Coming of Age

Stephen King: Die Leiche

Inhalt:

In einer heißen Sommernacht brechen der zwölfjährige Gordie und seine drei Freunde in die Wälder Maines auf. Die Leiche eines vermissten Jungen soll dort irgendwo an den Bahngleisen liegen. Schon bald erfahren sie, dass Monster nicht etwa unter dem Bett oder im Schrank auf einen lauern, sondern sich in jedem von uns verstecken. (Klappentext)

Rezension:

Der letzte Sommer der Kindheit hält mitunter Magisches bereit und das eine oder andere große Abenteuer. Dies ist es, was der Schriftsteller Stephen King 1982 in seiner Novelle „Die Leiche“ beschrieben hat und auch in einigen seiner anderen Geschichten hier ebenso zur Perfektion getrieben hat. Melancholisch angehaucht ist die Erzählung, in der der Großmeister
amerikanischer Literatur Realität mit Fiktion verwoben hat.

Schnell findet man hinein und beginnt sozusagen einen Roadtrip zu Fuß, aus der Sicht des zwölfjährigen Hauptprotagonisten Gordie, der sich mit seinen Freunden auf den Weg
macht, um die Leiche eines gleichaltrigen Jungen zu finden, der in der Gegend verunglückt sein soll.

Die Aussicht auf den Fund, eine Bande älterer Jugendlicher trüben die Ereignisse, zudem hat jeder der vier sein Päckchen zu tragen, was zumeist mit den älteren Brüdern oder der Familienbande allgemein zusammenhängt. Auf den Weg, der unbewusst zum Ziel selbst wird, kommen Ängste, Hoffnungen und Träume zum Vorschein. Besonders der Hauptprotagonist und sein bester Freund Chris werden über sich hinauswachsen müssen. Gelingt das?

Ich versuchte nicht, ihm etwas anderes zu erzählen. Man erschrickt, wenn man erfährt, dass ein anderer, und sei es ein Freund, genau weiß, wie schlecht es um einen bestellt ist.

Stephen King: Die Leiche

Kurz gesagt, ja. Stephen Kings Fähigkeiten, sich mehr oder weniger in vielen literarischen Genres zu bewegen, dürfte mittlerweile unbestritten sein, doch diese Novelle ist unter seinen Werken, natürlich neben „Es“ ein Klassiker, auf den man sich einlassen kann. Auch hier schafft der Autor wieder ein Gefüge von Kindern und lässt unterschiedliche Charaktere aufeinanderprallen, dies innerhalb eines sensiblen kleinstädtischen Gefüge, welches man wohl schon damals zu den abgehängten Regionen Amerikas zählen dürfte.

Über einen Zeitraum von einigen Tagen erstreckt sich die Geschichte, die mit Rückblenden und nicht zuletzt der Phantasie des erzählenden Hauptprotagonisten breiter aufgefächert wird. Zudem wird aus dem Off erzählt, sozusagen aus der Vogelperspektive des Erwachsenen, der die Geschehnisse der Vergangenheit reflektiert.

Das funktioniert wunderbar, wobei besonders die Konstruktion der Gegensätze gelungen ist. Die befreundeten Kinder, noch unschuldig, neugierig einerseits, die jedoch mehr verstehen, als die meisten Erwachsenen glauben, die der Jugendlichen, die bereits abgehängt sind, bevor sich ansatzweise Chancen auftun könnten.

Freunde kommen und gehen wie Kellner im Restaurant, oder ist das bei euch anders? Wenn ich jedoch an den Traum denke, an die Leichen im Wasser, die mich erbarmungslos herabziehen wollen, dann erscheint es mir richtig, dass es so ist. Ein paar ertrinken, das ist alles. Es ist nicht fair, aber es passiert. Ein paar ertrinken.

Stephen King: Die Leiche

Interessant hierbei übrigens die Parallele zur späteren Verfilmung „Stand by me“, deren Kinderdarsteller real schablonenartig ähnliche Schicksalsschläge erleiden müssen, wie sie auch der Autor für seine Protagonisten erdacht hat. Wer die Verfilmung kennt, es ist beinahe so, wenn auch nur marginal, als hätte Stephen King etwas vorweg genommen, um dies dann zu verarbeiten. Auf ein paar seiner Kindheitserlebnisse, die sich dort wiederfinden, trifft auch das zu.

Trotzdem liest sich das leicht, die Handlung ist nachvollziehbar, sowie auch die Charaktere der einzelnen Protagonisten bis hin zu den Nebenfiguren wunderbar ausgestaltet sind, was lt. Rezensionen einiger neuerer Werke von Stephen King dort nicht immer der Fall ist.

Abwechslung bringen die Einschübe in Form von Geschichten, die der Hauptprotagonist seinen Freunden erzählt etwa, und später als Schriftsteller zu Papier bringen wird. Auch dies ist ein wiederkehrendes Element. Der kindliche Protagonist ist später Schriftsteller. Auch ein manchmal unvorhersehbarer Autor hat eben seine Schablonen und Motive, die immer wieder funktionieren und ja, mitunter auch erwartet werden.

Wechsel, Rückblenden und Einschübe erhöhen hier die Spannung einer Geschichte, bei der man schnell ahnt, wie sie ausgehen könnte, was jedoch nicht stört, da diese Coming of Age Erzählung damit spielt und den Bogen nicht überreizt. Tatsächlich wird man in ein Amerika hinengezogen, welches es noch vor gar nicht allzu vielen Jahren gab. Alleine schon dafür lohnt es sich. Hier können alle etwas für sich herausziehen.

Wir wussten genau, wer wir waren und wohin wir wollten. Es war herrlich.

Stephen King: Die Leiche

Wer gerne Coming of Age, Roadtrips (zu Fuß) liest, liegt hier ebenso richtig, wie jene, die sich einfach vom Setting begeistern lassen oder vom Aufeinanderprallen gegensätzlicher Charaktere, wenn auch mein Bild der Figuren durch die Schauspieler geprägt wurde. Den Film sah ich nämlich zuerst, ohne zu wissen, auf welchen Roman dieser beruht. Macht hier nichts. Die Umsetzung ist super, ohne qualitative Abstriche.

Zurück zur Novelle. Die funktioniert so ziemlich für alle. Jugendliche und Erwachsene. Letztere erinnern sich gleichsam an den Sommer, den sie als den letzten ihrer Kindheit definieren dürften, an all die kleinen und großen Abenteuer, Schwierigkeiten und Probleme, denen man ausgesetzt war, wogegen jüngere Lesende an die Hauptprotagonisten altersbedingt einfach nah dran sind. Zudem, was hier im amerikanischen Nirgendwo stattfindet, könnte man auch mühelos in ein bayerisches Kuhdorf und Umgebung dieser Zeit verfrachten. Das würde wohl ähnlich funktionieren.

Diese Geschichte aus der Feder Stephen Kings, der noch viele weitere folgen sollten (und hoffentlich noch folgen werden), ist zudem ein wenig herausgestellt, da sie keine
übernatürlichen Elemente enthält und statt Horror eher unterschwelligen Grusel, und das auch nur ganz leicht. Das hat mir sehr gut gefallen. So kann es dafür nur eine klare Leseempfehlung geben.

Autor:

Stephen Edwin King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren und ist ein US-amerikanischer schriftsteller. Unter verschiedenen Pseudonymen und unter seinem eigenen Namen verfasste er vor allem Horror-Literatur, aber auch zahlreiche Kurzromane. Seine Bücher wurden in über 50 Sprachen übersetzt, womit King zu den meistgelesensten und kommerziell erfolgreichsten Autoren der Gegenwart zählt.

Nach der Schule studierte er Englisch, unterrichtete in diesem Fach und arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor er seinen ersten Roman veröffentlichte. Sein Werk “Carrie” erschien 1974 in deutscher Übersetzung als erstes Werk von King. Zahlreiche seiner Werke wurden verfilmt.

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Erri de Luca: Fische schließen nie die Augen

Inhalt:

Ein Sommer vor fünfzig Jahren auf einer Insel im Golf von Neapel: In seinem bislang persönlichsten Buch erinnert sich Erri De Luca, wie er erstmals die magische Kraft der Wörter erkannte. Und dasss sich die Hand eines Mädchens anfühlt wie das Innere einer Muschel. (Klappentext)

Rezension:

Der Erzähler erinnert sich zurück an seine Kindheit am Golf von Neapel, an den flirrenden Sommer in der die Zahl der Lebensjahre genau so hoch ist, wie die Anzahl seiner Finger. Mit Zehn endet sie, die Kindheit und so schaut der Autor zurück und macht sich selbst zum Protagonisten seiner eigenen Novelle, die typisch für De Luca einmal mehr von einer atmosphärischen Leichtigkeit getragen wird.

Aus der Ich-Perspektive des Kindes, welches mit der Mutter die Ferien auf einer Insel vor Neapel verbringt, erzählt der Autor und lässt eintauchen in ein Italien nach Kriegsende. Die ersten Feriengäste erobern sich ihre Plätze, darunter ein gleichaltriges Mädchen, in dessen Bann der Junge gerät. Zuneigung zweier Kinder, Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und nicht zuletzt der anderer.

Man taucht ein in die Geschichte, wie im Wasser zwischen den Fischerbooten, die der Junge beobachtet und sucht das Abenteuer, wie das Kind, welches sich mit einem einheimischen Fischer angefreundet hat und auch mal helfen darf. Wer schon Werke des Autoren gelesen hat, erkennt das wiederkehrende Motiv.

Überhaupt bleibt sich De Luca treu. Ein eingeübtes Schema wird hier wieder strapaziert. Nichts neues aus Italien, also. Egal, in welcher Reihenfolge man seine Erzählungen gelesen hat. Immer ist es der Junge, der in den Ferien auf der Insel nahezu frei umherstreunt, zwischen den Fischerbooten Antworten auf Fragen sucht, manchmal sogar welche findet. Das alles wird mit ruhiger Melancholie erzählt, gerade an der Grenze zu dem, was als Kitsch zu bezeichnen ist. Störend ist das nicht.

Dem Protagonisten begegnet die erste Liebe, die dieser nicht wirklcih einzuordnen ist, doch der erste Konflikt seines jungen Lebens wird damit heraufbeschworen. Aus der Sicht des erwachsenen Lesers wirkt das harmlos. Ein Handlungsstrang ist das, ohne Aufreger. Für die kindliche Hauptfigur, der Blick fast viel zu alt für das Alter, ist dies in dem Augenblick jedoch die ganze Welt.

So wie der Protagonist seine Umgebung und sein weibliches Gegenüber zu begreifen versucht, so nüchtern wirkt der Ton. Ausschweifungen finden sich bei De Luca nur in Form von wunderbaren Formulierungen, in die man sich hinein verliert. Sehr kompakt wird der Zeitraum von nur wenigen Wochen erzählt. Auch die Handlungsorte sind derer überschaubar.

Der Hafen, das Fischerboot, das Wohnhaus oder die Ferienunterkunft, der Strand. Wie geschrieben, Erri De Luca erzählt hier wieder die gleiche Geschichte, wie schon mehrfach, dies aber in Perfektion. Man fühlt sich in den kleinen Protagonisten hinein, der bald die Kraft der Worte finden wird, der Beobachter ist, beobachtet wird. Doch bleibt alles vergleichsweise harmlos. Große Überraschungen bleiben aus.

Trotzdem wirkt die Erzählung in ihrer ruhigen Tonalität, in der eigentlich nur der kindliche Protagonist greifbar wird, weniger die Mutter des Jungen. Schon das Mädchen, um die bald die Altersgenossen ebenfalls “kämpfen” werden, sind für Hauptfigur und Lesende kaum zu fassen. Man kann sich das dennoch alles bildlich vorstellen. Die Novelle wirkt, wie ein per Hand mit der Videokamera gedrehter Urlaubsfilm. Der Einzige, der sich dabei weh tun wird, ist der Protagonist selbst.

Das war es auch schon. Ein Roman ohne wirkliche Ecken und Kanten, zumindest das hat Erri de Luca schon einmal anders hinbekommen, doch zumindest welche glückliche Kindheit hat die schon? Man muss das nicht gelesen haben, bekommt jedoch den Kopf frei. Eine Novelle wie ein kleiner Erholungsurlaub ist das. Manchmal braucht man das auch. Wer würde da widersprechen?

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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SAID: Ein vibrierendes Kind

Inhalt:

In seinem nachgelassenen Roman “Ein vibrierendes Kind” erzählt SAID von seiner Kindheit und Jugend im Iran zwischen 1947 und 1965. Die Eltern sind geschieden und das Kind wächst beim Vater auf, der als Offizier viel unterwegs ist, sich aber liebevoll um seinen Sohn kümmert.

In seinem einfach gehaltenen, bildreichen Stil erzählt SAID von einer Welt und Gesellschaft, die so nicht mehr existiert, die ihn prägt und schützt, aber auch seinen Widerstand hervorruft, bis er das Land für immer verlässt – nicht zuletzt ermuntert durch seinen Vater. “Ein vibrierendes Kind” ist ein ans Herz gehendes Buch. (Klappentext)

Rezension:

Das Manuskript schon fertig, suchte der Autor und Poet einen passenden Verlag dafür, fand ihn und starb kurz vor der Veröffentlichung seiner Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in einem längst vergangenen Land. SAID, so sein Künstlername, der sich für politisch Verfolgte einsetzte, sich immer auch über sein eigenes Werk hinaus für die Vermittlung persischer Literatur engagierte, wandelte hier zwischen den Welten.

Und so liegt mit seinem Text “Ein vibrierendes Kind” eine Mischform vor, zwischen Epik und Lyrik, fast einem Langgedicht, dessen Abschnitte sich jedoch auch getrennt voneinander lesen lassen. In diesem Stil muss man erst einmal hineinfinden. Die ungewöhnliche Schreibweise, Großbuchstaben komplett außen vor zu lassen, tut ihr übriges, volle Konzentration denen abzuverlangen, die sich darauf einlassen, um dann in eine wundersame Welt der Erinnerungen einzutauchen.

ein kind für den samowar

jeden morgen wacht das kind mit seinem summen auf.
am abend arbeitet das kind für den samowar.
glühende kohle wird in einen kleinen drahtkorb gelegt, der korb hat
einen langen stiel, das kind greift zu seinem ende und rennt in den patio.
es dreht den kohlenkorb an seiner seite im kreis.
je schneller das kind ist, desto früher glüht die kohle.
dann rennt es ins haus und liefert die kohle für den samowar.’
großmutter mault, die tätigkeit sei zu anstrengend.
doch das kind verteidigt jeden abend sein naturrecht auf das amt.
es ahnt nicht, daß bald die moderne gegen das kind siegt.
bald kommen samoware mit öl.
dann steht das kind da –
ohne auftrag, ohne würde.

SAID: Ein vibrierendes Kind

SAID erzählt vom Aufwachsen zwischen den Frauen seines Vaters, Ausflügen und den feinen Geflogenheiten der Erwachsenen, die das Kind beobachtet, vom Zwischenspiel im Internat und dem Drang zur Kontrolle der Großmutter. Melancholie sticht durch, ebenso der kritische Blick, der schon dem kleinen Jungen und später dem Jugendlichen nicht fehlt, der seinen Weg sucht, finden und vom Vater gefördert wird. Schon aufgrund der Art des Textes, der sich nicht wirklich einer literarischen Gattung zuordnen lässt, der Verlag spricht vom Roman, ist dies etwas besonderes, wie auch der Autor zeit seines Lebens immer umtriebig war.

Autor:

SAID, eigentlich Said Mirhadi, wurde 1947 in Teheran geboren und war ein iranisch-deutscher Schriftsteller. Seit 1965 lebt er in München, ging 1979 für kurze Zeit in den Iran zurück, um dann entgültig nach Deutschland zurückzukehren. 2004 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft und schrieb Prosa und Lyrik, war zudem an der Produktion von Hörspielen beteiligt. Der Schriftsteller war Mitglied des PEN-Zentrums, 1995-1996 Vizepräsident dessen und von 2000-2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Er wurde mehrfach für sein Werk ausgezeichnet, etwa 2006 mit der Goethe-Medaille und 2014 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Er starb im Jahr 2021.

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Hendrik Bolz: Nullerjahre

Inhalt:

Ein Plattenbauviertel in Stralsund um die Jahrtausendwende, der nordöstlichste Winkel Deutschlands. Eine Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr “DDR” heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind die selben Nullerjahre.

Während die großen Brüder mit Glatze und Bomberjacke den Ton angeben, die Eltern mit eigenen Sorgen beschäftigt sind, stellen sich Hendrik und seine Freunde zwei Herausforderungen: Wie vertreiben sie sich die Zeit – und wie bekommen sie möglichst nicht auf die Fresse? Die Lösung findet sich: hart werden, stumpf werden. Die Mittel auch: Kraftsport, Drogen, Rap. (Klappentext)

Rezension:

Nach der großen Euphorie folgt zunächst die Ernüchterung. Arbeitsplätze brechen weg, wo blühende Landschaften versprochen wurden und so verlieren Hendriks Eltern und die seiner Freunde im Plattenbauviertel Knieper West den Anschluss an die Nachwendegesellschaft, während sich die Kinder und Jugendlichen ihren Platz erkämpfen. Der Weg bis ins Erwachsenenalter hinein ist steinig und voller Hindernisse. Da sind die im Viertel bekannten Schlägertypen noch das geringste Übel, immer öfter jedoch auch große Idole, denen es nachzueifern gilt, möchte man selbst nicht am unteren Ende der Rangordnung stehen. Oder am Boden liegen.

Hendrik Bolz’ biografischer Roman nimmt uns mit durch seine Kindheit und Jugend im Plattenbauviertel, in welchem sich zunächst die Probleme häufen, aber auch die Heranwachsenden ihren Weg erst finden müssen, bevor das Leben in geregelten Bahnen verlaufen kann. Bis dahin wird viel ausprobiert und so befindet sich des Autoren alter Ego hin und hergerissen zwischen Verlockungen, den ältere Jugendliche ihm aufzeigen, bis zu Versuchen, sich durchzusetzen und zwischen Richtig und Falsch zu unterschieden.

Erzählt wird dies in derber Sprache, kurze prägnante Sätze wechseln mit wirren Gedankengängen, Rückblenden und Vorausschauen. Das ist nicht leicht zu lesen, zumal, wenn man vielleicht in der gleichen Zeit, aber in einem etwas anderen Rahmen aufgewachsen ist. Wer etwas behüteter seine Kindheit und Jugend verbracht hat, wird nur bestimmte Dinge nachvollziehen können, denen sich der Protagonist ausgesetzt sieht, teilweise von der einen oder anderen Episode wirklich abgestoßen sein.

Den ersten Alkoholrausch, die erste Prügelei mag man vielleicht noch nachempfinden. Die Gewaltexzesse, die Null-Bock-Mentalität und Perspektivlosigkeit sind dem jugendlichen Ich des Schreibers der Rezension (Mir!) dagegen unbekannt. Vielleicht hatte ich diese damals nur bei anderen aus den Augenwinkeln heraus registriert.

Doch, der Protagonist beweist nicht nur Anpassungs- sondern auch eine gewisse Wandlungsfähigkeit, mausert sich. Das ist bereits zu Beginn klar, anderenfalls wäre die Lektüre stellenweise kaum zu ertragen und man hätte nichts weniger als eine zeitlich nähere Variante der “Kinder vom Bahnhof Zoo”. Wer möchte schon so etwas nochmals lesen?

Im gleichen Genre ist es jedoch angesiedelt. Die Bestsellerliste sagt Sachbuch, Elemente sind jedoch auch aus den Bereichen Biografie oder Roman zu finden. Die Wahrheit liegt da wohl irgendwo in der Mitte, ebenso wie es mehrere Wege der Generation Nullerjahre gibt. Hendrik Bolz beschreibt nur (s)eine Variante von vielen.

Autor:

Hendrik Bolz wurde1988 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Rapper. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Stralsund und zog nach dem Abitur nach Berlin, wo er u. a. ein Praktikum bei einem Online-Portal absolvierte und nebenbei die Musik für sich entdeckte. Ein erstes Album erschien 2011, zwei Jahre später die erste EP. 2022 erschien sein erstes literarisches Werk.

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Erri de Luca: Das Meer der Erinnerung

Inhalt:

Ein Sommer auf Ischia in den fünfziger Jahren. Während sich die anderen Jugendlichen aus der Stadt am Strand vergnügen, fährt der Ich-erzähler jeden Morgen hinaus aufs Meer. Von dem Fischer Nicola lernt er das Handwerk des Fischens, und Nicola ist auch der Einzige, der ihm vom Krieg erzählt. Die Abende verbringt er oft mit der Clique seines älteren Cousins. Dort lernt er Caia kennen, und ein überwältigendes Begehren ergreift den Sechszehnjährigen. Er ist überzeugt, dass Caia ein Geheimnis besitzt, und entschlossen, es in stiller Intimität ans Licht zu bringen. (Klappentext)

Rezension:

Längst ist das Salz in der Luft mit der Haut eins geworden. Die Netze haben Striemen hinterlassen und vom Bisss der Muräne bleibt eine eindrucksvolle Narbe auf der Handfläche zurück. Es ist Sommer auf der italienischen Insel Ischia und der zunächst, über weite Strecken namenlose Stadtjunge verwildert zusehens. Es sind die Beschreibungen solcher Szenen, die Erri de Luca besonders gelingen und einem in seine Geschichten eintauchen lassen.

Wer liest, nimmt in “Das Meer der Erinnerung” die Perspektive des Jungen ein, der beobachtet und wird damit selbst zum Beobachter des Insellebens. Das Meer ist einer der Handlungsorte und steht zugleich für die nicht verarbeitete Vergangenheit, das Ungesagte, auf dessen Spurensuche sich der Ich-Erzähler begibt. Sehr schnell wird der Beobachtende zum Handelnden.

Feinfühlig verweb der Autor verschiedene Themen mithilfe kunstvoller Sprache. Ruhig, fast melancholisch ist der Sprachstil, so unerbittlich ist das Nicht-mehr-Kind und der Noch-nicht-Erwachsene zu sich selbst. Nicht geschehene Vergangenheitsbewältigung thematisiert Erri de Luca ebenso wie das Verstehen-wollen und das Nicht-begreifen-können.

Das ist sehr viel in dieser kompakten Form, wird jedoch genügend auserzählt. Das halb offene Ende wirkt hier etwas holzschnittartig und passt nicht wirklich zum Rest der Novelle. An den Themen, des vielschichtig ausgearbeiten Protagonisten liegt es nicht. Nur der Tupfen auf dem I fehlt, vielleicht versunken auf den unerreichbaren Gründen des Meeres.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Mein Rückblick durch’s Bücherjahr 2021

Immer wieder stelle ich fest, dass gerade in, sagen wir, fordernden Zeiten, mir Bücher einen besonderen Halt geben. Mit dem Lesen einiger Seiten auf den Weg zur Arbeit oder vor Hochfahren des Büro-Laptops im Home Office starte ich in den Tag, abends auf den Nachhauseweg in der U-Bahn schaufel ich mir mit Büchern den Kopf frei und komme auf andere Gedanken. So habe ich dieses Jahr viele Bücher für mich entdecken können, mehr gelesen als etwa im Jahr 2020, erstaunlicherweise mit vergleichsweise wenigen Totalausfällen. Nur einen Abbruch hatte ich auf den Zähler. Darum soll es heute aber nicht gehen. 2021 war für uns alle anstrengend genug. daher habe ich mich dazu entschlossen, meinen Rückblick auf die Lese-Highlights des Jahres zu beschränken und die anderen Werke aus meinem Gedächtnis zu verdrängen. Wer diese sich noch einmal zu Gemüte führen möchte, den bleibt nichts übrig, als die Rezensionen zu durchstöbern. Hier soll es heute nur um die Highlights gehen. Über die Flops sprechen wir zu oft.

Eine Top 10 auszuwählen, ist mir dabei nicht gelungen, so zeige ich ganze zwanzig Bücher, die ich in positiver Erinnerung habe. Von der Belletristik bis zum Sachbuch, von der Neuerscheinung bis zur Backlistliteratur ist alles dabei. Natürlich könnte ich noch viel mehr Werke nennen, aber ihr kennt den Ausdruck: “Das sprengt den Rahmen!”. 🙂

Während Björn Stephan mich mit seinem Schreibdebüt, einem sensiblen Coming of Age Roman, überraschen konnte, entführte mich Esther Horvath gleich zu Beginn des Jahres in die eisigen Gefilde der Arktis. Sie begleitete die bis dato größte von den Forschern des deutschen Alfred-Wegner-Instituts angeführte Polarexpedition, auf dem Eisbrecher “Polarstern” und brachte beeindruckende Fotos mit nach Hause, die sie in diesem Bildband versammelt hat. Stephan Orth nahm seine LeserInnen dagegen in ein nahezu noch unbekanntes Land. Saudi-Arabien. Immer, Auge und Auge mit Scheichs und Kamelen. Unvergessen natürlich, das Interview, welches ich mit ihm führen durfte.

Christa von Bernuths Kriminalroman “Tief in der Erde”, der auf wahre Begebenheiten eines spekatkulären Falls der bundesdeutschen Kriminalgeschichte beruht, gehört im Bereich True Crime zu meinen Highlights, wie auch Sasha Filipenko, der mit seinem Roman “Der ehemalige Sohn” tief in die belarussische Gesellschaft Einblick nehmen lässt. Noch nie habe ich einen, über weite Strecken, so deprimierenden Roman gelesen, der jedoch sehr eindrucksvoll zu lesen ist und deshalb definitiv zu meinen Highlights zählt. Olga Grjasnowas Essay über den Nutzen von Mehrsprachigkeit war nichtminder aufschlussreich.

Genau so wie ich Olga Grjasnowas Ausführungen zur Mehrsprachigkeit empfehlen kann, möchte ich allen Natasha A. Kellys Essay über Rassismus ans Herz legen. Hier beschreibt sie, woher Rassismus kommt, wie das wirkt und wie wir dieses strukturelle Problem lösen können. Ihr Werk hatte in jedem Fall den Preis für die am schwersten zu schreibende Rezension gewonnen. So oft habe ich, glaube ich, selten, nach den richtigen Worten gesucht. Khue Pham beeindruckte mit ihrem halbbiografischen Roman einer über die Welt verstreuten, ursprünglich aus Vietnam stammenden Familie und Stefanie vor Schulte mit einer sprachlich so anspruchsvollen erzählung, die ihres Gleichen sucht.

Familiengeschichten oder Coming of Age dominierten bei mir im Bereich der Belletristik und so kann ich auch Alex Schulman “Die Überlebenden”, wie auch das Debüt von janina Hecht “In diesen Sommern” zu meinen Highlights zählen. In beiden Romanen geht es um Kindheiten und den nicht ganz so einfachen Umgang damit, im Erwachsenenalter, während Ariel Magnus in seinem Roman “Das zweite Leben des Adolf Eichmanns”, den eben genannten wieder lebendig werden lässt, bis zu seiner Entführung und Verhaftung durch Agenten des israelischen Geheimdiensts Mossad. Spannend und erschreckend zugleich , einmal diese Perspektive einzunehmen.

Wie bekommen wir die Fragestellungen und Probleme, die sich gerade jetzt klar und deutlich zeigen, in den Griff? Wo liegen die Stellschrauben im Gesundheitssystem und unserer Gesellschaft? Was muss sich ändern, da Applaus nicht genug ist? Diese Fragen stellt der Journalist David Gutensohn und zeigt, wie Lösungen aussehen können und was in winzigkleinen Schritten schon jetzt passiert oder, wo es noch viel zu tun gibt. Frank Vorpahl entwirrt derweil Mythos und Wirklichkeit um Heinrich Schliemann und Xose Neira Vilas’ Novelle “Tagebuch einer Kindheit in Galicien” war genau so erschreckend, wie düster, wie hoffnungsvoll.

Der Historiker Uwe Wittstock zeigt in seinem romanhaft anmutenden Sachbuch “Februar 33 – Der Winter der Literatur”, wie schnell Kunst und Kultur von den Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme vereinnahmt wurden und Schriftsteller, wie Künstler, ins Abseits gedrängt oder für ideologische Zwecke ausgenutzt wurden. Das Werk zählt wohl bei so Einigen zu den Highlights, wie vielleicht auch “Shuggie Bain” von Douglas Stuart, eine traurigere und trostlosere Version und Mischung aus “Billie Elliott” oder Frank McCourts “Die Asche meiner Mutter”. Fast möchte man die Hauptfigur aus den Roman herausziehen, und sie vor allem Übel der Welt beschützen.

Last, but not least. Karsten Krogmann und Marco Seng konstruierten in ihrem Sachbuch “Der Todespfleger” die Geschichte des Krankenpflegers Niels Högel, der zum größten Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte avancieren sollte, zeigen die Mühlen der Justiz auf, eben so wie deren Schlagkraft, während Roman Deininger und Uwe Ritzer noch einmal Olympia 1972 aufleben lassen, welches so anders werden sollte, als die Spiele der Nazis 1936, und dann doch durch einen Terroranschlag in ihren Grudnfesten erschüttert wurden. Nach zwei Sachbüchern, zu guter Letzt ein wunderschöner Roman, “Heaven”, von Mieko Kawakami, über Mobbing und zarter Freundschaft.

Das waren sie nun, meine zwanzig Highlights des Jahres, die ich um noch weitere Werke hätte ergänzen können, doch lade ich euch natürlich ein, im Rezensionsverzeichnis nach Herzenslust zu stöbern, nach diesen oder nach anderen Werken, nicht nur Highlights, aber eben auch. Es hat mir wieder großen Spaß gemacht, so vielschichtig, auch für euch, zu lesen und ich freue mich auf das kommende Lesejahr, was hoffentlich genau so abwechslungsreich und spannend werden wird.

Vielleicht ist ja das eine oder andere Werk, auch für euch, dabei?

Bis zum nächsten Jahr. Nicht vergessen, wir lesen uns.

Viele Grüße,

findo.

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Douglas Stuart: Shuggie Bain

Inhalt:

Glasgow zur Thatscher-Zeit. Shuggie wäre gern wie die anderen Jungen in der Arbeitersiedlung, aber sein Gang ist feminim und er hasst Fußball, was in der Schule brutal geächtet wird. Er liebt alles Schöne, vor allem seine Mutter Agnes, die der Armut und Tristesse ihres Daseins mit stolzer Eleganz und makellosem Make-up entgegentritt, egal wie viel sie getrunken hat.

Sie vorm Trinken zu bewahen, ist die Aufgabe, der sich Shuggie mit unbedingter Liebe verschreibt, bis er irgendwann erkennen muss, dass er nur sich selbst retten kann. (Klappentext)

Rezension:

Offenbar scheinen sie gut zu funktionieren, die Romane, die autobiografisch angehaucht vom Strukturwandel, besser vom brutalen Umbruch der Thatcher-Jahre, erzählen, als vor allem in Arbeiterstädten die Menschen dank der rücksichtslosen Reformen plötzlich vor dem Nichts standen.

Das hat mit “Billy Elliot” von Lee Hall geklappt, auch mit der Kulisse der benachbarten irischen Inseln im Roman “Die Asche meiner Mutter” von Frank McCourt ist das so, auch wenn dessen Handlung ein paar Jahrzehnte früher angesetzt ist. Brüche können sie dort wunderbar ausformulieren. Da fügt sich das Autorendebüt von Douglas Stuart gut ein.

Erzählt wird eine Geschichte der Trost- und Hoffnungslosigkeit aus der Sicht des zu Beginn fünfjährigen Shuggie, und die ihn umgebenden Menschen, die mit der Schließung der Zechen und Tagebaue in ihrer Umgebung auf der Verlierseite der Reformen Thatchers stehen. London ist weit weg, Alternativen nicht in Sicht und so ist ein Großteil der Glasgower Bevölkerung plötzlich arbeitslos.

Die Armut drängt die Menschen, so auch Shuggies Familie, in die Armenviertel der Stadt, seine Mutter Agnes in die Alkoholsucht. Der Vater ist ohnehin in absentia. In den ersten Jahren kann der Abstieg noch kaschiert werden. Die Mutter trägt schöne Kleider, der Gaszähler wird da schon mehrmals manipuliert und auch sonst kämpft sich die Familie so durch. Die Fassade indes bekommt bereits zu Beginn der Geschichte, Anfang der 1980er Jahre, erste Risse.

So kommt sie ins Rollen, diese traurige Erzählung, in der Shuggie all das erleidet, was man keinem Kind zumuten möchte. Mittelpunkt des Romans ist die titelgebende Hauptfigur, doch genau wie der Autor durch die Jahre springt, wechselt er auch die Perspektiven, so ist Shuggie nicht der Einzige, aus dessen Sicht erzählt wird.

Das macht die Figuren greifbar, für manches Verhalten mag man ein wenig Verständnis aufbringen. Das verpufft dann mit den nächsten Abschnitten gleich wieder. Wie viel vermag ein Mensch zu etragen, möchte man fragen.

Douglas Stuart vermag es der Hoffnungslosigkeit einer ganzen Generation und der Sicht eines Kindes eine Stimme zu geben. Das gelingt, zumal der Autor hier einzelne Punkte seiner Biografie und Kindheitserinnerungen einfließen lässt, so dass man sich von Zeile zu Zeile fragt, welche beschriebenen Punkte nun auf tatsächlichem Erleben beruhen.

Die Protagonisten, auch Shuggie, sind Figuren mit Ecken und Kanten. Schnell hat man ein entsprechendes Bild von ihnen vor Augen, muss ob der Schilderungen mehr als einmal innehalten und durchatmen. Anders ist die Geschichte nicht zu ertragen. Düstere Momente durchziehen den Roman, nur selten unterbrochen, durch Hoffnungsschimmer. Das Erzähltempo tut das Übrige. Momente der Länge gibt es kaum.

Ein Debüt ist das, von den man kaum merkt, dass es eines ist. So gekonnt geht der Autor mit Sprache um. Anders ist die eindrückliche Übersetzung von Sophie Zeitz nicht zu erklären. Man darf also gespannt sein, was da als nächstes kommt. Und dann könnte sogar das Ende ein wenig runder werden. Hier merkt man es an einigen Stellen doch.

Autor:

Douglas Stuart wurde 1976 in Glasgow geboren und ist ein schottisch-amerikanischer Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Modedesign und zog nach New York City, wo er als Modedesigner für Calvin Klein, Ralph Lauren und Gap arbeitete. “Shuggie Bain” ist sein erster Roman, für den er 2020 mit den Booker Prize ausgezeichnet wurde, zudem gelangte sein Werk auf die Shortlist des amerikanischen National Book Awards.

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Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Inhalt:

Erzählt wird die Geschichte des kleinen Balbino, ein Bauernkind aus einem kleinen Dorf in Galicien, das gegen die Ungerechtigkeiten der galegischen Gesellschaft jener Zeit ankämpfen muss: Armut, harte körperliche Arbeit von Kindesbeinen an, fehlende Bildung und Demütigungen durch die Machthaber im Dorf, dabei stets erfüllt von der Sehnsucht nach Erwachsensein, um möglichst bald diesem Ort zu entfliehen. (am Klappentext angelehnt)

Rezension:

Archaisch ist die Welt, in der der kleine Balbino aufwächst. Der Horizont ist nicht weit. Er reicht von der Hütte bis zum Fluss, über die Felder bis zum Dorf. Begrenzt ist der Blick und doch, zumindest bei dem Jungen nicht seinem Schicksal ergebend. Groß möchte er werden, erwachsen, wie seine Eltern, seine Tante, dem Herren, von dem seine Familie Land gepachtet hat, dessen Felder sie bestellen und Vieh sie hüten müssen.

Nur so wird es ihm möglich sein, diesem Leben zu entfliehen, wie es sein Bruder einst tat. Der Armut, der eintönigen Arbeit, den Schlägen der Eltern und der Hänseleien vom Sohn des Herren. Balbino beobachtet seine Umgebung sehr genau. Er notiert sie in ein Heft und nimmt uns dabei mit.

So beginnt die Geschichte, die als einziges von Xose Neira Vilas’ Werken ins Deutsche übersetzt vorliegt. Sie erzählt von einer längst vergangenen Leben, wie es das in Zeiten, in der die kleine Novelle hierzulande erschien, längst nicht mehr gab. Zumindest in Europa. Der Autor setzte seiner Kindheit und der vieler anderer ein Denkmal. der Junge unbestimmten Alters, kaum im Schulalter, beobachtet mit uneingeschränkten Blick die Welt der Erwachsenen, die aus Kinderaugen heraus eigentlich groß und überwältigend erscheinen müssen. Doch schon in jungen Jahren sieht Balbino die Enge.

“Ein Freund, wenn er wirklich einer ist, ist das Beste, was es auf der Welt gibt.” – “Freunde zu haben ist mehr wert, als Geld zu besitzen.” – “Ein Freund gibt dir alles und verlangt nichts; und wenn es sein muss, stirbt er für dich.” Da merkte ich, dass mir ein Freund fehlte.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Episodenhaft wird die Geschichte aus der Sicht des Kindes beschrieben. Ruhige Töne, kurze prägnante und immer wieder sehr poetische Sätze durchziehen den Text. Kurze Momente des Glücks wechseln mit langen der Melancholie Detailreiche Beschreibungen, da wird ein kleines Kästchen zum Dreh- und Angelpunkt der Sehnsucht des Jungen, welche im nächsten Moment wieder zerstört wird. Balbino aber will sich nicht fügen in sein vorbestimmtes Schicksal, wie das die Erwachsenen tun, und so nimmt die Geschichte ihren Lauf. das Erzähltempo beschleunigt sich mit Zunahme der Kapitelzahl.

Unsere Hände sind klein und schaden niemandem; ihre aber sind kräftig, sie tun weh. Wenn sie bereit wären, von uns zu lernen, gingen sie nicht in den Krieg. Im Krieg töten sie einander, meist, ohne überhaupt zu wissen, warum.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Trotz der feinsinnigen Beobachtungen, die ausführlich geschildert werden, bleiben die anderen Protagonisten gleichsam blass und unscheinbar, sowie der Staub der Feldarbeit in ihren Gesichtern. Was sonst passiert, ist auch egal. Das Kind lebt, hofft und bangt, zittert und weint, schlägt sich durch. Der kleine Hauptprotagonist sticht heraus. Urplötzlich, nach einem Dahinplätschern der Handlung steht man vor einem Wendepunkt, den Abrgund, an dem Balbino sich entscheidet. Halboffen ist das Ende, der Konflikt kaum gelöst. Lesen sollte man das nur, wenn man in der richtigen Stimmung ist, über weite Strecken Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zu ertragen.

Ich habe gelesen, dass die Flüsse ins Meer strömen und dass wir uns ebenso und mit derselben Eile auf den Tod zubewegen. Wenn man darüber nachdenkt, möchte man am liebsten weinen.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Trotzdem, lesenswert ist es allemal. Nicht nur um daran erinnert zu werden, dass es auch in unserer Zeit, vielleicht nicht in Europa aber anderswo, immer noch Kinder gibt, die dergleichen erdulden müssen. Armut sowie so, ein Leben ohne Chance auf Bildung und wenn sie diese sehen, sie diese selbst ergreifen müssen, ohne liebevolle Erwachsene, abhängig von anderen. Auch ist es die Geschichte von Xose Neira Vilas selbst, wie groß der biografische Anteil des Autoren daran ist, wie viel selbst Erlebtes er hat einfließen lassen, ist nicht unbedingt klar. Die “Memorias” sind ein Denkmal für eine ganze Generation, einer ganzen Region, eingordnet in einem ausführlichen Nachwort.

Wer sie sich zu Gemüte führt, wird Stoff zum Nachdenken haben. In sofern straft sich der erzählende Protagonist am Ende des Einführungskapitels selbst Lügen. Diese Novelle ist schon etwas Besonderes.

Autor:

Xose Neira Vilas wurde 1928 geboren und war ein galegischer Schriftsteller. Nachdem er nach Argentinien auswanderte kam er in Kontakt mit anderen Schriftstellern Galiciens, emigrierte später nach Kuba und gründete dort ein Institut zur Aufbewahrung und Erforschung galegischer Schriften. Er selbst schrieb zahlreiche poetische, und Prosawerke, Essays. Sein Roman “Memorias” ist bis heute sein einziges Werk, welches ins Deutsche übersetzt wurde. Er starb 2015, nachdem er in seinen Heimatort zurückgekehrt war.

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Janina Hecht: In diesen Sommern

Inhalt:

Behutsam tastet sich Teresa an ihre Kindheit und Jugend heran, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. erste unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen sommersonne.

Doch die unbeschwerten Momente werden immer wieder eingetrübt von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwelt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie – alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Warum sich Erinnerungen vermischen, gute die weniger schönen manchmal überdecken, doch schlechte nicht ganz vergessen werden können, kann sich Teresa nicht erklären. Spielt dies überhaupt eine Rolle, wenn man den Ausgang einer Geschichte kennt? Wie wichtig ist es, nicht nur die gegenteiligen Seiten zu betrachten, sondern auch die Zwischentöne? Janina Hecht beschreibt in ihrem Debüt die Geschichte einer Familie, der sich diese Fragen stellen.

“Manchmal würde ich gerne einer Version meines Vaters vertrauen. Eine Antwort haben auf die Frage, wer er war. Ich lege die Ereignisse wie Schichten aus Transparentpapier und versuche zu erkennen, was durchscheint.

Janina Hecht: In diesen Sommern

Das Zitat beschreibt übrigens sehr gut den Aufbau des Romans.

Die ersten Gedanken an die Kindheit werden beherrscht von schönen Gedanken. Das gemeinsame Bepflanzen von Blumenkästen mit der Mutter, der Vater, der der Tochter das Fahrradfahren lehrt. Das Kind saugt dies alles auf und beobachtet ihre Umgebung, die Eltern und den zwei Jahr jüngeren Bruder. Doch schon zu Beginn mischen sich ernstere Momente unter, die das Schulkind zunächst nicht einordnen kann, doch mit den Jahren werden die Ausfälle des Vaters häufiger. Die Angst verhindert da noch das Auseinanderbrechen.

“Ich merke, wie ich manchmal Momente gegeneinander abwäge. Und mich frage, ob man das überhaupt tun darf. Ob man Szenen ausstreichen kann, die nicht ins Bild passen und für Unruhe sorgen.”

Janina Hecht: In diesen Sommern

Aus Sicht von Teresa wird sehr leise eine Geschichte erzählt, die unscheinbar daherkommt und zunächst nur Andeutungen macht, die ähnlich den beschriebenen Ereignissen immer mehr an Konturen gewinnt, je näher diese der erzählenden jungen Erwachsenen liegen. Nur langsam schält sich das Problem des Vaters heraus und rückt in den Vordergrund. Ein jeder der Anderen muss damit umgehen und tut dies auf eigene Weise. Schnell wird klar, so wie es nicht für alles eine Erklärung gibt, ist die Lösung niemals einfach.

Kompakt erzählt Janina Hecht eine Geschichte, wie sie in ähnlicher Form wohl in vielen Familien vorkommt. Dicht folgen die Kapitel aufeinander. Zwischentöne werden nach und nach durch klare Schilderungen ersetzt. Wer das dann liest, sollte das passende Nervenkostüm besitzen. Es ist ein Roman, bei dem ernsthaft über den Sinn einer Spoilerwarnung diskutiert werden kann.

Der Textauszug, den der Verlag in der Erstauflage statt des Klappentextes druckt, dürfte dies verdeutlichen, gibt jedoch auch einen guten Eindruck vom Erzählstil wieder, der nicht viele Worte benötigt, Geschehen unausgesprochen lassen kann. Trotzdem entstehen sofort Bilder, die nicht so schnell loslassen.

“Mein Vater, wie er ganz ruhig den Tag beginnt, nicht ausgeglichen, aber stabil. Nie schrie er am Beginn des Tages, er ging mit vorsichtigen Schritten, manchmal etwas Weiches in seinem Gesicht. Als hätte sich erst danach etwas verändert, als führten erst der Mittag und der Nachmittag in eine andere Richtung, und an jedem Morgen hätte es die Möglichkeit zu einem anderen Verlauf der Geschichte gegeben, die ich schreibe.”

Janina Hecht: In diesen Sommern

Autorin:

Janina Hecht wurde 1983 geboren und ist eine deutsche Lektorin und Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Psychologie, später Neuere deutsche Literatur und Linguistik, arbeitete in verschiedenen Positionen bei Verlagen. Im Goethe-Institut in Tunis absolvierte sie ein Praktikum. “In diesen Sommern” ist ihr Debütroman.

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Björn Stephan: Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau

Inhalt:

Sommer, 1994. Sascha Labude ist ein etwas verträumter 13-Jähriger, der einzigartige Worte sammelt. Sein Leben ist relativ ereignislos, also abgesehen davon, dass das alte Land untergegangen und Saschas Vater verstummt ist und sein bester Freund Sonny so berühmt werden will wie Elton John.

Doch dann zieht Juri in die Siedlung, ein Mädchen, das alles über das Universum weiß und ganz anders ist als Sascha – nämlich mutig. sogar so mutig, es mit den schlimmsten Schlägern der Siedlung aufzunehmen. (Klappentext)

Rezension:

Der Brief, er liegt schon länger auf dem Schreibtisch des einstigen Kindes, wird geöffnet. Erinnerungen durchfluten Jenni, die nun junge Frau, die bis dahin erfolgreich verdrängt hat, was damals passierte. Die Perspektive wechselnd, Leserin und Leserschaft reisen zurück, in eine Zeit, in der sich alles veränderte, nichts blieb, wie es vorher war.

Beinahe zu ruhig beginnt das Autorendebüt, was uns Leserschaft hier vorliegt und wird doch immer schneller, heftiger werden, mit jeder Zeile, die uns in die Geschichte einsaugt. Wir begleiten den Hauptprotagonisten, der sich selbst für nicht sichtbar für seine Umgebung hält, durch die Tage.

Selbst die Schläger, die im selben Treppenaufgang wohnen, wie er, beachten Sascha nicht. Dem verträumten Jungen, der noch blasser neben seinem besten Freund wirkt, ist dies nur Recht. Seinen größten Schatz hütet er in einem unscheinbaren Heft. Wörter, die es nur einmal auf der Welt in einer einzigen Sprache gibt und die nur dort eine bestimmte Bedeutung haben. Sascha sammelt sie, hält fest, um sich an etwas zu halten. So kann es bleiben.

Tut es nicht. Diesen Sommer wird sich das Lebend es Jungen schlagartig ändern, wie auch die Welt um ihn herum sich ändert. So beobachtet der/die Lesende den Hauptprotagonisten, der zunächst Beobachter, dann Akteur der Ereignisse ist.

Vielschichtig sind die Protagonisten um ihn herum, die Beschreibungen Björn Stephans tun ihr übriges, um sofort den typischen Geschmack des damals angesagten Kaugummis im Mund zu haben und die flirrende Umgebung der Plattenbauten zu spüren, die den Handlungsort prägen. Der Autor indes hat sich hier viel vorgenommen.

Er erzählt von der Zeit zwischen Kindheit und Jugend, von Freundschaft und erster Liebe, von Beobachtung und Irrtum, Angst, Mut und dem Erkennen, dass nichts ist, wie es scheint.

Stephan gelingt es kunstvoll, nicht nur Zeitsprünge zu verbinden, sondern auch Klippen des Kitsches zu umschiffen, einmal haarscharf, zudem mehrere Enden unterzubringen. Jeder Strang wird zu Ende erzählt. Lücken werden durch das Kopfkino gefüllt, besonders gegen Ende eine kleine Herausforderung für die Leserschaft.

Ein Roman, der auf vergleichsweise wenigen Seiten so viel zu erzählen hat und auf mehreren Ebenen die Lesenden nachdenklich zurücklässt, dabei sprachlich schön geschrieben ist, bleibt. So wie die Wörter in Saschas Heft.

Autor:

Björn Stephan wurde 1987 in Schkeuditz geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Aufgewachsen in Schwerin, studierte er zunächst in Berlin Geschichte und Politikwissenschaft und besuchte anschließend die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Er schreibt für die Zeit, die Süddeutsche Zeitung, arbeitet als freier Reporter. Seine Texte und Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Sozialpreis und dem Reporterpreis. Im Jahr 2021 erschien sein erster Roman. Der Autor lebt in München.

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