Vergangenheit

Stephan Schmidt: Die Spiele

Inhalt:
Shanghai 2021. Der Mord an dem IOC-Funktionär Charles Murandi überschattet den Kongress zur Vergabe der Olympischen Sommerspiele. Schnell ist der mutmaßliche Täter gefasst. Die Aufnahmen einer Sicherheitskamera zeigen den Journalisten Thomas Gärtner beim Verlassen des Tatorts, unter dem Arm unbekannte Dokumente. Allerdings: Er will sich an nichts erinnern können. Ein brisanter Fall für die junge Konsulatsbeamtin Lena Hechfellner, denn sie weiß mehr, als sie preisgeben darf – und gerät mit einem Mal selbst ins Visier der chinesischen Behörden. (Klappentext)

Rezension:

Zwischen den Zeiten springt der Kriminalroman „Die Spiele“ des Schriftstellers Stephan Schmidt und bündelt seine Handlungsstränge in der temporeichen chinesischen Metropole Shanghai, in der selbst nichts ist, wie es scheint, aber dennoch brandgefährlich. Dreh- und Angelpunkt ist ein Mord, der am Rande der Vergabe der künftigen Sommerspiele zum Politikum werden droht. Das IOC-Mitglied Charles Murandi tot in seinem Hotelzimmer. Der Letzte, der ihn lebend gesehen hat, ist mutmaßlich ein Journalist, der das Opfer und dessen Geschichte schon Jahre lang folgt. Doch erinnern kann sich Thomas Gärtner angeblich nicht.

So entspannt sich die Handlung des Textes zunächst in seine Einzelteile, setzt dabei viel früher an, so dass der Autor ein Verwirrspiel entfesselt, welches eine gewisse Sogwirkung hat. Die Zeitebenen muss man so jedoch schon zu beginn konzentriert auseinanderhalten, wenngleich die einzelnen Abschnitte kompakt zueinander erzählt werden.

Dabei wechseln spannende Momente mit ruhigen, doch innerhalb der Jahrzehnte umspannenden Handlung kommt der Autor nicht umhin, mehr als unnötig Momente voller Klischees einzubauen und lässt zwischen den Zeilen durchscheinen, was im Verlauf die einzelnen Figuren in verschiedener Form einander vorwerfen, das Reich der Mitte, sein Denken, sein Handeln nicht zu verstehen.

Dieses Szenario ist es, welches das Motiv der einzelnen Protagonisten darstellt, eben den Moment der geglaubten Erkenntnis für sich zu nutzen, um dann vor Realitäten zu stehen, die sie nicht greifen können. Das trifft mehr oder weniger alle Figuren, die der Autor so kantenreich ausgearbeitet hat, wie es nur aufgrund verschiedener Handlungsstränge und Zeitebenen möglich war. Eine gewisse Dynamik wird zusätzlich eingeführt, da immer auch die Erzählperspektiven wechseln, wobei keine der Figuren durchgehend Sympathie auf sich zieht.

Stephan Schmidt erzählt eine Welt innerhalb einer Welt verschiedener Realitäten, die seine Protagonisten leben. Man kann sich durchaus dieses Spannungsverhältnis vorstellen. Hier merkt man ebenso, dass der Autor von eigener Erfahrung zehrt. Auch in China hat er schon gelebt. Manchmal fühlt es sich so an, als würde man neben den Figuren stehen, die jede auf ihrer Art und Weise befangen wirken. Im nächsten Moment dann jedoch wird dies schriftstellerisch zerstört, mit einzelnen Abschnitten, die einem förmlich die Augen rollen lassen. Sex sells, oder aber es wurde noch ein wenig Material gebraucht, um Seiten zu füllen. Wäre nicht nötig gewesen. Handels- und Denkweise einiger Figuren ist schmierig genug.

Zu Beginn sind auch die Handlungsstränge, die wie Puzzleteile zusammengeführt werden, ein großer Pluspunkt zu Beginn der Erzählung, gegen Ende des Romans merkt man jedoch dass hier der Autor zu viel wollte. Es sei denn, Schmidt wollte sich die Option auf eine Fortsetzung offen halten, nur dann wirkt es stimmig, ansonsten vor allem gegen Ende unförmig, geradezu holprig. Dieser Abzug in der B-Note wird zwar wettgemacht durch eine einzige überraschende Wendung, doch wird man lesend etwas unbefriedigt zurückgelassen. Hier hätte Konzentration gut getan.

Korruption, Lobbyismus, Großmacht- und Hegemonialmachtstreben im Spannungsfeld eines Überwachungsstaates, dem Kontrolle über alles geht. Elemente eines Politthrillers sind hier noch am spannendsten konsequent durchgeführt. Man fühlt das Gehetztsein, die Verunsicherung, den Angstschweiß, das Durchdenken von Szenarien so sehr, andere Elemente der Erzählung kommen da zu kurz, so dass es sie nicht unbedingt gebraucht hätte, trotz plastischer Beschreibungen, die das alles sehr gut vorstellbar macht.

Zu viele Punkte, die weder Fisch noch Fleisch sind ergeben einen durchwachsenen Roman mit guten Elementen in schlechter Ausführung. Wer sich dennoch für ein paar Aspekte des Textes von Stephan Schmidt begeistern kann, für den ist die Erzählung durchaus mit Gewinn zu lesen. Alle anderen sollten sich das überlegen.

Autor:
Stephan Schmidt wurde 1972 in Hessen geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Nach seiner Promotion in Philosophie folgten Aufenthalte als Mitarbeiter verschiedener Forschungseinrichtungen in China, Taiwan und Japan, Länder die er bereits als Student kennenlernte. Er veröffentlichte bereits mehrere Romane, und lebt derzeit in Taipeh.

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Laura Baldini: Aspergers Schüler

Inhalt:
Wien, 1932: Erich ist noch ein Junge, als er zu Dr. Hans Asperger an die Uniklinik Wien kommt. Er sieht die Welt nicht wie andere Kinder. Er kann hochkomplexe mathematische Probleme lösen, aber es fällt ihm schwer, seine Gefühle zu zeigen. Nach schrecklichen Jahren in einer Pflegefamilie erlebt er hier zum ersten Mal Zuneigung und Verständnis.

Die Krankenschwester Viktorine schließt Aspergers Schüler ganz besonders ins Herz. Für sie bricht eine Welt zusammen, als die bahnbrechende Arbeit ihrer Abteilung vom NS-Regime vereinnahmt wird. Während Asperger sich mit den neuen Machthabern arrangiert, ist Viktorine entsetzt, als sie erfährt, was an der Klinik am Spiegelgrund vor sich geht. Für Erich wird es lebensgefährlich. (Klappentext)

Rezension:

Wenn gut ausgearbeitet und die wirklichen Begebenheiten nicht allzu sehr zu Gunsten der Fiktionalisierung zurechtgebogen, darf sich auch ein historischer Roman zu den Büchern gegen das Vergessen zählen. Ist dies Laura Baldini mit ihrer hier vorliegenden Erzählung „Aspergers Schüler“ gelungen oder gleitet ihr Text allzu sehr ins Kitschige ab, wie dies auf einige Texte dieses Genres zutrifft?

Auf zwei Zeitebenen erzählt der historische Gesellschaftsroman vom dunklen Kapitel Euthanasie, der österreichischen Geschichte unter deutscher Vereinnahmung im Zweiten Weltkrieg und vom Kinderarzt und Heilpädagogen Hans Asperger, der als Erstbeschreiber des später nach ihm benannten Asperger-Syndroms, einer Form des Autismus, zumindest in Europa gilt.

In vergleichsweise einfacher Sprache, überraschend leichtgängig, fast zu sehr möchte man meinen, taucht man in gut geordneten Kapitel in die jeweiligen Handlungsstränge ein, springt zwischen die Jahre des Zweiten Weltkriegs und dem Wien 1986, in dem sich noch allzu viele nicht der Vergangenheit ihres Landes stellen wollen.

Hauptprotagonistin des einen Handlungsstranges ist Viktorine, die als Krankenschwester Zeitenwende und Vereinnahmung der Klinik, das Verdrängen von Kollegen und Kolleginnen erleben muss, sowie nach und nach den Schrecken der neuen Ideologie einziehen sieht, deren Auswirkungen sie zunächst nicht sehen möchte und die Augen davor verschließt, was um sie herum passiert. Erst als es beinahe zu spät ist, begreift sie das Grauen. Ansonsten macht diese Protagonistin kaum eine nennenswerte Entwicklung durch.

Ebenso naiv gibt sich ihr Gegenstück im zweiten Handlungsstrang, der Jahrzehnte später spielt, so dass man beide schütteln möchte, was mit dem Wissen und zeitlichen Abstand von heute ziemlich leicht, damals vermutlich um so schwerer gewesen wäre. Andere Figuren bleiben in diesem sonst gar nicht ausufernden Roman erstaunlich blass, wenn sich auch die Autorin an der Beschreibung des Bösen sehr akkurat an die historischen Fakten gehalten hat.

Hier merkt man die Recherchearbeit und Sachkenntnis Baldinis. Die Autorin arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin mit Kindern, die das Asperger-Syndrom haben. Empfehlenswert ist hier das Nachwort zur Einordnung.

Am besten funktioniert der Text, wenn sie mit ihren Beschreibungen nah dran an historisch verbürgten Personen ist, weniger gut, leider, bei ihren eigenen fiktionalen Figuren, die erstaunlich wenige Ecken und Kanten verzeichnen, wobei ob der geschichtlichen Gegebenheiten natürlich offen gegensätzliche Charaktere gut ausgearbeitet sind.

Den Sadismus und die tödliche Kälte eines Jekelius so zu transportieren, muss man erst einmal schaffen. Auch Ortsbeschreibungen gelingen Baldini in ihrem Roman gut, das historische Wien lebt, man kann sich das alles mit Schaudern vorstellen. Das passt mal mehr, mal weniger in beiden Handlungssträngen, doch wechseln diese in so dichter Abfolge, das das Erzähltempo gleichmäßig hoch bleibt. Der stete Perspektivwechsel zwischen den Figuren tut sein übriges dazu, ebenso ergänzende Einblicke in damalige „Untersuchungsprotokolle“, die zumindest entfernt den wirklichen nachempfunden sein dürften. Der Massenmord war auch in Österreich bürokratisiert bis in die kleinste Ebene hinein.

Verständlich und in sich schlüssig greifen beide Ebenen ineinander. Wirkliche Überraschungen bleiben jedoch aus, zumal, wenn man sich ansatzweise mit der tatsächlichen Historie auskennt. In Zusammenhang mit dem Schreibstil wirkt dies beinahe zu leichtgängig, wobei das Grauen, die Autorin ist da feinfühlig zurückhaltend, eher im Kopf des Lesenden stattfindet als auf dem Papier. Dafür reihen sich Andeutungen aneinander, die sich gewaschen haben.

Man liest dies in einer gewissen Sogwirkung gefangen, um am Ende auf eine sich die gesamten Seiten anbahnende Liebesgeschichte zu stoßen, die es nicht gebraucht hätte. In diesem Text fügt sie sich jedenfalls nicht wirklich gut ein, wirkt unpassend. Laura Baldini hätte diese seichte Komponente nicht gebraucht. Vielleicht ist das nötig, um ein gewisses Lesepublikum (Klischee!) zu bedienen, alle anderen rollen die Augen und werden zurückgelassen. Das hätte wirklich nicht sein müssen.

Autorin:
Laura Baldini ist das Pseudonym der österreichischen Autorin Beate Maly, die 1970 in Wien geboren wurde. Zunächst absolvierte sie eine Ausbildung zur Kindergartenpädagogin und veröffentlichte Kinder- und pädagogische Fachbücher. 2007 erhielt sie das Wiener Autorenstipendium und beendete neben ihren Roman eine Zusatzbildung zur mobilen Frühförderin. Ihr erster Roman erschien dann 2008, dem weitere folgten. Sie wurde für den Leo-Perutz-Preis 2019 nominiert und erhielt 2021 den Silbernen Homer, weitere Nominierungen und Auszeichnungen folgten.

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C. Bernd Sucher: Unsichere Heimat

Inhalt:

Ungefähr 95000 Menschen in Deutschland gehören heute einer jüdischen Gemeinde an. Bei einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen ist das eine verschwindend geringe Zahl. Und doch steht diese Gruppe immer wieder im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Wegen der Shoah, antisemitischer Ausschreitungen, der israelischen Politik. In diesem Buch untersucht C. Bernd Sucher, wie es um die deutschen Jüdinnen und Juden steht. Dafür beleuchtet er sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart und sucht in zahlreichen Gesprächen eine Antwort auf die Frage: haben Juden in diesem Staat eine Zukunft – oder nicht? (Klappentext)

Rezension:
Während der Bundespräsident in seinen Reden, wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen in der Politik, jene, die es hören wollen, beschwört, dass jüdisches Leben zu Deutschland gehöre und für dieses unermessliches Glück bedeute, werden antisemitische Ausschreitungen vom lauten Aufschrei der Medien ebenso regelmäßig begleitet, wie die Mehrheit der Bevölkerung dazu schweigt, wenn sie auch nicht offensichtlich aggressiv Synagogenmauern beschmieren oder Juden und Jüdinnen auf offener Straße beschimpfen. Antisemitische Gedanken, so bescheinigen es Untersuchungen und Umfragen, sind in Deutschland tief verwurzelt und bilden das Grundrauschen dieser unsicheren Heimat.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang Erinnerungskultur? Wie sieht diese aus und wie wird sie von den Juden und Jüdinnen hierzulande wahrgenommen? Und wo zeigt sich Judentum in Deutschland heute? Wie funktioniert das Erinnern heute und was müsste an dessen Stelle treten, wenn man es anders haben möchte? Was müsste sich ändern, damit Menschen in Deutschland nicht mehr auf gepackten Koffern sitzen, wie es noch lange nach Kriegsende der Fall wahr und heute teilweise wieder ist? Der Autor C. Bernd Sucher hat diese und andere Fragen gestellt und sich auf Spurensuche begeben.

Jede optimistische Formulierung verbietet sich, taucht man ein in die Materie und so verwundert der Titel dieses reportagehaften Sachbuchs nicht, welches sich mit der Perspektive jüdischen Lebens seit Kriegsende beschäftigt und an diesem Punkt anzusetzen beginnt. Was waren dies für Menschen, die sich zum Unverständnis anderer jüdischen Glaubens dazu entschieden, in Deutschland zu bleiben, im „Land der Mörder“, im Gegensatz zu jenen, die auswanderten? Wie setzte sich diese Gruppe zusammen, welches Spektrum an Meinungen und auch Varianten jüdischen Glaubens gab es zu Anfang, welche Auswirkungen hat dies auf das Empfinden von Leben in Deutschland heute?

Der Autor fragt nach bei Charlotte Knoblauch, der Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, ebenso wie bei der Autorin Deborah Feldman und anderen, mit den unterschiedlichsten Hintergründen, um ein Gesamtbild aufzuzeigen, der inneren Empfindungen und ihrer Zerrissenheit? Das zeigt sich im Draufblick auf Varianten des Erinnerns, ebenso wie im Alltagsleben und dessen Strukturen. Der Gegenwart wird hier viel Raum eingeräumt, wo wir uns sonst fast nur auf die Vergangenheit konzentrieren. Dies ist die große Stärke des vorliegenden Sachbuchs, diese Perspektive, die zu selten in Betracht gezogen wird. Das Fundament des Werks, die Interviews stehen am Ende der Lektüre dann noch einmal separat für sich.

Die Änderung des Blickwinkels macht die Lektüre sehr besonders, auch wenn sie teilweise etwas trocken daherkommt. Wichtig ist sie dennoch, gerade heute. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Autor:

C. Bernd Sucher wurde 1949 geboren und ist ein deutscher Theaterkritiker, Autor und Hochschullehrer. Zunächst studierte er Germanistik, Theaterwissenschaft und Romanistik und war anschließend von 1978 bis 1980 Kulturredakteur der Schwäbischen Zeitung, bevor er dann zur Süddeutschen Zeitung wechselte, wo er der erste Theaterkritiker wurde. Danach arbeitete er als freier Autor und Kritiker für verschiedene Zeitungen und Magazine.

Seit 1989 unterrichtete er an der Deutschen Journalistenschule in München und am Institut für Theaterwissenschaft der dortigen Universität. Danach folgten verschiedenen Stationen in In- und Ausland. Er ist Mitglied verschiedener Jurys, sowie des PEN-Clubs seit 1999, sowie seit 2018 Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Er hat mehrere Schriften und Romane veröffentlicht.

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Gail Jones: Ein Samstag in Sydney

Inhalt:

An einem strahlenden Sommertag kreuzen sich die Wege von vier Menschen am Hafen von Sydney, in der Nähe der berühmten Oper. Scharen von Touristen vermischen sich hier mit den Einwohnern der Stadt. Alle vier tragen an ihrer Geschichte: Ellie erinnert sich an ihre Liebe zu James als Vierzehnjährige in der kleinen Provinzstadt, in der sie aufwuchsen. James ist besessen von einer Tragödie, für die er sich verantwortlich glaubt. Catherine trauert um ihren Bruder Brendan, der vor einigen Jahren in Dublin starb. Und Pei Xing fährt jeden Samstag nach Sydney, um einer einstigen Lageraufseherin aus Pasternaks „Doktor Shiwago“ vorzulesen.

Gail Jones folgt diesen Figuren durch Sydney, auf ihren eigenen und doch verbundenen Wegen, eingehüllt in Erinnerungen, Schuld und Bedauern, während die Stadt um sie herumwirbelt. „Ein Samstag in Sydney“ ist ein tief berührender Roman über Liebe, Verlust und die Last der Vergangenheit. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Um so mehr sie den Blick versuchen, nach vorne zu richten, um so mehr holt die Figuren ihre Vergangenheit wieder ein. Im Hier und Jetzt der Vergangenheit verhaftet sind die Protagonisten in Gail Jones‘ Erzählung „Ein Samstag in Sydney“, in derer die Schicksale, Lebensgeschichten einander streifen, immer einen Schritt voran. Das Ziel im übertragenen Sinne indes, ist für alle nur schwer zu erreichen.

Im flirrenden Sydney, am Hotspot der Touristen entspinnt sich die Geschichte, erzählt abwechselnd aus der Sicht der Figuren, die unterschiedliche Schicksale zu tragen haben, unter derer Last sie in verschiedener Form in ihren Nachwirkungen zusammenbrechen drohen. Was hält uns aufrecht? Was lässt uns weitergehen, suchen? Gail Jones widmet sich diesen und anderen philosophischen Fragen und verwebt sie in ruhiger Tonalität in ihrer Erzählung.

Der Geschichte gibt dies zunächst ihren roten Faden, die Figuren bekommen so schnell Konturen. Alle haben sie Ecken und Kanten. Gail Jones spielt mit Ecken und Kanten, die nach und nach zum Vorschein treten. Spannend sind die Sichtweisen der einzelnen Figuren, die jede für sich einen Roman in diesem Umfang verdient hätten, so jedoch neigt man zum Springen, manchmal gar querlesen. Der Spannungsbogen wird über die gesamten Handlungsstränge flach gehalten. Die Tonalität trägt ihr übriges dazu bei.

Natürlich, der Handlungsort ist aus unserer Perspektive heraus wieder interessant. Australien vermag auf der anderen Seite der Erdkugel zu faszinieren, sowohl das futuristisch anmutende Opernhaus, welches die Skyline Sydneys bestimmt, als auch die Ursprünglichkeit der Provinz, des Herz von Australien. Die Autorin schafft es, hier Vorstellungswelten vor dem inneren Auge entstehen zu lassen, nur fügt sich beides nicht harmonisch zusammen.

Immer wieder wartet man auf Wendungen, einem anziehenden Tempo, doch plätschert der Roman förmlich unter der gleißenden Sonne Australiens dahin, dass es nicht einmal hilft, den hier zu lesen. Das Schicksal der Figuren berührt da leider viel zu wenig und verfängt nicht.

Hier hätte mehr Ausführlichkeit jedem Handlungsstrang, jeder Figur gut getan, die wir so nur streifen als würden wir selbst an ihnen vorbeigehen, vielleicht bemerken, dann jedoch im nächsten Moment schon vergessen. Da hilft es nicht mal, dass im realen Leben auch jeder von uns eine eigene Geschichte mit entsprechenden Höhen und Tiefen hat, vielleicht mit etwas hadert. Nur in den seltensten Fällen machen wir dies uns bewusst. Im Roman, wo dies an sich hätte gelingen sollen, denn das Grundprinzip ist durchaus interessant, funktioniert das hier jedoch auch nicht wirklich. Schade.

Autorin:
Gail Jones wurde 1955 geboren und ist eine australische Schriftstellerin. Zunächst studierte sie an der University of Western Australia in Perth, bevor sie 1992 begann, Romane und Erzählungen zu veröffentlichen. Diese wurden in zahlreichen Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. 2014 wurde sie durch das Berliner Künstlerprogramm des DAAD als Gast nach Deutschland eingeladen. In Australien lehrt sie Kreatives Schreiben.

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Sergej Lebedew: Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit

Inhalt:
Die sowjetische und postsowjetische Zeit erzeugt mit ihren verdrängten Verbrechen fortwährend neue Ungeheuer und Gespenster. Sergej Lebedew folgt in seinen Erzählungen dem vergifteten Erbe der Sowjetunion und seinen unheimlichen Spuren in der Gegenwart.

Obwohl seine Geschichten jeweils für sich stehen, verbindet sie ein gemeinsames Thema, ein gemeinsamer poetischer Raum. In diesem Raum ziehen die Schatten der Vergangenheit ruhelos umher, und die Toten rufen fortwährend nach Gerechtigkeit. (Klappentext)

Rezension:
So groß wie das Land, so einengend ist der Raum, in dem sich die Menschen bewegen. Russland hat das Lebensglück der Menschen verspielt, in der Vergangenheit, in der Gegenwart.

Die Schreibenden finden ihren Platz für Kritik fast nur noch im Exil und so lebt auch Sergej Lebedew schon längst nicht mehr in Moskau, sondern in Potsdam, doch die Gespenster der Vergangenheit lassen auch ihn nicht los und so sind in diesem Band eine Reihe seiner Erzählungen versammelt, die tief blicken lassen, in das, was dieses riesige und zu den Menschen garstige Land immer noch dominiert.

Kurzgeschichten reihen sich aneinander, wie an einer Kette, deren Perlen man scheinbar ohne System aneinander gereiht hat. Tatsächlich springen wir durch die Zeit und erleben Protagonisten, deren Schicksale vielfach übertragbar sind auf Dinge, die passieren, passiert sind. Der Richter etwa, der genau das Urteil fällt, welches von ihm erwartet wird, um den nächsten Schritt der Karriereleiter zu erklimmen, weit davon entfernt, was die Gerechtigkeit eigentlich verlangen würde.

Der Bahnwärter, der in der Einöde, auf den Spuren ehemaliger Häftlinge des Straflagersystems Stalins sitzt und auf das einzige Signal wartet, welches der Grund ist, überhaupt dorthin versetzt wurden zu sein, der Offizier, der hinter der Fassade die Risse an dem Gebäude erkennt, dem er dient, Bestandteil eines Systems, bestehend aus eben vielen Fassaden. Viel ist Schein im Russland der Vergangenheit und Gegenwart. Die Wirklichkeit ist grausam.

Trocken ist die Tonalität der Texte, die jeder für sich stehen und einzeln gelesen werden können. Immer springt man zwischen den Zeiten. Oft ist erst auf den zweiten Blick klar, welcher Epoche eine Erzählung zuzuordnen ist, lassen sich doch viele Elemente sowohl in die eine als auch in die andere übertragen. Die Protagonisten sind scharf gezeichnet. Manche Konturlosigkeit wird als Stilmittel bewusst eingesetzt.

Das Bewusstsein der Menschen suchte nach Bildern, nach einer Sprache zur Beschreibung der Tragödie – und griff dafür auf mystische Anspielungen zurück, die die unheilvolle Vergangenheit real werden ließen und sie gleichzeitig verfremdeten, sie zu einem Phänomen aus einer anderen Welt, einer anderen Realität werden ließen.

Sergej Lebedew: Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit

Jede einzelne Zeile wirkt dennoch wie ein Nadelstich gegenüber der russischen Gesellschaft und Politik. Diesen Stil muss man mögen. Wer sich einmal eingefunden hat, entdeckt viele Parallelen und Ebenen. Gebäude stehen für Lebensläufe mit Brüchen, wie auch die Menschen selbst sich vielfach anpassen mussten, an sich praktisch über Nacht verändernde Bedingungen. Lebedew erzählt von jenen, die in diesem Spiel gelernt haben zu überleben und denen, die darin zerrieben wurden und werden.

Das Format der Kurzgeschichte ist ihre Kompaktheit, bringt es jedoch mit sich, dass einige der übergreifend durchdachten Texte direkt nach dem Lesen in Vergessenheit geraten, andere hätte man gerne ausführlicher gehabt und den Weg, die Strategien der handelnden Figuren verfolgt. Mit der Treffsicherheit Lebedews in Formulierungen möchte ich Romane lesen. Das könnte großartig werden.

Autor:
Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren und ist ein russischer Schriftsteller. Er entstammt einer Geologenfamilie und suchte in seiner Schulzeit in aufgelassenen Minen nach Mineralien und Bergkristallen, wobei er auf Reste ehemaliger Lager des GULAG stieß. Lebedew studierte Geologie und arbeitete später als Journalist, veröffentlichte in einer Literaturzeitschrift Gedichte und Essays.

Sein erster Roman war 2011 auf der Vorschlagsliste zum Nationalen Bestsellerpreis Russlands und erschien zwei Jahre später in deutscher Übersetzung. 2013 erhielt er ein Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin. Sein 2015 in deutscher Übersetzung erschienener dritter Roman wurde in Russland erst 2016 veröffentlicht. Er äußerte sich mehrfach kritisch gegenüber Putin und lebt derzeit in Potsdam.

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Ulrich Woelk: Mittsommertage

Inhalt:

Ruth Lember, Professorin in Berlin, soll in den Deutschen Ethikrat berufen werden. Sie scheint am Gipfel ihrer bisherigen Laufbahn. Aber ein Zwischenfall bei ihrer morgendlichen Joggingrunde erweist sich als Auftakt einer ganzen Reihe irritierender Ereignisse. Innerhalb von einer Woche in der sommerlich heißen Stadt gerät Ruths Leben völlig aus dem Takt. Ulrich Woelk erzählt in „Mittsommertage“ die spannende Geschichte einer Frau, die sich neu erfinden muss. (Klappentext)

Rezension:

Am Anfang steht ein Hundebiss als eher störende Unannehmlichkeit, doch bringt in Ulrich Woelks neuen Roman „Mittsommertage“ ein solcher, das Leben seiner Protagonistin durcheinander. Fragen, die jahrzehntelang verschüttet waren, tauchen nun wieder auf. Gewissheiten sind plötzlich nicht mehr unumstößlich. In dieser Grundstimmung gerät Ruth zunehmend von Tag zu Tag, auch Sicherheiten fallen plötzlich in sich zusammen.

Nachdem Woelks zweite Erzählung „Für ein Leben“ in Teilen unrund wirkte, da teilweise zu ausufernd erzählt, knüpft der nun vorliegende Roman wieder an Gegebenheiten an, die mir seinem vorvorletzten Werk in positiver Erinnerung bereithalten.

Zunächst ist da die Beschränkung auf sehr wenige Figuren und ein überschaubarer Handlungsrahmen, der genau zu der ruhigen Art des Erzählens passt, wie der Autor dies schon mit seinem Debüt gezeigt hat. Darauf aufbauend tut die konsequente Ausgestaltung der Protagonistin, durch deren Augen diese Geschichte erzählt wird, sowohl im gegenwärtigen Handlungsrahmen als auch in den Rückblenden, ihr Übriges.

Wir begleiten die Protagonistin nur durch den Zeitraum von einer Woche, die sehr kompakt erzählt wird. Jeder Tag entspricht einem Kapitel, in dem als Folge des Bisses bzw. der Verarbeitung dessen sich neue Gräben auftun, die die innerlichen Grundfesten der Frau erschüttern, die zum überwiegenden Teil versucht, nach außen Stärke zu zeigen. Das gelingt der Protagonistin immer weniger. Risse werden sichtbar.

Woelk bringt hier zwischen den Zeilen viel zur Sprache. Wie lange etwa muss und auch darf die Vergangenheit nachhallen und wie sollten wir damit umgehen? Fragen der Philosophie und der Ethik, nach der Physik, die thematisch in „Der Sommer meiner Mutter“ eingearbeitet war, nun der zweite Themenblock, den Woelk studierte und nun einem seiner Figuren als Leidenschaft mit auf den Weg gegeben hat. Das wirkt alles in allem stimmig.

Wie reagieren wir, wenn Sicherheiten in unserer nächsten Umgebung wegfallen, wenn die Vergangenheit uns einholt? Wie auch in Bezug auf die Reaktionen von außen? Wofür und wann lohnt es sich zu kämpfen? Fragen, die heute drängender denn je sind und so ist „Mittsommertage“ nicht nur ein Erfahrungs- oder durchaus Großstadtroman, auch der wandel der Umweltbewegung von damals zu heute stellt der Autor gekonnt komprimiert dar.

Letzteres wird dargestellt durch das Gegenüber einer Figur, die als eine zweite vor allem durch Rückblenden zund kurzen Einschüben Konturen bekommt, während die wenigen anderen verleichsweise blass bleiben. Mehr braucht man tatsächlich auch nicht. Der Roman funktioniert auch so. Der Gegensatz zwischen den Zeitsprüngen kommt damit jedoch viel stärker zur Geltung, wobei die Perspektive stets die gleiche bleibt.

Es ergeben sich dabei keine unwirklichen Sprünge oder Brüche, vielmehr könnte alles tatsächlich so passieren. Gerade dies ist das, nicht immer Spannende, aber Tragende dieses Romans, in dem es Ulrich Woelk auch wieder vermehrt gelungen ist, sehr filmisch zu erzählen. Man kann sich in die einzelnen Szenen sehr gut hinein versetzen, auch wenn man sich in die ruhige Art des Erzählens vielleicht erst einfinden muss.

Einige Längen gibt es zwar, doch fallen die nicht groß ins Gewicht, da sie sich auf wenige Seiten beschränken, was jedoch durch eine gekonnte Auflösung am Ende der Handlung mehr als ausgeglichen wird. Mit „Mittsommertage“ kommt Ulrich Woelk wieder sehr nah an dem heran, was für mich „Der Sommer meiner Mutter“ ausgemacht hat. Und das ist einfach wunderbar.

Autor:

Ulrich Woelk wurde 1960 in Bonn geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Von 1980-1987 an, studierte er physik und Philosophie an der Universität Tübingen. Er arbeitete bis 1995 an der Technischen Universität Berlin, sowie in Göttingen als Astrophysiker. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1990. 1991 promovierte er über Weiße Zwerge in engen Doppelsternsystemen. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Er schreibt Theaterstücke, Romane und Hörspiele. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

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Lucy Clarke: One of the Girls

Inhalt:

Es sollte der perfekte Kurzurlaub werden: Lexi reist mit fünf Freundinnen auf eine griechische Insel, um ihren Junggesellinnenabschied zu feiern. Von der abgelegenen Villa mit Meerblick bis hin zu den malerischen Tavernen und weiß getünchten Straßen scheint der Urlaub zu schön, um wahr zu sein. Und tatsächlich bekommt die Idylle bald Risse, denn abgesehen von ihrer Freundschaft mit Lexi haben die Frauen nur eines gemeinsam: Sie alle haben etwas zu verbergen. Nach und nach kommen versteckte Absichten ans Licht, Geheimnisse werden enthüllt und die Masken fallen – bis eine Leiche auf den Klippen unterhalb der Villa liegt… (Klappentext)

Rezension:

Ein paar Tage noch wollen sie zusammen verbringen, sechs Freundinnen, um den Beginn eines neuen Lebensabschnitts einer von ihnen zu feiern. Einen unvergesslichen Jungesellinnenabschied, eine besondere Hen-Party, plant da Bella für ihre beste Freundin Lexi, und der soll im Paradies einer griechischen Mittelmeerinsel stattfinden.

Schon bei Ankunft der Frauen zeigt die Idylle erste Risse. Nicht alle von ihnen haben das gleiche Ziel. Stunde um Stunde nähern sich die Protagonistinnen dem Abgrund.

Auch der neue Roman der englischen Autorin Lucy Clarke führt uns Lesende in ein Urlaubsparadies Marke Postkartenmotiv, um nach und nach derer Schattenseiten die Oberhand gewinnen zu lassen. Nicht gerade durchgehend ist es ein düsterer Reisekrimi, immer wieder kommt eine gewisse Leichtigkeit zum Tragen, die jedoch im darauffolgenden Moment gekonnt durchbrochen wird.

Dabei ist zunächst nicht klar, was genau passieren wird. Andeutungen werden durch die namenlose Erzählerin zwischen den Kapiteln nach und nach konkreter. Erst später ergibt sich aus verschiedenen Puzzelteilen ein Gesamtbild. Die Erzählung, beschrieben aus der wechselnden Sicht der einzelnen Figuren, wird zunächst bestimmt durch das Beziehungsgeflecht untereinander. Grundverschiedene Charaktere, die bis auf ein zwei Merkmale nicht gerade vielseitig ausgestaltet sind, treiben die Handlung voran, die einen Zeitraum von wenigen Tagen umfasst.

Je nach erzählender Protagonistin wird mehr oder weniger ausschweifend erzählt. Auffällig ist, dass vor allem zu Beginn mehr an der Oberfläche gekratzt wird, um Spannung aufzubauen, die alleine durch die Wirkung der Figuren aufeinander hochgehalten wird. Die ruhige Tonalität, mit der Lucy Clarke die Atmosphäre setzt, tut ihr Übriges, zudem der fiktionale Ort, der ihr völlige Handlungsfreiheit gab, die Erzählung auszugestalten.

Das tut sie mit der Dynamik der zwar im Einzelnen sehr einseitigen, teilweise sehr enervierenden Charkere, die jedoch genug Ankerpunkte bieten, um die Geschichte weiter verfolgen zu wollen, wobei jede Protagonistin ihre eigenen Hintergründe im Beziehungsgeflecht aufweist. Leider reicht dies oft nicht aus, um mitzufühlen, und wenn hat man das Gefühl gerade dem Auseinanderfallen einer durch ihr Zusammensein besonders toxischer Gruppe von Frauen beizuwohnen. Es lädt förmlich dazu ein, mehr als einmal die Augen zu rollen.

Aus diesen Perspektiven eheraus erzählt, wirkt die daneben und doch über allen stehende Erzählerin, man ahnt bis zum Schluss nur, welche Charaktere dies ist, zwar wie ein Handlungstreibender, jedoch manchmal überflüssiger Fremdkörper. Als würde die Autorin ihrer eigenen Erzählkunst nicht trauen. Dabei kann sie das gut. Die Geschichte ist in sich schlüssig aufgebaut.

Es gibt kaum Logik-, hoffentlich in der Verkaufsversion nicht ganz so viele Schreibfehler und einige vertauschte Namen, wie in der des unkorrigierten Leseexemplars, welches dem Rezensenten (mir!) zur Verfügung stand. Ich möchte gerne daran glauben, dass die Verlagsverantwortlichen da nochmals drüber geschaut haben. Großflächig Überraschungsmomente sucht man vergebens. Die hat sich Lucy Clarke vor allem für das Ende, welches sehr rasant erzählt wird, aufgespart. Konzentration hat die Autorin vor allem in die Ausgestaltung der Gefühlswelten ihrer Protagonistinnen gesteckt, gerade wenn es um Gedankenbeschreibungen und Rückblenden geht.

Um so ernüchtender ist es, wenn nach außen hin, dann die schon geschilderte Eindimensionalität überwiegt. Landschaftsbeschreibungen sind ihr dagegen glaubwürdig gelungen. An manchen Stellen fühlt man sich beinahe in den Handlungsraum hinein versetzt. Man kann sich die Orte zumeist sehr gut vor Augen führen, was auch dazu beiträgt, die Erzählung weiterverfolgen zu wollen.

Es ist ein Reisekrimi, nicht besonders anspruchsvoll, aber auch nicht so leicht, dass man das Gefühl hat, nur Kitsch zu lesen, jedenfalls keine verlorene Zeit diese zu nutzen. Wer Wert legt auf vollends ausgestaltete Charaktere, wird hier enttäuscht werden. Wer über einzelne Schwachpunkte hinwegsehen kann, wird durchaus unterhalten werden, auch wenn man einige Male das Gefühl hat, einer ZDF-Vorabendserie beizuwohnen.

Sich berieseln lassen am Ende des Tages ist durchaus nicht verkehrt. Verlorene Zeit ist etwas anderes. Vor allem jene, die Spannung ohne allzu viel Gewalt haben wollen, können sich diese Lektüre vornehmen. Vielleicht am Strand oder in einem auf einer griechischen Insel liegenden Haus. So beschrieben, könnte das tatsächlich existieren, genau so wie der eigentliche Wohnort der Protagonistinnen nicht zufällig selbiger ist, wie der der Autorin im realen.

Wer einmal eine Reise tut, der kann etwas erleben. Nur bitte aufpassen, mit wem genau.

Autorin:

Lucy Clarke ist eine englische Schriftstellerin. Zunächst studierte sie Englische Literatur an der Universität von Cardiff, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlichte. In über zwanzig Sprachen übersetzt werden diese für die Leinwände adaptiert und finden sich regelmäßig auf den Bestsellerlisten wieder. Mit ihrer Familie lebt sie in einem Ort an der englischen Südküste.

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Sam Lloyd: Sturmopfer

Inhalt:

Kalt wie das Wasser. Dunkel wie der Meeresgrund.

Ein Haus auf den Klippen an der Südwestküste Englands. Auf Mortis Point, hoch über den sturmumtosten Atlantik, wurden früher Schmuggler und Diebe gehängt. Heute führen Lucy und Daniel hier ein beschauliches Leben mit ihren beiden Kindern – bis eines Tages Daniels Segelboot auf dem Meer treibend gefunden wird. Von ihm selbst fehlt jede Spur. Als Lucy erfährt, dass auch ihre Kinder verschwunden sind, gerät ihr Leben entgültig aus den Fugen. Offenbar befanden sich Billie und Fin ebenfalls auf dem Boot. Während sich über dem Meer ein Jahrhundertsturm zusammenbraut, versucht Lucy fieberhaft herauszufinden, was an Bord der Lazy Susan geschah. Je näher sie der Wahrheit kommt, desto klarer wird ihr, dass der eigentliche Albtraum gerade erst begonnen hat… (Klappentext)

Rezension:

Zwischen Krimi und Thriller schwankt Sam Llyods Werk „Sturmopfer“ und entführt uns an die vom Meer beherrschte Küste Englands, in der nur jene überstehen, die sich ein Standbein aufbauen, welches auch außerhalb der touristischen Saison funktioniert. Lucy und Daniel haben dies geschafft.

Letzterer ist Unternehmer und Lucy selbst betreibt eine Bar, die am Hafen sowohl die Fischer bedient, als auch Touristen und Einheimische, zudem kleinen Bands und Musikern einen Auftrittsort bietet. Beide scheinen in der Gemeinschafft von Skentel gut integriert zu sein, haben zwei wohlgeratene Kinder, doch es kommt, wie es kommen muss. Zur Katastrophe. Das Boot samt Mann und Kinder verschwinden. Nur Daniel wird aus dem Wasser gefischt und steht bald im Zentrum der Ermittlungen von DI Abraham Rose, der bald hinter die Fassade des perfekten Ehepaares blicken muss und so einiges ans Tageslicht kehren wird.

In ruhiger Tonalität baut der Autor hier einen Spannungsbogen, der vor allem im Wechsel der Erzählperspektiven funktioniert und einen Sog entwickelt, den man sich kaum entziehen kann. Nicht nur die Sicht der ermittelnden Hauptfigur, die zudem mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen hat, kommt zum tragen und so ergibt sich aus einem zunächst unübersichtlichen und verwirrenden Puzzle erst spät ein Gesamtbild, welches gegen Ende zudem noch gut funktionierende Wendungen aufweisen kann. Die sind stimmig, manchmal sehr vorhersehbar, was jedoch ausgeglichen wird, durch die Atmosphäre, die Sam Lloyd hier aufzubauen weiß. Man kann sich all die Figuren mit ihren Ecken und Kanten bildlich vorstellen, wenn auch so manche Szene hart an der Grenze einer ARD-Vorabendkrimi-Serie vorbeischrammt.

Für einen durchschnittlichen Krimis fast schon zu ausführlich, sind die Kapitel dennoch handlich, auch mit Cliffhangern wird nicht gespart, ebenso wenig mit gegensätzlichen Charakteren, für die die Sympathien im Laufe des Lesens wechseln werden. Positiv ist zu nennen, dass die Protagonisten verschiedene Seiten aufweisen, was diese Geschichte positiv von so vielen anderen abhebt. Rückblenden und Zeitsprünge werden ebenso als Elemente effektvoll eingesetzt. Warum jedoch Ermittler scheinbar grundsätzlich einen Knacks haben müssen, wird sich mir nie erschließen.

Es wird nicht schwerfallen, in diese zu anderen Werken im Vergleich ruhig wirkende Geschichten, die durchaus manche Länge aufweist, hineinzufinden. Wer jedoch Probleme hat, mit, angedeutetem Druck oder beschriebener Gewalt gegenüber Kindern sollte sich überlegen, diesen Thriller zur Hand zu nehmen, gleichwohl die Stellen an den Fingern einer Hand abzuzählen sind. Merken tut man jedoch, dass der Autor sich insbesondere mit den technischen „Konstrukten“ vorher beschäftigt hat. Wie funktioniert ein kleines Motorboot eigentlich? Welchen Spielraum habe ich dort für eine Handlung, für Stauraum? Wie laufen Rettungsmissionen bei im Meer vermissten oder im offenen Wasser entdeckten Personen ab? Das ist alles sehr durchdacht.

Dieser Thriller ist ein Stand Alone, wenn auch die Hauptfigur sich anbietet für weitere Geschichten und eine Empfehlung, die Arbeiten des Autoren Sam Lloyd weiter zu verfolgen. Fans des englischen Krimis, die nicht immer auf pure Gewalt setzen, wobei die durchaus dort vorkommt, wenn sie für die Geschichte sinnvoll ist, sind hier gut bedient, wenn auch für Vielleser sich einiges Vorhersehbares ergibt. Für andere kann ich mir diesen Thriller auch gut als Einstieg in das Genre vorstellen. Dafür eine Empfehlung.

Autor:

Sam Lloyd ist ein britischer Schriftsteller, dessen Debüt „Der Mädchenwald“ 2020 erschien. Dies ist sein zweites Werk.

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Mario Schneider: Die Paradiese von gestern

Inhalt:

Ella und Rene, ein junges Paar aus Ostdeutschland, verbringen nach der Wende ihren ersten Sommer in Südfrankreich. Dabei geraten sie in das marode Schlosshotel der Madame de Violet, einer Gräfin, die mit ihrem Diener wie in einer vergessenen Zeit lebt. Sie werden ihre letzten Gäste sein. Die beiden erleben die Verlockungen und Enttäuschungen einer neuen Welt und die Zerbrechlichkeit ihrer fest geglaubten Beziehung. (Klappentext)

Rezension:

Die Historie einer vergangenen Welt oder ein französischer Film mit Überlänge in Buchform. Dies ist der Eindruck, nachdem man in die Geschichte eines Sommers auftaucht, genauer ein junges Paar bei ihrer ersten großen Reise begleitet. Die politische Landkarte hat sich gerade gewandelt und so können Ella und Rene nach der Wende erstmals durch Europa reisen und landen in einer Szenarie einer untergangenen Welt.

Wie aus der Zeit gefallen wirkt das marode Schlosshotel, welches auf einem zugewachsenen Hügel thront, ebenso wie auch seine letzten Bewohner von der Welt da draußen scheinbar vergessen wurden. Doch, Madame de Violet, alter französischer Adel, und ihr treuer Diener Vincent nehmen die beiden auf, was nicht nur ein Ende bedeuten soll, sondern alle Protagonisten vor persönlichen Herausforderungen stellen wird.

Mario Schneider versteht es, einen Film vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen, was nicht zuletzt an den von ihm geschaffenen Figuren liegt. Allesamt haben sie Ecken und Kanten, sind nicht gerade Sympathieträger, was sie jedoch im zunehmenden Handlungsverlauf zu interessanten Entscheidungen und damit verbundenen Wechseln treibt. Dabei werden mehrere Geschichten erzählt. Natürlich die Liebesgeschichte, die irgendwie immer vor französischer Kulisse vorkommen muss, aber eben auch das Vergehen von Epochen und das Aufeinanderprallen gesellschaftlicher Gegensätze. Gerade letzteres ist dem Autoren gut gelungen. Auf diese Dynamik kann man sich einlassen, wenn man sich auf den zu weilen sehr ruhigen Erzählstil eingelassen hat.

Dreh- und Angelpunkt dieses Kammerspiels auf französischen Boden sind fünf belastete Figuren, die nicht nur gegenseitig, sondern auch bei Lesenden ein Wechselbad der Gefühle auslösen mögen. Kurze Sätze sind da selten. Mario Schneider beherrscht die Kunst der Ausschweifung, besonders wenn die Protagonisten sich selbst und ihren Gedanken ausgeliefert sind. Gegensätzlichkeiten werden hier teils bis zum Äußersten ausgespielt. Die Logik der Figuren erschließt sich erst nach und nach.

Damit einhergehend ist ein ständiger Perspektivwechsel, der auch die Geschwindigkeit der Erzählung bestimmt. Nach und nach fügen sich so Puzzleteile zusammen, die zunächst für den Lesenden, dann erst für die Protagonisten ein Gesamtbild ergeben und spätestens nach der Hälfte der Seiten eine in sich schlüssige Erzählung. Auch Rückblicke der Figuren tragen zur Abwechslung bei, sonst wäre hier etwas Mehltau zu viel.

Wer eine Liebesgeschichte sucht, ist mit „Die Paradiese von gestern“, ebenso gut bedient, wie die jenigen, die französisches Flair genießen möchten oder gar, in nur punktuellen Ansätzen ein kontinentales „Downtown Abbey“. Es ist jedoch auch die Erzählung über die Welten alten und neuen Adels, über das Zurechtfinden in einer neuen Welt, in der zum Ende hin einiges offen bleibt, wie dies auch, und hier sind wir wieder in der Nähe eines Films, einige Fragen offen bleiben, die man je nach Sympathie für die Figuren für sich selbst beantworten muss.

Hier sieht man das Können Mario Schneiders, der als Filmregisseur und Komponist natürlich genau weiß, wo Auslassungen besonders funktionieren. Jedoch hätte der Autor dies auch im eigentlichen Handlungsverlauf beherzigen können. Was zum Ende hin klappt, hätte auch im eigentlichen Verlauf gut funktioniert. Dennoch muss ich konstatieren, dass sich meine Einstellung zum Roman, die sich vor allem über die Protagonisten gebildet hat, nach und nach ins Positive gewandelt hat, so dass eine runde Geschichte vorfindet, wer sich darauf einlassen und mehrere erzählerische Längen aushalten kann.

Autor:

Mario Schneider wurde 1970 geboren und ist ein deutscher Regisseur, Autor und Filmkomponist. Nach der Schule absolvierte er eine Berufsausbildung zum Metallurgen für Hüttentechnik und studierte anschließend Musikwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte, gefolgt von einem Kompositions- und Klavierstudium in Leipzig, im weiteren Verlauf München.

Nach seinem Abschluss als Diplomkomponist gründete er eine Filmproduktionsfirma und begann als Dokumentarfilmer und Regisseur zu arbeiten. Bekannt wurde er u. a. durch die Mansfeld-Trilogie (2005-2013). 2014 erschien sein erstes Buch. Ein Jahr später erhielt er den Klopstock-Förderpreis für neue Literatur, danach den Deutschen Filmmusikpreis. Er ist Mitglied der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt.

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Riku Onda: Die Aosawa-Morde

Inhalt:

An einem stürmischen Sommertag veranstaltet die Familie Aosawa ein rauschendes Fest. Doch die Feier verwandelt sich in eine Tragödie, als siebzehn Menschen durch Zyanid in ihren Getränken sterben. Die einzige Unversehrte ist Hisako, die blinde Tochter des Hauses. Kurz darauf begeht der Mann, der die getränke lieferte, Selbstmord und besiegelt damit scheinbar seine Schuld, während seine Motive im Dunkeln bleiben.

Jahre später versuchen die Autorin eines Buches über das Verbrechen und ein Ermittler, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Doch die Wahrheit ist nichts anderes als ein Gegenstand, der aus einer bestimmten Perspektive beleuchtet wird… (Klappentext)

Rezension:

Honne und Tatame sind Begriffe für gesellschaftliche Phänomene, wie sie in dieser Form wohl in kaum einem anderen Land so ausgeprägt existieren, wie in Japan. Der eine bezeichnet die wahrer Gefühle einer Person, die entgegengesetzt zu denen stehen können, die von der Gesellschaft erwartet werden. Der andere Begriff steht für die Äußerung und das Verhalten, welches von der Gesellschaft erwartet wird, je nachdem welche Position man inne hat.

Die damit verbundene Komplexität und damit einhergehenden Problematiken werden erst seit kurzem in der japanischen Öffentlichkeit diskutiert, bilden im ersten Kriminalroman der Autorin Riku Onda die Grundlage für zahlreiche spannende Momente.

Der Auftakt entspricht dem, klassischer Kriminalliteratur,. Wir Lesende wohnen einem Fest bei, welches von einer in der örtlichen Gemeinschaft anerkannten Familie ausgerichtet wird, wo es zur Katastrophe kommt. Gift in Getränken ist der Auslöser einer sich über Jahre ziehenden Handlung. Alleine Hintergründe, nicht zuletzt die Identität der mordenden Person, bleiben lange im Dunkeln.

Unnahbar sind von Beginn an alle Charaktere aus deren wechselnder Perspektive erzählt wird, ohne dies immer klar voneinander abzugrenzen. Hier ist Konzentration erforderlich. Der nüchterne und distanzierte Erzählstil ist gewöhnungsbedürftig und macht es anfangs schwer, in die Geschichte hinein zu finden. Doch wirkt dies wie ein Sog.

Man folgt den beiden Hauptprotagonisten auf der Suche nach Spuren, die einander kreuzen, parallel zueinader verlaufen, um dann doch wieder eine völlig andere Richtung zu nehmen. So ruhig, wie der erzählstil der Autorin wirktz, so unscheinbar sich die Übergänge lesen, so viele Verdächtige tun sich auf, was fast bis zum letzten Kapitel durchgehalten wird.

Subgenres der Kriminalliteratur werden hier gekonnt vermischt und ein einzigartiger Blick in die japanische Kultur der Verschlossenheit gewährt, sowie die Perspektiven einer Familie, die von außen kaum zu durchdringen sind. Eingebettet ist das in einem ruhigen, fast stoischen Schreibstil, den man als lesende Person anfangs ebenso stoisch aufzunehmen hat.

Zu gefühlige Menschen werden mit Riku Ondas Art des Erzählens wohl an ihre Grenzen stoßen, auch ist Durchhaltevermögen über weite Strecken nicht von Nachteil. Die Auflösung indes ist stimmig und folgerichtig. Hier gibt es keine wirren Wendungen, auch ist man selbst bis zur letzten Zeile gefordert. Kriminalliteratur nach durchschnittlich europäischen Maßstäben ist das nicht. Zudem sollte man auch nicht davor zurückschrecken, dass bewusst Fragen offen gehalten werden.

Wer damit zurechtkommt, den seien „Die Aosawa-Morde“ empfohlen. Nur zu tief ins Glas schauen, sollte man dabei vielleicht nicht, viel eher darauf achten, was sich darin befindet.

Autorin:

Riku Onda wurde 1964 geboren und ist eine japanische Schriftstellerin. 1992 veröffentlichte sie ihr literarisches Debüt, dem weitere Werke folgten. Im jahr 2005 gewann sie den Yokoshiwa Eiji Preis. Seit 2002 wurden bereits mehrere ihrer Werke verfilmt. Ihr Spannungsroman „Die Aoasawa-Morde“ gewann den Mystery of Writers of Japan Award.

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