Novelle

Erri de Luca: Das Meer der Erinnerung

Inhalt:

Ein Sommer auf Ischia in den fünfziger Jahren. Während sich die anderen Jugendlichen aus der Stadt am Strand vergnügen, fährt der Ich-erzähler jeden Morgen hinaus aufs Meer. Von dem Fischer Nicola lernt er das Handwerk des Fischens, und Nicola ist auch der Einzige, der ihm vom Krieg erzählt. Die Abende verbringt er oft mit der Clique seines älteren Cousins. Dort lernt er Caia kennen, und ein überwältigendes Begehren ergreift den Sechszehnjährigen. Er ist überzeugt, dass Caia ein Geheimnis besitzt, und entschlossen, es in stiller Intimität ans Licht zu bringen. (Klappentext)

Rezension:

Längst ist das Salz in der Luft mit der Haut eins geworden. Die Netze haben Striemen hinterlassen und vom Bisss der Muräne bleibt eine eindrucksvolle Narbe auf der Handfläche zurück. Es ist Sommer auf der italienischen Insel Ischia und der zunächst, über weite Strecken namenlose Stadtjunge verwildert zusehens. Es sind die Beschreibungen solcher Szenen, die Erri de Luca besonders gelingen und einem in seine Geschichten eintauchen lassen.

Wer liest, nimmt in „Das Meer der Erinnerung“ die Perspektive des Jungen ein, der beobachtet und wird damit selbst zum Beobachter des Insellebens. Das Meer ist einer der Handlungsorte und steht zugleich für die nicht verarbeitete Vergangenheit, das Ungesagte, auf dessen Spurensuche sich der Ich-Erzähler begibt. Sehr schnell wird der Beobachtende zum Handelnden.

Feinfühlig verweb der Autor verschiedene Themen mithilfe kunstvoller Sprache. Ruhig, fast melancholisch ist der Sprachstil, so unerbittlich ist das Nicht-mehr-Kind und der Noch-nicht-Erwachsene zu sich selbst. Nicht geschehene Vergangenheitsbewältigung thematisiert Erri de Luca ebenso wie das Verstehen-wollen und das Nicht-begreifen-können.

Das ist sehr viel in dieser kompakten Form, wird jedoch genügend auserzählt. Das halb offene Ende wirkt hier etwas holzschnittartig und passt nicht wirklich zum Rest der Novelle. An den Themen, des vielschichtig ausgearbeiten Protagonisten liegt es nicht. Nur der Tupfen auf dem I fehlt, vielleicht versunken auf den unerreichbaren Gründen des Meeres.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Stefan Zweig: Schachnovelle

Inhalt:

Am Bord eines Passagierdampfers, auf den Weg von New York nach Buenos Aires, wird Schach gespielt. Was als Zeitvertreib wohlhabender Reisender und eines amtierenden Großmeisters beginnt, ruft traumatische Erinnerungen bei Dr. B. an seine Zeit als Gefangener der Gestapo in Wien hervor, zwischen psychischen Abgründen und perfiden Foltermethoden. (abgewandelte Inhaltsangabe)

Einordnung:

Die Rezension bezieht sich auf die klassische Reclam-Ausgabe, die die Geschichte um ein erklärendes Nachwort ergänzt.

Rezension:

Auf einem Passagierdampfer wird Schach gespielt. Das spiel der Könige erhitzt die Gemüter der Reisenden, nicht zuletzt, da ein kaum nahbarer Großmeister an Bord ist und ruft Erinnerung an vergangene Zeiten wach. Nicht gute sind das, an die Dr. B. denken muss, der sich verschüttet geglaubten Dämonen erwehren muss, als er nach Jahren nun wieder einem Schachspiel beiwohnt, sich ganz dem Schwarz und Weiß der Bewegungen hingibt.

Wer die Form einer Novelle wählt, spielt im begrenzten Raum, ist sie doch nur eine längere Form der Kurzgeschichte. Diese beherrschte der Schriftsteller Stefan Zweig meisterhaft und zeigte hier ein letztes Mal sein großes Können. Auf einem Passagierdampfer lässt er Reisende aufeinandertreffen, die sich schließlich um ein schwarz-weißes Brett zusammen findet, welches längst vergrabene Erinnerungen wieder an die Oberfläche kehrt. Das Schachspiel ist hier das Dingsymbol, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, wie auch die Figuren Pole zueinander bilden.

Der Kampf zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse, das miteinander Ringen, das strategische Ausspielen und Vorausdenken, bringt Zweig jedoch nicht nur in den Bewegungen der Figuren zum Ausdruck, überträgt sie auch im besonderen auf einem der Hauptprotagonisten, dessen Schweißtropfen auf der Stirn, zitternde Hände man förmlich vor sich sehen kann, bevor die Katastrophe naht.

Hier kann froh sein, wer die Verfilmungen nicht kennt oder, noch mehr, zu Schulzeiten mit der Lektüre nicht gequält wurde. Unbefangen sollte man an die Novelle herangehen, die sehr kopflastig daherkommt und in die Zweig noch einmal alle Ängste und Befürchtungen hineingepackt hatte, bevor er Suizid begang.

Noch Monate sollte es dauern, bis mit der Kapitulation der Deutschen in Stalingrad der Zweite Weltkrieg eine Wendung nehmen sollte. Der Schriftsteller, der sich fast sein ganzes Leben lang für den Frieden eingesetzt hatte, hatte vorher schon längst alle Hoffnung verloren.

Diese Verzweiflung, diesen Schmerz spürt man zwischen jeder einzelnen Zeile, dabei erfährt man auch vieles über die grausamen Methoden der gestapo und was psychische Folter mit Menschen macht. So ist es keine Lektüre, die man eben mal sich zu Gemüte führen sollte. Stefan Zweig verlangt Aufmerksamkeit und Konzentration, lässt sich jedoch, rein vom Schreib- und Erzählstil her, im Gegensatz zu anderen Schrifstellenden seiner Zeit immer noch gut lesen.

Die Ausarbeitung der wenigen Charaktere ist hier gelungen, besonders der Fokus auf den Hauptprotagonisten, der sich auf einem erzählerischen Monolg konzentriert. Für diese art des Erzählens, die mitunter sehr kopflastig daherkommt, sollte man allerdings offen sein, damit dies funktioniert.

Der Abschluss indes wirkt nicht ganz so rund. Nun gibt die Form einer Novelle aus Platzgründen nicht unbedingt viel her, der Zustand Stefan Zweigs beim Schreiben muss hier ebenfalls berücksichtigt werden, dennoch ist mir die Geschichte beinahe zu einfach aufgelöst. Während die Beschreibungen, selbst von Partien, hier spannend wie einzelne Krimis wirken, ist die Auflösung recht simpel. Vielleicht kann man es so sehen: Das Schachspiel wird hier zum ersten Mal durchbrochen.

Autor:

Stefan Zweig wurde 1881 in Wien geboren und war ein österreichischer Schriftsteller. Er verfasste Gedichte, Erzählungen und Romane, Theaterstücke und Essays, war überdies als Übersetzer und Herausgeber tätig und schrieb Beiträge für diverse zeitungen und Zeitschriften. Von 1919 an lebte er in Salzburg, welches er nach Hitlers Machtergreifung 1934 verließ. Fünf Jahre später nahm er die britische Staatsbürgerschaft an. 1940 verließ er Europa entgültig. 1942 nahmen er und seine Frau sich in Petropolis/Brasilien das Leben. Kurz zuvor hatte Zweig das Manuskript „Schachnovelle“ an seinen Verleger versendet

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Mein Rückblick durch’s Bücherjahr 2021

Immer wieder stelle ich fest, dass gerade in, sagen wir, fordernden Zeiten, mir Bücher einen besonderen Halt geben. Mit dem Lesen einiger Seiten auf den Weg zur Arbeit oder vor Hochfahren des Büro-Laptops im Home Office starte ich in den Tag, abends auf den Nachhauseweg in der U-Bahn schaufel ich mir mit Büchern den Kopf frei und komme auf andere Gedanken. So habe ich dieses Jahr viele Bücher für mich entdecken können, mehr gelesen als etwa im Jahr 2020, erstaunlicherweise mit vergleichsweise wenigen Totalausfällen. Nur einen Abbruch hatte ich auf den Zähler. Darum soll es heute aber nicht gehen. 2021 war für uns alle anstrengend genug. daher habe ich mich dazu entschlossen, meinen Rückblick auf die Lese-Highlights des Jahres zu beschränken und die anderen Werke aus meinem Gedächtnis zu verdrängen. Wer diese sich noch einmal zu Gemüte führen möchte, den bleibt nichts übrig, als die Rezensionen zu durchstöbern. Hier soll es heute nur um die Highlights gehen. Über die Flops sprechen wir zu oft.

Eine Top 10 auszuwählen, ist mir dabei nicht gelungen, so zeige ich ganze zwanzig Bücher, die ich in positiver Erinnerung habe. Von der Belletristik bis zum Sachbuch, von der Neuerscheinung bis zur Backlistliteratur ist alles dabei. Natürlich könnte ich noch viel mehr Werke nennen, aber ihr kennt den Ausdruck: „Das sprengt den Rahmen!“. 🙂

Während Björn Stephan mich mit seinem Schreibdebüt, einem sensiblen Coming of Age Roman, überraschen konnte, entführte mich Esther Horvath gleich zu Beginn des Jahres in die eisigen Gefilde der Arktis. Sie begleitete die bis dato größte von den Forschern des deutschen Alfred-Wegner-Instituts angeführte Polarexpedition, auf dem Eisbrecher „Polarstern“ und brachte beeindruckende Fotos mit nach Hause, die sie in diesem Bildband versammelt hat. Stephan Orth nahm seine LeserInnen dagegen in ein nahezu noch unbekanntes Land. Saudi-Arabien. Immer, Auge und Auge mit Scheichs und Kamelen. Unvergessen natürlich, das Interview, welches ich mit ihm führen durfte.

Christa von Bernuths Kriminalroman „Tief in der Erde“, der auf wahre Begebenheiten eines spekatkulären Falls der bundesdeutschen Kriminalgeschichte beruht, gehört im Bereich True Crime zu meinen Highlights, wie auch Sasha Filipenko, der mit seinem Roman „Der ehemalige Sohn“ tief in die belarussische Gesellschaft Einblick nehmen lässt. Noch nie habe ich einen, über weite Strecken, so deprimierenden Roman gelesen, der jedoch sehr eindrucksvoll zu lesen ist und deshalb definitiv zu meinen Highlights zählt. Olga Grjasnowas Essay über den Nutzen von Mehrsprachigkeit war nichtminder aufschlussreich.

Genau so wie ich Olga Grjasnowas Ausführungen zur Mehrsprachigkeit empfehlen kann, möchte ich allen Natasha A. Kellys Essay über Rassismus ans Herz legen. Hier beschreibt sie, woher Rassismus kommt, wie das wirkt und wie wir dieses strukturelle Problem lösen können. Ihr Werk hatte in jedem Fall den Preis für die am schwersten zu schreibende Rezension gewonnen. So oft habe ich, glaube ich, selten, nach den richtigen Worten gesucht. Khue Pham beeindruckte mit ihrem halbbiografischen Roman einer über die Welt verstreuten, ursprünglich aus Vietnam stammenden Familie und Stefanie vor Schulte mit einer sprachlich so anspruchsvollen erzählung, die ihres Gleichen sucht.

Familiengeschichten oder Coming of Age dominierten bei mir im Bereich der Belletristik und so kann ich auch Alex Schulman „Die Überlebenden“, wie auch das Debüt von janina Hecht „In diesen Sommern“ zu meinen Highlights zählen. In beiden Romanen geht es um Kindheiten und den nicht ganz so einfachen Umgang damit, im Erwachsenenalter, während Ariel Magnus in seinem Roman „Das zweite Leben des Adolf Eichmanns“, den eben genannten wieder lebendig werden lässt, bis zu seiner Entführung und Verhaftung durch Agenten des israelischen Geheimdiensts Mossad. Spannend und erschreckend zugleich , einmal diese Perspektive einzunehmen.

Wie bekommen wir die Fragestellungen und Probleme, die sich gerade jetzt klar und deutlich zeigen, in den Griff? Wo liegen die Stellschrauben im Gesundheitssystem und unserer Gesellschaft? Was muss sich ändern, da Applaus nicht genug ist? Diese Fragen stellt der Journalist David Gutensohn und zeigt, wie Lösungen aussehen können und was in winzigkleinen Schritten schon jetzt passiert oder, wo es noch viel zu tun gibt. Frank Vorpahl entwirrt derweil Mythos und Wirklichkeit um Heinrich Schliemann und Xose Neira Vilas‘ Novelle „Tagebuch einer Kindheit in Galicien“ war genau so erschreckend, wie düster, wie hoffnungsvoll.

Der Historiker Uwe Wittstock zeigt in seinem romanhaft anmutenden Sachbuch „Februar 33 – Der Winter der Literatur“, wie schnell Kunst und Kultur von den Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme vereinnahmt wurden und Schriftsteller, wie Künstler, ins Abseits gedrängt oder für ideologische Zwecke ausgenutzt wurden. Das Werk zählt wohl bei so Einigen zu den Highlights, wie vielleicht auch „Shuggie Bain“ von Douglas Stuart, eine traurigere und trostlosere Version und Mischung aus „Billie Elliott“ oder Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“. Fast möchte man die Hauptfigur aus den Roman herausziehen, und sie vor allem Übel der Welt beschützen.

Last, but not least. Karsten Krogmann und Marco Seng konstruierten in ihrem Sachbuch „Der Todespfleger“ die Geschichte des Krankenpflegers Niels Högel, der zum größten Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte avancieren sollte, zeigen die Mühlen der Justiz auf, eben so wie deren Schlagkraft, während Roman Deininger und Uwe Ritzer noch einmal Olympia 1972 aufleben lassen, welches so anders werden sollte, als die Spiele der Nazis 1936, und dann doch durch einen Terroranschlag in ihren Grudnfesten erschüttert wurden. Nach zwei Sachbüchern, zu guter Letzt ein wunderschöner Roman, „Heaven“, von Mieko Kawakami, über Mobbing und zarter Freundschaft.

Das waren sie nun, meine zwanzig Highlights des Jahres, die ich um noch weitere Werke hätte ergänzen können, doch lade ich euch natürlich ein, im Rezensionsverzeichnis nach Herzenslust zu stöbern, nach diesen oder nach anderen Werken, nicht nur Highlights, aber eben auch. Es hat mir wieder großen Spaß gemacht, so vielschichtig, auch für euch, zu lesen und ich freue mich auf das kommende Lesejahr, was hoffentlich genau so abwechslungsreich und spannend werden wird.

Vielleicht ist ja das eine oder andere Werk, auch für euch, dabei?

Bis zum nächsten Jahr. Nicht vergessen, wir lesen uns.

Viele Grüße,

findo.

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Hideo Yokoyama: 2

Inhalt:

Ein legendärer Kriminaldirektor, der sich aus dunklen Gründen weigert, seinen Posten zu räumen – und eine junge, aufstrebende Polizistin, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Arbeit erscheint. Zwei Fälle, ein Schauplatz: Japan, Polizeipräsidium Präfektur D.

Rezension:

Japan ist das Land der zwei Geschwindigkeiten. Einerseits bestimmt das Leben auf der Überholspur die Menschen, die laufen müssen, um nicht den Anschluss zu verlieren, was widerum mit althergebrachten Traditionen und längst veralteten Rollenbildern kollidiert. Ständig. In diesem Szenario siedelt Hideo Yokoyama seine beiden hier vorliegenden Kurzkrimis an und zeigt damit eine hier nahezu unbekannte Seite des Inselstaats.

Zunächst entführt uns der Autor in die Verwaltungsabteilung eines Polizeipräsidiums und setzt damit gleich zu Beginn den Fokus nicht auf den klassischen Ermittler, sondern auf den Beamten, der ein bürokratisches Problem zu lösen versucht. So trocken sich dies anhört, so ruhig entwickelt sich die Geschichte zu einem unterschwellig spannenden Szenario, welches in dieser kompakten Form allenfalls als Kriminalromannovelle zu bezeichnen ist. Die Kurzgeschichte unter dem Genre Thriller laufen zu lassen, mag eine verlegerisch durchdachte Entscheidung beruhen, ist für mich ob der stoischen Ruhe des Textes kaum nachzuvollziehen.

Andererseits fehlt mir, dies muss fairerweise erwähnt werden, der Vergleich zu weiteren Krimis und Thrillern aus diesen geografischen Raum. Die zweite Geschichte weist da ein etwas höheres Erzähltempo auf. Beide lassen sie sich jedoch flüssig lesen. Für nicht an asiatische Namen gewöhnte Augen sorgt eine Namensliste für den Überblick.

In beiden Geschichten setzt der Autor zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten mit der Lösung an. Hier kommt es sehr darauf an, wie man selbst gerne liest und wie Handlungsstränge wirken. Die Protagonisten sind feinfühlig ausgearbeitet. Eine gewisse Distanz zum Lesenden, gleichsam dem asiatischen Gesellschaftsbild nach immer funktionieren zu müssen, sich nicht in das Seelenleben hineinschauen zu lassen, ist immer vorhanden. Hier zeigt sich Yokoyama durchaus gesellschaftskritisch, auch was den Umgang mit traditionellen Rollenbildern angeht.

So ist, wer einen Krimi nach englischen oder skandinavischen Vorbild erwartet, hier falsch, doch wer gerne einmal Novellen mit gesellschaftskritischen Tönen liest, hier an der geeigneten Lektüre. Die Krimihandlung, die ich hier aufgrund der Kürze der Geschichten, umschiffen musste, spielt ohnehin eine nebensächliche Rolle. Zum „Antesten“, ob Schreib- und Erzählstil von Hideo Yokoyama für einem selbst geeignet sind, ist „2“ jedoch passend.

Autor:

Hideo Yokoyama wurde 1957 in Tokio geboren und ist ein japanischer Autor und Journalist. Nach seiner journalistischen Arbeit begann er Kriminalromane zu schreiben, die in mehrere Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet wurden. Sein Werk „64“ wurde als bester japanischer Kriminalroman im Jahr 2013 ausgezeichnet, ein Jahr darauf erhielt er den Deutschen Krimipreis in der Kategorie International.

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Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Inhalt:

Erzählt wird die Geschichte des kleinen Balbino, ein Bauernkind aus einem kleinen Dorf in Galicien, das gegen die Ungerechtigkeiten der galegischen Gesellschaft jener Zeit ankämpfen muss: Armut, harte körperliche Arbeit von Kindesbeinen an, fehlende Bildung und Demütigungen durch die Machthaber im Dorf, dabei stets erfüllt von der Sehnsucht nach Erwachsensein, um möglichst bald diesem Ort zu entfliehen. (am Klappentext angelehnt)

Rezension:

Archaisch ist die Welt, in der der kleine Balbino aufwächst. Der Horizont ist nicht weit. Er reicht von der Hütte bis zum Fluss, über die Felder bis zum Dorf. Begrenzt ist der Blick und doch, zumindest bei dem Jungen nicht seinem Schicksal ergebend. Groß möchte er werden, erwachsen, wie seine Eltern, seine Tante, dem Herren, von dem seine Familie Land gepachtet hat, dessen Felder sie bestellen und Vieh sie hüten müssen.

Nur so wird es ihm möglich sein, diesem Leben zu entfliehen, wie es sein Bruder einst tat. Der Armut, der eintönigen Arbeit, den Schlägen der Eltern und der Hänseleien vom Sohn des Herren. Balbino beobachtet seine Umgebung sehr genau. Er notiert sie in ein Heft und nimmt uns dabei mit.

So beginnt die Geschichte, die als einziges von Xose Neira Vilas‘ Werken ins Deutsche übersetzt vorliegt. Sie erzählt von einer längst vergangenen Leben, wie es das in Zeiten, in der die kleine Novelle hierzulande erschien, längst nicht mehr gab. Zumindest in Europa. Der Autor setzte seiner Kindheit und der vieler anderer ein Denkmal. der Junge unbestimmten Alters, kaum im Schulalter, beobachtet mit uneingeschränkten Blick die Welt der Erwachsenen, die aus Kinderaugen heraus eigentlich groß und überwältigend erscheinen müssen. Doch schon in jungen Jahren sieht Balbino die Enge.

„Ein Freund, wenn er wirklich einer ist, ist das Beste, was es auf der Welt gibt.“ – „Freunde zu haben ist mehr wert, als Geld zu besitzen.“ – „Ein Freund gibt dir alles und verlangt nichts; und wenn es sein muss, stirbt er für dich.“ Da merkte ich, dass mir ein Freund fehlte.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Episodenhaft wird die Geschichte aus der Sicht des Kindes beschrieben. Ruhige Töne, kurze prägnante und immer wieder sehr poetische Sätze durchziehen den Text. Kurze Momente des Glücks wechseln mit langen der Melancholie Detailreiche Beschreibungen, da wird ein kleines Kästchen zum Dreh- und Angelpunkt der Sehnsucht des Jungen, welche im nächsten Moment wieder zerstört wird. Balbino aber will sich nicht fügen in sein vorbestimmtes Schicksal, wie das die Erwachsenen tun, und so nimmt die Geschichte ihren Lauf. das Erzähltempo beschleunigt sich mit Zunahme der Kapitelzahl.

Unsere Hände sind klein und schaden niemandem; ihre aber sind kräftig, sie tun weh. Wenn sie bereit wären, von uns zu lernen, gingen sie nicht in den Krieg. Im Krieg töten sie einander, meist, ohne überhaupt zu wissen, warum.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Trotz der feinsinnigen Beobachtungen, die ausführlich geschildert werden, bleiben die anderen Protagonisten gleichsam blass und unscheinbar, sowie der Staub der Feldarbeit in ihren Gesichtern. Was sonst passiert, ist auch egal. Das Kind lebt, hofft und bangt, zittert und weint, schlägt sich durch. Der kleine Hauptprotagonist sticht heraus. Urplötzlich, nach einem Dahinplätschern der Handlung steht man vor einem Wendepunkt, den Abrgund, an dem Balbino sich entscheidet. Halboffen ist das Ende, der Konflikt kaum gelöst. Lesen sollte man das nur, wenn man in der richtigen Stimmung ist, über weite Strecken Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zu ertragen.

Ich habe gelesen, dass die Flüsse ins Meer strömen und dass wir uns ebenso und mit derselben Eile auf den Tod zubewegen. Wenn man darüber nachdenkt, möchte man am liebsten weinen.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Trotzdem, lesenswert ist es allemal. Nicht nur um daran erinnert zu werden, dass es auch in unserer Zeit, vielleicht nicht in Europa aber anderswo, immer noch Kinder gibt, die dergleichen erdulden müssen. Armut sowie so, ein Leben ohne Chance auf Bildung und wenn sie diese sehen, sie diese selbst ergreifen müssen, ohne liebevolle Erwachsene, abhängig von anderen. Auch ist es die Geschichte von Xose Neira Vilas selbst, wie groß der biografische Anteil des Autoren daran ist, wie viel selbst Erlebtes er hat einfließen lassen, ist nicht unbedingt klar. Die „Memorias“ sind ein Denkmal für eine ganze Generation, einer ganzen Region, eingordnet in einem ausführlichen Nachwort.

Wer sie sich zu Gemüte führt, wird Stoff zum Nachdenken haben. In sofern straft sich der erzählende Protagonist am Ende des Einführungskapitels selbst Lügen. Diese Novelle ist schon etwas Besonderes.

Autor:

Xose Neira Vilas wurde 1928 geboren und war ein galegischer Schriftsteller. Nachdem er nach Argentinien auswanderte kam er in Kontakt mit anderen Schriftstellern Galiciens, emigrierte später nach Kuba und gründete dort ein Institut zur Aufbewahrung und Erforschung galegischer Schriften. Er selbst schrieb zahlreiche poetische, und Prosawerke, Essays. Sein Roman „Memorias“ ist bis heute sein einziges Werk, welches ins Deutsche übersetzt wurde. Er starb 2015, nachdem er in seinen Heimatort zurückgekehrt war.

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Volha Hapeyeva: Camel Travel

Inhalt:

Aufzuwachsen in einem Land, in dem zwei Sprachen gesprochen werden, kann manchmal für Verwirrung sorgen. Dem ganz gewöhnlichen Alltag treten einige Hindernisse entgegen, zudem besondere und ungewöhnliche Begebenheiten. Klavierlernen ohne Klavier zu Hause?

Mit ein wenig Fantasie und Einfallsreichtum lässt sich das lösen und in wie vielen Momenten man sich, alles nur für eine erfolgreiche Sportlerkarriere, dehnen kann, auch davon weiß die Erzählerin Volha ein Lied und Leid zu singen. Eine belarussische Kindheit Ende der 1980er- und Anfang der 1990er Jahre. (gekürzte Inhaltsangabe)

Rezension:

Im Umbruch befindlich das Land, übt sich auch die Protagonistin im Spagat. Zwischen zwei ähnlichen und doch marginal unterschiedlichen Sprachen, zwischen Haustierwunsch und den Versuch unliebsames Essen auf wundersame Weise verschwinden zu lassen. Dies ist die Kindheit der Autorin, die diese in eine kompakte Novelle gegossen und verschriftlicht hat. Kapitel für Kapitel erzählt Volha Hapeyeva von Kindheitsträumen und der Jagd nach Comicstrips, Hehlerware im Klassenraum.

Flüssig liest sich das. Eine gewisse Sogwirkung, die man sich nicht erklären kann, ist doch das einzig besondere, der Schauplatz, eben dieses Land, was in späteren Jahren die letzte Diktatur Europas werden sollte und die Autorin selbst, die zu einer neuen Riege über ihre Landesgrenzen hinaus bekannten Schriftstellerinnen gehört. Alleine deshalb schon kann man dieses Werk lesen. Jeder Satz ist gut überlegt. Man merkt der Schreibenden das Gespür für Sprache an. Hapeyeva hat bereits einen lyrik-Band herausgegeben.

Nun also eine Novelle, ein Kindheitsroman, Coming of Age in Belarus. Schnell im Handlungsverlauf der lose zusammenhängenden Kapitel, bleibt am Ende wenig hängen. Einzelne Sätze stechen hervor. Gerade genug, um sich der Autorin zu erinnern, sollte noch weiteres von ihr erscheinen. Ob das ausreicht, muss ein jeder für sich entscheiden.

Autorin:

Volha Hapeyeva wurde 1982 in Minsk geboren und ist eine belarussische Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Sie schreibt Lyrik. Ein Band wurde bereits ins Deutsche übersetzt. Zudem ist sie als Autorin von Kinderbüchern und Dramen tätig. Hapeyeva ist Mitglied des PEN-Zentrums Belarus und des dortig unabhängigen Schriftstellerverbandes. „Camel Travel“ ist ihr Debütroman. Für ihr Schreiben wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet.

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Claudia Sammer: Als hätten sie Land betreten

Als hätten sie Land betreten Book Cover
Als hätten sie Land betreten Claudia Sammer Erschienen am: 10.09.2020 braunmüller Verlag Seiten: 174 ISBN: 978-3-99200-285-6

Inhalt:

Die besondere freundschaft zwischen der jüdischen Veza und der nichtjüdischen Lotti in den 1930er-Jahren ist Ausgangspunkt einer Geschichte über sechs Frauen.

Über mehrere Generationen hinweg werden Lebensentwürfe skizziert, die geprägt sind von Abhängigkeit und Selbstständigkeit, vom Zweifeln und Sich-Finden, vom Glauben an eine höhere Macht und dem festhalten an der Erinnerung. erst nach ihrem Tod erfährt Lottis Familie von Vezas existenz und der gemeinsamen Zeit, eine Entdeckung, welche die Enkelin dazu ermutigt, neue Wege zu gehen. (Klappentext)

Rezension:

Entgegengesetzt den Vorstellungen ihrer Familien entwerfen sie vom jungen Alter an ihre Lebensentwürfe selbst, ecken an und kämpfen gegen Widerstände. Die liegen in der eigenen Verwandtschaft, sowie in der Zeit, der sie ausgesetzt sind, doch Veza und Lotti behaupten sich.

Das müssen sie, die eine um des Überlebens Willen, die andere, um unabhängig zu werden. Nur, die sie umgebenden Menschen wissen nicht davon, erfahren dies erst nach Jahrzehnten. Mehr gibt es auch zur Handlung nicht zu sagen. Es sei denn, man möchte zu viel verraten.

Die Schriftstellerin Claudia Sammer legt mit „Als hätten sie Land betreten“ eine Novelle von sprachlicher Wucht vor, für die man sich Zeit nehmen muss. Zeit nehmen, poetische Sätze in sich aufzusaugen, die aneinandergereiht wie eine Perlenkette wirken, doch schwer zu fassen sind.

Oft genug muss man, möchte man innehalten, Sätze immer und immer wieder lesen. Unscheinbar dieser Band, so einnehmend der Text. Die Freundschaft als Dingsymbol, als Dreh- und Angelpunkt in all seinen Fascetten, Widersprüchen, die die kompakten Kapitel durchziehen, die einmal als Entschluss der Kindheit gefasst, ihre Protagonisten nicht wieder loslässt.

Und doch hat der Text seine Längen. Monotonie erstreckt sich über mehrere Kapitel, ein Spannungsbogen nur zu Beginn und zum Ende, dazwischen gefühlt Leere. Das ist schwierig bei der Kürze des Textes und kaum zu rechtfertigen.

Alleine, man muss in der richtigen Stimmung sein, so etwas zu lesen, damit die Erzählung ihre volle Wirkung entfalten kann. Dann funktioniert das auch, der Zwiespalt der Protagonisten in ihren Entscheidungen, die Entwicklung über den beschriebenen Zeitraum.

Die Novelle verleitet zum schnellen Lesen, wer dies tut, macht’s jedoch falsch. Langsam, häppchenweise sollte man den Text in sich aufnehmen. Dann funktioniert es auch. Und das ist die eigentliche Problematik. Nur, wer ahnt das schon mit den ersten gelesenen Zeilen?

Autorin:

Claudia Sammer wurde 1970 geboren und ist eine österreichische Schriftstellerin. Zunächst studierte sie Rechtswissenschaften und Literarisches Schreiben und arbeitete in Wien und Mailand. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie wieder in Graz. 2019 erschien ihr erster Roman.

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Erri De Luca: Das Licht der frühen Jahre

Das Licht der frühen Jahre Book Cover
Das Licht der frühen Jahre Erri De Luca ullstein Verlag Erschienen am: 29.06.2020 Seiten: 103 ISBN: 978-3-548-29101-7 Übersetzerin: Anette Künzler

Inhalt:

Beim Betrachten alter Fotos, die sein Vater gemacht hatte, bevor er erblindete, erinnert sich ein Mann an seine Kindheit im Neapel der Nachkriegszeit.

Seine Eltern waren arm, und das Leben auf den Straßen war geprägt von der Not, die der Krieg hinterlassen hatte. In einem intimen Zwiegespräch mit seiner verstorbenen Mutter lässt Erri De Luca diese frühen Jahre seines Lebens wieder auferstehen und mit ihnen die Poesie, die noch in der schwersten Kindheit steckt. (Klappentext)

Rezension:

Ein Erzähler erinnert sich an glückliche und unglückliche Tage seiner Kindheit in den Gassen von Neapel, an flirrende Sommer, Begegnungen und Beobachtungen, liebende Eltern, zweifelnde Eltern, wütende Eltern. Erinnerungen, die aufblitzen, wie das Stottern vor der Klasse, welches Besonderheit und Distanziertheit zugleich bedeuten.

Erri De Luca versetzt sich zurück in eine Kindheit, die von Armut, Wandel und schließlich bescheidenen Wohlstand geprägt ist, ein Aufwachsen mit Worten ohne Worte. Das Betrachten alter Fotografien, um verlorengegangene Erinnerungen wieder aufleben zu lassen und doch die Gewissheit zu erlangen, dass es nie wieder so sein wird, wie zuvor.

Ich kenne deinen Namen, du aber kennst mein Schicksal.

Erri De Luca „Das Licht der frühen Jahre“.

Diese kleine Novelle lässt seine Leser in die Erinnerungen des Erzählenden eintauchen, der sich einer schwankenden Kindheit entsinnt. Förmlich spürt man, wie Erri De Luca Bild für Bild betrachtet, die abgebildeten Ereignisse mit seinen Gedanken in Einklang bringt, zugleich aber durch die Fotos die Perspektive seiner Eltern einnimmt. Sein Vater als Bildschaffender, die Mutter als Dreh- und Angelpunkt der Familie. Zugleich spürt er die mit zunehmenden Alter immer deutlich werdende Entfernung.

Das Alter nimmt den Erzähler die Eltern, den Eltern ihren Sohn. Poetisch ist die Sprache hier, nicht aber anstrengend zu lesen. In der Novelle gleichsam, passiert jedoch nicht viel. Rein die Handlung betrachtet, ist „Das Licht der frühen Jahre“ ziemlich dünn. Das spielt jedoch keine Rolle, die Liebe zu den Eltern, denen sich Erri De Luca zu entsinnen versucht, durchdringt jede Zeile. Nur das ist wichtig. Nicht mehr, nicht weniger.

Menschen, die innehalten, begegnen einander, auch eine junge Mutter und ein alter Sohn.

Erri De Luca „Das Licht der frühen Jahre“.

Der Autor verknüpft die Erlebnisse und spielt mit der Sprache, nicht so grob, wie der Umgang des Kindes mit neuen Spielzeugen, eher feinfühlig, wie die Beobachtungen des Kindes, welches die Umgebung um sich herum zu fassen versucht. Das funktioniert gut. Es ist eine Erzählung, in deren Worten man sich wohlfühlt und zugleich sich in die eigene Kindheit zurückversetzt.

Der Erzähler ist nachdenklich, kritisch mit sich selbst und nimmt Abschied von der Mutter. Die gemeinsame Zeit entrinnt. Was der Erzähler beim Vater zu verpasst haben glaubt, will er nun bei der Mutter richtig machen. Und so sind diese Zeilen durchdrängt von Liebe, die eines Kindes, welches selbst längst in der Mitte seines Lebens angelangt ist. Traurigkeit, Bitterkeit und Glück liegen hier nah beieinander.

Erri De Luca weiß sie meisterhaft zu verbinden.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte.

1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Bücher gegen das Vergessen #02

Bücher gegen das Vergessen sollen uns geschichtliche Ereignisse vor Augen führen, für die wir nicht unbedingt die Verantwortung tragen, aber dennoch verantwortlich sind, sie nicht zu vergessen. Abseits von Rezensionen soll hier eine Auswahl vorgestellt werden.

Bisher in dieser Rubrik erschienen:

#01: Die Tagebücher des Petr Ginz

[Einklappen]

Kressmann Taylor „Adressat unbekannt“

Es sind nur ein paar Briefe, auf denen diese kleine Novelle beruht und doch traf die Autorin einen Nerv bei ihrem Lesepublikum, als ihre Geschichte als Fortsetzungsreihe 1938 veröffentlichte. Unter Pseudonym in der Zeitschrift „Story“ publiziert, erzählt Kathrine Taylor in Form eines Briefwechsels vom Zerbrechen einer Freundschaft aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933.

Wenige Seiten sind es, nicht einmal 60, auf denen ein Strudel von Ereignissen sich abspielt. Zunächst ist da die Freundschaft zweier, die zusammen eine kleine Kunstgalerie in San Francisco gründeten und nun getrennt voneinander leben. Der Eine, seiner Familie zu Liebe in Deutschland, macht nun in der Stadtverwaltung von München Karriere. Martins Freund dagegen, Max, leitet nun alleine die Galerie.

Meine Ausgabe ist eine bei Rowohlt erschienene Taschenbuchausgabe.

Verlinkt ist die aktuell verfügbare.

Sprengstoff tut sich auf. Max ist jüdischer Abstammung und nimmt die aus Deutschland kommenden Berichte mit Sorge auf. Er hakt bei seinem Freund nach, der zunächst beschwichtigt, jedoch immer mehr der grausamen Ideologie der Nazis verfällt. Natürlich muss die Freundschaft zuerbrechen, natürlich macht die Politik auch nicht vor Max‘ Familie in Deutschland halt. Natürlich macht sich Martin schuldig.

Die kleine Novelle besteht nur aus diesen Briefen, die man in sich aufnimmt und immer hilfloser Zeile für Zeile liest. Kressmann Taylor reißt ihre Leser, gleichsam wie ihre beiden Protagonisten, in den Abgrund. Der wahre Hintergrund ist es, der diese Geschichte so grausam werden lässt. Die Nazis hatten das Büchlein in Deutschland wohlweißlich verboten.

Im Jahr 1995, anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung der Vernichtungslager wurde die Novelle, von der nicht viel mehr verraten werden kann, nicht verraten werden darf, wieder aufgelegt. Diesmal in mehr als fünfzehn Sprachen. Es ist eines dieser Bücher, die so ganz unscheinbar sind, von denen man sich angesichts ihrer Dichte nicht viel erhofft, die einem dann jedoch umhauen und nicht mehr loslassen.

Wie viele Freundschaften mögen auf ähnliche Art und Weise zerstört worden sein? Wie erging es den Menschen, die hinter den Briefen steckten, die die Vorlage für diesen erschütternden Roman bildeten? Zumindest von einem der Protagonisten kann man das Schicksal erahnen. Dessen Brief kam mit dem Stempel „Adressat unbekannt“ zurück.

Der virtuelle Spendenhut

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Oskar Roehler: Der Mangel

Der Mangel Book Cover
Der Mangel Oskar Roehler ullstein Erschienen am: 28.02.2020 Seiten: 170 ISBN: 978-3-550-20038-0

Inhalt:

Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt.

Vom Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechszigern, den Anstrengungen der Väter, Wohlstand oder zumindest eine Illusion davon zu erschaffen.

Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter und das Gegenbild dazu, der Ausweg aus Mangel und Überfluss zugleich: die Kunst als Rettungsanker für das Überleben. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Der namenlose Junge beobachtet die Erwachsenen, die daran scheitern, eine Illusion von Wohlstand Wirklichkeit werden zu lassen und daran zu Grunde gehen, zerbrechen. Mit Gleichaltrigen trollt er durch die noch nicht fertige Neubausiedlung am Rande eines Dorfes, gräbt sich durch Schlamm und Lehm, versinkt sprichwörtlich in seiner eigenen Welt.

Zu Beginn ist er ein Vorschulkind, welches um sich herum alles aufnimmt, später versucht, mit den Mitteln der Kunst zu überleben, beinahe wie einst die Mütter und Väter um ihn herum, zu scheitern droht.

Beindruckend ist diese Novelle, deren Handlung der Leser wie einen kunstfollen Kurzfilm vor dem inneren Auge ablaufen sieht. Nicht von ungefähr kommt dieser Effekt, ist doch der Autor Oskar Roehler selbst Filmregisseur und Drehbuchautor.

Der Protagonist, Vorschulkind, Kind, früher Jugendlicher ist das alte Ego des Autors, der Eindrücke in sich aufsaugt, wie ein Schwamm. Kurz und prägnant sind die Sätze, messerscharf und folgerichtig, wie die Beobachtungen selbst.

In der Erzählung fühlt man mit dem Handelnden, der begreift, dass es da draußen in der großen weiten Welt noch etwas anderes geben muss, dass die Chancen, die sich ihm bieten, jedoch noch weniger als rar gesät sind.

Röhler verbildlicht hier Trost- und Perspektivlosigkeit, die Zeit des Wirtschaftswunders, die überall ankommt, nur nicht dort. Die Zeitspanne umreißt die ersten Jahrzehnte der bundesrepublikanischen Gesellschaft, mit allen Möglichkeiten, vielmehr jedoch mit allen Fallstricken.

Der Protagonist bleibt dabei immer in der Position des Schwachen, ständig am Rand des Abrgund stehend, selbst, als er beginnt, sich daraus zu kämpfen. Trost nur in der Welt der Kunst, der Sprache.

Roehlers Stil, diese Geschichte eine lehmhafte Schwere angedeihen zu lassen, ist gewöhnungsbedürftig. Schön zu lesen, doch plätschert die Trostlosigkeit wie voluminöse Regentropfen nur so dahin. Die Atmosphäre ist düster, die ganze Zeit über, kaum Hoffnungsschimmer.

Um das zu lesen, sollte man in der richtigen Stimmung sein. Für depressive Gemüter ist das nichts.

Es ist eine kompakte Erzählung mit dem Effekt eines Günter Grass, der mit Worten zu faszinieren oder verschrecken mochte. Dazwischen gibt es nichts, sozusagen luftleerer Raum.

Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Kunst als zweifelhafter Rettungsanker. Und immer wieder Dreck, Schlamm, Feuchtigkeit, Lehm. Graue, braune Masse, aus der man etwas erschaffen oder in die man versinken kann.

Doch, muss das zwischen zwei Buchdeckeln sein?

Autor:

Oskar Roehler wurde 1959 geboren und ist ein deutscher Filmregisseur, Journalist und Autor. Nach seinem Abitur ist er als Autor für Drehbücher tätig und wurde ab 1990 als Spielfilmregisseur bekannt. Sein erfolgreichster Film war „Die Unberührbaren“, der u.a. mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde.

Roehler gehört zu den Gründungsmitgleidern der Deutschen Filmakademie, 2003. Im Jahr 2011 veröffentlichte er einen autobiografischen Roman, den er auch verfilmte. 2018 verfilmte er den Roman „HERRliche Zeiten“ des umstrittenen rechten Schriftstellers Thor Kunkel.

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