Onkel

Wiebke von Carolsfeld: Das Haus in der Claremont Street

Das Haus in der Claremont Street Book Cover
Das Haus in der Claremont Street Wiebke von Carolsfeld Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 10.09.2020 Seiten: 361 ISBN: 978-3-462-05475-0 Übersetzerin: Dorothee Merkel

Inhalt:

Wie überlebt man das Undenkbare? Tom weigert sich zu sprechen, nachdem seine Eltern auf brutale Weise sterben.

Seine unfreiwillig kinderlose Tante Sonya nimmt ihn auf, kommt aber nicht an den traumatisierten Jungen heran. Bald ist Tom gezwungen, erneut umzuziehen, diesmal in die Claremont Street in der Innenstadt von Toronto, in der ihm seine liebenswert-chaotische Tante Rose und sein Weltenbummler-Onkel Will ein Zuhause geben.

Mit der Zeit wird Toms Schweigen zu einer mächtigen Präsenz, die es dieser zerrütteten Familie ermöglichst, einander zum ersten Mal wirklich zu hören. Ein Roman darüber, wie mit viel Humor und Liebe selbst aus den schlimmstmöglichen Umständen etwas Positives erwachsen kann. (Inhaltsangabe Verlag)

Rezension:

“Wir sterben.” Mit letzter Kraft sind es diese Worte, die dem kleinen Hauptprotagonisten über die Lippen kommen. Dann lange nichts. Tatsächlich ist dieses Debüt, welches mit einem lauten Knall beginnt, ein zutiefst mitfühlendes, auch verstörendes Porträt, eine ansonsten ruhige, dafür um so düstere Erzählung, die nun aus der Feder Wiebke von Carolsfelds vorgelegt wird.

Hauptprotagonist und Mittelpunkt der Geschichte ist ein kleiner Junge, der unschuldiger nicht sein könnte und auf dessen kleinen Schultern nun die Last liegt, eines der schlimmsten Vorkommnisse innerhalb von Familien erlebt zu haben. Zuerst ist der Schmerz da. Sehr viel später wird die Trauer folgen, doch Tom schweigt zunächst, lässt niemanden an sich heran. Warum denn auch? Ist doch eh alles vorbei.

Tom packte sich eine Tonscherbe, die von der Wand abgeprallt und direkt neben seinem Fuß gelandet war. Mama hatte diese Tasse geformt, hatte seinen Namen in den feuchten Ton geschrieben. Aber Tom konnte sich nicht mehr an die Konturen ihrer Hände erinnern. Angewidert schloss Tom seine Finger zur Faust und genoss den Schmerz, den der scharfe Splitter ihn bereitete. Je fester er drückte, je tiefer der Schnitt, desto besser.

Wiebke von Carolsfeld “Das Haus in der Claremont Street”

Herzzerreisend lesen sich die Zeilen, in klarer einnehmender Sprache geschrieben, um diese chaotische Familie, deren Zuhause in glücklichen Tagen ein liebevolles wäre, doch nun versucht jeder Protagonisten das Unbegreifbare zu fassen. Nichts ist schwarz oder weiß in diesem Roman, mit jeder Zeile gleitet man tiefer in die Seelenleben der handelnden Personen, die wechselhaft sympathisch agieren, doch innerhalb des erzählten Schicksallschlags völlig logisch, manchmal kopflos.

Wechselhaft ist die Perspektive, über ein Jahr begleiten wir Tom und das, was von der Familie übrig geblieben ist. Wie trauern wir? Wie gehen wir mit der Trauer anderer Menschen um? Wie können wir einander beistehen, nahe sein, wo wir doch vielleicht selbst Halt brauchen? Ist es möglich, einander zu verstehen? Zu begreifen? Heilt die Zeit alle Wunden?

Tom streckte seine Hand aus, um näher an die rot glühenden Kohlen zu kommen. Er würde die Hand nicht zurückziehen, er würde es schaffen, den Kurs zu halten und diese Sache hier zu Ende zu bringen, die er angefangen hatte.

Wiebke von Carolsfeld “Das Haus in der Claremont Street”

Fragen werden aufgeworfen, in diesem relativ kompakten Roman, die nicht einfach zu beantworten sind. Sofern dies überhaupt möglich ist. daran entlang hangelt sich die Autorin und lässt ihre Protagonisten einen langen steinigen Weg gehen, der für jeden von ihnen unterschiedliche Fallstricke bereithält.

Mehr oder weniger geschickt, meistern diese das Bevorstehende, um das Zurückliegende zu begreifen. Der Lesende wird in die Handlung hineingezogen. Klare Sprache, in einem ruhigen und der Thematik angemessenen düsteren Handlungsrahmen.

Kleine Momente des Glücks blitzen auf. Mit Witz treten sie an der Oberfläche, um zunächst so schnell zu verschwinden, wie sie gekommen sind. Die Zeit bringt es mit sich, dass sie zahlreicher werden. Wird es ihnen am Ende gelingen, eine Art Abschluss zu schaffen?

Eine Erzählung über Trauer, Auseinandergehen und Zusammenhalt, Hilfe und Verarbeitung, darüber, was Familie wirklich bedeuten kann. Schon alleine deshalb ist Wiebke von Carolsfelds Roman einer der ganz großen, die es verdient haben, bekannter zu werden.

Kinder sind am Anfang eines solchen Weges die Schwächsten, können jedoch, wenn alle Umstände günstig liegen, am stärksten aus einem solchen Schlag hervorgehen. Die Autorin zeigt das mit sehr viel Einfühlungsvermögen, so dass ich einen allzu kitschigen Absatz gegen Ende gern überlesen habe. Unbedingt lesenswert.

Autorin:

Wiebke von Carolsfeld wurde 1966 in Deutschland geboren und lebt als Filmeditorin, Regisseurin und Drehbuchautorin in Montreal. Als Cutterin gewann sie zahlreiche Preise und gibt zahlreiche Kurse über das Drehbuchschreiben, Filmemachen und den kreativen Prozess. 2002 wurde sie für den besten Schnitt für den Genie Award nominiert. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch machte sie zuvor eine Ausbildung zur Verlagskauffrau. Dies ist ihr erster Roman.

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Eduardo Halfon: Duell

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Duell Eduardo Halfon Roman Verlag: Hanser Hardcover Seiten: 110 ISBN: 978-3-446-26372-7

Inhalt:
Eine Familie mit einem rätselhaften geheimnis und ein Erzähler, der anfängt, seiner eigenen Erinnerung nicht mehr zu trauen. Eduardo Halfons Roman erzählt die Geschichte eines verschwundenen Onkels, einer ungleichen Familie und eines nicht zur Ruhe kommenden Landes. (Klappentext)

Rezension:
Hin und wieder freue ich mich, wenn ich zwischen den auf den Tischen der Buchhandlungen präsentierten Bestseller das eine oder andere besondere Buch finde,. Besonders, wenn es sich beim Lesen herausstellt, dass dieses Werk nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die es eigentlich verdient hätte. Ein solches ist sicherlich Eduardo Halfons Novelle mit dem unscheinbaren Titel “Duell”.

Der Ich-Erzähler ist zunächst ein kleiner Junge, der seine Kindheit in Guatemala verlebt, umgeben von zahlreichen Tanten und Onkeln, seinen Eltern und seinen jüngeren Geschwistern. Doch, er als Ältester von Dreien bekommt schnell mit, dass diese so lebendige und quirlige Familie ein düsteres Geheimnis umgibt. Ein einziges Foto als Beweis für die gewesene Existenz eines Kindes, welches nicht die Chance hatte, aufzuwachsen und zu leben. Nur, warum?

Niemand von der Verwandtschaft spricht viel über die Vergangenheit und was einst mit dem Bruder des Vaters von Eduardo passierte und so glaubt der Junge eine lange Zeit, dass dieser im den Familienhaus nah gelegenen See ertrunken wäre. Mehrere Jahre später macht sich der nun erwachsene Eduardo auf Spurensuche. Nur, kann sich niemand an die Geschichte vom kleinen ertrunkenen Jungen erinnern. Was also ist dann passiert?

Eine Frage die selbst mehr Fragen aufwirft als antworten bereithält zieht sich wie eine Schlange durch dieses Kleinod der Literatur. Kurz und präzise schreibt der Autor in Ansätzen autobiografisch über die Zustände innerhalb einer Familie, in der alles mehrere Wahrheiten hat. Kunstvoll verwoben werden Themen wie der Holocaust, das Pendeln zwischen zwei Ländern und die Suche nach Zugehörigkeit, sehr feinsinnig der Schreibstil.

Es ist kein heiterer Roman, aber einer mit klaren roten Faden und einer faszinierenden Handlung, die unterschwellig spannend wirkt, so das man das Eduardo umgebende Geheimnis erfahren möchte. Selbst der Titel kommt auf mehreren Ebenen und zwischen mehreren Protagonisten zum Tragen.

Was hält uns als Familie zusammen? Sind es wirklich nur die gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnisse oder auch die kleinen Geheimnisse, die Wahrheiten hinter geschönten oder nicht zu erzählenden Anekdoten, die uns umgeben? Eduardo Halfon versteht dies meisterhaft auf wenigen Seiten zu kombinieren.

Keine Zeile zu wenig, kein Wort zu viel. Für mich eine großartige Novelle, die noch nachhallt, von der ich leider nicht mehr verraten kann ohne zu viel zu verraten. Schließlich lohnt es sich, dieses Geheimnis zu ergründen.

Autor:
Eduardo Halfon wurde 1971 in Guatemala geboren und ist ein lateinamerikanischer Schriftsteller. Der heute in den USA lebende Autor wuchs dort ab 1982 auf und arbeitet als Professor für Literatur u.a. an der University of Iowa. Seinen ersten Roman veröffentlichte Halfon im Jahr 2003.

Erstmalig in deutscher Übersetzung erschien ein Roman 2014 von ihm. Mit “Der Boxer” erlangte er eine größere Bekanntheit. Halfons Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix du Meilleur livre etranger 2018.

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