Leben

Sophia Kimmig: Von Füchsen und Menschen

Inhalt:

Roter Pelz, bernsteinfarbene Augen, grazile Statur – wer ihm einmal begegnet, vergisst diesen Anblick nicht mehr. Doch der Fuchs ist nicht nur für seine Schönheit, sondern auch als schlau, gerissen und neugierig bekannt. Vom Polarkreis bis in den Norden Afrikas findet man ihn, und er besiedelt zunehmend unsere Städte. Wildbiologin Sophia Kimmig heftet sich dort an seine fersen und versucht, hinter das Geheimnis des Überlebenskünstlers zu kommen. Sie nimmt uns mit auf nächtliche Erkundungstouren, erzählt amüsant von den Tücken der Feldforschung und gewährt uns spannende Einblicke in das verborgene Leben unserer wilden Nachbarn. (Klappentext)

Rezension:

Diesen Tieren sagt man so einiges nach. Schläue und Gerissenheit sind die Eigenschaften, die sich häufig in Märchen und Fabeln wiederfinden und Füchsen angedichtet werden, doch vor allem sind sie eines. Flexible Generalisten, die sich veränderten Bedingungen bisher gut anpassen und damit umgehen konnten. So ist der Rotfuchs heute einer der erfolgreichsten Kulturfolger des Menschen und bewohnt, während es für seine Verwandten auf dem Land immer schwieriger wird, zunehmend unsere Städte.

Weitgehend von uns unbemerkt, bevölkert er Bahndämme, Brachgelände, Schul- und Friedhöfe und bedient sich dabei einem reichhaltigen, durch uns stetig gedeckten Tisch. Doch, wie findet sich der Fuchs überhaupt in einer eigentlich tierfeindlichen Umgebung überhaupt zurecht? Wie leben diese Tiere inmitten unter uns?

Die Wildbiologin Sophia Kimmig begibt sich auf Spurensuche durch Berlin, von den Randbezirken bis hinein ins Regierungsviertel und berichtet von ihrer Arbeit und dem Leben Meister Reineckes, welches beinahe unbemerkt parallel zu uns stattfindet.

Füchse vermögen zu faszinieren. Es sind die flüchtigen Begegnungen, die uns für einen kurzen Moment innehalten lassen. Ein Rascheln im Gebüsch, das Aufblitzen roten Fells am Wegesrand, manchmal sogar in Hauseingängen oder gleich in der U-Bahn. Ein Video eines solchen Fuchses, der sich in die Eingeweiden der öffentlichen Verkehrsmittel Berlins gewagt hatte, ging viral und selbst das Bundespräsidialamt ist inzwischen auf den Fuchs gekommen.

Wie kam es zu diesem Wandel? Einst wurde das Tier als Nahrungskonkurrent und Krankheitsüberträger stark bejagd. Heute ist es Kultobjekt und die meisten Menschen ihm gegenüber positiv aufgeschlossen.

Sophia Kimmig ergründet seit ihrer ersten Begegnung mit dem Rotpelzigen die Füchse Berlins, besendert sie und schafft uns damit einen Überblick über das verborgene Leben dieser Tiere und zeigt, dass die Städte längst nicht mehr nur für uns Menschen ein lebendiger Ort ist. Amüsant erzählt sie von den Unwägbarkeiten ihrer Arbeit, aber auch dem Wandel in der Forschung und räumt zugleich mit einigen Legenden auf, die unsere wilden Nachbarn umgeben.

Natürlich fehlt er nicht, der persönliche Blick durch die Fuchsbrille, aber die Autorin bleibt sich den kurzweiligen Kapiteln über treu und verbindet kenntnisreich Informationen, nach denen man mit anderen Augen durch die Städte gehen wird. In jedem Fall aufmerksamer.

Ich trage eine Fuchsbrille. Eine Brille, die mich eine verborgene Welt sehen lässt, die ich ohne nicht bemerkt habe. Wenn ich mich durch die Stadt bewege, sehe ich sie. Überall.

Sophia Kimmig: Von Füchsen und Menschen

Einblicke gewährt Kimmig sowohl in ihre alltägliche Arbeit, der Sicht von außen als auch in das Leben der Tiere, welches nicht etwa durch Bejagung oder Nahrungsmangel gefährdet ist, sondern, des Lebensraumes bedingt, zunehmend durch den Straßenverkehr.

Der Wandel der Sichtweise wird ebenso sachlich dargestellt, wie der der Forschung, aber auch, wie das Zusammenleben zwischen Mensch und Wildtier gelingen kann, in einer immer enger werdenden Welt. Ergänzt wird dies durch sog. Fun Facts am Ende eines jeden Kapitels, einem auflockernden Fototeil und nicht zuletzt durch Beschreibungen ausgewählter Fuchsleben inmitten Berlins.

Die Autorin schafft den Spagat zwischen informativen Sachbuch und unterhaltender Lektüre ohne erhobenen Zeigefinger, sowie ihre Begeisterungsfähigkeit auf Lesende überspringen zu lassen, sowie zu zeigen, wie Stadtökologie wirken kann.

Danach wird man Meister Reinecke mit anderen Augen betrachten. Muss man vielleicht auch. Kimmig zeigt, dass sich der Fuchs als unser, auch städtischer Nachbar, längst etabliert hat.

Autorin:

Sophia Kimmig wurde 1988 in Berlin geboren und arbeitet als Widlbiologin u.a. für das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung, erforscht dabei die Anpassung der Wildtiere an sich veränderte Lebensbedingungen, am Beispiel des Fuchses und dessen Stadtleben. Neben ihrer Tätigkeit im Bereich Forschung und Umweltbildung erarbeitet sie zahlreiche Beiträge für Medien, in Vorträgen und Publikationen, um Akzeptanz für Natur- und Artenschutz zu schaffen. Die Autorin lebt in Berlin.

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Catherine Raven: Fuchs & ich

Inhalt:

Catherine Raven ist überzeugte Einzelkämpferin. Als sie sich mitten im Nirgendwo eine kleine Hütte mit einem blauen Dach baut, ist ihre Isolation komplett. Ihre Gesellschaft ist die Natur, die verblüffend lebendige Tier- und Pflanzenwelt, mit der sie ihr Land teilt. Eines Tages bemerkt sie einen wilden Fuchs, der jeden Nachmittag um 16.15 Uhr auf ihrem Grundstück erscheint. Entgegen allen wissenschaftlichen Gepflogenheiten beginnt sie, ihm aus „der kleine Prinz“ vorzulesen. (Klappentext)

Rezension:

Selbst in den unwirtlichsten Regionen unseres Planeten kommt er vor, in Wüsten oder den Polargebieten. Mittlerweile ist er auch in unsere Städte gezogen und lebt Seite an Seite mit den Menschen. Doch, kaum jemand kennt sie näher. Ein flüchtiger Blick und dann ist der Fuchs meist schon aus unserem Sichtfeld verschwunden.

Die Rangerin und Biologin Catherine Raven hatte die Gelegenheit in unmittelbarer Nähe zu ihrem eigenen Wohnhaus, in der Abgeschiedenheit Montanas, eines dieser Tiere zu beobachten. Ihren tierischen Besucher beginnt sie aus dem Buch „Der kleine Prinz“ vorzulesen. Die Geschichte eines Versuches der Annäherung.

Ein Tierfilmer, der das Verhalten einiger Bären falsch einschätzte, musste seinen Versuch der Annäherung vor einigen Jahren mit dem Leben bezahlen. Geglaubt hatte er, diese Tiere richtig deuten zu können, sie zu kennen und gilt seither allen als Mahnmal, die einen Umgang mit Lebewesen pflegen, die weder domnestiziert sind, noch irgendwie sonst bestrebt sind, mit Menschen zu interagieren.

Wenn Wildtiere dies tun, steckt meist mehr dahinter und oft ist dies nicht unbedingt positiv besetzt. Davon abgesehen weiß jeder Naturwissenschaftler um seine Reputation, wenn er oder sie sich auf allzu große Nähe mit Tieren einlässt, die eigentlich nur beobachtet werden sollten. Alles andere wäre ein zu starker Eingriff in den natürlichen Lauf der Dinge, den es zu erforschen gitl.

Jetzt, dieses Buch, in welchem die Autorin den Spagat wagt, zwischen Nature writing und Sachbuch, sowie Studie der eigenen Persönlichkeit, aufgrund derer man das Werk umbenennen müsste. Überwiegend geht es hier nämlich um sie selbst, statt um das erstbenannte Tier. Alle, die ein informatives und unterhaltsames Sachbuch über Füchse lesen möchten, ist eher andere Lektüre zu empfehlen.

Man erfährt viel darüber, warum Raven die Abgeschiedenheit ihres Lebens liebt, nicht unbedingt mit anderen Menschen kompatibel ist und wie diese länger anhaltenden, immer wiederkehrenden Begegnungen mit dem Fuchs zustande kamen, aber nicht so sehr über die Biologie der Tiere selbst. Faktenorientierung ist etwas anderes.

Wenn der Schlag in Richtung Sachbuch nicht gelingt, wie verhält es sich hier mit der Einordnung zum sog. Nature Writing? Das funktioniert eher. Der Autorin gelingen durchaus liebevolle Beschreibungen, sehr romantisiert, von der sie umgebenden Tier- und Pflanzenwelt, was sich meines Erachtens aber gerade für eine Wissenschaftlerin einfach verbietet.

Da ist es auch kaum hilfreich, dass sie hin und wieder doch noch ein paar interessante Fakten einstreut, als würde sie sich dann doch im einen oder anderen Moment ihres Berufes bewusst werden.

Sy Montgomery hat mit ihrem Werk über Kraken gezeigt, dass es auch in diesem Bereich gelingen kann, bevor man in allzu kitischige Szenarien hinein rutscht, die Kurve zu bekommen. Hier funktioniert das nicht und das hat, wie beschrieben, nichts mit einem Schreibstil zu tun, der zwischen Gefühlsduseligkeit und unglaublichen Längen schwankt. Wer sich eher an Fakten orientiert und auch auf Wissenzuwachs hofft, ist damit an der falschen Stelle. Von einer Wissenschaftlerin erwarte ich definitiv eine andere Art und Weise, sich Tieren zu nähern.

Diese Vermenschlichung ist fehl am Platz.

Das war mein Fehler und so habe ich nun das Buch auf Seite 150 abbrechen müssen.
Vielleicht gelingt es ja euch, einen besseren Zugang zu der Lektüre zu finden.

Autorin:

Catherine Raven widmet sich als Autorin und Wissenschaftlerin der Natur. Sie studierte Biologie und arbeitete als Rangerin in den Nationalparks Glacier, Mount Rainier und Voyagers, hilet Vorträge an Universitäten, anschließend leitete sie Expeditionen, z.B. durch den Yellowstone Nationalpark. In verschiedenen Magazinen und Zeitschriften veröffentlicht sie regelmäßig Beiträge und hat u. a. ein Buch über Forstwirtschaft veröffentlicht. Raven unterrichtet derzeit an der South University Savannah, in Georgia.

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Susanna Partsch: Wer klaute die Mona Lisa?

Inhalt:

Vom Diebstahl der Mona Lisa 1911 bis zum Juwelenraub im Grünen Gewölbe 2019 – dieses Buch steckt voller fesselnder und unglaublicher Geschichten. Susanne Partsch hat die spektakulärsten Kunstdiebstähle ausgewählt und erzählt von gewieften Mafia-Clans, als Polizisten verkleideten Tätern, findigen Kunstdetektiven, zerschnittenen Gemälden, besessenen Kunstliebhabern und Lösegeldforderungen in Millionenhöhe – Fälle wie aus einem Kriminalroman, die aber das Leben schrieb. (Klappentext)

Rezension:

Zum ersten Mal im Louvre-Museum in Paris zieht es die meisten Besuchenden gleich zu den Publikumsmagneten, allen voran der Mona Lisa, gemalt von Leonardo da Vinci. Heute ist dieses Gemälde geschützt durch eine davor montierte Glasscheibe und modernster Sicherheitstechnik. Besucher werden daran vorbei geschleust, dürfen nicht stehen bleiben. Das war nicht immer so. Am 21. August 1911 hing das Bild schon einmal in diesem Museum und verschwand über Nacht. Erst am nächsten Tag wurde der Diebstahl bemerkt.

Die Ereignisse um die Mona Lisa, machten sie erst zu den weltberühmten Kunstwerk, welches wir heute in ihr sehen, doch gab es auch danach und gibt es immer noch weitere Kunstdiebstähle, die die Welt bewegen. Das FBI fahndet mit einer Liste der wertvollsten verschwundenen Kunstgegenstände und auch Italien hat eine eigene Einheit bei der Polizei, die sich rein mit diesem Metier befasst, verschwinden dort, etwa aus Kirchen verhältnismäßig viele Kunstgegenstände und bleiben es, teilweise, für immer. Die Kunsthistorikerin Susanna Partsch hat sich aufgemacht, die spektakulärsten Fälle darzustellen und ihre Geschichten zu erzählen.

In anderen Werken wird Raub- und Beutekunst thematisiert. Hier konzentriert sich die Autorin auf Kunstdiebstähle in Europa, wo teilweise ganze Altäre aus Kirchen verschwinden, und Amerika. Alleine dieses Feld gibt inzwischen so viel Material her, dass man kaum alle Geschichten erzählen kann. Stattdessen wird hier eine Auswahl dargestellt und anhand kurzer Kapitel dargestellt, wie und warum so manches Kunstwerk verschwand oder welche Geschichte sich hinter dem Wiederauffinden verbarg. Schon diese auswahl zu treffen, dürfte schwer gefallen sein, mit ihrer Fachkenntnis füllt Partsch Lücken und hat damit eine sonst trockende Thematik spannend wie ein Krimi aufbereitet.

Sie erzählt die Geschichte der Werke von ihrer Entstehung bishin zum Verschwinden der Werke, beschreibt, was dies für die Museumskultur bedeutet, wo Häuser gleichsam zwischen Offenheit und Nahbarkeit, sowie Sicherheitsdenken abwägen müssen, um sich selbst vor Begehrlichkeiten zu schützen, auch müssen manchmal die Angestellten dieser Häuser etwas näher unter die Lupe genommen werden.

Eine Balance dazwischen zu finden ist ein nahezu unmögliches Unterfangen und so könnte dieses Buch auch in Zukunft fortlaufend mit neuen Fällen ergänzt werden. Einige der spektakulärsten findet man in diesem kleinen als Übersicht gehaltenen Werk.

Autorin:

Susanna Partsch wurde 1952 in bad Godesberg geboren und ist eine deutsche Kunsthistorikerin und Autorin. Nach der Schule studierte sie in den 1970er Jahren Kunstgeschichte, Ethnologier und Pädagoik in Heidelberg, wo sie 1980 promovierte. Anschließend arbeitete sie im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen am Rhein. Seit 1985 arbeitet sie alös Autorin für Kunstbücher, Monografien, Kataloge und Reisefüher (u. a.). 1998 wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Sie verfasste zahlreiche Artikel für das Allgemeine Künstlerlexikon.

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Johann Hinrich Claussen/Ulrich Lilie: Für sich sein

Inhalt:

Jeder scheint die Einsamkeit zu kennen, und doch ist sie wie ein unerforschter Kontinent. Johann Hinrich Claussen und Ulrich Lilie vermessen in ihrem kurzweiligen Atlas Zufluchtsorte, an denen man endlich „für sich“ ist, die Weiten der Loneliness, die man melancholisch durchwandert, das Reich der Solitude, in das sich Mönche, Wissenschaftler und Künstler zurückziehen, und die eisigen Regionen der Isolation, in denen man zu erfrieren droht. Sie erklären, was die Forschung über Einsamkeit sagt, und weisen Wege der Befreiung. Ein hilfreicher Führer für alle, die den Kontinent der Einsamkeit näher erkunden und sicher wieder verlassen wollen. (Klappentext)

Rezension:

Familien werden immer kleiner, die Anzahl alleinlebender Menschen steigt stetig. Bestattungen ohne Trauernde nehmen zu. Unter den Lebenden entführen Stress und Depressionen zuweilen in das Reich der Einsamkeit. Doch, was ist das überhaupt? Welche Zustände der Einsamkeit gibt es? Gibt es neben der ungewollten auch gewollte Einsamkeit? Wie kehrt man Einsamkeit um? Wann ist sie erwünscht, wann zu gefährlich, um sie zu ignorieren?

Die Autoren Johann Hinrich Claussen und Ulrich Lilie haben sich nicht nur zurückgezogen, um für uns Lesende das Reich der Einsamkeit zu erkunden.

Der Begriff der Einsamkeit ist zunächst und vor allem psychologisch interessant, doch kann dieser auf vielen weiteren Ebenen betrachtet werden. Folgerichtig erklären die Autoren anhand verschiedener Beispiele die Arten der Einsamkeit, die sie meinen, festgestellt zu haben. Ein spannender Ansatz ist das, der spannend erzählt, zum Nachdenken über sich und Andere führt, hier jedoch nicht funktioniert. Der Einstieg ist so anstrengend wie ermüdend zu lesen. Schon für die ersten Seiten muss man volle Konzentrationj und, am besten, drei Tassen Kaffee aufbieten. Wer da ein ganzes Buch durchhält, verdient Hochachtung.

Fachlich schwebt dieses Sachbuch irgendwo zwischen Populärwissenschaft und Ratgeber. Positiv ist zu erwähnen, dass Angebote wie Seelsorgetelefonnummern hinten an erwähnt werden, auch einige historische Referenzen lesen sich interessant, doch so umfassend das vorliegende Werk ist, es funktioniert nur bedingt. Zu oft schweifen beim Lesen die Gedanken ab, zu viele Stellen muss man immer und immer wieder nachlesen, um ja nicht den Faden zu verlieren.

Ein sehr trockener Schreibstil negiert die an sich kurzen Kapitel. zu viel wiederholt sich einfach. Im Gedächtnis bleibt dann kaum etwas haften. Grundsätzlich ist das für ein Sachbuch eher schlecht, für einen Ratgeber sowie so. Gut gemeint ist eben nicht immer wirklich gut. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Autoren:

Johann Hinrich Claussen wurde 1964 in Hamburg geboren und ist ein deutscher Theologe und Autor. Zunächst studierte er Theologie in Tübingen, Hamburg und London, bevor er promovierte. Im selben Jahr wurde zum Pastor der Nordelbischen Kirche ordiniert und tratt eine erste Pfarrstelle an. Er habilitierte 2005 an der Universität Hamburg und lehrte später als Privatdozent. Von 2007 bis 2016 war er Hauptpastor in St. Nikolai in Hamburg, 2016 schließlich im Rat der EKD Leiter des Kulturbüros in Berlin. Claussen schreibt regelmäßig für deutsche Zeitungen und Zeitschriften sowie für verschiedene Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Er gehört zum Herausgeberkreis der Predigtstudien.

Ulrich Lilie wurde 1957 in Rhumspringe geboren und ist ein deutscher Theologe. Seit 2014 ist er Präsident der Diakonie in Deutschland und 2020 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung.

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Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur

Inhalt:

Es ging rasend schnell. Der Februar 1933 war der Monat, in dem sich auch fir Schriftsteller in Deutschland alles entschied. Uwe Wittstock erzählt die Chronik eines angekündigten und doch nicht für möglich gehaltenen Todes. Von Tag zu Tag verfolgt er, wie das glanzvolle literarische Leben der Weimarer Zeit in wenigen Wochen einem langen Winter wich und sich das Netz für Thomas Mann und Bertolt Brecht, für Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin und viele andere immer fester zuzog. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte der letzen Tage, sie beginnt mit einem Tanz auf den Vulkan. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer, der mit den Drama „der Hauptmann von Köpenick“ ein paar Jahre zuvor seinen größten Erfolg feierte, begibt sich zum Presseball, einer Berliner Institution. Alles, was Rang und Namen hat, gibt sich dort die Ehre. Die künstlerische Elite versammelt sich. Doch, die Atmosphäre ist getrübt. Nicht wenige Anwesende ahnen, dass sich die Zeiten gerade ändern. Welche Folgen dies langfristig haben wird, ist kaum jemanden klar. Am nächsten Tag, den 30. Januar 1933, wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.

Es ist die Geschichte einer flirrenden Zeit. Einen Monat, in etwa so lang, wie ein ausgedehnter Sommerurlaub, brauchte es, um die Demokratie auszuhölen und durch ein System der Willkür und Tyrannei zu ersetzen, doch zunächst war nicht sicher, ob nicht die Nazis genau so schnell verschwinden würden, wie andere Regierungen zuvor. Der Krieg noch nicht in sicht, begann die Konsolidierung der Macht jedoch bereits vom ersten Tag an. Schriftstellende, Journalisten und Künstler mussten sich entscheiden. Bleiben, wie der Autor Erich Kästner etwa oder die Flucht ins Exil, wie sie Thomas und Heinrich Mann ergriffen.

Der Autor und Literaturredakteur Uwe Wittstock erzählt von einem beispiellosen kulturellen Exodus, nachdem nichts mehr so sein sollte, wie zuvor.

Anhand ausgewählter Biografien beschreibt der Autor Tage der Entscheidung. Rettet man mit der Flucht ins Exil sein eigenes Leben oder wartet man nicht lieber ab, bis der Spuk vorbei ist? Muss man überhaupt fliehen? Ist man von den Ausfällen der Machthaber selbst betroffen oder kann sich gar mit der neuen Situation arrangieren?

Was nimmt man mit, was versteckt man? Wo taucht man unter? Wie und wovon lebt man dann dort? Uwe Wittstock erzählt aus der Sicht der Manns, Döblins oder etwa Ricarda Huch und Gottfried Benn, welchen Fragen und Entscheidungen die ausgesetzt waren, die sich schon längst mit ihrem künstlerischen Schaffen positioniert hatten. Er berichtet von der Vernetzung einer Schicht, die die Nazis innerhalb weniger Tage zerschlugen.

Mit der Form eines literarischen Sachbuchs macht Uwe Wittstock eine Zeit lebendig, deren Folgen die Protagonisten damals nur ahnen konnten, die später einen ganzen Kontinent und noch mehr ins Unglück stürzte. Fakten verpackt er in erzählerischer Form. An manchen Stellen muss man durchatmen und sich vergewissen, was man mit „Februar 33 – Der Winter der Literatur“ eigentlich vor sich hat. Nicht doch einen Roman?

Aus Tagebuchaufzeichnungen, Notizen und Briefen, teilweise autobiografischen Schriften, hat Wittstock ein lebendiges Bild ausgewählter Männer und Frauen gewoben, die alle auf unterschiedliche Art und Weise sich entscheiden mussten, manchmal von einer Minute auf die andere. Dabei handelt es sich um Ausschnitte.

Ein Ding der Unmöglichkeit ist es, die Wege der gesamten künstlerischen Elite jener Zeit darzustellen, doch die Auswahl der Lebensläufe zeigt ein breites Spektrum auf. Der Autor ruft so jene Zeit ins Gedächtnis, in der noch niemand sicher sagen konnte, ob dieser oder jene Weg der richtige sein sollte. Viele Akteure indes, konnten später nicht mehr an ihre Erfolge vor Februar 1933 anknüpfen. Anderen wurde die Kooperation mit den Nazis zum Verhängnis. Wenige nur konnten auch in der Nachkriegswelt künstlerisch Fuß fassen.

Wittstock erzählt chronologisch. Die Kapitel sind in Form von Tagesdaten untergliedert, was die Brisanz und die Schnelligkeit verdeutlicht, mit der sich alles änderte. In wechselnder Perspektive werden die Schwierigkeiten und Fragestellungen klar, denen sich die Akteure ausgesetzt sahen. Auch, was danach geschah, bleibt nicht unerwähnt. Zur Abrundung werden im Anschluss Kurzbiografien aufgeführt. Das Sachthema erzählerisch in dieser Form lebendig werden zu lassen, funktioniert hier sehr gut.

An manchen stellen wirkt das so, als würde man selbst etwa an einer Straßenkreuzung stehen und müsste sich entscheiden, ob man zur Wohnung geht, in der Gefahr, den eigenen Häschern in die Arme zu laufen, oder doch zum Bahnhof, um in den nächsten Zug zu steigen und Richtung Grenze zu fahren, so lange dies noch möglich ist. Manche Biografien sind bekannt, trotzdem schwitzt man beim Lesen teilweise Tropf und Wasser. Eine nüchterne Abhandlung ist etwas anderes.

Autor:

Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturrerdaktion angehörte, danach wirkte er als lektor beim S. Fischer Verlag.

Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertrender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

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Khue Pham: Wo auch immer ihr seid

Inhalt:

Sie ist dreißig jahre alt und heißt Kieu, so wie das Mädchen im berühmtesten Werk der vietnamesischen Literatur. Doch sie nennt sich lieber Kim, weil das einfacher ist für ihre Freunde in Berlin. 1968 waren ihre Eltern aus Vietnam nach Deutschland gekommen. Für das, was sie zurückgelassen haben, hat sich die Journalistin nie interessiert. Im Gegenteil: Oft hat sie sich eine Familie gewünscht, die nicht erst deutsch werden muss, sondern es einfach schon ist.

Bis zu jener Facebook-Nachricht. Sie stammt von ihrem Onkel, der seit seiner Flucht in Kalifornien lebt, Die ganze Familie soll sich zur Testamentseröffnung von Kieus Großmutter treffen. Es wird eine Reise voller Offenbahrungen – über ihre Famile und über sie selbst. (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Am besten ist es, man schreibt über das, was man kennt. Nur so wirkt die Geschichte bis ins letzte Detail glaubwürdig. Nur so entgeht man Schnitzern, die sich denen einschleichen, die sich mit der Materie nicht ausreichend beschäftigt haben oder jenen, welchen es nicht gelingt, bestimmte Emotionen auszulösen.

Mit dem vorliegenden Roman „Wo auch immer ihr seid“, von Khue Pham, gibt es nun ein Beispiel, das zeigt, wie wahr diese Regel sein kann. Der deutschen Journalistin gelingt es nämlich ganz ausgezeichnet, eine Familiengeschichte zu zeichnen, über die Zeiten und über verschiedene Perspektiven hinweg.

Es ist ein biografisch angehauchter Roman, der wohl für viele dieser Familienbiografien Pate stehen könnte. Im ältesten Sohn werden alle Hoffnungen gesetzt, ins Ausland geschickt, in die Fremde, um dann mitzuerleben, dass sich die Ereignisse zu Hause überschlagen, Familienzweige sich von einander entfernen und erst eine oder mehrere Generationen später nach dem Warum gefragt werden wird.

Die Hauptprotagonisten selbst ist, genau so wie die Autorin auch, Journalistin, die nach und nach die Geheimnisse dieser Geschichte entdeckt, und damit auch ein wenig ihren eigenen Hintergrund. Dies geschieht zunächst leise, trotz der gleich zu Beginn existierenden Sprünge zwischen den handelnden Charakteren und nicht zuletzt zwischen den Zeitebenen.

Khue Pham hat hier jedoch die richtigen Längen gewählt, so kommt man beim Lesen nicht durcheinander und kann der Erzählung folgen.

Es ist ein kompakt gehaltener Roman, der die ganzen Dramen einer Familie in wenigen Zeilen vereint. Generationsübergreifende Konflikte eben so, wie die Last von Ungesagtem, eben so menschlich kaum zu fassende Tragödien, aber auch das kleine Glück. Gleichzeitig zeigt die Autorin, wie sehr die Wahrnehmung von Außerhalb täuschen kann und Krieg nichts anderes verursacht als Leid in vielen Formen.
Über die Form des Endes der Erzählung kann man diskutieren. Ein härterer Bruch wäre etwas apssender oder ein noch überdeutlicheres offenes Ende. So wirkt dies zu gewollt. Die Protgaonistin fügt damit, gewollt ungewollt, ein neues Familiendrama ihrer eigenen Geschichte hinzu. In dieser Form wirkt das nicht stimmig.

Bis auf dieses kleinen Detail ist es aber unter den ruhigen Erzählungen ein durchaus lesenswerter Roman.

Autorin:

Khue Pham wurde 1982 in Berlin geboren und ist eine deutsche Journalistin und Autorin. Nach der Schule studierte sie in London Soziologie und arbeitete anschließend für mehrere Zeitungen und Zeitschriften, sowie als freie Journalistin, bevor sie 2009/2010 eine Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule absolvierte. Im Jahr 2010 begann sie als Politredakteurin bei der Zeitung „Die Zeit“. Für ihre Reportagen wurde sie bereits mehrfach für verschiedene Preise nomininiert. Gemeinsam mit Alice Bota und Özlem Topcu veröffentlichte sie das Buch „Wir neuen Deutschen“, im Jahr 20212. „Wo auch immer ihr seid“, ist ihr erster Roman.

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Hans Peter Schütz: Wolfgang Schäuble – Zwei Leben

Inhalt:

Wolfgang Schäuble prägt seit einem halben Jahrhundert die deutsche Politik: Bundestagsabgeordneter der CDU, später Innenminister, Finanzminister und jetzt Bundestagspräsident. Sein Intellekt, seine Disziplin und Loyalität sind auch beim politischen Gegner anerkannt. Hans Peter Schütz hat für seine umfassend aktualisierte und erweiterte Biografie mit Schäuble und dessen Familie gesprochen, Weggefährten und politische Gegner befragt. So schildert er nicht nur den Weg eines Ausnahmepolitikers, sonder auch die weniger bekannte Seite des Menschen schäuble. (Klappentext)

Rezension:

Als die Schüsse fielen, veränderte sich sein Leben von einem Moment auf den anderen komplett. Seit dem 12. Oktober 1990 ist der heute dienstälteste Politiker des deutschen Bundestags gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. Seit dem gibt es für Wolfgang Schäuble ein Leben vor dem Attentat und eines danach. Wer ist der Mann aus dem baden-württembergischen Offenburg, der hart gegen sich selbst, beinahe ohne Rücksicht auf seine Gesundheit, Politik gemacht und dessen Genauigkeit, Durchhaltevermögen und Detailversessenheit bei politischen Gegnern und Freunden berühmt, zu weilen auch berüchtigt ist?

Warum scheiterte Schäuble daran, Bundeskanzler oder -präsident zu werden, gleichwohl er für seine politische Arbeit geachtet und manchmal auch gefürchtet wurde. Der Journalist Hans Peter Schütz hat über Jahre den Politiker begleitet, Freunde, Weggefährten, Familie und Gegner gesprochen. Herausgekommen dabei ist 2012 ein vielschichtiges Porträt. Nun liegt seine Aktualisierung vor.

Politische Biografen begehen häufig einen kaum zu gelingenden Balanceakt. Bindet man die zu porträtierende Person sehr stark mit ein, besteht die Gefahr, den objektiven Blick zu verlieren und wenig Kritik zu zulassen. Hält man sich dagegen nur an externe Quellen entfernt man sich von dem Menschen, dessen Vielschichtigkeit dann gar nicht gut genug herausgearbeitet werden kann.

Der Versuch Hans Peter Schütz‘ gelingt zu großen Teilen, dies einmal vorab, da beide Seiten des vor allem politischen Leben Wolfgang Schäubles herausgearbeitet werden. Der Blick des Journalisten richtet sich dennoch an die Wegmarken des Ausnahmetalents, dessen Loyalität häufig missbraucht wurde, dennoch dieser einstweilen wie Sisyphos immerzu neue Herausforderungen in der Politik suchte. Oft genug fanden sie ihn.

Der Autor und Journalist schildert, wie das Attentat das politische Leben und Arbeiten YSchäuble veränderten, welche Rolle dieser einnahm in der Neuregelung der Hauptstadtfrage und wie zu den Architekten der Einheit von bundesdeutscher Seite aus nicht nur Kohl oder Genscher, sondern auch Schäuble gezählt werden müssen und worin heute seine politischen Leitlinien bestehen.

Kritik wird da geäußert, wo der Politiker seinen selbstgestellten Anforderungen nicht gerecht wurde oder Schäubles Ungeduld und Härte in die falsche Richtung wirkte. Dabei spannt Schütz einen großen Bogen von den politischen Anfängen in den 1960er Jahren bis heute, erzählt detail- und kenntnisreich von den kleinen und großen Anekdoten Schäubles, ohne wichtiges aus den Augen zu verlieren. Unterstützt wird dies durch die zahlreichen Interviews und Befragungen von Wegbegleitern und politischen Gegnern.

Natürlich orientiert sich die Biografie kapitelmäßig an einer Art Zeitstrahl, dennoch hat man nicht unbedingt das Gefühl ein starres Konstrukt sich zu gemüte zu führen. So ist dieser Text, der weder Schmähschrift noch Huldigung ist, leicht zugänglich. Es stellt sich die Frage, wie die Politik aussehe, wenn es mehr Politiker vom Format Schäubles geben würde? Diese Frage muss man nach dem Leben sich selbst beantworten.

Autor:

Hans Peter Schütz wurde 1939 in Donaueschingen geboren und war ein deutscher Politikjournalist und Autor. Zunächst studierte er Soziologie an der Freien Universität Berlin und begann ein Volontariat beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen, bevor er als Politikredakteur der Ulmer Südwest Presse arbeitete.

Für diese und die Stuttgarter Nachrichten war er 1974 bis 1988 Korrespondent in Bonn. 1988 wurde er Leiter des Bonner Büros des Nachrichtenmagazins Stern, ab 1992 stellvertretender Chefredaktuer bei der Südwest presse. 1996 übernahm er die Ressortleitung Politik beim Stern. seit 2007 arbeitete er als freier Autor. 2012 veröffentlichte er eine Biografie zu Wolfgang Schäuble, die 2021 nochmals aktualisiert wurde. Schütz starb am 17. Mai 2021 bei Berlin.

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Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Inhalt:
Der elfjährige Martin besitzt nichts bis auf das Hemd auf dem Leib und seinen schwarzen Hahn, Behüter und Freund zugleich. Die Dorfbewohner meiden den Jungen, der zu ungewöhnlich ist. Viel zu klug und liebenswürdig. Sie behandeln ihn lieber schlecht, als seine Begabungen anzuerkennen.

Als Martin die Chance ergreift und mit dem Maler zieht, führt dieser ihn in eine schauerliche Welt, in der er dank seines Mitgefühls und Verstandes widerstehen kann und zum Retter wird für jene, die noch unschuldiger sind als er. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung gleicht im besten Falle einem Gemälde, bei dessen Betrachtung man sich verlieren kann, immer wieder neue Details entdecken wird und daraus etwas für sich mitnimmt. Das kann Literatur schaffen. Besonders beeindruckend ist es, wenn dies gleich einem Debüt gelingt.

Mühsam ist das, immer wieder den gleichen Idioten zu begegnen. Als ob die ganze Welt voll davon wäre, ganz gleich, wohin sich Martin auch wendet.“

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Stefanie vor Schulte entführt uns in eine düstere Welt des Mittelalters, in ein Bild, welches eine Art Zwischenwelt darstellt und dabei stark an eine Mischung aus dem Bild der Apokalyptischen Reiter des Malers Albrecht Dürer erinnert, diverser Pest-Geschichten und nicht zuletzt dem kleinen Prinzen.

Alles, denkt Martin, ist älter als ich und schon seit jeher da. Er fragt sich, ob es wohl einmal umgekehrt sein wird.“

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Letzterer ist hier in Gestalt eines kleinen Jungen zu finden, der als Hauptprotagonist, Seele und Charakter in der reinsten Form besitzt, die es gibt und dabei schon mit seiner bloßen Anwesenheit in seiner Umgebung auf Ablehnung stößt. Dieser Figur schaut man fasziniert zu, kann sich ihr nicht entziehen und begleitet sie durch die Geschichte, ahnt das Unheil, vor dass man sie nicht beschützen wird können.

Es hat etwas ganz und gar Verschobenes, dass der Junge, der nichts hat, aber auch nichts müsste, den größten Anstand besitzt, während die Dörfler sich Regeln und Gebote je nach Gemütslage erstellen und so zufrieden mit sich und ihrem falschen Leben sind, dass es obszön ist.“

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Alles andere wird zur Nebensächlichkeit. Beim Lesen schleicht sich das Gefühl der Beobachtung von etwas Intimen ein, dem man eigentlich nicht beiwohnen dürfte und trotzdem dem Kind all zu viel Schlechtes passiert, die positiven Erfahrungen nur Brotkrumen gleichen, hofft man für Martin bis zum Ende. Eingebettet ist die Erzählung in wunderbarer Schreibkunst, die für sich stehen kann, die Deutung mehrerer Ebenen zulässt und auf die Lesenden einwirkt. Mit einzelnen Sätzen könnte man Postkarten kunstvoll bedrucken, aber auch so in sie versinken.

In mir ist alles alt und schon gelebt, vergangen längst und ausgeschöpft.“

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Die Hauptfigur ist das Ideal in seiner reinsten Form, welche durch ihr Alter geschützt ist und doch so zerbrechlich wie eine Glashauspflanze wirkt. Alle anderen Protagonisten stellen das Verkommene, das Verlogene der Welt dar und bilden einen klaren Gegenpol. Von Beginn an ist klar, wo hier die Sympathien liegen sollen und das ändert sich auch im Laufe der Handlung nicht.

Wohlfühl-Literatur ist etwas anderes, doch wer Spaß am Spiel mit unserer Sprache hat, an der Interpretation von Gleichnissen und literarische Vorbilder einmal neu gedeutet sehen möchte, der wird mit diesem Werk etwas anfangen können. Alle anderen finden einen düsteren im Mittelalter spielenden Roman vor, mit Horrorelementen. Vielleicht ist das die Kunst? Auch ohne das Wissen um die zahlreichen Ebenen hat man eine Geschichte vorliegen, die im Gedächtnis bleiben wird.

Autorin:

Stefanie vor Schulte, 1974 in Hannover geboren, ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Marburg. „Junge mit schwarzem Hahn“, ist ihr erster Roman.

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Alex Schulman: Die Überlebenden

Inhalt:

Vor zwei Jahrzehnten ging hier ein Riss durch die Welt. Jetzt kehren die Brüder Benjamin, Pierre und Nils zum ort ihrer Kindheit – ein Holzhaus am See – zurück, um die Asche ihrer mutter zu verstreuen. Eine Reise durch die raue, unberührte Natur wie auch durch die Zeit. Was ist damals wirklich passiert?

Über die verheerende Liebe einer Mutter und über drei Brüder, die einander das Leben retten: Alex Schulmans Roman „Die Überlebenden“ dringt zu unseren Hoffnungen und Ängsten vor, zu unserem innigsten Wunsch nach Vergebung. Zu dem, was uns zu Menschen macht. (Klappentext)

Buchtrailer, dtv, Alex Schulman „Die Überlebenden“.

Rezension:

Flirrend rinnen die Sonnenstrahlen durch die Finger. Am Platz der Kindheit scheint die Zeit all die Jahre still gestanden zu haben. Die Plastikstühle stehen noch am gleichen Platz. Bäume, Sträucher, die kleine Hütte und das Bootshaus haben sich kaum verändert.

Lange, nachdem die Brüder ihre eigenen Wege eingeschlagen haben, finden sie dort wieder zusammen, wo sie als Jungen ihre Sommer verbracht haben. Ironischerweise ist es der Tod der Mutter, die die Geschwister miteinander konfrontiert. Lange davor hatte es den Bruch gegeben, der Nils, Benjamin und Pierre entzweite und an dem die Familie zerbrach. Risse hatten sich schon eher gezeigt. Der Erwachsene, Benjamin, stellt sich die Frage: Was ist passiert?

Er mustert seine Brüder, wahrscheinlich liebt er sie.

Alex Schulmann: Die Überlebenden

Still und leise beginnt der Erzähler in seine Kindheit einzutauchen. Er, der schon immer beobachtende, sieht seine Familie hier vor sich, an dem Ferienhaus am See, an der die heile Welt immer schon zum Greifen nah war, doch die umgebenden Eltern immer abwesend waren. Liebevolle Momente blitzen auf, doch entfliehen sie Benjamins Erinnerungen und werden von all den schlechten überdeckt.

Alex Schulman legt mit „Die Überlebenden“ ein erschütterndes Debüt vor. Die Hauptprtagonisten sind seinen Geschwistern und ihm nach empfunden, einzelne Ereignisse tatsächlich wie beschrieben passiert. Unwillkürlich fragt man sich beim Lesen, wo Wahrheit und Fiktion zu trennen sind, hofft, dass es mehr Momente des Glücks als beschrieben gegeben haben mag, um im nächsten Abschnitt förmlich zu spüren, wie den hilflosen Jungen die Luft im übertragenen Sinne abgedrückt wird.

Alle ziehen sie an ihm vorbei, all die Jungen, die er gewesen ist.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Nach außen hin wahrt die Familie, deren Mitglieder so wunderbar ausgestaltet sind, den Schein, zusammen und doch für die jeweils anderen abwesend. Nicht ist schwarz, nichts ist weiß. Grautöne beherrschen im übertragenen Sinne das Bild, die Handlung. Wut und Bestürzung auf die jeweils handelnden Personen wechseln sich Kapitel für Kapitel ab. Mit Hilfe der Sprache ist zusätzlich ein Sog entstanden, den man sich kaum entziehen kann.

Er und seine Brüder waren in einem Oberklassehaushalt aufgewachsen, und doch unterhalb des Existenzminimums.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Die Großtaten moderner skandinavischer Literatur sind hier vereint. Zeitsprünge und das wechselseitige Zuspielen der Bälle durch die Protagonisten geben hier eine Dynamik,
die wirkt. An manchen Stellen liest man beinahe einen Kriminal-, dann wieder einen Familienroman. Der erzähler selbst gibt die Geschehnisse wieder. Er wertet nicht. Er fragt nach und kommt auf keine Antworten. Wer hat die schon?

„Eines weiß ich über Wälder“, sagte Papa. „Und zwar, dass jeder seinen eigenen Wald in sich trägt, den er in- und auswendig kennt und der ihm Geborgenheit gibt. Und einen eigenen Wald zu haben, ist das Schönste, was es gibt. Wenn du oft genug durch diesen Wald läufst, kennst du bald jeden Stein, jeden schwierigen Weg, jede umgeknickte Birke darin. Und dann ist es dein Wald, dann gehört er dir.“ Benjamin blickte in das lichte Dunkel. Es fühlte sich nicht an, als wäre es seines.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Es ist eine Geschichte über Vertrauen und über Fehler, über Brüche und Heilung, über Entscheidungen und schließlich über Leben und Tod, was wir daraus machen und für uns mitnehmen, und der Erkenntnis, das manche Risse zu tief sind, um sie zu kitten, es jedoch nie zu spät ist, es wenigstens zu versuchen.

Autor:

Alex Schulamn wurde 1976 in Hemmesdygne, Schweden, geboren und ist ein skandinavischer Schriftsteller, Journalist und Blogger. Er schreibt für diverse TV-Shows und startete im Jahr 2006 einen Blog, zudem für diverse Zeitungen und Magazine Beiträge, zuletzt moderierte er eine TV-sendung und startete 2012 einen eigenen Podcast.

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Andreas Moster: Kleine Paläste

Inhalt:

Mehr als dreißig Jahre haben sich die früheren Nachbarskinder Hanno Holtz und Susanne Dreyer nicht gesehen. Als jugendlicher verließ Hanno die heimatliche Kleinstadt urplötzlich, nun ist er zurückgekehrt, um sich nach dem Tod der Mutter um den Vater zu kümmern. Unsicher streift er durch eine Welt, die im näher und fremder nicht sein könnte. Susanne sieht ihm dabei zu.

Seit Jahrzehnten hat sie das Haus der Familie Holtz nicht aus den Augen gelassen. Als sie Hanno ihre hilfe anbietet, treffen Erinnerungen an ein Fest im Sommer 1986 aufeinander. Niemand blieb damals unversehrt – und niemand kann nun verhindern, dass immer mehr Licht durch die Risse der kleinen Paläste dringt. (Klappentext)

Rezension:

Das Haus herausgeputzt, den Sohn vor versammelter Nachbarschaft dazu angetrieben, sein Instrumentenspiel vorzuführen. Schiefe Töne, schiefe Blicke. Des Nachbarsmädchens und der Nachbarn, jene Gemeinschaft, die sich allesamt näher sind als sie glauben und doch wie Geier einander umkreisen. Nur keine Schwäche zeigen. Nur die Fassade wahren. Keinen Blick dahinter zulassen.

Der Übersetzer und Schriftsteller Andreas Moster hat sie geschrieben, diese Erzählung, die nach und nach unter die Haut geht, niemanden unberührt lässt. Es ist ein leiser Roman, zumindest zu Beginn beinahe unscheinbar. Langsam ist das Erzähltempo, doch schon die ersten Kapitel fordern die Lesenden heraus.

Perspektiven wechseln ebenso abrupt, wie Zeitebenen, ohne dass dies besonders gekennzeichnet wäre. Nur in der Draufsicht bemerkt man, wer wen beobachtet. Erinnerungen werden aus der Sicht der Protagonisten, alles kreist um die beiden Hauptfiguren, die nach und nach das Puzzle der Vergangenheit freisetzen, klarer.

Dieser Gesellschaftsroman zeigt die typische Dynamik einer Kleinstadt auf, in der alle einander zu kennen glauben und doch, einmal aufgedeckt, nichts mehr ist, wie es mal war. Die Fallhöhe der Protagonisten, in die der Autor mit immer schnelleren wechseln, die jedoch allesamt nachvollziehbar bleiben, ist unglaublich hoch.

Die Lesenden beobachten, was über Jahrzehnte zwischen den beiden Hauptfiguren unausgesprochen bleibt. Als würde man direkt in deren Umgebung sein und einem Konflikt beiwohnen, der nur sie etwas angeht. Hölzern, fast linkisch, scheu begegnen sie sich zunächst und spielen sich ein. Ein Team wider Willen und doch willens. Mit inneren ungelöst aufgestauten Konflikten.

Sprachlich ist das so unscheinbar ausgearbeitet, dass einzelne Sätze einem mit einer Wucht überfallen, die man nicht erwartet, die einem nachdenklich werden lassen. Was wäre, wenn Unaussprechliches in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschehen würde?

Was würde passieren? Wie würden Verhältnisse sich neu ordnen? Welche Bindungen wären nicht mehr zu kitten? Was wäre für immer zerstört? Wie hätte man eingreifen, bestimmte Dinge verhindern können? Große Fragen, die Protagonisten beginnen zu Beginn der Geschichte die Verarbeitung.

Jeder Handgriff am pflegebedürftigen Vater Hannos, jeder Handgriff am renovierungsbedürftigen Elternhaus steht symbolisch dafür. Der leise Schrei, der hätte laut sein sollen, aber nie die Chance dazu hatte, so zu werden. Andreas Moster ist das Kunststück gelungen, dies auf Papier zu bringen.

Autor:

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren und ist ein deutscher Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete danach als freier Übersetzer. 2017 erschien sein erster Roman „Wir leben hier, seit wir geboren sind“. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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