufzugeben und immer zu hoffen.

Ein Roman zu einer schwierigen Thematik und dennoch überwiegend positiven Grundstimmung, bei der man nicht umhin kann, den Protagonisten Koumail/Blaise ins Herz zu schließen. Zwar weiß man schon am Anfang die Lösung, doch der Weg Koumails ist hier das Ziel und um so beeindruckender dargestellt.

Natürlich ist es eine erfundene Geschichte, doch sie findet so oder ähnlich praktisch täglich statt. Sollte nicht dafür gesorgt werden, dass diese einen positiven Ausgang finden?

Autorin:

Anne-Laure Bondoux wurde am 23. April 1971 in Box-Colombes, Frankreich, geboren und ist eine französische Schriftstellerin. Sie studierte Moderne Literaturwissenschaften und arbeitete seit 1996 für verschiedene Literatur-Fachzeitschriften.

Seit 2000 ist sie selbstständige Autorin und setzt sich für die Förderung von Lesen und Schreiben bei verhaltensauffälligen Kindern ein und veranstaltet für diese Schreibwerkstätte. Ihre Werke wurden mehrfach übersetzt und vielfach ausgezeichnet.

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