Michelle Müller-Nagy: Hinter deinem Schatten

Inhalt:
Michelle ist fünfzehn und psychisch krank. Als sie sich bei einem renommierten Filmprojekt bewirbt, das labile Menschen porträtiert, trifft sie auf den verheirateten Alexander. Der gute Ruf des sozial engagierten Unternehmens trügt: Bald beginnt der Regisseur Grenzen zu übertreten und missbraucht Michelle auf subtile Weise über Jahre hinweg.

Die Jugendliche verfällt immer mehr in eine totale emotionale Abhängigkeit dem wesentlich älteren Mann gegenüber. Sie gerät in einen nicht enden wollenden Kreislauf aus Selbstzerstörung, um ihren Schmerz und die Einsamkeit zu betäuben, die Alexander in ihr hinterlässt.

Sie sieht nur noch einen letzten Ausweg, ihrer Abhängigkeit ein Ende zu setzen: Den eigenen Tod.
(Klappentext)

Rezension:
Wie viel Schmerz, wie viel Leid kann eigentlich ein Mensch tragen, ohne daran zu zerbrechen? Wie viel Mut braucht es, sich selbst zu erkennen, Hilfe anzunehmen, um mit Rückschlägen, die es, je heftiger das Erlebte, das Krankheitsbild ist, zwangsläufig gibt, umzugehen? Niemand weiß das besser als Michelle Müller-Nagy, deren Weg schon in jungen Jahren einem Pfad voller Scherben gleicht, auf dem sie mehrfach fällt und trotzdem weitergeht. Darüber erzählt sie in ihrem bedrückenden und doch irgendwie mutmachenden Buch „Hinter meinem Schatten“, erschienen bei Pinguletta.

In einer Mischung aus Biografie und Verarbeitungsbericht schildert die Autorin entscheidende Jahre ihres Leidenwegs in die emotionale Abhängigkeit. Falsche Vertrauenspersonen, Therapeuten ohne Verständnis für den Ballast eines jungen Menschen und ein steiniger Weg zur Selbsterkenntnis, kennzeichnen spätestens ihr Leben seit ihrem fünfzehnten Geburtstag. Ungeschönt erzählt sie davon, von ihren Kampf um einen Platz, den sie lange vergeblich versucht zu finden, der sie mehrfach in den Abgrund stürzen lässt. Hineingesogen wird man beim Lesen in eine Lebensgeschichte voller erdrückender Momente, die in rasend schneller Taktung aufeinander folgen. Atempausen hatte die Autorin kaum. Lichtblicke zerplatzten ihr so schnell wie Seifenblasen.

Diese Geschichte geht unangenehm unter die Haut. Liest man einen Abschnitt, mag man sich kaum vorstellen, was als nächstes passieren wird. Man leidet mit, wenn wieder ein Chatverlauf, wieder ein Aufeinandertreffen neue Wunden schafft und erkennt, wie verkettet und übergreifend psychische und körperliche Krankheitsbilder sind und auf Müller-Nagy eingewirkt haben müssen, ihr die Luft zum Atmen genommen haben. Wer sich darin auch nur punktuell wiedererkennt, dem zeigt die Autorin, dass kleinste Strohhalme reichen, sich daran zu klammern und sich immer wieder am Leben zu halten. Auch jeden anderen muss die Lektüre unbedingten Respekt abnötigen.

Immer wieder innehalten muss man, um selbst den Kopf freizubekommen. Zu unfassbar ist das, was die Autorin da schildert, die ungeschönt kritisch mit sich selbst umgeht und uns ihr Innerestes offenbahrt. Wut kommt dabei hoch. Warum hast du nicht gleich gesehen, was dich kaputt macht, aber noch viel mehr, warum habt ihr da draußen nicht gesehen, wie jemand kaputtgeht? Die Autorin hält sich selbst und vor allem allen anderen den Spiegel vor und gibt damit Einblick in eine Welt, die man kaum begreifen kann, steht man außen. Und wird damit zur wichtigen Stimme derer, die in unserer lauten tosenden Welt fast nicht zu hören sind. Mit Krankheitsbildern, für deren Gewalt kaum Worte zu finden sind.

Dieser Erfahrungsbericht ist so viel Michelle Müller-Nagy, deren offener Umgang mit ihren Erfahrungen nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, wie auch Pinguletta, dessen Verlagsprogramm wie kaum eines sonst Menschen ins Blickfeld rücken lässt, die sonst keine Bühne haben. Auf Augenhöhe. Die Autorin nimmt sich dafür Zeit, ihren Blickwinkel zu erörtern, dass eine Fortsetzung dieses Buch ergänzen muss, die sich direkt daran anschließt. Schon mit den ersten Seiten wird die Aufteilung auf zwei Bücher verständlich. Alleine diesen ersten Teil niederzuschreiben, muss ein unglaublicher Kraftakt gewesen sein.

Bitte mehr dieser grundehrlichen Lektüre und bitte mehr Sichtbarkeit solcher Menschen.

Autorin:
Michelle Müller-Nagy wurde 1995 in Erfurt geboren und leidet seit der Pubertät an Depressionen, selbstverletzenden Verhalten und Suzidalität. Ohre Erfahrungen zwischen behandlungen und Therapien, in den Bereichen Sucht, Borderline, emotionaler Abhängigkeit und Trauma verarbeitet sie auf einem eigenen Instagramkanal @talkingboutshadows. Sie ist Autorin mehrerer Kinderbücher und Gesellschaftsspiele.

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