Aufwachsen

Delphine de Vigan: Loyalitäten

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Loyalitäten Delphine de Vigan Dumont Verlag Erscheinen am: 12.10.2018 Seiten: 174 ISBN: 978-3-8321-8359-2

Inhalt:

Theo ist ein vorbildlicher Sohn: selbstständig, fürsorglich und ein guter Schüler. Er scheint zu funktionieren. Doch eine Lehrerin schlägt Alarm, und auch die Mutter seines besten Freundes beobachtet ihn mit Misstrauen. Die beiden Frauen haben die richtige Ahnung: Theo ist mit seinem Leben überfordert und sucht einen gefährlichen Ausweg. (Klappentext)

Rezension:

Es gibt Romane, die zunächst so unscheinbar sind, dass sie bereits auf den ersten Seiten vermögen zu überraschen und dann immer noch mit einem großen Knall aufwarten können. Solch ein Werk ist der Autorin delphine de Vigan gelungen. Die französische Schriftstellerin beschreibt in “Loyalitäten” eine Welt kaputter Erwachsener, die die Probleme der Kleinsten kaum wahrnehmen, so dass diese immer mehr in einen Strudel Richtung Katastrophe hineingeraten.

Hauptfigur ist der zwölfjährige Theo. zurückhaltend und verschlossen, gilt er als unkompliziert. Seine Noten sind gut. Diese Fassade bröckelt jedoch mit dem Verlassen des Schulgebäudes, wenn der Junge zwischen seinen geschiedenen Eltern hin- und herpendeln muss. Die Mutter misstrauisch, ob des vorangegangenen Aufenthaltes bei seinem Vater, der Vater arbeits-, kraft- und mutlos, dazwischen der Junge, der allem versucht gerecht zu werden und seinen Kummer in Alkohol ertränkt, den er sich über seinen besten Freund Matthi beschafft.

Die Erwachsenen um ihn herum, nehmen die wachsenden probleme kaum war, haben selbst mit sich genug zu kämpfen, selbst seine Lehrerin, die die ersten Anzeichen zu deuten weiß. Mit unaufhaltsamen Schritten naht die Katastrophe. Immer größer und bedrohlicher. Doch, Theos Umgebung ist so sehr in einem Netz aus Loyalitäten gefangen, dass ihnen der wahre Gefangene entgleitet. Immer mehr.

In wechselnden Kapiteln erzählt die Autorin kurzweilig diese Geschichte, die mehr Aufmerksamkeit verdient als sie bekommt. Ohne erhobenen zeigefinger, auch wenn das erste Lesens des Inhaltes so klingen mag, nähert sie sich der Wahrnehmung der beiden gerade noch kindlichen und fast jugendlichen Hauptfiguren an, die als Einzige Sympathieträger sind.

Selbst die Protagonistin Helene, Theos Klassenlehrerin, ist zunächst einfach nur nervig, auch wenn de Vigan es schafft, sie im Verlauf der Handlung etwas differenzierter zu beschreiben. Alle anderen Erwachsenen taugen zu nichts Positiven, als den Kontrast zur Verletztheit der Kinder darzustellen, die ungeschützt immer mehr die Kontrolle verlieren. Insbesondere eben Theo.

Um Distanz zu schaffen wird nur den beiden Erwachsenen, die zunächst nur ansatzweise begreifen, die ich-Perspektive zugebilligt. Alles andere wird in der dritten Person erzählt und bekommt dadurch einen größeren Kontrast, der die Wirkung noch einmal verstärkt. Die Wirrungen der Gefühlswelt der Kinder und die Zerrissenheit Theos, die schiere Ausweg- und Hoffnugnslosigkeit hätte die Autorin noch mehr ausbauen können.

Noch ein paar Seiten mehr den Jungen zu widmen, der so befürchtet man beim Lesen kurzzeitig, beinahe Randfigur wird, was de Vigan dann doch glücklicherweise nicht passiert, hätten dem Gesamteindruck gut getan. Dennoch ist “Loyalitäten” eine gut erzählte Geschichte, die es wert ist, gelesen zu werden, um seinen Blick zu schärfen.

So ähnlich beschrieben kommt sie wahrscheinlich tausendfach in der Realität vor. Wie oft sind wir da, um den Schwächsten zu helfen, ohne die Angst vor richtigen und falschen Loyalitäten zu haben? Darüber nachzudenken lohnt sich.

Autorin:

Delphine de Vigan wurde 1966 geboren und zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Neben ihrer Arbeit in einem Meinungsforschungsinstitut schrieb sie, zunächst unter Pseudonymk, ihre ersten Romane, welche ab 2001 veröffentlicht wurden. 2007 gelang ihr mit “No & ich” der Durrchbruch, seit dem lebt sie vom Schreiben.

Sie erhielt mehrfach Auszeichnungen, u.a. den Prix des Libraires 2008. Ihre Romane wurden bereits in über 20 Sprachen übersetzt, teilweise auch verfilmt.

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Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr

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Dämmer und Aufruhr Bodo Kirchhoff Frankfurter Verlagsanstalt Erschienen am: 29.06.2018 Seiten: 462 ISBN: 978-3-627-00253-4

Inhalt:

Ein Autor bewohnt das Zimmer, in einem kleinen Hotel am Meer, in dem einst seine Eltern vor Jahrzehnten glückliche Tage verbrachten, die letzten vor ihrer Trennung. Er erinnert sich zurück, an die Jahre seiner Kindheit, seinem Aufwachsen bei ungleichen Elternteilen und im Internat, wo ein Drama seinen Lauf nimmt.

Bodo Kirchhoff nähert sich dem, mit den Mitteln des Romans und schildert zugleich die Geschichte des beginnenden Schreibenden. Wie für etwas Worte finden, für das es keine Wörter gibt? Bodo Kirchhoffs schmerzlicher Weg zur Literatur, sein großer autobiografischer Roman. (eigene Inhaltsangabe).

Rezension:
Es ist ein Roman, der leisen Töne, den uns der Schriftsteller Bodo Kirchhoff mit “Dämmer und Aufruhr” vorlegt, und dennoch erfährt man hier viel über die Anfänge der Schreibarbeit des Trägers des Deutschen Buchpreises, der sich am einstigen Ferienort seiner Eltern, kurz vor ihrer Trennung, zurückerinnert, an diese und andere Ereignisse seiner Kindheit, seiner Jugend und schließlich an den jungen Erwachsenen, der er einst gewesen ist.

Aus der ich-Perspektive beschreibt er eine glückliche Kindheit zwischen schwankenden Eltern, einmal ikonenhaft angebetet, im nächsten Moment verwirrende Ältere, die, als der Sohn nicht mehr in der Schule hinterher kommt und im unsteten Pendeln seiner Eltern keinen Haltepunkt findet, ihn ins Internat stecken.

Auch dort fällt es den genauen Beobachter, Träumer und Sonderling zu gleichen Teilen schwer und leicht, Anschluss zu finden. Ein Kantor nimmt sich seiner an und nimmt sich körperlich das, was nicht ihm gehört.

Der Junge weiß, dass dies falsch ist, wird es später nicht Missbrauch nennen, anders den Schmerz beschreiben, mit der Waffe des Wortes. Der Schriftsteller, der er noch nicht ist, jongliert schon als Kind mit Worten. Nun sind diese Erinnerungen zu Papier gebracht.

Bodo Kirchhoffs autobiografischer Roman hat mich beeindruckt, ob seiner ruhigen Erzählweise, die das Unerhörte um so lauter erscheinen lässt und eine schöne Sprache außerdem, die hier wirklich dei Handlung trägt und den Leser nicht wegnicken lässt.

Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, penibel und unterhaltsam die Familienszenen beschrieben, die der Aufwachsenede beobachtet. Außenstehend und doch immer dabei. Geliebt von seinen Eltern und doch Meilen weit von ihm entfernt.

Der Perspektivwechsel zum älteren Ich, welcher die letzten Jahre der Mutter schreibt, selbst Schriftstellerin, vormals Schauspielerin, diese Nähe und Bewunderung, die der Autor sich natürlich aus der Kindheit bewahrt hat, ist ebenso gelungen und glaubwürdig. Der Bogen überspannt durch das Beobachten, Verinnerlichen und späteren Schreiben.

Dem Unerhörten, was nicht sein darf, ein Gesicht zu geben, ist ebenso ein Verdienst des Autoren, den man nicht gering schätzen darf.

Bewundernswert, wie Kirchhoff es schafft, den Missbrauch durch den Internatskantor zu beschreiben, ohne es Missbrauch zu nennen, doch mit genau der gleichen Wucht, die den damaligen Jungen in eine Abhängigkeit versetzt hat, die nicht zu entschuldigen ist und die den späteren Mann keine geistliche Musik mehr ohne Beigeschmack hören lassen kann.

Entlang von Fotos aus dieser Zeit hangelt sich der Autor von Erlebten zu Erlebten und beschreibt das so, als würde man am Tisch Kirchhoffs sitzen, und durch das Fotoalbum blättern.

Ein Roman, der einem kalt den Rücken herunterläuft, aber nicht kalt lassen wird.

Autor:
Bodo Kirchhoff wurde 1948 in Hamburg geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, der Romane und Drehbücher veröffentlicht. Er studierte 1972 bis 1979 Pädagogik an der Universität Frankfurt und veröffentlichte erstmals bei Suhrkamp.

Vorher arbeitete er u.a. als Eisverkäufer in den USA, zeichnete und war später 1994/95 Dozent, ebenfalls in Frankfurt/Main. er gibt Kurse für Kreatives Schreiben und enthüllte 2010 in einem Artikel des Spiegel, den an ihn begangenen Missbrauch eines Kantors der Evangelischen Internatsschule, auf die er19659-1968 ging.

Für seine Novelle “Widerfahrnis” bekam er 2016 den Deutschen Buchpreis. Er lebt in Frankfurt/Main, zeitweise auch am Gardasee in Italien.

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Eyal Megged: Oschralien

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Oschralien Eyal Megged Berlin Verlag Erschienen am: 02.05.2018 Seiten: 378 ISBN: 978-3-8270-1349-1 Übersetzerin: Ruth Achlama

Inhalt:

Hillel hat kaum eine Beziehung zu seinem Sohn Roy. Nach dem Scheitern seiner Ehe sträubte er sich von Anfang an gegen diese Vaterschaft, gegen die Möglichkeit einer neuen Familie. Seine Reise nach Australien zu Roy und dessen Mutter könnte eine zweite Chance sein – aber wer sagt, dass Hillel die will…? (Klappentext)

Rezension:
Es liegt nicht am Autoren, an der Übersetzung, an der Geschichte selbst, es liegt an mir. Ich hoffe mal, es ist so, anders kann ich mir den Effekt nicht erklären, den dieser Roman auf mich hatte. Dabei ist die Grundidee an sich nicht schlecht.

Ein orientierungsloser und beruflich nicht gerade erfolgreicher Mann wird vom anderen Ende des Globus’ aus angerufen und aufgefordert, seinen Erziehungspflichten dem gegenüber nachzukommen, den er in einem unbedachten berauschenden Moment gezeugt hat.

Doch, der Sohn will seinen nun auftauchenden Vater nicht und zeigt es ihm mit allen Mitteln, die dem Rotzbengel zur Verfügung stehen. Mutter und Vater sind machtlos gegen den kleinen Vulkan, der ständig explodiert und kommen sich näher, unfähig jedoch, auf lange Sicht eine Beziehung aufzubauen.

Das ist ein Stoff für große und ausschweifende Romane, aber in jedem Falle nicht der von Eyal Megged. Lange nicht mehr habe ich solch einen zusammengewürfelten Mist mir angetan.

Wie gesagt, an der Idee liegt’s nicht, eher an der Ausführung. In feinster Sprache befindet sich der Leser gleichsam in einer Art philosophischer Vorlesung über das Wohl und Wehe, dem Zusammenhalt und Auseinadertriften von Menschen und ihrer Beziehungen.

Das Studium jedenfalls, merkt man dem Autoren an, da das darin zusammengeklaubte Wissen, aus jeder niedergeschriebenen Zeile trieft. Das ist für jeden Leser einfach nur ermüdend und langweilig, jedenfalls nicht zielführend, wenn er oder sie mit Philosophie nichts anfangen kann oder sich einfach nur mit der Lektüre fallen lassen möchte. Ein hilfloses Unterfangen, zumindest hier.

Und wenn man der schwülstigen Sprache nichts abgewinnen kann, der Handlung und was der Autor daraus macht, ebenso wenig, einzig die Idee bleibt, ist nicht mehr viel, was übrig bleibt.

Tatsächlich haben sich an der Grundidee schon unzählige Autoren versucht und es ist ihnen fast allen besser gelungen, als Megged, von dem ich hoffe, dass seine Geschichte im Original eine völlig andere Wirkung hat, wobei das ja ein schlechtes Zeichen für die Übersetzerin wäre. Wenn sich das ungefähr gleicht, ist es für beide kein Ruhmesblatt. “Oschralien” ist die transportierte Langeweile schlecht hin und ein gutes Schlafmittel.

Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Autor:
Eyal Megged wurde 1948 in New York geboren und ist ein israelischer Schriftsteller, Kolumnist und Journalist. Er wuchs in Tel Aviv auf, wo er Philosophie und Kunstgeschichte studierte. Der Autor arbeitete zunnächst als Redakteur für einen Hörfunksender und schreibt als Jornalist für israelische Tageszeitungen über Literatur, Kultur und Sport.

1993 wurde er mit dem Macmillan Prize ausgezeichnet. Mehrere seiner Werke wurden ins Deutsche, sowie ins Englische übersetzt. Mit seiner Familie lebt er in Tel Aviv.

Nebenbemerkung:
Es müsste jetzt vielleicht jemand die Geschichte lesen und daran Gefallen finden. Ich möchte wirklich wissen, ob es Menschen gibt, die den Zugang bekommen, den ich nicht gefunden habe.

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Gina Ochsner: Die versteckten Briefe

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Die versteckten Briefe Gina Ochsner Rezensionsexemplar/Roman dtv Hardcover Seiten: 398 ISBN: 978-3-423-28154-6

Inhalt:

Ein kleiner Ort im Osten Lettlands, ein Junge mit großen Ohren, der die Geheimnisse der Toten zu hören vermag, gierige Investoren aus dem Westen, ein unentdeckter Schachmeister, der beste Vitaminverkäufer östlich von Riga uns verborgene Geheimnisse – ein berührender Roman über den Stoff, aus dem das Leben ist: Geschichten. (Klappentext)

Rezension:

Im Film-Geschäft funktioniert es mehr schlecht als recht, wenn Produzenten und Regisseure Geschichten erzählen wollen, zu denen sie keinen Bezug haben. Entweder wirkt das Endprodukt dann zu gewollt oder aber völlig fehlgeleitet, was im Effekt auf’s Gleiche hinausläuft. Wie aber ist es im literarischen Betrieb?

Funktioniert es etwa, wenn eine amerikanische Autorin eine estnische Geschichte erzählt? Eine, die wahrscheinlich im Heimatland der Schriftstellerin, unter Ferner-liefen abgelegt werden wird, wann rückt dort schon ein so kleines baltisches Land in den Fokus? Wird hier nicht mit Klischees gespielt? Wirkt hier auch nichts gewollt? Eine Autorin im schwierigen Spagat ihrer Erzählung.

Erzählt wird zunächst einmal die Geschichte einer Familie über Generationen, aus der sicht eines Kindes, später einer jungen erwachsenen Frau und schließlich einer todkranken Mutter, dann widerum das Leben der Bewohner eines kleinen Ortes, wie es sie in Osteuropa Hunderte gibt.

Es ist eine Erzählung über Generationen, Veränderungen und Schicksalsschläge, vom kleinen Glück und mehr oder minder großen Katastrophen. Es ist eine Geschichte über Leben und Tod und der Ungewissheit über die Zukunft. Eine Novelle darüber, was war, was ist, was sein wird.

Mehr muss man zu Anfang nicht wissen, sollte ein Leser auch nicht, zumal zu Beginnh sich auf den Schreibstil eingelassen werden muss. Nicht ganz einfach ist diese bildhafte sehr schöne Sprache, zu der man erst den Zugang finden muss, um dann in die Geschichte einzutauchen.

Große Längen muss ein Leser überstehen, um dann hin und wieder einen wundervollen Satz mitzunehmen, der durch die Geschichte trägt. Erstes kommt leider zu häufig, letzteres zu selten vor. Was nützt die schönste Sprache, wenn die Handlung nicht trägt, nicht begeistern oder faszinieren kann, gleichwohl sie glaubwürdig ist. Wobei sich die Protagonisten als teilweise sehr spleenig und sonderbar erweisen.

Das trägt nicht gerade dazu bei, den Leser bis zum Ende zu überzeugen. Teilweise haben bestimmte Ereignisse Wiedererkennungswert, wenn etwa Alteingessesene vor der tatsache ausländischer Investoren, neumodisch Heuschrecken, gestellt werden, andererseits lässt es einem ratlos zurück, wenn sich herausstellt, dass auch diese Menschen eine Geschichte, einen guten Kern haben.

Der im Klappentext erwähnte kleine Protagonist wächst zur Hauptfigur heran, ohne selbst eine zu sein. Ein Stilmittel, für welches man der Autorin Anerkennung zollen muss, zu wenig wird aber auf die im titel erwähnten Briefe eingegangen und die Abrundung, der Rahmen der Handlung macht mich auch nicht ganz glücklich.

Tief gespalten bin ich und weiß nicht, was ich von der Erzählung halten soll. Die Grundidee interessant, die Protagonisten mit Ecken und Kanten, aber der Handlungsrahmen, die Ausführung und der Schreibstil, der zu viel Ruhe hineinbringt, nehmen viel von dem Potential weg, welches die Geschichte hätte haben können. Es ist ein Roman, den man entweder lieben oder nicht mögen wird, ich entscheide mich salomonisch für die Mitte.

Autorin:

Gina Ochsner wurde 1970 geboren und ist eine amerikanische Schriftstellerin. Nach der Schule studierte sie in Iowa und Oregon und veröffentlichte 2005 eine Kurzgeschichtensammlung, die weithin positiv aufgenommen wurde. 2009 gewann sie den Flannery O’connor Award für Short Fiction. Auch unter Pseudonym veröffentlicht sie Geschichten, 2009 ihren ersten Roman.

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Nickolas Butler: Die Herzen der Männer

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Die Herzen der Männer Nickolas Butler Klett-Cotta Verlag Erschienen am: 11.02.2018 Seiten: 477 Übersetzerin: Dorothee Merkel ISBN: 978-3-608-98313-5

Inhalt:

Über eine Zeitspanne von drei Generationen und ebenso vielen Kriegen erkundet dieser Roman die Herzen der Männer: ihre Schwächen und Geheimnisse, ihre Bedürfnisse und Werte. Damit legt Nickolas Butler nach “Shotgun Lovesongs” ein vielschichtiges und sensibles Epos über die Verletzungen, die Männer einander und anderen zufügen, vor. (Klappentext)

Rezension:

Schriftsteller, die groß angelegte Romane schreiben, haben mit mehreren Problemen zu kämpfen. Die Protagonisten müssen durch die Bank und am besten ständig glaubwürdig erscheinen, der Spannungsbogen muss über die fesamte Länge halten und, wenn man schon international verlegt, sollte man Ländergetue vorsichtig dosieren. Zweifelhaft hier, ob dies Nickolas Butler gelungen ist?

Am stärksten ist da noch der erste Teil, dieser auf drei zeitlich verbundene Abschnitte angelegten Geschichte. Der kleine Nelson, sensibel, pedantisch, fährt mit seinem Vater, von dem er keinerlei Unterstützung erwarten kann, ins Pfadfinderlager, wo er, wie zu Hause auch, keine Freunde hat.

Das liegt am Charakter des Jungen, der versucht alles richtig zu machen, an seiner Größe und seinem Ehrgeiz, das nächste Rangabzeichen der Pfadfinder zu ergattern. Nelson, so der sympathische Hauptprotagonist, erträgt stoisch das Mobbing seiner Kameraden und setzt sich doch, im Laufe der Zeit durch.

So beginnt die Einführung in diesen, im Klappentext so bezeichneten Epos, welches ein viel zu großes Wort ist, für das, was Butler hier abgeliefert hat.

Tatäschlich hält der Spannungsbogen eben nicht über die gesamte Länge des Romans und bis auf die letzten Seiten angedeutete Trumpisierung des Landes und der Infragestellung der Pfadfinderbewegung, trieft der Roman nur so vor Amerikanismus, der an mehreren Stellen fast unerträglich wird, zumal in den folgenden Abschnitten auch die sympathischen Protagonisten mehr und mehr den unsympathischen weichen müssen, was es schwer macht, die Begeisterung zu halten, die man vielleicht mit den ersten Seiten der Geschichte noch hält.

Es fehlt das gewisse Extra eines Jonathan Safran-Foer, den mit “Extrem laut und unglaublich nah” oder “Hier bin ich” eben das gelungen ist, was “Die Herzen der Männer” nicht leisten kann. Ein paar hundert Seiten mehr und die Fokussierung auf eine Hauptfigur hätte mehr gebracht, als dieser Versuch, der zwar einige Stärken aufweißt, diese aber die Schwächen nicht kaschieren können.

Dass die Protagonisten sich fortwährend entwickeln und nicht in ihren Gedankenkonstrukt stehen bleiben, ist eine eben dieser Stärken, alleine die Rollenverteilung kann den Leser eher unbefriedigt zurücklassen. “Die Herzen der Männer” ist nichts Halbes und nichts Ganzes, in sofern bleibt leider nur die Einordnung in der Mitte des Bewertungssystems. Besser wird’s nicht.

Autor:

Nickolas Butler wurde am 02. Oktober 1979 in Allentown/Pennsylvania geboren und ist ein US-amerikanischer Schriftsteller. Nach der Schule studierte er an der University of Wisconsin-Madison und besuchte den Writer’s Workshop der Universität Iowa. Erste Kurzgeschichten veröffentlichte er in Zeitschriften. 2013 erschien sein erster Roman. Butler erhielt verschiedene Stipendien und Auszeichnungen von regionalen Literaturpreisstiftungen. Er lebt mit seiner Familie in Wisconsin.

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Stephan Lohse: Ein fauler Gott

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Ein fauler Gott Stephan Lohse Suhrkamp Erschienen am: 06.03.2017 Seiten: 330 ISBN: 978-3-518-42587-0

Inhalt:

Sommer 1972. Benjamin ist vor einigen Wochen elf geworden. Im nächsten Schuljahr wird er ein Herrenrad bekommen, eine Freundin und vielleicht eine tiefe Stimme. Doch dann stirbt sein kleiner Bruder Jonas. Nachts sitzt Bens Mutter auf einer Heizdecke und weint.

Ben kommt nun extra pünktlich nach Hause, er spielt ihr auf der C-Flöte vor und unterhält sich mit ihr über den Archaeopteryx. An Jonas denkt er immer seltener. Ben hat mit dem Leben zu tun, er muss für das Fußballtor wachsen, sein bester Freund erklärt ihm die Eierstöcke, und sein erster Kuss schmeckt nach Regenwurm. Mit seiner neuen Armbanduhr berechnet er die Zeit. (Umschlagtext)

Rezension:

Ben ist ein ganz normaler Junge mit den üblichen vorpubertären Problemen. Nicht der beliebteste Junge der Klasse, aber eben auch nicht der unbeliebteste, freundet er sich mit den neuen Mitschüler, den Sohn der neuen Französischlehrerin an, und wandelt mit seinen Klassenkameraden durch die Tage.

Mit einem alten Herren in der Nachbarschaft freunden er und sein kleiner Bruder sich an, und auch sonst ist das Leben in Ordnung, er, sein Bruder und seine alleinerziehende Mutter. Doch, nach einem Schwimmbadunfall, verstirbt Jonas und die heile Welt gerät aus den Fugen. Nichts ist so, wie es mal war. Dennoch geht das Leben weiter. Ben ist plötzlich Einzelkind.

Er und seine Mutter müssen das Trauern lernen.

Es ist ein an vielen Stellen nachdenklicher Roman, den uns Stephan Lohse hier vorsetzt, der gespickt mit der tragischen Komik des Beginns der Pubertät, trotzdem zum einen oder anderen Lacher führt.

Natürlich ist der Tod Dreh- und Angelpunkt, die Botschaft Lohses ist jedoch eine andere. Das Leben geht weiter, auch mit positiven Momenten, die nicht aufhören und trotzdem ist es erlaubt, ja wichtig, zu trauern.

Der Autor beschreibt wunderbare Alltagsmomente, die zwar hier in der Zeit der 1970er Jahre angelegt sind, ansonsten in jedem Jahrzehnt hätten statfinden können, und so nachvollziehbar für auch jüngere Leser werden können.

So liegt das Buch zumeist bei den Erwachsenenbüchern in den Buchhandlungen aus, hat aber durchaus auch eine Berechtigung im Jugendbuchbereich. Schließlich sind Tod und Krankheit etwa, aber eben auch das Leben, wichtige Themen, mit denen man sich schon sehr früh ernsthaft auseinandersetzt.

Stephan Lohse tut dies in kurzweiligen Kapiteln, in denen sich die Erzählperspektive zwischen den zwei Hauptprotagonisten Mutter und Sohn ständig abwechselt, in klarer und einfacher Sprache, die zu vielen witzigen Momenten führt. So ist es von der dänischen Königin bis zur Kommunistin oft nur eine Seitenlänge, herrlich die Beschreibungen von kuriosen Situationen, in denen wortwörtlich alles in Butter ist, oder eben auch nicht.

Die Stärke des Romans liegt in den stillen Momenten, wenn die Figuren um sich selbst kreisen und versuchen, mit der Trauer um den Verlust umzugehen. Nach und nach finden die Protagonisten, zumindest die beiden hauptfiguren sehr tief ausgestaltet, wieder ins normale Leben zurück.

So ist dieses Werk ein positiver, trauriger, aber vor allem schöner Roman über den Tod und das Leben, welcher sich zu lesen lohnt. Eine klare Empfehlung.

Autor:

Stephan Lohse wurde 1964 in Hamburg geboren und studierte am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Er war am Thalia Theater Hamburg tätig, an der Schaubühne Berlin und im Schauspielhaus Wien. 2017 erschien mit “Ein fauler Gott” sein Debütroman. Der Autor lebt in Berlin.

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Rafel Nadal: Die letzten Tage meiner Kindheit

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Die letzten Tage meiner Kindheit Roman Bastei Lübbe Taschenbuch Seiten: 239 ISBN: 978-3-404-17678-6

Inhalt:
“Die Welt ist in zwei Lager geteilt: ihres und unseres. Wir sind in der Überzahl, verlieren aber trotzdem immer.” Diese lektion lernt Lluc schon früh. Am letzten Tag des Spanischen Bürgerkriegs muss der Achtjährige mit ansehen, wie seine Mutter erschossen wird.

Bei der fürsorglichen Senyora Stendhal und ihrem Sohn Dani findet er ein neues Zuhause – nur, um es kurz darauf wieder zu verlieren. Lluc sinnt auf Rache. er träumt davon, in die Berge zu ziehen und sich dem Widerstand gegen Franco anzuschließen. Denn er will nicht sein leben lang auf der Seite der Verlierer stehen. (Klappentext)

Rezension:
Es ist eines dieser Romane, die zumindest gefühlt nicht großartig beworben und daher in der Wahrnehmung nicht ganz so weit oben auf den Büchertischen zu finden sind, wie es vielleicht andere Werke dieses Formats täten. Erzählt wird, was der Klappentext hergibt, eben die Geschichte eines kleinen Jungen, der im Spanischen Bürgerkrieg seine Mutter, ein paar Jahre später praktisch seine liebgewonnene Adoptivfamilie verliert und überhaupt den ganzen Schmerz, die ganzen offenen Wunden ertragen muss, die der Spanische Bürgerkrieg in die Herzen der Bevölkerung getrieben hat.

Wir erleben die Bewohner eines Dorfes nahe Girona, so detailliert beschrieben, dass man dem Autoren jede Zeile für bare Münze abnimmt, stammt Nadal doch selbst aus dieser Stadt, und können den die Verzweiflung, die Sehnsüchte, die Wut des Jungen nachvollziehen.

Trotz der nicht gerade schwierigen Sprache, dies so kunstvoll umzusetzen, ist hier großartig gelungen. Die Protagonisten sind detailliert ausgearbeitet, bleiben jedoch, je mehr Nebencharakter, manchmal zu blass, was aber im Fortgang der Handlung nicht stört. Der Spannungsbogen gleicht viele Schwächen des Romans aus. Aber eben nicht alle. In manchen Teilen plätschert die Handlung dann eben doch dahin, wie ein ums Überleben kämpfendes Rinnsal unter der spanischen Sonne, auch sind Schreib- und Erzählstil in manchen Abschnitten nicht passend zum Alter des Protagonisten.

Die Hauptfigur ist sich selbst ein Rätsel. Zwei- bis dreihundert Seiten mehr, und Nadal hätte ein großartiges spanisches Epos schreiben können, so aber ist ein fast zu vernachlässigender Roman entstanden. Kann man lesen, muss man jetzt nicht unbedingt. Das Ende des Romans besteht aus Zeilen verpasster Chancen. Der Abschluss lässt den Leser unbefriedigt zurück. Da fehlt das gewisse Etwas. Die Abrundung, wie sie anderen familiären Romanen mit geschichtlichen Beiwerk zugrunde liegt, ist hier nicht vorhanden

Vielleicht ist das kennzeichnend für die spanische Gesellschaft direkt nach den Bürgerkrieg oder nach dem Ende der Franco-Diktatur, mit dessen Aufarbeitung man sich immer noch schwer tut. In sofern vielleicht ein nicht ganz unwichtiges Buch. In der gleichen Liga wie andere Romane dieses Genres spielt “Die letzten Tage meiner Kindheit” dennoch nicht.

Autor:
Rafel Nadal wurde 1954 in Girona geboren und ist ein spanischer Journalist und Schriftsteller. Er schrieb für mehrere große spanische Zeitungen, heute für die Tageszeitung La Vanguardia. Daneben arbeitet er für verschiedene Radio- und Fernsehsender. Der mehrfach ausgezeichnete Autor veröffentlichte bisher drei Romane. Sein Buch “Das Vermächtnis der Familie Palmisano” gehört zu den am zahlreichsten übersetzten katalanischen Werken.

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Detlev Meyer: Das Sonnenkind

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Das Sonnenkind Detlev Meyer aufbau Verlag Erschienen am: 19.01.2018 Seiten: 232 ISBN: 978-3-351-03718-5

Inhalt:

Carsten ist fast zehn Jahre alt, ein wenig altklug und entdeckt die Welt mit seinen Kinderaugen. Das sind die Besuche des Cafe Kranzler mit Opa, das Spielen mit Freunden auf der Straße und die Eltern, die den kleinen wissbegierigen und manchmal alklugen Bengel, Herr werden müssen.

Doch, der Großvater erkrankt und versucht seine Umgebung davon abzuschirmen, der Junge indes macht seine ganz eigenen Erfahrungen mit der ihn meist wohlgesonnenen Umgebung, die dennoch ihre Tücken hat. Bühne frei für das Sonnenkind… (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Carsten, fast zehn Jahre alt, wächst im “richtigen” Teil Berlins auf, als der Westen im Wohlstand des Wirtschaftswunders schwelgte, sich die Demokratie dadurch etablierte und überhaupt das Leben am schönsten ist. Warum auch nicht, wo doch der Junge von allen gemocht wird?

Die Großeltern dichten sich eine adlige Herkunft an, verwöhnen ihren Enkel nach Strich und Faden, der Vater hadert mit den Kriegserinnerungen, versucht nach vorne zu blicken, der Großvater hat eine Geliebte und der Bruder macht aus allem ein Geschäft. Und alle mögen den Sonnenschein, vom Truseweg aus Neukölln, welches noch nicht das Viertel von Einwanderen ist, welches es einmal werden wird. Das Leben ist schön.

Detlev Meyer erzählt aus der Kindheit seines alten Egos. Entstanden ist mit den “Sonnenkind” ein wunderbares Straßenportrait liebenswerter Figuren, die Betrachtung einer quirligen, sich findenden Metropole in Kleinformat.

Der Leser erfährt die Welt aus der Sicht eines altklugen, wissbegierigen, aber vorwitzigen und liebenswerten Bengels, der es faustdick hinter den Ohren hat, damit aber ganz und gar nach der Familie kommt.

Alle Charaktere sind schrullig, neben der Spur und doch so, wie man die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Berliner darstellen würde, wäre dies gefordert. Passieren tut dabei nicht viel, es ist trotzdem amüsant zu lesen, wie der Kleine die Widersprüchlichkeit der Erwachsenenwelt begreift und für sich zu nutzen weiß.

So wird der grantige Hausmeister ebenso um den kleinen Finger gewickelt, wie der tödlichen Krankheit des Großvaters der Schrecken genommen und der Leser kann gar nicht ohne Schmunzeln, Lächeln, von Zeile zu Zeile springen, Wort für Wort in sich aufsaugen. Ein kleiner Großstadtroman, der es in sich hat.

Geschrieben aus wechselnder Ich-Perspektive der handelnden Protagonisten ist der Lesende nah dran an den Figuren, die man durchweg für voll nehmen kann. Genau so stellt man sich diese und jene Person vor, und eben nicht anders.

Der Schreib- und Erzählstil macht sie greifbar, den Großvater, der seinem geliebten Enkel die Krankheit zu erklären versucht, sich selbst aber ebenso erklären muss, den Vater, der versucht Frau und Söhnen Herr zu werden und die Kinder, die ob ihres Charakterzugs im gesamten Straßenzug berühmt und berüchtigt sind.

Autobiographische Züge hat der Roman, in dem der Autor auf vorangegangenes Geschriebenes und auf seine Kindheit Bezug nimmt und sich so selbst ein Denkmal gesetzt ha.

Es is dies, sein letztes großes Werk, in welchen Detlev Meyer sich seiner Kindheit bewusst wird, die schön und angenehm war, als die Welt noch fass- und beherrschbar war, der Mauerbau nicht drohte und überhaupt Politik keine Rolle spielte. Nicht für einen Zehnjährigen, dessen Interesse sich nur in den Grenzen seiner unmittelbaren Umgebung bewegt.

“Das Sonnenkind”, ist ein gefälliger Roman, dessen Wirkung man sich kaum entziehen können wird, der gute Laune, eben die eines Kindes, verbreitet und mit Gewinn gelesen werden kann. Vielleicht sollten wir uns alle irgendwann an unsere Kindheit, an die Sonnentage, erinnern? Es könnte sich lohnen.

Autor:

Detlev Meyer wurde 1948 in Berlin geboren und studierte zunächst Bibliotheks- und Informationswissenschaften, bevor er als Bibliothekar in Toronto und Entwicklungshelfer in Jamaika arbeitete.

Er erhielt mehrere Literaturstipendien und widmete sich in Gedichten und Prosatexten als einer der wenigen offen schwul lebenden Autoren der Szene, sowie der Bedrohung durch Aids und deren Folgen. Sein letzes Werk erschien postum 2001 (Das Sonnenkind), nachdem er 1999 starb.

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Michael Gruenbaum: Wir sind die Adler

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Wir sind die Adler Michael Gruenbaum/Todd Hasak-Lowy Rowohlt Kindler Erschienen am: 22.04.2017 Seiten: 346 ISBN: 978-3-463-40679-4 Übersetzer: Jan Möller

Inhalt:

Michael -Mischa- erlebt eine behütete Kindheit in Prag. Er spielt gern Fußball, der Vater ist ein erfolgreicher Anwalt. Doch als Mischa gerade acht Jahre alt ist, marschieren die Deutschen ein. Die Repressionen nehmen zu, bis zur Gründung des Prager Ghettos, in dem Mischa mit seiner Familie landet.

Aber das ist nicht die Endstation: 1942 wird er mit Mutter und Schwester ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Dort lebt er mit vierzig anderen Jungen in einem Schlafsaal unter der Leitung von Franta, der die Jungen heimlich unterrichtet – vaterfigur, Beschützer und Mentor zugleich.

Die Kinder bilden eine verschworene Gemeinschaft, viele wachsen Mischa ans Herz wie Brüder. Doch über allen schwebt stehts die Angst, in einem der Züge gesetzt zu werden, die an einen Ort namens Auschwitz fahren… (Klappentext)

Rezension:

Genreübergreifende Werke haben das Zeug dazu, etwas weiter oben auf den Bücherstapeln der Läden zu landen, gerade wenn sie eine beeindruckende Geschichte zur Grundlage haben. Und so liegt mit “Wir sind die Adler”, ein beeindruckendes Werk aus dem Kindler-Verlag vor, welches sowohl eine Kindheitsbiografie, Zeitgeschichte, Kriegsroman und Jugendbuch darstellt.

Eines, dass es in sich hat. In Romanform erzählt wird die Geschichte von Michael Gruenbaum, der als Junge in Prag aufwächst, seine Eltern gehören zu den angesehenen Familien der tschechoslowakischen Hauptstadt, als die Nazis einmarschieren.

Sofort gibt es überall Einschränkungen, Verordnungen, Verbote, die der anfangs achtjährige Junge nicht begreifen kann. Er ist Jude und damit plötzlich am Rande der Gesellschaft. Die Ausgrenzungen fangen beim Vebrot des betretens bestimmter Straßenzüge an, bishin zur Jagd über die selben durch Gleichaltrige.

Das Geld wird knapper, die Eltern verlieren ihre Arbeiten, schließlich wird der Vater mitgenommen. Mischa sieht später nur noch den Sarg auf der Beerdigung. Dann kommen Deportationsbescheide. Terezin, die große Unbekannte und auch dort wird das Leben ständig bedroht.

Der Junge findet sich schnell ein, zwangsläufig, doch spürt er, wie er immer mehr an den Rand des Todes rückt. Wahre Geschichte ist immer noch die eindrücklichste, besonders wenn sie in einem Zeitraum spielt, den wir nicht vergessen sollten.

Und, wenn sie gut erzählt ist. Michael Gruenbaums Kindheit aus den Erinnerungen aufgeschrieben, ausformuliert von einem der besten Jugendbuchautoren Amerikas, fesselt, fasziniert und stößt den Leser in die Abgründe menschlicher Grausamkeiten, die für die besetzten Völker Europas und besonders für die jüdischen Bürger der betroffenen Länder, Realität wurden.

Am Anfang nur Gerüchte, die kaum zu glauben waren, wurde bald den meisten Menschen klar, welches die Ziele der “Herrenmenschen” waren. Hasak-Lowy und Gruenbaum beschreiben dessen Erlebnisse aus Kindessicht auf.

Der Junge muss in einem viel zu kleinen Körper zu schnell erwachsen werden und handeln, um zu überleben. Mehr als einmal kommt er nur um Haaresbreite mit dem Schrecken davon.

Der Leser spürt all die Ängste, die Unsicherheiten, die Verzweiflungen, wenn wieder einmal Freunde verschwinden, schlechte Nachrichten aus anderen lagern eintreffen oder der Hunger übermäßig wird.

Hasak-Lowy merkt man die gute Schreibarbeit, selbst in der Übersetzung, an. Auch die Rechercheleistungen sind großartig. Wer einmal die Schauplätze in Prag und Terezin besichtigt hat, kann sich sofort hineinversetzen, wer diese Orte noch nicht betreten hat, wird den Wunsch verspüren, den Jungen aus dieser Hölle herauszuholen.

Michael Gruenbaum erinnert sich und Hasak-Lowy hat ergänzt, hat ereignisse rekonstruiert und so findet der Leser, der sich schon länger mit den Kindern von Theresienstadt beschäftigt, Jungen wie Petr Ginz oder Zdenek Taussig wieder, durchleidet deren Schicksale.

Kinder sagen immer die Wahrheit, nehmen die Welt mit ihren Augen neugierig auf, haben Hoffnungen und Träume, finden das kleine Glück auch in schwersten Zeiten. Dies gelingt den Autoren zu zeigen und zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Werk, welches für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen gut lesbar und beeindruckend ist.

Wieder ein Stück Personengeschichte, welches für die Nachwelt unbedingt bewahrt werden muss. Mit der Veröffentlichung im englisch- und deutschsprachigen Raum ist schon mal ein erster Schritt getan.

Michael Gruenbaum und den vielen anderen Kindern in Theresienstadt, besonders denen, die es nicht geschafft haben, ist es zu wünschen, dass dieses Buch viele Leser findet.

Autoren:

Michael Gruenbaum wurde 1930 in Prag geboren, wo er bis zu seiner Deportation nach Thersienstadt (Terezin) mit seiner Familie lebte. Nach der Befreiung des Ghettos wanderte er 1950 in die USA aus, wo er studierte und zwei Jahre in der US-Army diente.

Er arbeitete im öffentlichen Dienst, gründete eine Beratungsfirma und engagierte sich im Bereich Stadtplanung. Noch bis in die 2000er Jahre gab es Wiedersehenstreffen der überlebenden Jungen aus Theresienstadt.

Todd Hasak-Lowy ist Kinder- und Jugendbuchautor. Er promovierte in Vergleichende Literaturwissenschaft auf der University of California, Berkeley, war zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann außerordentlicher Professor für Hebräisch und Literatur an der University of Florida.

Er gab diese Position auf und schrieb Romane, wie “Dass ich ich bin, ist genau so verrückt wie die Tatsache, dass du du bist”. Für die Kindheitsgeschichte von Michael Gruenbaum fungierte er als Co-Autor. Er übersetzt hebräische Werke ins Englische und gibt Kurse in Kreatives Schreiben an der School of Arts Institute in Chicago.

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Riad Sattouf: Der Araber von morgen – 3

Der Araber von morgen - 3 Book Cover
Der Araber von morgen – 3 Serie: Der Araber von morgen Graphic Novel Knaus Seiten: 152 ISBN: 978-3-8135-0766-9

Inhalt:

Die Mutter des “blonden Arabers” hält das Leben in Syrien nicht mehr aus und möchte nach Frankreich zurückkehren. Der kleine Riad erlebt, wie derVater hin- und hergerissen ist, zwischen seiner Frau und starken arabischen Traditionen, hält einen Tag den Ramadan durch und wünscht sich eine Beschneidung, um ein besonderes Spielzeug als Belohnung zu erhalten. Er erlebt Korruption und die Entfremdung seiner Eltern, im Alter zwischen sieben und neun Jahren.

Bücher der Reihe:

Gestaltung und Einordnung:
Es handelt sich hierbei um eine Graphic Novel, ein in einem bestimmten Zeichenstil auf hochwertigen Papier gedruckten Comic mit Klappenbrochure-Einband.

Tonangebend sind hier die Farben Rot und Grün, die jeweils die Kapitel kennzeichnen, die in der arabischen Welt spielen, wehrend die europäischen “Episoden” kontrastreich in blauen Ton gehalten sind. Die Kapitel, die in Syrien oder Lybien spielen sind wesentlich kantiger gezeichnet. Dies ist der dritte Teil.

Rezension:
Heutzutage bestimmen die nahezu täglichen Meldungen unser Bild der Region, doch die Grundlagen für die Konflikte begannen bereits damals zu keimen.

Minderheiten herrschen über Mehrheiten, Versorgungsengpässe, Mängel überall, Stromausfälle, die unterschiedliche Verteilung von Bodenschätzen, dass Aufeinanderprallen zwischen Arm und Reich und nicht zuletzt willkürlich gezogene Grenzen und die Auseinandersetzungen zwischen arabischen althergebrachten Traditionen und die Anforderungen einer modernen Welt, derer sich viele schon damals chancenlos, oft jedoch noch optimistisch gegenüber konfrontiert sahen.

In dieser Zeit, Mitte bis Ende der 1980er Jahre, wächst der spätere französische Comiczeichner Riad Sattouf in Syrien auf. Seine Kindheitserinnerungen bilden die Grundlage nun des dritten Teils der Graphic Novel-Reihe “Der Araber von morgen”.

Scharfsinnig, wie in den vorangegangenen Büchern zeichnet Sattouf mit klaren Linien die Geschichte seiner Kindheit weiter und achtet dabei auch hier, den humorvoll-naiven und scharfsinnigen Blick des einstigen Kindes zu wahren.

Doch, das Kind ist inzwischen Grundschüler und spürt die Veränderungen innerhalb der Familie. Spannungen zwischen den Familienmitgliedern, die vorher nur ab und an sichtbar waren und nur mal eskalierten, spürt man nun die gesamte Geschichte über.

So sieht sich Riad erstmals selbst mit der Frage konfrontiert, wie weit arabische Traditionen wie die Beschneidung auch für ihn gelten sollen, er spürt erstmals die feinen Risse in der Beziehung seiner Eltern.

Die Stimmung wird insgesamt düsterer. Nur einstweilen durchbrechen kleine heitere Episoden, wie den Versuch seinen syrischen Spielkameraden den Brauch des Weihnachtsbaumes und Schenkens näher zu bringen, den tristen Alltag des syrischen Dorflebens und die Ankunft des zweiten Brüderchens ist ohnehin für Riad Tiefpunkt genug. Die Besonderheit steckt im Detail, im Mund des Bruders oder auch in der Zahnmaus.

Was einst eine Trilogie werden sollte, merkt man auf der letzten Seite, wird wohl weitergeführt werden. Das große “Fortsetzung folgt…”-Banner brangt auch hier. Der Leser darf sich also auf nochmehr gezeichneten Lesestoff freuen. Die Reihe zumindest, ist es wert.

Wieder liegt eine Geschichte vor, die auf mehreren Ebenen von einem Dilemma erzählt, in der arabische Familien schon damals den Spagat zwischen arabischer und europäischer Welt wagen mussten, wenn sie mit beiden konfrontiert waren. Sattouf legt dies wertfrei dar.

Der kindliche Blick, der den Vater zwar immer noch bewundert aber langsam durchschaut, ist klar. Riad möchte von beiden Seiten profitieren, schon damals. Noch versucht er, beiden Seiten gerecht zu werden. Doch, er erkennt langsam, dass es ihm nicht immer gelingen wird.

Nicht so brutal wie der letzte Band, jedoch genau so einprägsam legt der Zeichner seinen Lesern die Welt zu Füßen, die uns aus den nachrichten so bekannt vorkommen mag. Jedoch korrigier sich dieses Bild innerhalb weniger Seiten. Der Boden der Realität ist staubiger und sandiger.

Die Spannung wird hier für nachfolgende Geschichten aufgebaut. Teil 4 ist freilich noch nicht einmal im Heimatland von Sattouf draußen. Doch der Zeichner hält das Niveau der Vorgänger-Bände und legt diese besondere Art der Biografie jeden ans Herz, der auch nur ansatzweise die Konflikte in heutiger Zeit verstehen möchte.

Der muss zwangsläufig in die Vergangenheit zurück. Mit dem “Araber von morgen” wird es zum dritten Mal gelingen.

Autor:
Riad Sattouf wurde 1978 in Paris geboren und ist Comic-Zeichner und Filmemacher. Aufgewachsen in Lybien un Syrien kehrte er mit 13 Jahren nach Frankreich zurück und studierte Animation. Er avancierte in Folge dessen zu einem der bekanntesten Comic-Künstler seines Landes.

Von 2004 bis 2014 zeichnete er für das Satire-Magazin Charlie Hebdo und wurde unter anderem mit dem Prix Rene Goscinny ausgezeichnet. Den bekam er für seinen Erstlingsfilm “Jungs bleiben Jungs”. Mit seiner Familie lebt und arbeitet er in Paris.

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