Menschen

Serhij Zhadan: Keiner wird um etwas bitten

Inhalt:
Erstmals seit Beginn des großen Krieges erzählt Serhij Zhadan vom Alltag seiner Leute in Charkiw, die sich in einer radikal neuen Realität zurechtfinden müssen. Lakonische, wortkarge Geschichten von untröstlicher Liebe, von Freundschaft und Tapferkeit, komisch, absurd und herzzerreißend. Eine unvergessliche Lektüre. (Klappentext)

Rezension:
Der Lehrer, der als Übriggebliebener regelmäßig im durch den Krieg beschädigten Schulgebäude nach dem rechten sieht, Schüler kommen längst keine mehr, eine Frau die aus einem Wohngebiet evakuiert werden muss, der Tanzpartner des Abiballs, der im Krankenhaus liegt … Sie alle sind Opfer, leben in der von der zerstörerischen Gewalt des Gegners gezeichneten Stadt, kämpfen mit Verletzungen, Depressionen und den Bombardierungen, die gewaltige Krater geschaffen haben.

Charkiw ist keine Stadt wie jede andere. Hier sind die Folgen des Angriffkrieges sichtbar und zu spüren. Wer noch nicht aus dem geflohen ist, was von der Stadt übrig ist, lebt mit den Folgen. Vom unwirklichen „Alltag“ der Bewohner seiner Heimat schreibt Serhij Zhadan. Kurzgeschichten, von denen jede einzelne unter die Haut geht.

Zwölf Geschichten, deren Protagonisten so unterschiedlich sind, wie die Stadt vielfältig selbst jetzt noch ist, die dem Ausmaß physischer und psychischer Gewalt trotzen, die sich kreuzen, begegnen, miteinander und doch mit sich selbst kämpfen müssen. Was macht das mit einem, wenn alles, was einst galt, in Trümmern liegt. Schon an der Oberfläche kratzen, erschüttert. Zhadans Schreibstil ist beinahe nüchtern. Er beobachtet. Manches Stück liest sich so, als müsse der Autor sich selbst vor dem Geschilderten schützen, zwingen, dies aufzuschreiben. Hinter all den Fiktionalen stecken, so ahnt man, echte Schicksale. Menschen.

In diesen kleinen Stücken, die Serhij Zhadan „Arabesken“ nennt, sind sie die Helden, alleine dadurch, dass es sie gibt, dass sie leben. In Charkiw. Ihnen, die sonst keine Beachtung finden, Nachrichtenbilder verflüchtigen sich schnell, setzt der Autor hier ein Denkmal. In knapp formulierten Schilderungen. Für einen kurzen Augenblick legt der Autor den Fokus auf eine bestimmte Szene, um dann zu der nächsten überzugehen. Ein Bürogebäude ist hier die Kulisse, im nächsten Kapitel wohnen wir einer Unterhaltung zweier im Auto bei. Der Krieg schwingt immer mit, offensichtlich, dann wieder nur als Hintergrundrauschen.

Serhij Zhadan ist selbst derzeit als Soldat in seiner Heimat tätig. Schon das ist bewundernswert. Die Geschichten dazwischen praktisch aufs Papier gebracht zu haben, die jede für sich stehen und doch unverkennbar zusammen gehören, ist mit diesem Hintergrund noch erstaunlicher. Und sicher auch ein Akt der Verarbeitung. Im Krieg ist jeder für sich allein, und doch hält man zusammen. Eine Wahl hat man nicht.

Die Protagonisten selbst sind vor ihren Hintergründen verschieden, gegensätzlich. Mit wenigen Worten gelingt es dem Autoren, Sympathien zu schaffen, sie nachvollziehbar zu machen. Mehr als die wenigen Sätze, jede Kurzgeschichte findet nur einige Seiten Platz, braucht es nicht. Die innerhalb der kleinen Versatzstücke verstreuten Skizzen, verdeutlichen das Grauen, den Schrecken, die Melancholie. Zhadan verliert sich nicht in Details, beschränkt sich auf das Wesentliche. Jeder einzelne Text scheint einem förmlich anzuspringen. Seht her, so ist es gerade für uns. So, nicht anders. Es braucht halt nicht viel, um diesen Zugang zu schaffen.

Man kann sich das alles gut vorstellen. Manches fast zu gut. Abstand halten möchte man, doch kommt man sich lesend zuweilen vor, wie ein Voyeur, ein Gaffer. Der Autor legt den Finger in die Wunde, die nicht verheilen kann. Der Krieg ist in jeder Szene allgegenwärtig. Schauplätze wie Protagonisten werden mit wenigen Worten sehr plastisch beschrieben. Manchmal muss man innehalten. Ein seltenes Schmunzeln, Lächeln bleibt sofort im Halse stecken, wenn es denn mal vorkommt.

Es mögen einige durch die Fernsehbilder abgestumpft sein, solche kleinen Alltagsbeschreibungen aber betrüben zu tiefst und lassen nicht los. Für Zhadan und all jene, die sich in den von Krieg gezeichneten Regionen und Städten aufhalten, gar an der Front kämpfen, wie muss es erst für die sein, fragt man sich während des Lesens und ahnt, dass noch viel mehr unerzählbar bleibt, da es dafür keine Worte gibt. Die wenigen, die wie diese hier gesehen werden können, sind es wert und wichtig.

Autor:
Serhij Zhadan wurde 1974 geboren und ist ein ukrainischer Schriftsteller, Dichter und Übersetzer. Nach der Schule studierte er zunächst Literaturwissenschaften, Ukrainistik und Germanistik. Er organisiert Literatur- und Musikfestivals und verfasst Rocksong-Texte. 2007 erschien sein erster Roman. 2006 wurde er mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet, Zhadan war zudem Aktivist der Orangenen Revolution.

2014 schilderte er in der FASZ seine Erfahrungen der Erstürmung der Gebietsverwaltung von Charkiw, wurde dafür von prorussischen Kräften krankenhausreif geschlagen. Seine Werke wurden mehrfach ins Deutsche übersetzt, und zahlreich ausgezeichnet. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er lebt in Charkiw und ist seit 2024 Soldat.

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Sebastian Pertsch (Hrsg.): Vielfalt – Das andere Wörterbuch

Inhalt:

Diversität spiegelt sich in einer großen Anzahl von neuen Wörtern. Sie begegnen uns in Gesprächen, Diskussionen, in den Medien und sind Ausdruck unserer sich dynamisch verändernden Gesellschaft. Woher kommen diese Begriffe und wie werden sie verwendet?

Anhand von 100 Wörtern gibt dieses Buch nicht nur Auskunft über ihre Schreibung und Bedeutung. Es versteht sich als „anderes Wörterbuch“, indem es 100 namhafte Persönlichkeiten mit Diskussionsbeiträgen zu Wort kommen lässt.

Zusätzlich Orientierung und Hintergrundwissen bieten 29 Infografiken sowie mehr als 1100 Quellen und Medienhinweise. (Klappentext)

Rezension:

Entwicklung und Gebrauch der deutschen Sprache festzuhalten, dafür Hilfestellungen zu geben ist die große Aufgabe der Dudenredaktion. Dabei verändern sich die an sie gestellten Anforderungen, da Einflüsse auf das Deutsche immer vielfältiger werden, ebenso wie diejenigen, die es sprechen, andere Ansprüche an sie stellen.

Grund genug für eine Sammlung von Begriffen und Wörtern, die repräsentativ für diese, vielleicht nicht in allen Facetten, aber eben auch, neue Vielfalt stehen. Einhundert Menschen wurden für dieses Projekt ins Boot geholt, um eben dieser Rechnung zu tragen. Entstanden dabei ist, wie der Untertitel es schon benennt, ein etwas anderes Wörterbuch.

Wie ein thematisches Lexikon soll sich dieses Büchlein lesen und lädt in seiner kompakten Form zum stöbern ein. Nicht mehr als zwei Seiten pro Begriff sind es, die so eine größere Sammlung zu ermöglichen, die man hintereinanderweg lesen oder gezielt nach einzelnen Wörtern suchen kann.

Immer vorangestellt ist die eigentliche Begriffsdefinition des Duden oder seiner Online-Variante, danach haben die Schreibenden Gelegenheit zur Erklärung gehabt , sprachgeschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund zu erläutern, ebenso ihren Standpunkt einzubringen.

Dieser Freiraum bringt, abgesehen davon, wie man überhaupt eine Auswahl treffen kann, die zwangsläufig nie vollständig sein kann, eines der zentralen Schwachstellen des Werks mit. Lesenswert sind immer die Beiträge, die sich auf den gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontext, sowie die Definition beschränken, bei Standpunkttexten schwingt allzu oft der erhobene Zeigefinger mit.

Der mag Diskussionen anstoßen können, Widerspruch herausfordern, ist jedoch nicht dienlich wenn andere Texte deutlich nüchterner gehalten sind. Entweder ein Debattenbuch als solches oder ein Lexikon, aufgrund der Vielzahl der Schreibenden fehlt hier jedoch diese klare Linie. Hier hätte eine Entscheidung zu Gunsten des Einen oder Anderen diesem Projekt gut getan.

Die neutral gehaltenen Texte in diesem Werk lassen sich dabei ungemein mit Gewinn lesen. Information und neues Wissen, auch Hintergründe, die man so gar nicht bisher erahnt hat, kommen da zum Tragen, doch sind von dieser Qualität eben nicht alle Beiträge, was die Lektüre so manches Mal schwergängig macht. Das ist schade. Hier wurde eine große Chance verpasst.

Davon abgesehen reicht natürlich die zwangsläufig sehr kurz gehaltene Information zu den jeweiligen Beitragsschreibenden nicht aus, um diese komplett einzuordnen, was auch hier eine gewisse Wertung schwierig macht. Das ist zwar immer Knackpunkt solcher Schreibkollektive, jedoch hier sehr auffällig.

Was bedeutet Experte, Creator oder Publizist? Was befähigt einen Aktionskünstler hier einen Beitrag zu schreiben? Sicher zu Recht ausgewählt, aber genaues weiß man eben hinterher nicht. Trotzdem ist eine Lanze zumindest für den Versuch zu brechen. Vieles ist erhellend.

Vielleicht macht dies aber auch die Beschäftigung mit der Thematik Vielfalt und vor allem der Sprachvielfalt aus? Streitbar, kontrovers und irgendwo findet man sich wieder. So auch in diesem Werk.

Herausgeber:

Sebastian Pertsch wurde 1981 geboren und ist ein freiberuflicher Journalist, Dozent, Autor und Sprecher. Er wurde mit dem Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik und dem Deutschen Stifterpreis ausgezeichnet. Er engagiert sich im sozialpädagogischen Bereich und analysiert die deutschsprachigen Medien in den sozialen Netzwerken. Er ist Mitbegründer der „Floskelwolke“, einem Open-Data-Projekt.

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Stephan Schmidt: Die Spiele

Inhalt:
Shanghai 2021. Der Mord an dem IOC-Funktionär Charles Murandi überschattet den Kongress zur Vergabe der Olympischen Sommerspiele. Schnell ist der mutmaßliche Täter gefasst. Die Aufnahmen einer Sicherheitskamera zeigen den Journalisten Thomas Gärtner beim Verlassen des Tatorts, unter dem Arm unbekannte Dokumente. Allerdings: Er will sich an nichts erinnern können. Ein brisanter Fall für die junge Konsulatsbeamtin Lena Hechfellner, denn sie weiß mehr, als sie preisgeben darf – und gerät mit einem Mal selbst ins Visier der chinesischen Behörden. (Klappentext)

Rezension:

Zwischen den Zeiten springt der Kriminalroman „Die Spiele“ des Schriftstellers Stephan Schmidt und bündelt seine Handlungsstränge in der temporeichen chinesischen Metropole Shanghai, in der selbst nichts ist, wie es scheint, aber dennoch brandgefährlich. Dreh- und Angelpunkt ist ein Mord, der am Rande der Vergabe der künftigen Sommerspiele zum Politikum werden droht. Das IOC-Mitglied Charles Murandi tot in seinem Hotelzimmer. Der Letzte, der ihn lebend gesehen hat, ist mutmaßlich ein Journalist, der das Opfer und dessen Geschichte schon Jahre lang folgt. Doch erinnern kann sich Thomas Gärtner angeblich nicht.

So entspannt sich die Handlung des Textes zunächst in seine Einzelteile, setzt dabei viel früher an, so dass der Autor ein Verwirrspiel entfesselt, welches eine gewisse Sogwirkung hat. Die Zeitebenen muss man so jedoch schon zu beginn konzentriert auseinanderhalten, wenngleich die einzelnen Abschnitte kompakt zueinander erzählt werden.

Dabei wechseln spannende Momente mit ruhigen, doch innerhalb der Jahrzehnte umspannenden Handlung kommt der Autor nicht umhin, mehr als unnötig Momente voller Klischees einzubauen und lässt zwischen den Zeilen durchscheinen, was im Verlauf die einzelnen Figuren in verschiedener Form einander vorwerfen, das Reich der Mitte, sein Denken, sein Handeln nicht zu verstehen.

Dieses Szenario ist es, welches das Motiv der einzelnen Protagonisten darstellt, eben den Moment der geglaubten Erkenntnis für sich zu nutzen, um dann vor Realitäten zu stehen, die sie nicht greifen können. Das trifft mehr oder weniger alle Figuren, die der Autor so kantenreich ausgearbeitet hat, wie es nur aufgrund verschiedener Handlungsstränge und Zeitebenen möglich war. Eine gewisse Dynamik wird zusätzlich eingeführt, da immer auch die Erzählperspektiven wechseln, wobei keine der Figuren durchgehend Sympathie auf sich zieht.

Stephan Schmidt erzählt eine Welt innerhalb einer Welt verschiedener Realitäten, die seine Protagonisten leben. Man kann sich durchaus dieses Spannungsverhältnis vorstellen. Hier merkt man ebenso, dass der Autor von eigener Erfahrung zehrt. Auch in China hat er schon gelebt. Manchmal fühlt es sich so an, als würde man neben den Figuren stehen, die jede auf ihrer Art und Weise befangen wirken. Im nächsten Moment dann jedoch wird dies schriftstellerisch zerstört, mit einzelnen Abschnitten, die einem förmlich die Augen rollen lassen. Sex sells, oder aber es wurde noch ein wenig Material gebraucht, um Seiten zu füllen. Wäre nicht nötig gewesen. Handels- und Denkweise einiger Figuren ist schmierig genug.

Zu Beginn sind auch die Handlungsstränge, die wie Puzzleteile zusammengeführt werden, ein großer Pluspunkt zu Beginn der Erzählung, gegen Ende des Romans merkt man jedoch dass hier der Autor zu viel wollte. Es sei denn, Schmidt wollte sich die Option auf eine Fortsetzung offen halten, nur dann wirkt es stimmig, ansonsten vor allem gegen Ende unförmig, geradezu holprig. Dieser Abzug in der B-Note wird zwar wettgemacht durch eine einzige überraschende Wendung, doch wird man lesend etwas unbefriedigt zurückgelassen. Hier hätte Konzentration gut getan.

Korruption, Lobbyismus, Großmacht- und Hegemonialmachtstreben im Spannungsfeld eines Überwachungsstaates, dem Kontrolle über alles geht. Elemente eines Politthrillers sind hier noch am spannendsten konsequent durchgeführt. Man fühlt das Gehetztsein, die Verunsicherung, den Angstschweiß, das Durchdenken von Szenarien so sehr, andere Elemente der Erzählung kommen da zu kurz, so dass es sie nicht unbedingt gebraucht hätte, trotz plastischer Beschreibungen, die das alles sehr gut vorstellbar macht.

Zu viele Punkte, die weder Fisch noch Fleisch sind ergeben einen durchwachsenen Roman mit guten Elementen in schlechter Ausführung. Wer sich dennoch für ein paar Aspekte des Textes von Stephan Schmidt begeistern kann, für den ist die Erzählung durchaus mit Gewinn zu lesen. Alle anderen sollten sich das überlegen.

Autor:
Stephan Schmidt wurde 1972 in Hessen geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Nach seiner Promotion in Philosophie folgten Aufenthalte als Mitarbeiter verschiedener Forschungseinrichtungen in China, Taiwan und Japan, Länder die er bereits als Student kennenlernte. Er veröffentlichte bereits mehrere Romane, und lebt derzeit in Taipeh.

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Thomas Edler: Reisebus & Pflaumenmus

Inhalt:

Jahre nach der Matura ergibt sich für die beiden Freunde Hannes und Thomas die Gelegenheit, mit einem Reisebus von Indien nach Europa zu fahren. Die Gelegenheit, aus dem Alltag auszubrechen, ist ein großes Abenteuer, doch schon bei der Einreise nach Pakistan kommt es zu Schwierigkeiten, die den gesamten Trip infrage stellen. Wenn sie es innerhalb der nächsten Tage schaffen, über die Grenze zu gelangen, waren alle Vorbereitungen umsonst.

Unterwegs auf einer Transitroute, die seit jeher Europa mit Asien verbindet, begegnen die beiden Freunden verschiedenen Kulturen, Menschen und Geschichten aus längst vergangenen Tagen. (abgewandelter Klappentext)

Rezension:

Es ist eine dieser Gelegenheiten, die sich nur selten im Leben, vielleicht nur einmal, ergibt und so ergreifen zwei Freunde die Chance, zwischen den Kulturen zu reisen. Ihr Weg führt sie entlang einer alten Handelsroute, späteren Hippie-Trail, in umgekehrter Richtung vom rastlosen Indien wieder zurück in die Heimat nach Österreich. Unterwegs mit einem VW Bus, kommen sie mit den Menschen ins Gespräch, Einheimische und andere Reisende, lassen sich deren Geschichten erzählen und spüren einer Vergangenheit nach, die auch heute noch Tempo und Empfindungen der durchquerten Regionen bestimmt.

Den modernen Reisebericht muss der Spagat gelingen, sowohl einerseits jene mitzunehmen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, nicht zu verklären oder in Klischees zu versinken, das Fernweh wecken und die Faszination der beteiligten Akteure zu transportieren. Nichts ist schlimmer als mit rosaroter Brille zu erzählen und dabei ein Publikum zu verlieren oder gar überhaupt nicht zu gewinnen.

Eventuell kennt jeder die eine oder andere Erzählung, gar längere Foto- oder Videovorführungen im Bekanntenkreis, die im Grunde nur für den jeweils Beteiligten Erinnerungen wecken, jedoch für andere eher den Stellenwert einer Hintergrundberieselung innehaben. Dieses Phänomen lässt sich nicht selten auf Texte übertragen. Thomas Edler gelingt in seiner Mischung aus Reportage und Bericht jedoch der Drahtseilakt, die Faszination herüberzubringen und sehr einnehmend von seinem großen Abenteuer zu erzählen.

Zum einen ist da der Bericht über die Fahrt selbst und die Schilderung von Begegnungen entlang des Weges, die ergänzt werden durch Blenden in die Geschichte der bereisten Orte, sowie Einblicke den Alltag der Menschen heute. Ergänzt durch rein informative Absätze, durchmischt mit Kuriosa von landestypischen Gerichten bis hin zur Teppichkunde, ist mit „Reisebus & Pflaumenbus“ das Porträt einer Reise gelungen, die man gerne nachverfolgt, zumal anhand von Fotos und der obligatorisch abgedruckten Routenkarte.

In ruhiger Tonalität erzählt Thomas Edler von einer Reise voller Unwägbarkeiten und faszinierenden Begegnungen, welche auf Gegenseitigkeit beruhen. Wohltuend hebt sich der positive Blick auf Gegebenheiten und Unterschiede hervor, immer im Vertrauen, dass der Reisetrip schon irgendwie vorangehen wird, schließlich ist man auf geschichtsträchtigen Routen unterwegs und das Gefährt hat ja den Weg in die andere Richtung auch ohne größere Probleme gemeistert.

Kurzweilig wirken die einzelnen Kapitel, in denen der Autor von den einzelnen Reiseabschnitten erzählt. Diese nehmen so ein, dass man sich gut vorstellen kann, diese Reise oder zumindest einzelne Teilstücke dieser selbst einmal nachzuvollziehen und ein Stück von dieser Faszination der beiden Freunde mitzunehmen, zumal ein gewichtiger Teil des Trips durch Länder folgt, von denen uns hier sonst nur bestimmte Bilder erreichen. Alleine deshalb schon ist dieser Bericht empfehlenswert. Entlang der einstigen altertümlichen Handeslrouten herrscht noch immer geschäftiges Treiben und lassen sich noch Abenteuer erleben.

Auch sprachlich schafft es „Reisebus & Pflaumenmus“ den Bogen zwischen Bericht und Informativen zu schlagen, wenn sich auch abschnittsweise einzelne Sätze das eine oder andere Mal wiederholen. Das kann jedoch auch meinen Lesegewohnheiten geschuldet sein, ist ohnehin nur ein Abzug in der B-Note, schließlich liegt der Fokus bei dieser Art von Reportagen auch woanders. Tatsächlich wünsche ich mir mehr solche Texte, die die Faszination für andere Länder und Kulturen wecken, dabei einen Rundumblick versuchen und Lust darauf machen, selbst Abenteuer zu erleben.

Autor:

Thomas Edler wurde 1971 geboren und ist ein österreichischer Projektmanager und Autor. Zunächst studierter er in Granz Betriebswissenschaften, bevor er im Bereich der erneuerbaren Energien tätig wurde. Nebenher schreibt er Texte über die Schulzeit und über das Reisen, versucht diese mit kulturellen Erfahrungen und historischen Gegebenheiten zu verbinden. In „Reisebus & Pflaumenmus“ erzählt er von seinem 2008 mit einem Freund unternommenen Trip von Indien nach Österreich.

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Stephan Orth: Couchsurfing 1 – Couchsurfing im Iran

Inhalt:

Es ist offiziell verboten. Trotzdem reist Stephan Orth als Couchsurfer kreuz und quer durch den Iran, schläft auf Dutzenden von Perserteppichen, erlebt irrwitzige Abenteuer – und lernt dabei ein Land kennen, das so gar nicht zum Bild des Schurkenstaates passt. Denn die Iraner sind nicht nur Weltmeister in Sachen Gastfreundschaft, sondern auch darin, den Mullahs ein Schnippchen zu schlagen. (Klappentext)

Rezension:

In der westlichen Welt weiß man kaum mehr über den Iran als das, was die Hauptnachrichten berichten. Der Streit um die Nutzung von Kernenergie, das theokratisch-strenge Regime der Mullahs, Menschenrechtsverletzungen und das verbissene Durchsetzen streng religiös-bergündeter Vorschriften. Andere Themen kommen kaum bis gar nicht zur Sprache. Und so hat sich Stephan Orth aufgemacht in ein Land voller unbekannter Faktoren und muss gleich bei der ankunft am Flughafen erste Vorurteile revidieren. Er lässt sich auf die Menschen des Landes ein, fernab der Politik, die doch immer wieder in das Leben der Bevölkerung eingreift. Hinterverschlossenen Türen aber können die Iraner sie selbst sein. Und das ganz anders als es auf den ersten Blick scheint.

Mit „Couchsurfing im Iran“ hat der Autor hier keinen politischen Lagebericht geschrieben, sondern eine vielschichtige Sammlung der Eindrücke der Menschen in diesem Land. Stephan Orth zeigt auf, was selbst in einem Land möglich ist, welches von einer brutalen menschenverachtenden Diktatur beherrscht wird und wie die Bevölkerung sich wehrt. Momentan noch passiv im Privaten, doch Orth zeigt auf, dass die Vorstellungen der Iraner irgendwann dafür sorgen können, dass sich die Situation zu ihren Gunsten ändert. Der Anfang ist bereits gemacht, in winzigen Schritten.

Stephan Orth beschreibt das Leben der Menschen dort, ihren Alltag, ihre Vorstellungen und Ideen, Gedanken und die kleinen Rebellionen des Alltags, wenn sich eine Gruppe junger Iraner ewa zu Fesselspielen trifft oder Polizisten bestochen werden, damit keine Razzia der Sittenwächter wärend einer Hochzeitsfeier stattfindet, wenn Studenten von Amerika träumen oder das Kopftuch wie zufällig ein Stück verrutscht.

Es ist hier ein wunderbar positives Buch, was für ein unscheinbares düsteres Land Interesse wecken vermag. Fernab der nüchternen politischen Berichte. Der Iran ist ein relativ junges Land, die Mehrheit der Bevölkerung ist unter 40 Jahre alt und wartet nur auf eine sichere Chance aus den Zwängen und Vorgaben auszubrechen und ihr Leben und Land zu verändern. Orth zeigt, dass die Veränderung in den Köpfen bei vielen schon längst begonnen hat. Im gesamten Iran. Ein Buch über Vorurteile, die in sich zusammenfallen, ein Buch über Kontraste und vor allem über die Menschen, ihr Leben und ihre Träume.

Autor:

Stephan Orth wurde 1979 geboren und arbeitet als Redakteur im Reiseressort bei Spiegel Online. Seit 2003 ist er bereits als Couchsurfer unterwegs, hatte Besucher aus aller Welt und traf Gastgeber in mehr als dreißig Ländern. Orth ist Autor mehrerer Bücher und Reisereportagen, die mehrfach mit dem Columbus-Preis ausgezeichnet wurden.

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Barbara Demick: Buddhas vergessene Kinder

Inhalt:

Ngaba, Osttibet: Als sich ein junger Mönch mitten auf der Hauptstraße mit Kerosin übergießt und anzündet, deutet noch nichts darauf hin, dass dies eine ganze Bewegung auslösen wird. Bald darauf wird die kleine tibetische Stadt in der chinesischen Provinz Sichuan zur Welthauptstadt der Selbstverbrennungen – aus Protest gegen die Unterdrückung durch die chinesische Regierung. (Klappentext)

Rezension:

In der westlichen Welt beinahe unbeobachtet, wird dieser Konflikt an die Oberfläche gespült, wenn das geistliche Oberhaupt der Tibeter, der Dalai Lama, zu sehen ist, zumal, wenn dieser von Staatsoberhäuptern hofiert und bei hoch offiziellen Anlässen gezeigt wird. Dann bleiben sich empörende, protestierende Kommentare der chinesischen Staatsführung nicht aus und der Staatengemeinschaft wird eine Auseinandersetzung in Erinnerung gerufen, die Ende der 1950er Jahre ihren Anfang nahm.

Die renommierte amerikanische Journalistin Barbara Demick und ehemalige Asienkorrespondentin der Los Angeles Times seziert dieses tragische Stück Geschichte eines Volkes, welche zuletzt eine erschreckende Form des Protests annahm und legt nach intensiver und nicht ganz ungefährlicher Recherche, dieses Portrait der jüngeren Geschichte Tibets vor.

Im Zentrum steht die Geschichte verschiedener Personen, die die Autorin anhand von Archivmaterial und Interviews, ob heimlich in Tibet selbst, bishin nach Indien oder Amerika, über Jahrzehnte verfolgt. Überschneidungen inklusive. Der Fokus wird dabei auf bestimmte Schlüsselmomente gelegt, Auslöser für Handlungen der Menschen dieses Ortes, der zum Dreh- und Angelpunkt eines leidvollen Protests wurde.

Nach allem, was Tapey geschehen war – der Mönch, der seine Selbstverbrennung zwei Jahre zuvor überlebt hatte und nun als verstümmelter Invalide in einem chinesischen Gefängniskrankenhaus dahinvegitierte und gelegentlich zu Propagandazwecken im chinesischen Staatsfernsehen vorgezeigt wurde -, hatte er eine solche Tat nicht mehr erwartet. Wer war so dumm, es noch einmal zu versuchen? Oder – wer hatte solchen Mut?

Barbara Demick „Buddhas vergessene Kinder“, 383 Seiten, ISBN: 978-3-426-28186-4, erschienen bei Droemer.

Mit Sympathie erzählt sie vom Leben der Menschen, ihren Beweggründen, Träumen und Zielen, kleinen Siegen, größeren Niederlagen, ihren Hoffnungen, aber auch von der Macht des chinesischen Staates, politischer Diskriminierung und Unterdrückung, füllt Lücken mit intensiver Eigenrecherche und zeigt anhand eines reichen Quellenverzeichnisses, wie Journalismus zu dieser Thematik auch in China selbst funktioniert, ohne zu einseitig zu berichten.

Die wechselnde Perspektive von Menschen unterschiedlicher Schichten vervollständigt dieses Werk, wobei rote Fäden immer wieder aufgegriffen werden. Das kann verwirrend sein, doch hilft es, eine klare Sicht der Ereignisse zu bewaren und Beweggründe der Menschen, sowohl der Tibeter als auch die politischen Zusammenhänge zu verstehen, die sich teilweise sehr gut von der chinesischen Staatsführung, vor der Weltöffentlichkeit, verstecken lassen.

Barabara Demick wertet nicht selbst, lässt die Personen sprechen, deren Geschichte sie erzählt und hält sich damit wohltuend zurück. Einmal etwas anderes, als man es sonst von jenseits des großen Teiches gewohnt ist und eine gute Ergänzung für all jene, die sich mit der jüngeren Geschichte Tibets beschäftigen möchte.

Dabei sollte man sich jedoch voll und ganz auf die Lektüre konzentrieren und auch kleinere Längen verschmerzen. Die Vielzahl der Lebenswege, denen die Autorin nachspürt, und nicht zuletzt die für westliche Ohren ungewohnt klingenden Namen, erfordern die gesamte Aufmerksamkeit der Leserschaft.

Autorin:

Barbara Demick ist eine amerikanische Journalistin, die zunächst 1993-1997 für den Philadelphia Inquirer arbeitete. Für ihre Reportage über einen Straßenzug in Sarajevo gewann sie mehrere Preise und war im Finale für den Pulitzer. 1996 erschien ihr erstes Buch „Die Rosen von Sarajevo. 2001 wechselte sie zur Los Angeles Times, war dort 2007-2016 Leiterin des pekinger Büros und veröffentlichte 2010 ein Werk über Nordkorea. Mit dem Human Rights Book Award wurde sie für ihre engagierten Bücher ausgezeichnet.

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Samantha Harvey: Westwind

Westwind Book Cover
Westwind Samantha Harvey Atrium Verlag Erschienen am: 18.09.2020 Seiten: 383 ISBN: 978-3-85535-077-3 Übersetzer: Steffen Jacobs

Inhalt:

England, 1491. In dem kleinen, abgelegenen Dorf Oakham bereitet man sich gerade auf die bevorstehende Fastenzeit vor, als eines Nachts ein Unglück geschieht. Thomas Newman, der wohlhabendste und einflussreichste Mann im Ort, wurde von der Strömung des Flusses mitgerissen.

Ein paar Tage später taucht seine Leiche auf. War es ein Unfall, Mord oder Selbstmord? Dies herauszufinden, obliegt dem örtlichen Priester John Reve. Während sich durch die Beichten der Dorfbewohner langsam ein Porträt der Gemeinde zusammensetzt, kommen immer dunklere Geheimnisse ans Licht. Die Schuldfrage wird immer dringlicher. (abgeänderte Inhaltsangabe)

Rezension:

Szenarien bietet die Epoche des finsteren Mittelalters genug, so dass Fans historischer Romane sicher genug Auswahl haben. Die Themen sind so vielfältig, wie die historischen Figuren, selbst, wenn man frei schreibend, sich nicht an tatsächliche Geschehnisse orientiert.

So oder ähnlich hätte es ablaufen, die Stimmung unter den Protagonisten sein können. Dieses Gefühl mit einer Geschichte bei der Leserschaft zu wecken, dabei zu unterhalten, sollte das Ziel sein. Gelingt das, ist alles gut. Und dann gibt es noch Romane, wie den vorliegenden von Samantha Harvey.

Historische Romane bieten Platz für das ganz große Kino, was man rein, den Klappentext betrachtend, erwarten darf. Ein Priester in Konfrontation mit dem Glauben, die Dorfbewohner durch den Tod eines Menschen verunsichert, der am wenigsten dafür prädestiniert zu sein schien.

Ausufernde Intrigen, temporeiche, sich überschlagende Spannungsmomente und die Düsternis der Zeit. Auf diese freut man sich, nach dem Lesen der Inhaltsangabe, der ersten Zeilen, die aus der Sicht des Hauptprotagonisten geschrieben sind. „Westwind“, bietet jedoch allenfalls nur Schmalspur.

Gleichsam wie das beschriebene Dorf ist auch in dieser Erzählung alles mehrere Nummern kleiner. Spannungsmomente können ihre Wirkung kaum eine Seite lang halten, so dass das Tempo dem eines vor sich hin plätschernden Baches gleicht.

Das ist auf der Strecke ermüdend, zumal nur die Hauptprotagonisten einigermaßen vielschichtig sind, während der Rest der Figuren relativ farblos erscheint. Die Stimmung, die Samantha Harvey erzeugen wollte, kommt hier nicht auf, zudem das Ende mich unbefriedigt zurückgelassen hat.

Liegt es am Hintergrund des gestalteten Protagonisten, dem Szenario, der Idee dahinter? Nein, aber Sprache bedingt Wirkung, Spannungsbögen halten Lesende bei der Stange. Beides setzt die Autorin auf’s Spiel, zudem hier mehr Zwiespalt innerhalb der Figurenkonstellationen gepasst hätte und vielleicht noch die eine oder andere Verwicklung mehr.

Mit dem vorliegenden hätte man weniger Seiten besser füllen können. Unter historischer Spannungsliteratur stelle ich mir anderes vor, auch als detektivischer Roman, angesiedelt im Mittelalter, ist mir das zu dünn. Leider.

Autorin:

Samantha Harvey wurde 1975 geboren und ist eine englische Autorin. Zunächst studierte sie Kreatives Schreiben und Philosophie, bevor sie ihren ersten Roman im Jahr 2009 veröffentlichte. Kreatives Schreiben unterrichtet sie zudem an der Bath Spa University, wo sie als Dozentin tätig ist.

Harvey wurde mehrfach ausgezeichnet und erhielt u.a. den AMI Literature Award. Im Jahr 2010 wurde sie von The Culture Show zu einer der zwölf besten neuen britischen Schriftstellerinnen ernannt.

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Morten Traavik: Liebesgrüße aus Nordkorea

Liebesgrüße aus Nordkorea Book Cover
Liebesgrüße aus Nordkorea Morten Traavik Suhrkamp Erschienen am: 18.05.2020 Seiten: 292 ISBN: 978-3-518-47053-4 Übersetzer: Stefan Pluschkat

Inhalt:

In den letzten zehn Jahren ist Morten Traavik mehr als zwanzig Mal nach Nordkorea gereist, dem abgeschottesten Land der Welt, als offizieller Kulturattache Norwegens. In Zusammenarbeit mit den notorisch verschlossenen Behörden gelangen ihm bahnbrechende Projekte – wie das erste Rockkonzert auf nordkoreanischen Boden – bis zum Herbst 2017, als er alle Beziehungen zum Land kappen musste.

Jetzt erzählt er, was er erlebt hat: Durch die unerwartete Freundschaft mit einem nordkoreanischen Staatsdiener dringt Traavik immer tiefer in die Irrungen und wirrungen dieses Landes ein, bis der regierung seine kontroversen und subversiven Ideen zu weit gehen… (Klappentext)

Rezension:

Man kann sich wahrlich leichtere Herausforderungen suchen, als in einem der undurchsichtigsten Ländern der Welt kulturelle Projekte anstoßen zu wollen, und doch hat der Norweger morten Traavik genau das getan. Damit gewann er einen Einblick in das Funktionieren dieses Staates, wie es wohl kaum jemanden bisher gelungen ist. Nun ist sein erstes Buch, ausgerechnet dazu, in deutscher Übersetzung erschienen. Doch, wer ist Morten Traavik eigentlich genau?

Künstler, Musiker, Regisseur, Kommentator, irgendwie treffen all diese und noch mehr Bezeichnungen auf den Skandinavier zu, der sich in jedem Fall den Verdienst gemacht hat, das abgeschottete Land, sein Regime und die Menschen, die dort leben, verstehen zu wollen. Das ist ihm in gewisser Weise gelungen.

Er erzählt von seiner Arbeit und der Tuchfühlung mit einem unberechenbaren Gegenüber, verliert dabei nicht den Blick für das Wesentliche. Wie setzt man, behutsam, Ideen um, wenn der Partner willkürlich und wechselhaft handelt, wenn dein Kontakt genau so oder noch mehr Angst hat vor den Konsequenzen, und seien diese auch nur rein hypothetisch?

So kann es schon einmal in teils slapstickhaften Situationen ausarten, sich mit einer Disco-Kugel bei einem Propagandaevent fotografieren zu lassen oder einem Ausflug in den Versuch eines Spagat Nordkoreas auf Tauchfühlung mit den sonst verhassten Kapitalismus. Mit detaillierten Kenntnissen stellt Traavik die Geschichte Koreas dar, die letztendlich in der teilung der halbinsel mündete, zeigt die Bedeutung der Kim-Dynastie auf, und das, was das Regime bis heute daraus macht. Sachlich erklärt er das Funktionieren des Unverständlichen.

Auflockert wird die Aneinanderreihung von teils unverdaulichen Eindrücken durch genau so ungewöhnliche Rezepte. Würde man mit einem Hund nach Nordkorea einreisen, wäre dies an sich eine Einführung von Lebensmitteln?

Davon abgesehen bezieht er Stellung zum Fall Otto Warmbier, versucht Lügen, Propaganda und tatsächliches Geschehen so gut, wie möglich auseinander zu halten, erklärt, warum diese Episode der Geschichte so abgelaufen ist, warum dies aus Sicht Nordkoreas kaum anders hätte funktionieren können, zumal mit Blick auf den eigenen Machterhalt.

Nicht dabei, aber an einigen anderen Stellen geht er etwas zu freundlich mit dem totalitären Staat um, worüber zu diskutieren wäre. Dazu müsste man sich jedoch selbst ein ebenso detailliertes Bild machen, wie dies der Autor getan hat.

Komödie ist Tragödie plus Zeit.

Morten Traavik: „Liebesgrüße aus Nordkorea“, Suhrkamp.

Nach diesem Motto berichtet, durchsetzt mit einem Fototeil, von einem Land, welches zwar nicht zu unterschätzen ist, aber in teilen gnadenlos überschätzt wird. Interessant, sein Einblick in die Zusammenarbeit mit den nordkoreanischen Behörden, aber auch den örtlichen Gegebenheiten , zugleich die Linkliste als ergänzende Quellen.

So gehört „Liebesgrüße aus Nordkorea“ zu der wenig vorhandenen kritisch hoffnungsvollen Literatur, die es in diesem Bereich zu finden gibt, kann man lesen, sollte sich jedoch auch ergänzend mit weiterführenden Berichten, etwa Geflohener und anderer Kenner des Landes beschäftigen, um ein abgerundetes Bild zu bekommen. Alleine dieses Sachbuch mit den kurzweiligen episodenhaften und flüssig zu lesenden Abschnitten, tut dies nicht.

Autor:

Morten Traavik wurde 1971 geboren und ist ein norwegischer Reggisseur und Künstler. Er arbeitete in Russland und Schweden an kulturellen projekten und stellte in Zusammenarbeit mit dem nordkoreanischen Regime mehrere Projekte auf die Beine, die kurz vor der vollendung gestoppt wurden. Er engagiert sich gegen Landminen in Angola und Kambodscha und arbeitet über kunst- und Genregrenzen hinweg.

Ergänzungen nach der Rezension:

In seiner Jugend war der Autor Mitglied einer Gruppe von Leuten, die den Austausch mit Nordkorea wollten und wohl auch die Ideologie nicht ganz schlecht fanden, um das einmal so zu formulieren. So ist der Gedanke für die weitere Arbeit des späteren Künstlers entstanden. Nordkorea galt vor den Hungersnöten zum Teil in Skandinavien als durchaus solventer Staat.

Die Projekte später waren aber 2017 schon dem Regime zu heikel, im Blick auf die vewobenenen und sich überschneidenden Kompetenzen der einzelnen Behörden und die politische Tonlage wurde schärfer, so dass man da schon die Arbeit beendete. Wohlgemerkt, Nordkorea mit ihm. Das Buch entstand später.

Zudem, dass er sich zu Warmbier in diesem Werk ausführlich äußert und durchaus die Inszenierungen des Schauprozesses zu deuten weiß, das erzwungene falsche Geständnis, aber auch, welche Fehler der Amerikaner wohl gemacht haben könnte, dürfte den nordkoreanischen Behörden ebenso sauer aufstoßen. Traavik trennt hier ganz gut das Geschehen auf.

Wo ich Zweifel habe, ist, dass er einen doch in manchen Teilen etwas zu sehr optimistischen Blick auf die Sicht der Dinge hat.

Das müsstet ihr aber wirklich selbst lesen.

Sachliteratur, die man vielleicht zuerst gelesen haben sollte:

Rüdiger Frank: Nordkorea – Innenansichten eines totalen Staates

Rüdiger Frank: Unterwegs in Nordkorea – eine Gratwanderung

Morten Traavik: Liebesgrüße aus Nordkorea Weiterlesen »

Kristina Palten: Allein durch den Iran

Allein durch den Iran Book Cover
Allein durch den Iran Kristina Palten Erschienen am: 08.04.2020 Kiepenheuer & Witsch seiten: 344 ISBN: 978-3-462-05412-5 Übersetzer: Paul Berf

Inhalt:

Kristina Palten ist 31, als sie zum ersten mal das Laufen für sich entdeckt. Nach einer Lebenskrise steigert sie ihr Pensum und bricht als Ultraläuferin alle Rekorde.

Doch auch das reicht ihr irgendwann nicht mehr: Sie will ihre eigenen Vorurteile und Ängste besiegen und allein durch den Iran laufen. Mit ihrer Geschichte zeigt uns Kristina Palten, was möglich ist, wenn wir unsere Angst überwinden. (Klappentext)

Rezension:

Undurchsichtig ist für die meisten Menschen in Europa dieses Land zwischen Kaspischen Meer und Persischen Golf, ein Hort der Unterdrückung und eine Quelle des Bösen für die anderen. Doch, wie ist es den Iranern von heute in ihrem Land zu begegnen, sich einzulassen auf eine uns fremde Kultur und Lebensweise?

Kristina Palten hat den Blick über den Tellerrand gewagt und sich selbst ein Bild gemacht. So weit die Füße tragen, läuft die gelernte Ingenieurin, die zuvor ihre Stelle bei einem schwedischen Mobilfunk- und Technikkonzern aufgegeben hatte, um sich vollkommen ihrem Hobby zu widmen. Über 1800 km sind es, quer durch das Reich der Mullahs, von der türkischen bis zur turkmenischen Grenze.

Die Läuferin berichtet von einer Strecke, die ihr alles abverlangte, zugleich jedoch zeigte, dass die Wirklichkeit vielschichtiger ist, als es uns die Medienwelt mitunter vorgaukelt.

Unter den Eindruck von Veränderungen in Arbeits- und Privatleben, beginnt Palten die planungen für ihre Reise, die sie umsichtig betreibt und ausführlich beschreibt. Welche Vorsichtsmaßnahmen sind zu treffen, wie Streckenabschnitte, Übernachtungen zu koordinieren?

Wird man sie als alleinstehende Frau überhaupt unbehelligt laufen lassen, in einem Land, welches unter den Deckmantel der Religion das Leben seiner Bürger kontrolliert? Wird sie frei mit den Menschen, auf die sie trifft agieren können? Wen kann sie überhaupt vertrauen?

Mit diesen und anderen Fragen und einen vollbepackten als Gepäckhilfe missbrauchten Kinderwagen beginnt sie im Spätsommer ihre Reise, die erst zwei Monate danach am anderen Ende des Landes beendet sein wird. Und trifft dabei auf Menschen, die ein völlig anderes Bild vermitteln, als sie es selbst vor ihrer Reise hatte.

Gastfreundschaft und Neugier begegnen der Schwedin, der überall Unterkunft gewährt und Begeisterung für ihr Vorhaben, welches sie ohne offizielle Genehmigung von staatlichen Stellen umsetzt, entgegen gebracht wird. Auch die andere Seite des Gottesstaates bekommt sie natürlich zu spüren, doch mit Unterstützung von Freunden gelingt ihr etwas, was den meisten iranischen Frauen nicht vergönnt sein wird.

Es ist das beeindruckende Portrait einer Frau, welches hier in Tagebuchform veröffentlicht wurde. Kristina Palten zeigt, wie leicht es sein kann, den Blick über den Tellerrand hinaus zu öffnen, aber auch, welche Grenzen dem immernoch in unserer Welt gesetzt sind.

Die Läuferin beschreibt ihre Reise, setzt dabei den Fokus auf die Tätigkeit und vor allem, auf die Menschen, denen sie begegnet. Palten zeigt, wie es ihr gelang, Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen und in welchem Zwiespalt sich die Menschen bewegen. Einfühlsam beschreibt sie in klaren Sätzen Erlebtes, Trauriges, Ernüchterndes und Hoffnungsvolles. Schwedische Gelassenheit und Grundoptimismus traf hier auf Neugier, Offenheit, mancherlei Grenzen.

In kurzweiligen Kapiteln zeigt die Autorin jedoch, was möglich ist, wenn man Mut beweist und einander vertraut. Wenn dies gelingt, ist schon viel gewonnen.

Der Film:

Auf Teilstrecken wurde Kristina Palten von einem Kameramann begleitet. Viel filmte sie zudem selbst. Daraus entstand ein Film über einen sehr besonderen Lauf. Diesen kann man downloaden und ansehen. Hier klicken.

Trailer zum Film über Paltens Lauf durch den Iran.

Mehr Informationen, hier. Über Kristina Palten, hier klicken.

Autorin:

Kristina Palten wurde 1971 in Nordschweden geboren, ist eine Ingenieurin und hält mehrere Rekorde in Marathon- und Ultraläufen. Mit dem Plan, Ängste und Vorurteile abzubauen ist sie knapp zwei Monate, nachdem sie ihren Job aufgegeben hatte, um sich vollkommen dem Laufen zu widmen, 1840 km durch den Iran gelaufen. Von der türkischen bis zur turkmensichen Grenze.

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Per Christian Jersild: Die Insel der Kinder

Die Insel der Kinder Book Cover
Die Insel der Kinder Per Christian Jersild Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 22.05.2017 (neu) Seiten: 366 ISBN: 978-3-462-41046-4 Übersetzerin: Verene Reichel

Inhalt:

Ein elfjähriger Junge. Hungrig, wach, weit offen für alle Eindrücke. Den schwedischen Sommer soll Reine Larsson eigentlich in einem Ferienlager für Kinder verbringen, doch er hat andere Pläne. Heimlich stielt er sich davon und versucht die großen Geheimnisse der Welt zu ergründen, die jedes Kind vor der Pubertät beunruhigen.

Mit Witz, Geschick und Charme versucht er sich in der Welt der Erwachsenen zu behaupten. Die Mutter bricht ahnungslos in den Urlaub auf und Reine unternimmt Streifzüge durch Stockholm und Umgebung. Reine betreibt Forschungen ganz eigener Art und findet dabei zu sich selbst. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Anfang der 1980er Jahre wurde ein schwedischer Gesellschafts- und Coming-of-age-Roman verfilmt, der aufgrund expliziter Szenen mittlerweile wohl Skandalpotenzial hat, was jedoch nicht darüber hinweg täuscht, dass diese Geschichte der wohl größte Erfolg des schwedischen Schriftstellers Per Christian Jersild ist.

Erzählt wird ein schwedischer Sommer aus den wacheen Augen eines Kindes, der ganz eigene Pläne hat. Anstatt sich von der Mutter ins Sommerferienlager schicken zu lassen, fingiert er seine Abreise nur, bleibt aber in Stockholm und nutzt die Tage, um seine Umgebung in sich aufzusaugen.

Der letzte Sommer der Kindheit, ihn will Reine in sich aufnehmen, immer mit der Angst von den allzu nahen Vorzeichen der Pubertät überollt zu werden. Es ist das liberale Schweden der 70er und 80er Jahre, welches hier feinfühlig dargestellt wird, ebenso wie die graue Vorstadtperspektive und die damit verbundenen Ängste aus den Augen eines Elfjährigen, der lieber Kind bleiben würde, als einer der verlogenen und undurchschaubaren Erwachsenen zu werden, die ihn umgeben.

Feinfühlig beschreibt der Autor aus der Perspektive von Reine, den man als Leser einfach liebgewinnen muss, wie sich dieser zwischen verworrenen zuständen zurechtfindet und sich auf mehr oder weniger besondere Erwachsene einstellen muss.

Dabei scheint einzig und alleine reine als unschuldige, aber bereits das Kommende ahnende, Figur, ausreichend ausgearbeitet zu sein, während die Erwachsenen allesamt Negative der reinen und unschuldigen Kindheit darstellen. Kaum jemand von dieser seite dient als Identifikationsfigur, so dass sich der Leser zwangsläufig an die einzig möglich Figur heften und ihr folgen muss.

Dies ist zu wenig, wenn auch die Beschreibungen der Athmosphäre flirrender Vororte sehr eindrücklich wirken. Zu wenig erfährt man von den anderen Protagonisten. Gerne hätten die Beobachtungen Reines noch ausschweifender erzählt und beschrieben werden können. So bleibt ein Roman im halbgaren Zustand.

Da macht der Film schon viel wett, jedoch würde dieser heute so auch nicht mehr gemacht werden können. So bleiben beide Medien in diesem Falle zeitdokumente, unausgereift und nur teilweise fassbar. Schade eigentlich.

Autor:

1935 geboren, ist Per Christian Jersild ein schwedischer Schriftsteller und Arzt gewesen, der von 1960 an verschiedene Romane veröffentlichte. Ab Mitte der 1980er Jahre war er als Kolumnist für verschiedene Zeitungen tätig. Seine Romane wurden mehrfach übersetzt und teilweise verfilmt. „Die Insel der Kinder“, ist sein größter Erfolg.

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