Erzählung

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

Inhalt:

Johanna ist keine gute Tochter. Um sich zu retten, hat sie die Familie verlassen. Jetzt, dreißig Jahre später, ist sie wieder zu Hause. Sie sucht Nähe, sie will den Kontakt zur Mutter erzwingen, doch die verweigert sich kühl jeder Annäherung. Heimgesucht von den Erinnerungen an die Kindheit zieht Johanna sich in eine einsame Hütte am Fjord zurück, wo es an ihr ist, die Verhältnisse zu ordnen und sich aus den familiären Zwängen zu befreien.

Vigdis Hjorth erzählt drastisch von unseren zerrütteten Beziehungen, von Sehnsucht und Enttäuschung und davon, wie man der Vergangenheit begegnet, ohne sich selbst aufzugeben. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Familiäre Gräben sind tief und breit, kaum zu überbücken. Johanna selbst steht vor einem solchen, als sie in das Land, die Stadt, zurückkehrt, in der sie aufwuchs. Längst ist aus der jungen Frau, die ihrer Heimat einst aufwuchs, eine erfolgreiche Künstlerin geworden. Der Auftakt dazu jedoch war scheinbar der größte Stein, der den Bruch mit den unnahbaren Eltern vor Jahrzehnten mehr als offensichtlich machte. Doch, lassen sich Wunden heilen? Der Mutter, der fremd gewordenen Schwester, die eigenen? Johanna möchte dies versuchen, möchte verstehen und tritt dabei eine innere Lawine los, die sie bald nicht mehr aufzuhalten vermag.

Der neue Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“, der norwegischen Autorin Vigdis Hjorth, beschreibt den Versuch einer Annäherung, von der man bereits zu Beginn ahnt, wie sie ausgehen wird. Der beschrieben Weg ist das Ziel, welches in mit der Seitenzahl zunehmenden Erzähltempo erreicht wird. Zugleich schauen wir ins Innere der Protagonistin, deren Psychogram nach und nach Konturen bekommt, die die Figur zunächst verständig und sympathisch wirken lässt, jedoch auch das Gegenteil von der Inhaltsangabe suggerierenden Wirkung erzielen kann. Nicht nur Wahrheiten verschieben sich langsam, später immer schneller.

Im inneren Monolog sucht die Protagonistin nach Antworten, erkennt die Unüberwindbarkeit der familiären Zerrüttung nicht und greift, um zu verstehen, zu immer drastischeren Maßnahmen. Da wird observiert, verfolgt, sich in eine ausweglose Situation hinein manövriert, die Schuldfrage nur einseitig beleuchtet. Die Protagonistin wird, das ist gleich zu Beginn klar, den Wandel nicht schaffen, nicht erkennen auch, wann man aufhören sollte zu suchen.

Sehr gewöhnungsbedürftig ist dies zu lesen, zu weilen wirken einzelne Kapitel wie eisige Wasserstrahlen. Unangenehm, fast abstoßend. Kurze, kompakt geschriebene Kapitel entfalten dennoch einen Sog, den man sich nicht entziehen mag, zudem wenn das Erzähltempo selbst anzieht. Darin zu versinken ist dennoch nur in der richtigen Stimmung zu empfehlen.

Die Handlung wird konsequent auf einen Zeitraum von wenigen Wochen beschränkt, auch das kleingehaltene Figurenensemble tragen zur Dramatik bei, wenn auch bis auf die Hauptprotagonistin selbst alle anderen vergleichsweise blass gezeichnet werden.Trotzdem bilden sich schnell Gegenpole, die man zumindest lesend nachvollziehen, wenn auch nicht unbedingt gutheißen, kann, was jedoch nichts daran ändert, dass sich das anfangs geschaffene Bild der Hauptprotagonistin schnell ändert. Womit wir beim Interpretieren wären, was man ja bei Kunstwerken gerne mal macht, oberflächlicher Kulminationspunkt des beschriebenen Familienzwists. 

Im Gesamtpaket ist dies verständlich und in sich schlüssig. Grrößere Stolpersteine gibt es nicht, alleine die Art des Umgangs der Figuren miteinander ist für jemanden, der zwar in einer chaotischen und auch durchaus mal streitenden Familie lebt, nicht immer nachvollziehbar. Überraschende Wendungen sind dünn gesät, dann jedoch sehr gezielt wirken, wie auch die Rückblenden sehr wirkungsvoll gesetzt sind. Die Form kompakter Kapitel bringt zudem die Beschrnkung auf wenige Details mit sich, gerade so, dass ein inneres Bild entsteht. Auch und gerade vom Straßenzug einer skandinavischen Stadt oder der in der dortigen Natur befindlichen Waldhütte. Vigdis Hjorth zeigt hier die Stärke innere Zerissenheit, ebenso einnehmende Szenenbilder zu zeichnen.

„Die Wahrheiten meiner Mutter“ ist ein sehr interessanter Roman über dysfunktionale Familienverhältnisse, zu großen Teilen schwere Kost, da es die Autorin nicht in allen Facetten uns Lesende leicht macht, die Hauptprotagonistin zu mögen. Immer wieder gibt es da Momente zum Überlegen, ob man da jetzt wirklich noch weiterlesen möchte. Ein interessantes Rezept, was jedoch in jedem Fall in Erinnerung bleiben wird. Ob im Guten oder Schlechten liegt daran, wie man sich zur Hauptfigur positioniert.

Ohne skandinavischen Mehltau, die Prise Melancholie ist hier erträglich, hat Vigdis Hjorth einen sehr ambivalenten Roman geschaffen, bei dem, alle Faktoren zusammen genommen, das Fazit schwerfällt. Rein sprachlich und handwerklich ein guter Text, damit auch mal Lob an die Übersetzerin Gabriele Haefs. Von der Handlung der Protagonistin her, so manches Mal zum Haare raufen.

Autorin:

Vigdis Hjorth wurde 1959 in Oslo geboren und ist eine norwegische Schriftstellerin. Sie studierte Ideengeschichte, Politikwissenschaften und Literatur und veröffentlichte zunächst ein Kinderbuch, lebte in Kopenhagen, Bergen, Schweiz und Frankreich. Es folgten weitere Romane, die mehrfach ausgezeichnet, übersetzt und verfilmt wurden. Sie war für den National Book Award sowie den Literaturpreis des Nordischen Ratzes nominiert.

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Tim Staffel: Südstern

Inhalt:

Vanessa ist Pharmakologin. Sie liefert Substanzen, die für Erfolg und Glück sorgen. Ihre Kunden sind Sportler, Krankenpflegerinnen und Politiker. Deniz ist Streifenpolizist. Er fährt Doppelschicht und pfelgt seinen parkinsonkranken Vater. Jeden Tag suchen Vanessa und Deniz verlorene Menschen auf, doch dann treffen sie sich. Ein zarter Großstadtroman, der danach fragt: Wie halten wir dem Druck stand? Wie wollen wir leben, und wie können wir lieben? (Klappentext)

Rezension:

Großstädtisches Leben mit all den Problemen und Herausforderungen zu erzählen, ist dem Autor Tim Staffel mit seinem neuen Roman „Südstern“ gelungen, der heruntergebrochen auf wenige Figuren, den Finger in die Wunde legt. Dreh- und Angelpunkt sind die Leben der beiden im Klappentext erwähnten Hauptfiguren, die jeweils auf ihre Weise mit den immer imens werdenden Druck des gesellschaftlichen gefüges zu kämpfen haben, welches das System im Allgemeinen und das Leben im hauptstädtischen Moloch zu bieten haben.

Deniz, etwa wird zerrissen zwischen zwei Systemmängeln, sowohl der Notwendigkeit der Pflege seines Vaters, der er nicht gerecht werden kann, sowie den Personalmangel im Dienst, der ihn oft genug an Unterstützung bei heiklen Einsätzen fehlen lässt. Vanessa dagegen sorgt sich um ihren durch frühere Bundeswehr-Einsätze traumatisierten Bruder und ist inmitten einer Beziehung, in der sich ihr Partner, ein Abgeordneter und sie selbst immer mehr voneinander entfernen.

Diese Gemengenlage ist Ausgangspunkt der sehr kompakt gehaltenen Erzählung, deren zwei Stränge sich unweigerlich kreuzen werden. Auch die Großstadt ist ein Dorf. Feinfühlig zeichnet der Autor hier seine Figuren, die sich zunächst langsam umkreisen, um später nicht mehr ohne einander zu können.

Kurze prägnante Sätze kennzeichnen den Stil, abwechselnd mit detaillierter szenischer Gestaltung, die beinahe etwas filmisches hat. Bilder entstehen vor dem inneren Auge. Gerade, wer vielleicht selbst aufgerieben, lebt, erkennt wie viel Tim Staffel hier mit vergleichsweise wenigen Worten erzählt. Da wird Systemkritik verknüpft mit privatem Dilemma, eine explosive Mischung, die nur darauf wartet, sich zu entladen.

Erzählt wird ein überschaubarer Zeitraum so, dass man sich in die einzelnen Szenen, zudem in die beiden Protagonisten hineinversetzen kann. Ihre Handlungen sind nachvollziehbar, weder schwarz, noch weiß. Ihre Wege müssen grau sein, um zu bestehen. Der Autor versteht, dies gekonnt umzusetzen.

Dabei wechselt der Autor zwischen beiden Perspektiven hin und her, wobei Übergänge zum Teil fließend sind. Das führt zwangsläufig dazu, hin und wieder einmal innezuhalten, zwischen zarten Momenten voller Gefühle, Verzweiflung, Melancholie und der einen oder anderen Spitze Humor. Tim Staffel hat es vermieden, dass seine Erzählung trotz aller Ernsthaftigkeit allzu erdrückend wirkt.

Das macht es möglich, sich in die Figuren hineinzuversetzen. In irgendeiner Art und Weise kennt jeder anteilig den Druck, den nicht nur das Leben in den Großstädten heute bereithält.

Ohne größere Lücken und Sprüngen entfaltet sich hier ein Berlin-Panorama, welches ungeschönt die Lesenden in sich einsaugt, mit wenigen Worten so viel aufs Tableau bringt.

Man kann sich das alles gut vorstellen, sowohl die Figuren, als auch Szenarien und einzelne Schauplätze. Nur das Ende wird dem nicht gerecht. Während Tim Staffel für den Handlungsverlauf das richtige Maß zwischen Detailliert- und Kompaktheit gefunden hat, was der Erzählung einfach gut tut, scheint das Ende zu einfach.

Als hätte der Autor hier einen Verlagstermin unbedingt einhalten müssen und es einfach nicht mehr geschafft, die notwendige Detailarbeit seinen letzten Szenen angedeien zu lassen. Hier wäre dann doch ein wenig mehr Ausformulierung wünschenswert gewesen. Das ist jedoch Meckern auf hohem Niveau. Es geht hier schlicht und einfach um Abzug in der B-Note. Ansonsten hat man mit „Südstern“ eine eindringliche Erzählung, die sich zu lesen lohnt.

Autor:

Tim Staffel wurde 1965 in Kassel geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Hörspielregisseur. Er studierte zunächst Theaterwissenschaft in Gießen und veröffentlichte seinen ersten Roman im Jahr 1998. Von 2017-2019 war er Dozent für Szenische Künste an der Universität Hildesheim, zuvor veröffentlichte er weitere Romane und schreib an mehreren Theaterstücken und Hörspielen. 1996 bekam er das Alfred-Döblin-Stipendium. Sein Roman „Südstern“ steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

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Beliban zu Stolberg: Zweistromland

Inhalt:

Die Rechtsberaterin Dilan ist Tochter kurdischer Aleviten, die Verfolgung und Gewalt ausgesetzt waren. Doch darüber schweigen sie. Erst als ihre Mutter stirbt und sie selbst ein Kind erwartet, arbeitet Dilan gegen das unerträgliche Schweigen an: Sie reist nach Diyarbakir im Osten der Türkei. Die alte Stadt am tigris ist die heimliche Metropole der Kurden. Hier haben ihre Eltern einst gelebt, geliebt und gekämpft.

Ein poetischer und brennend aktueller Roman über politischen Mut, qualvolles Vergessen und die gefährliche Reise einer jungen Frau. (Klappentext)

Rezension:

Ein Roman zwischen Vergangenheit und Gegenwart, eine Protagonistin auf der Suche, ein Konflikt, der nicht nur das Leben der Eltern teilt und eine Sprache als Schlüssel. Dies ist „Zweistromland“, von Beliban zu Stolberg, die sich in ihrem Debüt einer Thematik von gewaltiger Sprengkraft annimmt und beinahe poetisch erzählt.

Das Ende ist der anfang. Als die Mutter stirbt, begegnet die junge Dilan einer Frau, die einen Steinen ins Rollen bringt, der sie bis in die ehemalige Heimat ihrer Eltern führen wird. Sie selbst lebt da schon in Istanbul, verwurzelt in zwei Sprachen, doch seit ihrer Kindheit weiß die Protagonistin, dass Kurdisch der schlüssel zum früheren Leben der Mutter und des Vaters gehören. Sätze, die für das Kind verschlossen und geheimnisvoll klingen. Zu Hause wird nur Türkisch und Deutsch gesprochen. Später, als Erwachsene, als sie kurz davor steht, selbst Mutter zu werden, sucht sie einen Zugang, möchte begreifen. Eine Reise beginnt, die Risse vollends sichtbar werden lässt.

Nur oberflächlich beinahe ein Roadtrip entpuppt sich der vorliegende Roman als kompaktes Familienepos, hoch politisch, voller Schmerz über das Verlorene. Unruhe hineingeschrieben in jede Zeile wird zu einem Drängen, welches Tempo in die Erzählung mit einbringt. Der Wechsel zwischen den Zeitebenen gibt der Protagonistin und der sie umgebenden Menschen Konturen. Beliban zu Stolberg versteht es, so viel wie möglich zwischen den Zeilen zu packen und auf jeder einzelnen Ebene, bewusst oder unbewusst, funktioniert das auch. Nichts wirkt dabei gestellt, fehl am Platz. Mehr als einmal kann man den Schmerz, der unzählige Familienbiografien durchziehen muss, fühlen, wo das Unaussprechliche zur drückenden Last wird, für die die nachvollgenden Generationen eine Erklärung suchen. Das Trauma der Eltern lebt in ihren Kindern weiter.

Die Geschichte wird in zwei Zeitebenen erzählt, von annähernd gleicher Tonalität immer im Wechsel. Vom Weg der Erwachsenen lesen wir, wie auch vom Kind, dass noch nicht genau umfassen kann, auf was es da stößt. Der Grundsatz, die Vergangenheit ruhen zu lassen, um das hergestellte fragile Gleichgewicht nicht zu gefährden, gerät mit der Entscheidung, in den Bus zu steigen und sich auf den Weg zu begeben, ins Abseits. Ob das gut ist, bleibt offen, so vieles in diesem Roman. Beliban zu Stolberg wertet nicht, lässt die Lesenden ein eigenes Bild vor ihren inneren Augen entstehen.

Es ist ein Roman über große Politik und ihren Auswirkungen auf die Menschen, in der die Protagonistin genügt, um selbigen vollständig auszufüllen. Die Nebenfiguren sind, rar gesät, nur impulsgebend, während Dilans Suche mit zunehmender Seitenzahl sich immer drängender gestaltet. Nicht wissend, worauf diese hinauslaufen wird. Slo stockt einem der Atem, von einzelnen Szenen muss man sich beinahe losreisen. Die Autorin, die sonst Drehbücher schreibt, hat einen Film auf Papier ausformuliert.

Wenn man die Protagonistin als Kind, sowie als Erwachsene getrennt voneinander betrachtet, kann man von mehreren Perspektiven sprechen und das reicht vollkommen aus. Immer ist da eine unterschwellige Spannung zu spüren, wie sie das Stöbern in der Vergangenheit mit sich bringt. Unbeschwerte Momente wechseln mit melancholischen, im nächsten Moment ruhelosen Handlungen. Sehr atmosphärisch wirkt das besonders, wenn Kipppunkte erzählt werden, die zu Stolbergs Figur ins Wanken bringen.

Wie liest sich der Roman wohl, wenn man einen ähnlichen Hintergrund hat? Wie die Protagonistin, wie die Autorin?

Auch so versteht sie es, in die Geschichte hineinzuziehen, auch Bilder entstehen zu lassen und schafft damit, denen eine Stimme zu verleihen, die von einer Konfliktsituation getroffen sind, direkt oder indirekt, die vom Rest der Welt vergessen, verschwiegen, unter den Teppich gekehrt wird. Man findet viel zu wenig davon.

Man braucht nicht unbedingt all zu sehr detaillierte Kenntnisse der politischen Geschichte der Türkei und des Kurdenkonflikts, Grundlagen reichen und vielleicht der eine oder ander Blick auf Kartenmaterial, welches Orte und Verteilung von Volksgruppen, Sprachen und religiösen Minderheiten zeigt. Zumindest eine geografische Karte hätte ich abgedruckt noch als I-Tüpfelchen empfunden. Vielleicht ja für eine nächste Auflage.

So oder so versinkt man in dieses gewichtige Debüt. Glaubt kaum, dass es eines ist. Spannend, was da vielleicht noch von Beliban zu Stolberg kommen wird.

Autorin:

Beliban zu Stolberg wurde 1993 in Hamburg geboren als Kind einer deutschen Mutter und eines kurdischen Vaters. Von 2015 an studierte sie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Drehbuch und wirkte an zahlreichen Kurzfilmen und Webserien mit. 2016/17 war sie Mitglied im Jungen Berliner Rat des Maxim Gorki Theaters, 2018 wurde sie mit einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert, nahm daraufhin an einer Autorenwerkstatt teil. Mehrere Aufenthalte in Finnland folgten, sowie 2023 eine Teilnahme an der Netflix Writing Academy. „Zweitstromland“ ist ihr erster Roman.

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John Ironmonger: Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen

Inhalt:

In dem gemütlichen Pub eines winzigen Fischerdorfes in Cornwall kommt es am Mittsommerabend zu einer folgenreichen Klimawette zwischen einem Studenten und einem Politiker. Werden bald auch die dreihundertsieben Bewohner des beschaulichen Dorfes zu spüren bekommen, wovor die Welt noch die Augen verschließt?

John Ironmonger erzählt von der dringensten Aufgabe unserer Zeit und von zwei schicksalhaft verbundenen Leben. Können aus Gegnern Verbündete werden, wenn es um unser aller Zukunft geht?
(Klappentext)

Rezension:

Fast scheint es, als ob das Genre des Klimaromans nun entgültig in die Buchhandlungen Einzug gehalten hat, ist doch die Frage, wie wir dem Wandel des Klimas begegnen, eine der drängensten unserer Zeit. Das arktische Eis schmilzt unaufhaltsam.

Die Fragen lauten nur noch, wie schnell, wie hoch wird das freigesetzte Wasser steigen und mit welchen Auswirkungen in Gang gesetzter Kettenreaktionen werden wir und künftige Generationen noch konfrontiert werden? Dies ist der gedankliche Überbau der hier vorliegenden Mischung aus Dystopie, Gesellschafts- und Politroman. Er beginnt mit einer Wette. Jene, die sie beschließen begleiten wir über ihre gesamte Lebensspanne. Wer wird am Ende Recht behalten und ist solch ein Sieg nicht gleichsam eine Niederlage?

Von Beginn an ist klar, wie die Erzählung schließen wird. Das Ende ist nicht überraschend. Spannend ist hier der Weg zum Ziel. Lesend wird man jedoch zunächst eingelullt, die Hauptprotagonisten werden vorgestellt, samt einiger sie umgebender Nebenfiguren. Die Atmosphäre des kleinen Dorfes, der als Touristenort sein Auskommen hat, ist förmlich zu greifen. Die Figuren schließt man schnell ins Herz, positioniert sich entsprechend.

Langsam kommt dann die geschichte ins Rollen, deren Handlungsfäden wir über die Jahrzehnte folgen. Zeitsprünge und Perspektivwechsel geben das Tempo vor, schließlich soll eine gesamte Lebensspanne erzählt werden. Für diese Form ist der Roman relativ kompakt, wenn auch der Autor an teilweise sehr schwülstigen Formulierungen nicht spart und mehrfach die Grenze zum Kitsch um mehr als eine Fußlänge bis ins Unglaubwürdige überschreitet. Da dies jedoch erst ab Mitte der Erzählung geschieht, kann man durchaus augenrollend darüber hinweg sehen.

So turbulent wie das Leben verläuft, so ändern sich auch die Handlungsorte der Protagonisten. Hier hat John Ironmonger ein glückliches Händchen bewiesen, diese so zu beschreiben, dass man sie sich förmlich vorstellen kann. Eben ist man noch im dörflichen Pub, dann in der Umgebung einer kargen Forschungsstation, der Unwirklichkeit unbarmherzigen Eises ausgeliefert. Mit solchen Elementen gelingt es dem Autor eine Stimmung aufzubauen, die in Sicherheit wiegend, promt die nächste Überraschung bereithält, um dann in einem anderen Moment in trügerische Stille hineinzuwechseln.

Bis auf die beiden Protagonisten, die im Verlauf der Handlung ihre Ecken und Kanten bekommen, bleiben beinahe alle, hier wiederum auch nur bis auf eine, Nebenfiguren konturlos. Ironmonger konzentriert sich zumindest hier aufs Wesentliche und tut seiner Geschichte damit einen großen Gefallen, zudem dadurch Gegensätze bereits genug ausgestaltet werden. Klar wird an einigen Stellen sehr stark überzeichnet, doch gelingen auch Verbindungen. Steckt nicht in vielen von uns der Idealismus eines Tom Horsmith, aber auch das Zögern, die Inkonsequenz eines Monty Causley?

Die Zeitsprünge sind es, die die Geschichte so besonders machen, ohne größere Lücken entstehen zu lassen. Eher sind es Handlungsmomente, die unglücklich gesetzt sind, und die Erzählung manchmal ins Stocken geraten lassen. Zu Gute halten muss man dem Autoren, dass dieser sich mit der Thematik des Klimawandels ausgiebig beschäftigt hat.

Fazit, welches man ziehen könnte, es bringt nichts den Menschen von Folgen zu erzählen, die vielleicht irgendwo andere treffen werden oder von globalen Maßnahmen zu sprechen, auf die sich ohnehin nicht die gesamte Staatengemeinschaft einigen wird.

Was bedeutet der Klimawandel für mich, für meine Umgebung, für das Land, in dem ich lebe und was kann jeder Einzelne in kleinen Schritten tun? in großen Schritten denken die wenigsten, zumal kaum Politiker, die bereits die Umfragen für die nächsten Wahlen und den nächsten Karriereschritt im Blick haben.

Dem Schreibstil hätten eine gewisse Dynamik und Tempo gut getan. So reiht sich auch dieses Werk unter vielen einen, die durchaus interessant zu lesen sind, aber schnell unter „ferner liefen“ abgestellt werden können, zudem wenn man mehreres dieser Art bereits liest. Hier darf man die berechtigte Befürchtung äußern, dass der Roman untergeht, wie der vor sich hinschmelzende Eisberg. Liest man über die Thematik nicht so häufig einen Roman, hat dieser dennoch die Chance, im Gedächtnis zu bleiben.

Zu guter Letzt, die Titelfindung. Sperriger geht es kaum, zudem der Eisbär weder Auslöser noch Konsequenz ist.

Die Grundidee der Geschichte funktioniert, sowie auch die Figuren durchaus Identifikationspotential mit sich bringen, doch schießt der Autor öfter mit Formulierungen und der Ausgestaltung von Szenen übers Ziel hinaus, da helfen dann auch schöne Worte nichts. Wenn es aber hilft, den einen oder anderen, der thematische Überbau existiert ja, zum Nachdenken zu bringen, hat dieser Roman dennoch seine Berechtigung.

Autor:

John W. Ironmonger wurde 1954 in Nairobi, Kenia, geboren und ist ein britischer Schriftsteller. Zunächst studierte er Zoologie in Nottingham und Liverpool, bevor er an der Universität von Illorin, Nigeria, unterrichtete. Danach arbeitete er im Bereich der medizinischen Informatiok in Groß-Britannien. Im Jahr 1994 veröffentlichte er ein Sachbuch. 2012 folgte sein erster Roman. Seine Werke wurden mehrfach nominiert und ausgezeichnet.

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Jan Krauß/Alexander Pavlenko: Faust – Eine Graphic Novel

Inhalt:

Alle Welt kennt Faust, der mit Mephisto einen teuflichen Pakt schließt. Eine Tragödie – so spannend wie ein Thriller. Viele Zitate sind Teil unserer Umgangssprache geworden. Die Graphic Novel FAUST erschließt Goethes zentrales und exemplarisches Meisterwerk mit meisterlich gezeichneten Szenen wie aus einem kühnen Historienfilm sowie sprachlich modernisiert auch heutigen Generationen. Sinnfällig visualisiert, wirbelt der Leser durch verschiedene Sphären, Milieus und Zeiten im Himmel wie auf Erden, trifft auf Menschen, Lehren, Götter, Geister, Hexen und Magie. (Klappentext)

Rezension:

Im Unterricht oft genug zu Tode analysiert, bleibt von der ursprünglichen Magie so viel wie wenig, zuweilen gar nichts übrig, um so wichtiger ist die Übertragung von Klassikern in die Moderne, um Stoffe wie Goethes „Faust“ auch in heutiger Zeit zugänglich zu machen. Mit diesem hat es der Zeichner Alexander Pavlenko versucht, in Zusammenarbeit mit Jan Krauß, der den Text behutsam in eine moderne Form übertragen hat. Entstanden ist eine zuweilen der Geschichte bedingt düstere, aber lesenswerte Graphic Novel, die den Geist der Vorlage wunderbar transportiert.

Über den Inhalt gibt es nicht mehr viel zu sagen. Auch hier sind es zwei Gegensätze, die verhandelt werden und Protagonisten mit mehr als den bloßen Ecken und Kanten, die miteinander und gegeneinander ringen, dabei die Grenzen des Möglichen austesten und erweitern. Sehen wir uns zuerst den Text an, sind sämtliche Dialoge und Aussprüche in die Moderne übertragen wurden, jedoch so vorsichtig, dass es nicht unangenehm auffällt, sondern im Gegenteil man hineingesogen wird in die Handlung, die all das Trockene verliert, was mitunter das klassische Drama für uns heutige Lesenden hat.

Der Kunstform Graphic Novel bedingt, fällt natürlich das bekannte Versmaß weg. Der Texter hat sich hier um eine geeignete Form bemüht, die funktioneirt, vielleicht auch verständlicher wirkt, ohne die Ebenen der Interpretationsspielräume, die uns Goethe nach Lehrmeinung hinterlassen hat, zu verlieren. Die kann man mitlesen, muss dies jedoch nicht, so dass ich geneigt bin, den Klappentext des Verlags zuzustimmen. Ja, diese Form funktioniert tatsächlich wie ein moderner Krimi. Handlungsstränge wurden entwirrt, Tempo durch Konzentration aufs Wesentliche hinein gebracht.

Träger sind hier die Zeichnungen aus der Feder von Alexander Pavlenko, der hier abgesehen von ebenso für andere Werke des Verlags gestalteten Covern im Scherenschnittstil hier sein ganzes Können zeigen darf. Düster sind die einzelnen Panels gehalten, welches die Grundstimmung, zuweilen die Unruhe und Getriebenheit der Hauptfigur unterstreicht, welche sich vom oft schwarz gehaltenen Hintergrund abhebt. Wichtiges wird durch Detailreichtum hervorgehoben, während anderes manchmal fast nur schematisch gehalten wird. Pavlenko hat hier mit schnellen Strich und beschränkter Farbpalette gearbeitet. Es braucht nicht viel, um zu beeindrucken. Hier ist weniger mehr und das funktioniert gut.

Die Handlung orientiert sich an der Vorlage, während der Spagat, diese in die Morderne zu übertragen in diesem Zusammenspiel gelingt, ohne die Idee zu verraten oder gar, auch schon gesehen, ins Satirische abzugleiten. Auch wenn es ein wenig Wunschdenken ist, würde man diese Version, vielleicht nicht stattdessen aber parallel im Schulischen behandeln, kann ich mir durchaus vorstellen, dass Goethes Drama auch heute noch zugänglich ist. Ohne Interpretationshilfen bedienen zu müssen oder einen Text so sehr auseinander zu nehmen, bis dieser nicht mehr lebt. Pavlenko und Krauß erreichen mit ihrer Version genau das Gegenteil.

Autoren:

Alexander Pavlenko wurde 1963 in Ryazan geboren und studierte zunächst Trickfilmkunst, bevor er für verschiedene Filmstudios in Moskau arbeitete. Seit 1992 lebt er in Deutschland und illustrierte Comics, Science-Fiction und Abenteuerromane, die in verschiedenen Ländern veröffentlicht wurden. Seine Zeichnungen waren zudem Stücke verschiedener Ausstellungen.

Jan Krauß studierte Politologie, Romanistik und Philosophie und veröffentlichte mehrere Werke, wie z. B. das Kinderbuch „Thors Hammer“. Er lebt in Frankfurt/Main.

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Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord

Inhalt:

Ein wohlsituierter New Yorker Geschäftsmann stürzt urplötzlich in eine mentale Krise. Um zu gesunden, so spürt er, muss er seinen von grauem erfolg geprägten Alltag hinter sich lassen, und kurzerhand tritt er eine Schiffsreise an. Doch nachdem der Aufenthalt an Bord des Frachters Arabella ihm zunächst tatsächlich Erleichterung verschafft, reicht ein einziger falscher Schritt, um all seine Gewissheiten infrage zu stellen … (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Es wird sich schon alles im Guten auflösen, denkt sich der Protagonist zunächst, der noch nicht weiß, dass mit seinem eben gemachten Schritt all seine Gewissheiten in ihren Grundfesten erschüttert werden. Henry Preston Standish, gerade noch auf dem Boden des Frachters Arabella stehend, ist ausgerutscht, über Bord gegangen und muss nun mit ansehen, wie sich das Schiff langsam immer weiter von ihm entfernt.

Sie werden schon den fehlenden Passagier bemerken und zu seiner Rettung umkehren, denkt er sich, zu Beginn noch optimistisch gestimmt. In der Weite des Ozeans beginnen bald nicht nur seine Gedanken zu kreisen.

So beginnt der erstmals 1937 veröffentlichte Roman des amerikanischen Journalisten Herbert Clyde Lewis, dem Zeit seines Lebens eine gewisse Unruhe umtrieb und der seinen Protagonisten eben dieser zumindest gedanklich aussetzt, damit eine Dynamik sich entfalten lässt, die einem schaurigen Kammerspiel gleicht.

Mit kompakten Formulierungen hat der Autor Zeile für Zeile ein Szenario aufgebaut, welches mit wenigen Figuren und auf beschränkten Raum auskommt, dennoch über die gesamte Handlungslänge eine Spannung hält, die zwischen grausamer Faszination und fast angenehmen Nervenkitzel schwankt, ist doch das beschriebene Szenario einer der Alpträume schlechthin.

Getrieben wird die handlung hauptsächlich durch die Gedanken der Protagonisten. Wechseleitig erfahren wir die von Standish selbst, der ein Wechselbad seiner Gefühle durchleben und sich dabei über Wasser halten muss, dann die der Passagiere und Besatzung des Frachters, die die Abwesenheit von einem der ihren zunächst nicht bemerken.

Das alles wird sehr punktuell erzählt. Kein überflüssiges Wort zu viel. Man hofft und bangt mit dem Hauptprotagonisten. Der Kontrast zu den Nebenfiguren steigert sich. Die Handlung indes ist damit schnell erzählt, das Ende lässt sich dennoch nicht erahnen. Es sind die Gedankengänge der Figuren, die die Handlung am Leben und die Lesenden bei der Stange halten werden.

Nebenbei hat Lewis es geschafft, auf solch engen Raum auch eine gehörige Portion amerikanischer Gesellschaftskritik einzubauen, verkörpert durch die Gegensätzlichkeit der Protagonisten.

Da der vom Erfolg verwöhnte Geschäftsmann, der plötzlich den Boden unter seinen Füßen verliert, die Weltwirtschaftskrise ist so lang nicht her, der New Deal zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans noch nicht ganz durch, auf den Frachter selbst noch ein anderer Passagier, Farmer, der mit etwas Handfesten im Alltag hantiert, dennoch eine gewisse Faszination für Standish aufbringen kann, der die Zukunft des amerikanischen Wirtschaftssystems darstellt. Solche Anspielungen gibt es viele in diesem Roman, in allerhand Nebensätzen, zwischen den Zeilen. Manchmal nur ein Wort, welches da aufblitzt.

Immer dramatischer zeigt sich die Situation für den ins Wasser gefallenen. Der im Zeitraum von wenigen Stunden spielende Roman nimmt einem mit. Der Autor schafft es, einem selbst die Panikattacke, den versehentlichen Schluck salzwasser etwa spüren zu lassen, der den durst des Protagonisten nur noch vergrößern wird.

Während die Figuren sich immer mehr voneinander entfernen, behält der Autor alles im Blick. Aus Mangel an Alternativen ist er es, der die Erzählerrolle einnimmt, damit Distanz aufbaut und doch so die Dramatik seiner Hauptfigur noch mehr herausstellt. Erzählerische Lücken, unlogische Brüche enfallen. Ob die Geschichte die erhoffte Wendung nimmt, bleibt bis zum Ende offen. Es bleibt spannend bis zuletzt.

Der Hauptprotagonist ist gezwungen, Bilanz zu ziehen, auch die sich in Sicherheit befindenden Figuren werden mit einer gewissen Unausweichlichkeit konfrontiert. Man mag sich dieses Szenario nicht in der Realität vorstellen, wohl wissend, dass es auch heute immer mal wieder vorkommt.

Lewis gelingt es, die Bilder vor dem inneren Auge aufzubauen, die zunächst ruhige Wasseroberfläche, das Nass, welches sich lauwarm anfühlt, die Sonne, deren Farben Standish in einer nie wahrgenommenen Intensität zu sehen bekommt. Welche Gedanken machen wir uns am Ende unserer Tage? Welche Bilanz ziehen wir? Wer denkt dann noch an uns und vor allem, wie? Fast philosophisch ist der Schriftsteller den Fragen mit diesem sehr punktuell gehaltenen Text begegnet, den man das Gefühl hat, langsam zu lesen und doch durch die Handlung rennt. Es geht ja schließlich ums Leben. Ums Überleben.

Der Roman bleibt im Gedächtnis, selbst wenn man nur die Erzählung selbst und nicht zwischen den Zeilen liest, die Anspielungen, auch die auf den Autoren, der seine Ruhelosigkeit in den Protganisten mit hinein geschrieben hat, gleichzeitig aber auch diesen zu sich selbst in Kontrast setzte, einmal unter die Wasseroberfläche sinken lässt. In diesem sehr reduzierten Stil erzielt der Autor dennoch eine enorme Wirkung. Vielleicht ist es daher der richtige Zeitpunkt, dass jetzt dieser Roman auch im deutschsprachigen Raum zugänglich ist.

Autor:

Herbert Clyde Lewis wurde 1909 in New York City, New York, geboren und war ein amerikanischer Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. Zunächst arbeitete er als Reporter, und Redakteur bei verschiedenenen Zeitungen, zudem bei einer Werbeagentur. 1937 veröffentlichte er seinen ersten Roman, dem weitere folgten. Zwei Jahre später begann er als Drehbuchautor für Hollywood zu arbeiten, später für das Time Magazin. Lewis starb 1950 an Herzinfarkt.

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Sylvia Frank: Nur einmal mit den Vögeln ziehn

Inhalt:

Ein Picknick mit Mozart vom Grammophon mitten zwischen Feldern in Thüringen wird zu „Jenseits von Afrika“, in der kaserne bauen sie illegal Marihuana an und in einem alten Kino spielen sie zu „The Band – The Last Waltz“ eigenhändig Blues … sylvia Frank erzählt spannend und authentisch die Geschichte von Siv, Aki, Anna Maria, Jens und Ivo, fünf Jugendliche, die in der DDR in ganz unterschiedlichen familiären Verhältnissen aufwachsen und die historischen Ereignisse der friedlichen Revolution, der Grenzöffnung und der deutschen Einheit als junge Erwachsene miterleben. Ereignisse, die ihr Leben verändern. (Klappentext)

Rezension:

Vielleicht hat er bis dato gefehlt, dieser Roman, der nicht verklären aber auch nicht verteufeln tut, der die Schwarzmalerei unterlässt, jedoch auch nicht die Schattenseiten der jüngeren Geschichte unterschlägt. Hier ist er also, aus der Feder des Autorenpaars Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert, die stellvertretend für eine ganze Generation eine handvoll Protagonisten unterschiedliche Wege gehen lassen, dabei menschliche Abgründe aufzeigen, aber eben auch Momente des Glücks im Kleinen, sowie natürlich auch im Großen. Aus wechselnder Sicht wird erzählt, wie der vielzitierte Mantel der Geschichte sich öffnete und die Menschen diese Chance ergriffen und vollzogen.

Das geschieht in sehr kompakter Form, die überraschend ist, da die erzählte Zeitspanne doch schon 1977 ansetzt und allen Figuren, die wir von Kindesbeinen an verfolgen, genug raum eingeräumt wird. Aus wechselnder Perspektive heraus werden dabei nicht nur die großen historischen Momente aufgerollt, sondern liebevoll Alltagsszenen auserzählt, die eine ganze Generation prägten. Nicht genug, auch wechseln die Handlungsorte quer durch die DDR, um so sehr effektvoll, doch ohne großes Geschrei Differenzen, Widersprüche und Wandel aufzuzeigen, von der innerdeutschen Grenze ins ländliche Thüringen, von Leipzig bis nach Berlin.

Viel zu viel möchte man meinen für so wenig Seiten, gibt doch all das viel mehr Erzählstoff her, doch die Schreibenden lassen ihren Protagonisten Spielraum, ohne jedoch zu Gunsten von wenigen, andere Handlungsstränge zu verlieren. Wer die Zeit bewusst erlebt hat, findet sich da sicher irgendwo wieder, wer nicht taucht ein und erlebt Geschichte. Frank und Meierewert lassen Orte vor dem inneren Auge entstehen, so dass es wirkt, als würde man selbst im Verhörraum der Stasi sitzen oder im Kirchenraum, im Ungewissen, was nach der Predigt gleich passieren wird. Anderes hat sich längst ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, selbst wer das nicht aus eigenem Erleben heraus erfahren hat.

Vor allem die Unaufgeregtheit, mit der die Schreibenden dies aufgerollt haben, trägt dazu bei, dass ein Sog entsteht, den man sich nicht entziehen mag. Dabei wird das Erzähltempo stetig gehalten, zudem wird man wahrscheinlich in allen Figuren etwas von sich und anderen finden. Man rollt manchmal die Augen über die Protagonisten und schließt sie doch ins Herz.

Gegensätze und Kontraste werden hier durch die erzählten unterschiedlichen Lebenswege, sowie durch die Zeit selbst aufgebaut, die noch zu Beginn des, nennen wir es einmal Gesellschaftsroman, die Protagonisten vor sich hertreibt, bis sich dieses Verhältnis umkehrt. Das funktioniert oft gut, manches hätte ich mir noch mehr auserzählt gewünscht. Nur mit zwei Szenen sind die Schreibenden hier ins Kitschige abgerutscht. Da hat jedoch der Perspektivwechsel im jeweils nächsten Kapitel entgegen gewirkt. Zum Glück, es wäre sonst durchaus schade gewesen.

Somit ist „Nur einmal mit den Vögeln ziehn“, was man sinnbildlich verstehen darf, eine durchgehend schlüssige, vergelichsweise ruhige Erzählung, über eine doch bewegte Zeit, ein Roman über ostdeutsche Perspektive, ohne bestimmte Narritive zu bedienen, die heute auch einmal ganz gerne populistisch genutzt werden, was hier sehr wohltuend wirkt. Zudem hat man das Gefühl, keinen wichtigen geschichtlichen Moment ausgespart zu haben, aber eben auch die Protagonisten nicht verliert, für mich als an der Historie interessierten Menschen auch sehr spannend zu lesen.

Wie dreht sich diese Perspektive wohl für mich, wenn dann weiter erzählt wird, und die Handlung meinen Erinnerungsraum beginnt zu berühren? Eine Fortsetzung des Romans ist zumindest angedacht. Man darf gespannt bleiben. Bis dato ist es ein Roman für jene, die diese Zeit bewusst erlebten, ob ost- oder westdeutsch und jene, die darum wissen und zumindest diese kleine Zeitreise unternehmen möchten.

Die Protagonisten, deren Handlungsstränge mal mehr, mal weniger verwoben sind, dann auseinanderlaufen, um sich in anderer Beziehung später zu überkreuzen, erzeugen eine Dynamik, die man vielleicht nicht immer wahrnimmt, welche jedoch keine Monotonie aufkommen lässt. Manchmal fehlen vielleicht ein paar Ecken und Kanten, bei Figuren, wovon andere wieder mehr als genug haben. Welche das sind, werden jedoch für alle Lesenden andere sein. Eventuell lohnt die Lektüre alleine dafür, das herauszufinden.

Autorin:

Sylvia Frank ist das Pseudonym des Schriftstellerpaares Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert. Sylvia Vandermeer wurde 1968 geboren und studierte Betriebswirtschaftsleere in Passau. Im Jahr 2007 wurde sie an der Wirtschaftsuniversität Wien habilitiert. Darüber hinaus studierte sie Biologie, Bildende Kunst und Psychologie. Frank Meierewert wurde in Brandenburg a. d. Havel geboren und studierte Drehbuch an der Filmhochschule Wien, sowie Sozial- und kulturanthropologie, ebenfalls dort. Er ist ebenfalls als freiberuflicher Autor tätig.

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Reinhard Kuhnert: Was unvergessen bleibt

Inhalt:

Fergus Monahan ist tot. Oder vielleicht doch nicht? Seine Frau Maeve jedenfalls ist fest davon überzeugt, dass er sich allerbester Gesundheit erfreut …

Ein höchst wundersames Geschehen in der westirischen Provinz Connemara, ein familienzwist in der Klassikerstadt Weimar, zwei Männer an einem Grab und die Geschichte von Josef, der sich einem Gedächtnistest unterziehen soll – vier Erzählungen über das Erinnern und Vergessen und über das, was unvergessen bleibt. (Klappentext)

Rezension:

Herausfordernd sind die Geschichten, denen die Schreibenden nur wenige Worte zugestehen, die auf begrenzten Raum eine Wirkung entfalten müssen und so ist die Kurzgeschichte eine sehr eigenwillige Form, die oft genug daran scheitert, dass entweder Protagonisten nicht ausreichend ausgestaltet worden sind oder Situationen nicht genug Zeilen bekommen, um ihre Wirkung zu entfalten. Das gelingt am besten, wenn Autor oder Autorin die Kunst der Auslassung beherrschen oder die der Konzentration auf ein bestimmtes Motiv. Ein positives Beispiel dafür ist der hier von Reinhard Kuhnert vorliegende Erzählband „Was unvergessen bleibt“.

Mit vier sehr verschiedenen Kurzgeschichten nähert sich der Autor und Regisseur den großen Themen des sich Erinnerns und des Vergessens, die wie ein roter Faden das Werk durchziehen und in unterschiedlicher Gewichtung ihre Wirkung entfalten. Nehmen wir die Geschichte zweier Brüder, deren eigene Geschichte zugleich die der Teilung Deutschlands ist, damit einhergehende Entfremdung, aber auch der Frage nach Schuld und Schuldigkeit.

Unter der Oberfläche des Erzählten entdeckt man lesend einige Facetten, an denen einige Familiengeschichten heute noch zu tragen haben dürften, gleichwohl Mauerfall und Wiedervereinigung schon vor über dreißig Jahren stattgefunden haben. Oder, in einer der anderen Geschichten die Gewichtung der Vergangenheit als höher bei der älteren Generation und die Frage nach der Zukunft bei der jüngeren. Starke Motive werden mit wenigen Worten zur Sprache gebracht, die Reinhard Kuhnert nicht nur als Autor virtuos beherrscht.

In jeder Geschichte konzentriert sich der Autor nur auf wenige Protagonisten, gibt zudem dem Davor und Danach verschiedene Schwerpunkte, so dass ein jeder lesend wohl eine Erzählung finden wird, mit der man sich identifizieren kann, die in abgewandelter Form vielleicht auch in der eigenen Familie, im eigenen Leben stattgefunden hat. Sehr kompakt aufgebaut, jede Handlung umfasst im Schnitt nicht mehr als vierzig bis fünfzig Seiten, entfalten die Kurzgeschichten ihre Wirkung und erzählen doch zuweilen größere Zeitspannen, als man dies für möglich halten würde, dass das in dieser Form so funktioniert.

Allesamt spielen sie im nicht nur der Historie schwierigen Gegensatz und Miteinander zwischen Ost und West. Eine perfekte Grundlage, um auch mit beiden Motiven dergestalt spielen zu können. Dabei verliert der Autor nicht einmal seine Protagonisten aus dem Blick, welche er in nur wenigen Zeilen auch mit Ecken und Kanten ausgestaltet hat. Lücken wurden nicht unbewusst gesetzt, auch unlogische Brüche sind in keiner einzigen der Erzählungen zu finden. Persönlich hat es mich positiv gestimmt, dass es doch noch Kurzgeschichten gibt, die für mich funktionieren, was ja aus genannten Gründen oft genug nicht der Fall ist.

Wenige Worte reichen dem Autoren hier aus, um Bilder vor den inneren Augen der Lesenden zu erzeugen und in die Protagonisten hineinzufühlen. Faszinierend, dass es bei fast jeder Erzählung gelingt, eine Identifikationsfigur zu finden und den anderen dennoch nachvollziehbare Handlungsmotive zu zugestehen. Wirkliche Antagonisten braucht es nicht, das Drama, zuweilen aus Zeitsprüngen und Rückblenden bestehend, funktioniert auch so. Hier merkt man Reinhard Kuhnerts Hintergrund des Theaters und Films.

Nadelstiche, so sie denn gesetzt sind, widerum, wirken wahrscheinlich eher bei einem älteren Lesepublikum. Mir fehlt rein der Erlebnishorizont, um um die Wirkung zu wissen, hätte ich die Wendezeit und das davor bewusst erlebt. Wie ist es für jene die Szene des Protagonisten zu lesen, der eine Rede hält und darauf hin erleben muss, wie der Staatsapperat mit einer Härte Steine ins Rollen zu bringen beginnt, die unsereins sich heute nur schwer vorstellen kann? Vielleicht sollte man deshalb auch an solcherlei Dinge erinnern, womit wir wieder zurück bei den handlungsübergreifenden Motiven wären.

Diese Aspekte scheinen mir für die Betrachtung dieses Werks wichtiger als wenn ich näher auf die einzelnen Geschichten und Protagonisten eingehen würde. Zu schnell gerät man bei Kurzgeschichten in die Gefahrenzone des Spoilerns. Mir ist die thematische Umsetzung ebenso positiv aufgefallen, wie die sprachliche Unaufgeregtheit, aber auch einzelne Sätze, die für sich stehen können. Für jene die die beschriebene Zeitenwende bewusst erlebt haben, kommt der Wirkungsaspekt noch hinzu, für Lesende wie mich, diese vor Augen zu führen, was passieren könnte, wenn …, wobei ja das Erinnern und Vergessen als solche zeitunabhängig sind. Auch das hat der Autor hier übrigens nicht aus dem Blick verloren.

Das Erinnern und Vergessen macht Geschichten. Aus der Feder Kuhnerts lohnen sie sich zu lesen.

Autor:

Reinhard Kuhnert wurde 1945 in Berlin geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Regisseur, Schauspieler und Synchronsprecher. Er studierte zunächst an der Theaterhochschule und am Literaturinstitut Leipzig, bevor er als Schauspieler, Regieassistent und Regisseur an mehreren Theatern arbeitete, Bis 1983 war er als Dramatiker in Ost-Berlin tätig, bevor er nach West-Berlin übersiedelte und seine Arbeit vor allem im Ausland fortsetzte, u. a. in Luxemburg, Irland und Australien. Er schreibt für Theater, Rundfunk und Fernsehen, war zeitweilig gastdozent an der Universität Galway, Irland. 1999 erhielt er den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin und 2017 deie Goldene Schallplatte als Erzähler der Hörbücher von „Games of Thrones“.

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Tatsuo Hori: Der Wind erhebt sich

Inhalt:

Die zwischen 1936 und 1938 entstandene Novelle „Der Wind erhebt sich“, betitelt nach einem Gedicht von Paul Valery, beschreibt die platonische Liebe des Ich-Erzählers zu seiner an Tuberkulose erkrankten Verlobten Setsuko. Ihre vom Tod überschattete, kurze Liason verleben sie größtenteils fernab der Gesellschaft in einem Lungensenatorium in den Bergen. Beruhend auf den persönlichen Erfahrungen schildert Tsatsuo Hori mit feinem Gespür die Psyche der beiden Protagonisten und ihre ambivalente Beziehung, was in der lyrischen Darstellung der Umgebung im Wandel der vier Jahreszeiten eine äußere Entsprechung findet.

Mit der Novelle „Der Wind erhebt sich“ kann das Lesepublikum hierzulande eine der wichtigsten japanischen Kostbarkeiten des 20. Jahrhunderts nun erstmals auf Deutsch für sich erlesen und eine Tür in eine fremde und doch seltsam nahe Gedankenwelt öffnen. (Klappentext)

Rezension:

Im Vergleich zu anderen Region begegnet uns Japan zumindest literarisch noch sehr dosiert. Um so interessanter sind Erst- und Neuübersetzungen, die jetzt nach und nach auch hier eine Leserschaft gewinnen. Darunter nun eine kleine zarte Novelle, die mit wenig Worten auskommt, jedoch eine sehr besondere Wirkung entfaltet. Die Rede ist von „Der Wind erhebt sich“, aus der Feder des japanischen Schriftstellers Tatsuo Hori, der sich auf sehr einfühlsame Art und Weise mit dem Loslassen und dem Tod beschäftigt.

Die kleine Novelle beginnt inmitten der Natur die Lesenden auf eine Reise durch das Jahr mitzunehmen. Zwei Menschen treffen aufeinander, vom Erzähler selbst erfährt man wenig, überhaupt werden Informationen sehr dosiert und gezielt eingestreut, dennoch hat man sofort ein klares Bild vor Augen. Das Glück der beiden Protagonisten scheint oberflächlich nur von kurzer Dauer, doch im Angesicht des Fortschreitens der Krankheit gewinnt der Zusammenhalt und das Beisammensein Konturen, die die kompakte Erzählung tragen.

Betont zurückhaltend baut Hori die Welt einer Beziehung auf, die, wären die Protagonisten gesund, nur ein Aufeinanderzustreben kennen würde, doch fühlt der Erzählende seine Liebe im Verlauf immer mehr entfliehen. Im Wissen um das baldige Ende versucht der Protagonist die gemeinsame Zeit festzuhalten und kann doch dem Schicksal nicht entkommen.

Sehr poetisch wirkt das zu weilen. Zeile für Zeile verrinnt zwischen den Fingern. Schnell ist man inmitten der Geschichte, fühlt sich als danebenstehender Beobachtende. Der erzählte Zeitraum umfasst dabei nur wenige Monate. Der Autor hat hier einen Spagat zwischen gemächlich wirkender Sprache und doch schnellem Erzähltempo geschaffen. Der Titel alleine lässt bereits zu Beginn den Ausgang erahnen.

Neben der Ausarbeitung der Protgaonisten, von denen man nur das Notwendige erfährt, liegt die Stärke der Novelle vor allem in Orts- und Landschaftsbeschreibungen, die sofort Bilder im Kopf entstehen lassen. Auch ein Fenster in die Gefühlswelt der sonst so zurückhalenden Japaner wird geöffnet, das bereits in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, was an sich schon hervorzuheben ist. Zudem bringt der Autor ein Teil seiner eigenen Biografie mit ein, nimmt seinen Weg vorweg.

Der Fokus liegt auf die zwei Hauptfiguren, die klar gezeichnet werden. Andere werden kaum erwähnt. Sie spielen schlicht und einfach fast keine Rolle im Zusammenspiel der Protagonisten, bleiben daher bewusst blass. Beschrieben werden eine Liebe ohne Zukunft, formvollendete Hingabe, Loslassen und Verarbeitung. Ziemlich viel für wenig Seiten, was leicht hätte misslingen können. Alleine, hier funktioniert es. Kein Wort ist zu viel, Auslassungen wurden bewusst gesetzt. Die behutsame Übertragung von Sabine Mangold ins Deutsche hat das Übrige dazu beigetragen, damit die Novelle auch bei uns ihre Wirkung entfalten kann.

Die erzählende Figur weiß von Beginn an um den Ausgang, während das Gegenüber gleichsam zum Symbol, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird, die einfach nur berührt. Die Erzählung in Form einer Art Tagebuch gehalten, wird dadurch aufgelockert und gewinnt zugleich an Bedeutung. Absätze zwingen einem, dies vergleichsweise langsam zu lesen, ab und an innezuhalten.

Der Aufbau einer persönlichen Katastrophe, die Beschreibung der Unausweichlichkeit ist das, was diese Novelle ausmacht, zudem die Zustandsbeschreibung der Abgeschiedenheit in Angesicht des Todes. Das kann nur berühren, zudem wenn man um die Geschichte des Autoren weiß, der selbst an Tuberkulose litt, jedoch aus der Position der Angehörigen heraus schrieb. Beinahe so, als wollte Hori etwas Tröstendes hinterlassen.

Sehr poetisch werden Bilder aufgebaut, die einem so schnell nicht mehr loslassen. Diesen Stil muss man mögen, eröffnet jedoch einen Blick in diese damals doch sehr geschlossen wirkende Gesellschaft Japans. Die beschriebene Zurückhaltung funktioniert in diesem Setting sehr gut, wäre verbunden mit anderen Ortsbeschreibungen nicht ganz so glaubwürdig. Die charakterliche Stärke beider Protagonisten tut ihr übriges dazu bei.

Nur ein paar kleine Szenen brechen den Lesefluss und wirken so, als hätte der Autor zwischendrin noch das Gefühl gehabt, noch ein paar Zeilen mehr füllen zu müssen. Das ist jedoch Jammern auf hohem Niveau. Nichts destotrotz kann ich jedem empfehlen, ein paar Stunden mit dieser schönen Novelle, die wohl auch als Anime verfilmt wurde, zu verbringen.

Autor:

Tatsuo Hori wurde 1904 in Tokio geboren und war ein japanischer Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Japanische Literatur, verfasste während seines Studiums Übersetzungen französischer Dichten und schrieb für die Literaturzeitschrift Roba. 1930 erhielt Hori Anerkennung für seine Kurzgeschichte Sei kazoku (wörtlich „Die heilige Familie“) und ließ eine Riehe von Novellen und Gedichten folgen, die sich oft mit dem Tod beschäftigten. Später erkrankte er an Tuberkulose. Diese Erfahrung verarbeitete er in einer weiteren Geschichte. Er starb 1953 in Tokio.

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Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Inhalt:

Ein Sommer in der Normandie, in den 1980er Jahren. Der zehnjährige Erzähler verbringt die Ferien mit seiner Großmutter am Meer. Er ist noch in diesem Zustand der Kindheit, wo man alles intensiv erlebt, wo man noch nicht genau weiß, wer man ist oder wo der eigene Körper beginnt, wo eine Ameiseninvasion der Erklärung eines Kriegs gleichkommt, den man mit all seinen Kräften wird führen müssen. Eines Tages trifft er einen anderen Jungen am Strand, der ihm die Freundschaft anbietet, eine Freundschaft, die auf einem Ungleichgewicht beruht. Denn Baptiste ist ein »richtiger Junge«, hat eine »richtige Familie« – für den Erzähler der Inbegriff eines Glücks, das er dort erstmals findet und das er in jedem Moment wieder zu verlieren fürchtet.

Seine geliebte Großmutter, die den Holocaust überlebte und deren Schtetl-Akzent ihn vor den anderen Familien am Strand mit Scham erfüllt, und seine verhasste »monströse« Tante bedeuten für ihn zugleich widerwillige Geborgenheit und die beständige Gegenwart einer Vergangenheit, deren Trauma auf seinen Schultern liegt.

In so gefühlvoller wie genauer Sprache erzählt Hugo Lindenberg diesen Roman in einer Reihe von Szenen des Sommers, der Stille, des Lichts, der Begegnungen, in einer Stimmung sich dem Ende zuneigender Sommerferien und doch durchzogen von einer Unheimlichkeit und Bewegungslosigkeit, die unter die Haut gehen. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Es ist ein unbestimmtes, nicht zu erklärendes und doch alles beschreibende Gefühl im Inneren, welches der Junge besitzt, welches ihm besitzt und mit ihm unzähliger Nachfahren von jenen, die dem Schrecken nicht entkamen. Warum lebe ich? Warum haben es andere Linien meiner Familie nicht geschafft, konnten den Unheil nicht entkommen?

In der Psychologie spricht man da vom transgenerationalem Trauma, szenischem Erinnern, welches selbst jene erfasst, die die unmittelbaren Schläge aufgrund schon des Abstands zur Historie nicht erlebt haben können. Eine von vielen Problemstellungen, mit denen die Nachfahren Holocaust-Überlebender zu kämpfen haben. Was schon in der Theorie schwierig ist, zu erfassen, hat der französische Autor Hugo Lindenberg in eine Erzählung zu gießen versucht. Dabei herausgekommen ist ein erdrückender und zugleich berührender Debütroman.

Dieser wird aus der Sicht des Protagonisten erzählt, einen namenlosen Jungen, der seine Ferien am Strand verbringt, bei seiner Großmutter und Tante, jedoch zumeist sich selbst überlassen. Dort beobachtet er die Menschen, die ihn umgeben. Familien faszinieren ihn und er stellt sich vor, ein Teil von ihnen zu sein. Vollständige Familien sind für ihn, der das nicht hat, Inbegriff des Glücks und so denkt er sich in die Leben anderer hinein, bleibt dennoch unsichtbar.

Seit meiner Ankunft, eigentlich serit immer schon habe ich mit meiner Großmutter mit niemandem geredet.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Ein Junge, der keine Stimme findet, wie soll er auch, wird kaum auch von anderen bemerkt. Bis auf einem, der das Spiel unterbricht. Zusammen töten beide Quallen am Strand. Der Junge aber beginnt einen Sommer lang zu leben.

Nichts ist mir fremder als Jungen in meinem Alter.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Sätze, die sich in die Netzhaut einbrennen, sind es, die der Autor gekonnt setzt, um seine Geschichte und die unzähliger Menschen zu erzählen. Selten wurde Leere so schön beschrieben, doch erreichen die Worte hier auch die Lesenden. Können sie auch nicht anders, doch diese Traurigkeit, Melancholie, die im nächsten Moment in die Unsicherheit des Jungen zu kippen droht, muss man aushalten können. Da die Gefühlswelt für diesen kaum zu beschreiben ist, verlegt er sich aufs Sachliche und versucht doch eine Normalität zu erreichen, die ihm nicht gegeben ist.

Ich muss mich konzentrieren, damit man mir meine Aufregung nicht anmerkt, damit ich wie ein kleiner Junge wirke, der Zärtlichkeit gewohnt ist.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Der kleine Protagonist gewinnt so, mit zunehmender Seitenzahl an Ecken und Kanten, derer viele. Die sich aufbauende Jungenfreundschaft symbolisiert das Durchbrechen. Es scheint, als wäre gefühlsmäßig zum ersten Mal für den Jungen etwas greifbar. Die Angst, das zu verlieren, schimmert Zeile für Zeile durch. Leuchtet hell.

Beschrieben wird ein unbestimmter Zeitraum von wenigen Tagen bis ein paar Wochen. Genauer wird es nicht, ist auch nicht wichtig, in der Kindheit verläuft die Wahrnehmung von Zeit ohnehin anders. Dieses Gefühl wiederzugeben ist Hugo Lindenberg gelungen, wie auch der Aufbau der anderen Figuren, von denen nur zwei, die der Großmutter und der Tante, Konturen bekommen. Sie umkreisen den Jungen, sind nah und doch so fern. Baptiste ist hingegen das, was der Junge sich wünscht, der seinerseits die Ferienbekanntschaft ebenso faszinierend findet.

Der Gegensatz ist folglich keine Gegenüberstellung aus Gut und Böse, eher unterschiedlicher Vorstellung von Leben. Was wäre, wenn? Was ist mit mir? Was mit meiner Familie? Große Fragen, versammelt in diesem sehr kompakt gehaltenen Roman. Kein Wort ist hier zu viel.

Der kleine Hauptprotagonist lässt uns seinen Gedanken folgen. Gesprochene Sätze fallen auf, da sie so rar gesät sind. Wie Nadelstiche oder Sandkörner auf der Haut fühlt sich das an. Nach und nach enthüllt sich die Traurigkeit der Hauptfigur, die nur in Rollen lebt, die sie zu spielen zu müssen meint. Was aber genau macht das mit einem? Diese Frage seziert der Autor und lässt sie den Jungen ergründen. Oberflächlich passiert nicht viel. Aus Kindersicht um so mehr. Zu viel für die schmalen Schultern der Hauptfigur?

Normalerweise fragten die anderen, wo ist denn deine Mutter, und ich wusste, dass sie es wussten, abver sie wollten den Tod hören, wegen dem Nervenkitzel. […] Sie blieben, solange der Nervenkitzel anhielt, dann wandten sie sich leicht angeekelt ab.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Nur in Bruchstücken erfährt man Hintergründe, wie auch der Junge nur lose Fetzen Erinnerungsstücke festhält. Der Vater abwesend, keine Mutter mehr vorhanden und die ihn direkt umgebenden Erwachsenen haben ja auch keine Worte. Für ihn, das Kind, ohnehin nicht. Der Protagonist ahnt nur, weshalb er leidet.

Ich kenne meine Rolle genau. Zehn Jahre alt, hasenzähne, große schwarze Locken und lange Wimpern, Sommersprossen auf der Nase, ziemlich schüchtern, brave Kleider, einen kleinen Strauß Magnolien in der Hand. Ich bin das Leben.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

In beinahe poetischer, dann wieder ins Nüchterne wechselnde Sprache hat Hugo Lindenberg diese Erzählung, gleichsam eine Novelle aufgebaut, die einem auch nach Umblättern der letzten Seite kaum loslassen wird. Zunächst wird man hineingesogen in die Geschichte, spürt den Sand unter die Zehen knirschen, den Lärm der Umgebung, der ausgeblendet wird, wenn sich der Protagonist fokussiert. Mit dieser Dichte die hintergründige Thematik veranschaulicht zu bekommen, ist selten in dieser Form zu lesen.

Dieses Bild von mir würde ich nicht mehr loswerden, das wusste ich. Und tatsächlich bin ich es bis heute nicht losgeworden.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Sowohl sprachlich, damit ist nicht gemeint, dass man praktisch jeden zweiten Satz sich anstreichen und herausschreiben möchte, als auch erzählerisch zieht einem die Lektüre hinein und wirft die Lesenden dann um. Heftiger kann eine ruhige Erzählung kaum wirken. Nur im ersten Moment meint man eine Coming of Age Geschichte vor sich zu haben, doch entdeckt darunter noch so viel mehr. Sachbücher gibt es wohl einige, die sich mit dem Übertragen von Traumata in die nachfolgenden Generationen beschäftigen. In Romanform ist zumindest mir dies so noch nicht untergekommen.

Von der sich dadurch umgebenden Heftigkeit sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen. Es ist ja gerade dadurch auch eine wunderbare Lektüre. Hier ist Hugo Lindenberg ein tolles Debüt gelungen, auf Grundlage dessen, was sich in vielen Familiengeschichten wieder findet. Ungesagtem eine Stimme zu geben, hat hier wunderbar funktioniert.

Eine absolute Lese-Empfehlung.

Autor:
Hugo Lindenberg wurde 1978 gebopren und ist ein französischer Journalist. „Eines Tages wird es leer sein“, iost sein erster Roman, der bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Der Autor lebt in Paris.

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