Leben

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Inhalt:
Der zwölfjährige Bird lebt mit seinem Vater in Harvard. Seit einem Jahrzehnt wird ihr Leben von Gesetzen bestimmt, die nach Jahren der wirtschaftlichen Instabilität und Gewalt die »amerikanische Kultur« bewahren sollen. Vor allem asiatisch aussehende Menschen werden diskriminiert, ihre Kinder zur Adoption freigegeben. Als Bird einen Brief von seiner Mutter erhält, macht er sich auf die Suche.

Er muss verstehen, warum sie ihn verlassen hat. Seine Reise führt ihn zu den Geschichten seiner Kindheit, in Büchereien, die der Hort des Widerstands sind, und zu seiner Mutter. Die Hoffnung auf ein besseres Leben scheint möglich. Eine genauso spannende wie berührende Geschichte über die Liebe in einer von Angst zerfressenen Welt. (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Wenn es ein dystopischer Roman geschafft hat, mich in seinem Bann zu ziehen, ist es die Erzählung „Unsre verschwundenen Herzen“ aus der Feder der amerikanischen Schriftstellerin Celeste Ng, gerade weil sie zahlreiche Parallelen zu Geschehnissen rund um den Globus aufweist, die bereits in Ansätzen brutale Realität geworden sind.

Ein Jahrzehnt nach einer die Wirtschaft erschütternden Krisensituation haben die Vereinigten Staaten ihr weltoffenes Gesicht gewandelt. Ein, abweichende Meinung unterdrückendes Land steht nun an dessen Stelle und es sind vor allem Menschen mit asiatischen Hintergrund, die für die wirtschaftlichen Spannungen verantwortlich gemacht und nun mit allen politischen Mitteln ausgegrenzt werden.

Schon ein von der Mehrheit abweichendes Aussehen reicht, um in Verdacht zu geraten, Aufrührer zu sein. Menschen verschwinden, nicht zuletzt Kinder werden von ihren Eltern getrennt. In dieser Welt nun wächst Bird auf, der zusammen mit seinem Vater auf dem Gelände des Harvard-campus lebt.

Der arbeitet in der dortigen Bibliothek und schärft seinem Sohn ein, nur ja nicht aufzufallen, denn auch Bird hat das asiatische Aussehen seiner Mutter geerbt, die kurz nach Beginn der Wirtschaftskrise die Familie verließ, um ihn zu schützen. Doch dem Jungen begegnen im Laufe der Zeit nicht nur eine Geschichte aus seiner frühen Kindheit, so dass dieser sich auf eine Suche begibt, die einem Lauf auf einem Drahtseil gleicht. Wohin wird sie führen?

Allmählich verstand sie, wie es ablief. Man sagte etwas, und jemanden gefiel es nicht. Man tat etwas, und jemanden gefiel es nicht, aber vielleicht tat man auch nichts, und jemanden gefiel auch das nicht.

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Dies ist das Grundgerüst der Geschichte, die zunächst etwas sperrig, fast unnahbar daherkommt und dann doch schnell zu fassen ist. Düster die Tonalität schon zu Beginn sehen wir ein Szenario, welches in Ansätzen bereits Wirklichkeit ist. Parallelen etwa zu Trumps Trennung von Eltern und Kindern, die illegal über die mexikanisch-amerikanische Grenze geflüchtet waren und dann aufgegriffen wurden, sind nicht rein zufällig. Auch anderswo auf der Welt passiert ähnliches.

So ist die Geschichte, die einen Zeitraum von wenigen Tagen umfasst, mit Rückblenden in die Vergangenheit, sehr greifbar. Tragende Hauptfigur ist der junge Protagonist, der zwischen den Stühlen der Erwachsenen steht, und nicht zuletzt seine eigene Geschichte verstehen möchte. Die Gegenseite bleibt dabei unscharf. Ein Nebel, der nicht zu fassen ist. Eine stets präsente Bedrohung, die kein Gesicht braucht, nur durch brutale Konsequenzen definiert wird.

Da war etwas. Man hatte etwas getan, man hatte etwas gesagt, man hatte nichts getan, man hatte nichts gesagt.

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Der Handlungsstrang wird dominiert durch den Blickpunkt des Protagonisten, während in Rückblicken die Perspektiven anderer Figuren dominieren. Erst daraus ergibt sich das Gesamtbild, welches in sich schlüssig erzählt wird.

Trotz der ruhigen Erzählweise gelingt es der Autorin ein interessanteres, da noch mehr zur Realität möglich werdendes Szenario aufzubauen, als zum Beispiel Margaret Atwood oder etwa, im Jugendbuch-Bereich, Suzanne Collins. Dabei passiert, über die Zeilen gepeilt, eigentlich nicht viel. Celeste Ng versteht es jedoch, Nadelstiche an der richtigen Stelle zu setzen, die es einem kalt über den Rücken laufen lassen. Auch funktioniert hier das Stilmittel des halboffenen Endes, ohne so zu wirken, als wüsste die Autorin sonst nicht, wie sie die Handlungsstränge hätte auslaufen lassen sollen.

Wahrscheinlich ist gar nichts, aber –
Ich dachte nur, ich sollte etwas sagen, falls –
Natürlich, ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist aber –
Dann tauchten überall in der Stadt die ersten Plakate auf. Im ganzen Land.
Vereinte Nachbarn sind friedliche Nachbarn, wir passen aufeinander auf.

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Diese Dystopie, die in einigen Fascetten bereits an verschiedenen Schauplätzen Realität geworden ist, kommt sehr plastisch daher. Es ist zugleich eine Darstellung von Verbotskultur und dem, was Literatur in schweren Zeiten an Hoffnung geben kann, um zumindest eine aufhellende Komponente zu haben. Man kann sich das alles sehr gut vorstellen.

Auch die Recherche und Einarbeitung asiatischer Diskriminierungserfahrungen haben der Erzählung gut getan, zumal die Autorin eventuell sicher auch Beispiele aus eigenem Erleben bringen könnte. Diese Verflechtung wirkt und hat eine Erzählung geschaffen, die so schnell nicht loslässt und zugleich eine Warnung ist, sollte wieder einmal ein Bauernopfer für eine bestimmte Situation gesucht werden.

„Unsre verschwundenen Herzen“, sollten einen Platz auf jeder Leseliste haben.

Autorin:

Celeste Ng wurde 1980 in Pittsburgh geboren und ist eine US-amerikanische Schriftstellerin. Zunächst studierte sie Englisch und Kreatives Schreiben in Harvard und Michigan und gewann für eine Kurzgeschichte den Hopwood Award, sowie den Pushcart Prize, 2012. Ihr erster Roman erschien 2014, 2020 eine Miniserie basierend auf ihrem zweiten Werk, welches 2017 veröffentlicht wurde. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Cambridge.

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Karine Tuil: Diese eine Entscheidung

Inhalt:

In einem Hochsicherheitstrakt des Pariser Justizpalastes muss die charismatische Untersuchungsrichterin Alma Revel über die Festsetzung oder Freilassung eines blutjungen Mannes entscheiden, gegen den ein Terrorismusverdacht vorliegt. Doch nicht nur beruflich ist Alma extrem gefordert.

Ihre Ehe ist am Ende und sie stürzt sich Hals über Kopf in eine Affäre, ausgerechnet mit dem Anwalt, der nun den Terrorverdächtigen verteidigt. Alma trifft eine folgenschwere Entscheidung, die ihr Leben und ihr Land auf den Kopf stellen wird. Was sind wir bereit aufzugeben, um unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten? (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung wie ein französischer Film möchte man meinen, ganz so schlimm verhält sich der Roman der Schriftstellerin Karine Tuil jedoch nicht. Dennoch steht hier ebenso eine zentrale Frage über die Geschichte, an deren Ende wir einsteigen, um dann dem eigentlichen Weg dorthin zu verfolgen. Ein Attentäter hat in einem Pariser Nachtclub mehreren jungen Menschen das Leben genommen. Videoaufnahmen von der Tat sind das, was davon übrig bleibt. Und die Frage nach der Schuld, die sich vor allem Alma Revel stellt. Hat ihre Entscheidung dazu geführt, dass dies geschehen konnte?

Verhältnismäßig ruhig wirkt der Roman schon zu Beginn, wenn er zwischen den Gegebenheiten, beinahe, eines Justizthrillers und der gesellschaftlichen Bestandsaufnahme schwankt, die die Autorin in ihrer Geschichte verpackt. wie weit müssen wir gehen, um einer möglichen zukünftigen Bedrohung schon im Vorfeld Herr zu werden, sie gar zu verhindern, wenn dies auch heißt, die Freiheit des Einzelnen einzuschränken? Wie weit sollten wir gehen, um uns und andere zu schützen und wie gehen wir mit den Konsequenzen eines ungewissen Ergebnisses um?

Karine Tuil lässt diese Fragen allesamt auf ihre Hauptprotagonistin einstürzen, deren zwei Seiten, wie Ecken und Kanten wir im Verlauf der Geschichte kennenlernen. Zum Einen, wenn es darum geht, wie diese, als Untersuchungsrichterin, den Angeklagten zu vernehmen, zum anderen, wenn die Konsequenzen des Beruflichen das eigene Privatleben grundsätzlich in Frage stellen. In kompakter Erzählweise wird dabei ein Zeitraum von wenigen Wochen erzählt, der zwangsläufig in die vorweg genommene Katastrophe münden muss. Vielleicht interessant zu erwähnen, dass in Europa vor allem die französische Literatur sich gefühlsmäßig so mit diesen Fragen auseinandersetzt.

Im Fokus steht hier neben der Hauptprotagonistin die vernommene Person, die den gesamten Verlauf gewollt kaum fassbar sein wird, sowie als Gegenüber dessen charismatischer Anwalt, der die Gegenseite vertritt und damit das Prinzip der Rechtstaatlichkeit, dass alle vor Gericht gleich sein sollen. Es ist natürlich jedoch auch der Part, der die Prinzipien der Hauptfigur in Frage stellen muss und somit eine gewisse Dynamik ins Handlungsgeschehen hineinbringt.

Das beschränkte Figurenensemble, sowie die wenigen Handlungsorte lassen die Erzählung sehr konzentriert erscheinen, zumal die wenigen Perspektivwechsel klar erkennbar voneinander getrennt werden. Moralische Fragen werden immer wieder auf das Tableau gebracht. Die Handlung wirkt dabei in sich schlüssig. Gewollt lenkt Karine Tuil die Gedanken und Sympathien der Lesenden in eine ganz bestimmte Richtung, um natürlich eine gewisse Wirkung gen Ende zu erzielen.

Was den Anteil des Justizthrillers an dem Roman angeht, so ist hier kein Verständnis des französischen Rechtssystems von Nöten. Grundlegende Kenntnisse des Selbstverständnisses des französischen Wertesystems, welches man im Allgemeinen schon im Geschichtsunterricht mitbekommt, sollten die meisten ohnehin aufgrund von Allgemeinbildung besitzen. Alles andere ergibt sich. Die Autorin lässt dabei nicht nur die Figuren und derer Denken lebendig werden, auch die Schauplätze sind fassbar. Das liegt vor allem in der Bezugnahme oder Assoziation zu realen Ereignissen. Jedem etwa dürften die Anschläge auf die Zeitungsredaktion von Charlie Hebdo ein Begriff sein, ebenso wie die um das Bataclan-Theater, auch in anderen französischen Romanen ein Thema der Verarbeitung.

In diesem Roman werden Grundsatzfragen einer Gesellschaft thematisiert, die ständig zwischen Sicherheit und Freiheit, Recht und Gerechtigkeit, Chancen und Schuld, sowie Verantwortung abwägen muss. Bleibt nur zu sagen, dass es darauf keine eindeutige Antwort geben kann.

Antworten darauf können nur teilweise gegeben werden und sind in Teilen immer unbefriedigend. Sowie das Ende der Erzählung. Muss man einer Tragödie noch Kitsch folgen lassen, der zwangsläufig etwas aufgesetzt wirken muss? Hier hätte ein halb offenes Ende der Geschichte gut getan oder die Streichung der letzten Abschnitte, wenn dies auch nur Abzug in der B-Note bedeutet.

Ansonsten lohnt sich das zu lesen.

Autorin:

Karine Tuil wurde 1972 in Paris geboren und ist eine französische Schriftstellerin. Sie studierte Kommunikations- und Informationswissenschaften, sowie Recht. Sie gewann einen Kurzgeschichtenwettbewerb und veröffentlichte im Jahr 2000 ihren Debütroman „Pour le pire“, dem weitere Werke folgten. Seit dem veröffentlichte sie weitere Romane, die vielfach nominiert und ausgezeichnet sowie in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

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Kurzblick: Große Kunstgeschichten für kleine Künstler*Innen

Kurzblick: In dieser Kategorie kommt all das zum Tragen, was sonst nirgendwo hineinpasst. Etwas nicht zu schreiben, wäre ja schade.

Der Begriff -Kunstmuseum- sorgt alleine schon für entsprechende Bilder im Kopf. Behangene Wände, steril und staubtrocken die Atmosphäre, hallende Schritte auf den Parkettböden und Aufsichtspersonen, die bei jedem Geräusch, lauter als ein leichtes Hüsteln, zusammenzucken und einschreiten. Vielleicht sind es, nicht nur, diese Dinge, die dafür sorgen, dass das Interesse für solche Stätten und die Werke, die dort präsentiert werden, schon in der Gruppe der Erwachsenen sehr limitiert ist? Kinder scheinen da erst recht unerreichbar zu sein, obwohl diese durchaus gerne malen, zeichnen, basteln, eben kreativ sind.

Amy Guglielmo/Petra Braun: Große Kunstgeschichten – Vincent van Gogh: Er sah die Welt in lebhaften Farben, ISBN: 978-3-8310-4452-8 (Abbildung: Dorling Kindersley)

Inzwischen jedoch gibt es Museen, die den Versuch wagen, dagegen zu steuern. Kreative Workshops in allen Richtungen werden angeboten, es gibt Führungen, die speziell auf die Kleinsten zugeschnitten werden, inzwischen auch Bücher, die einladen, selbst kreativ zu werden und etwa zu zeichnen, wie die Großen. Eine neue und dahingehend sehr anregende Reihe ist die der -Großen Kunstgeschichten- aus dem Sachbuchverlag Dorling Kindersley, die jetzt mit zwei Werken startet und zukünftig hoffentlich die eine oder andere Fortsetzung erfährt.

Beide Werke, erschienen bei Dorling Kindersley, ISBN: 978-3-8310-4452-8, sowie ISBN: 978-3-8310-4453-5, hier und hier. (Abbildungen: Dorling Kindersley)

In Zusammenarbeit mit dem New Yorker Metropolitan Museum of Art (MET) folgen die Autorinnen Gabrielle Balkan und die Illustratorin Josy Bloggs der amerikanischen Künstlerin Georgie O’Keeffe, während sich Amy Guglielmo und Petra Braun auf die Spuren Vincent van Goghs begeben. In verständlicher Sprache und wunderbar illustriert wird das Leben der beiden Kunstschaffenden dargestellt, Merkmale der Zeichenstile und einzelne Werke herausgestellt.

Damit nicht genug, auch werden immer wieder Anregungen gegeben, an denen sich nicht nur die Kleinsten versuchen können. So heißt es etwa: „Schau dir eine Pflanze genau an. Was siehst du? Versuche, die Einzelheiten zu malen.“, oder aber: „Betrachte deine Hand ganz genau und versuche, sie in verschiedenen Positionen zu zeichnen.“ Im Anschluss daran findet sich ein kleiner Zeitstrahl in Form einer Aneinanderreihung von Bildern, eine kleine Begriffssammlung, die nochmals Augenmerk auf wichtige beschriebene Informationen lenkt. Natürlich kindgerecht erklärt.

Gabrielle Balkan/Josy Bloggs: Große Kunstgeschichten – Georgia O’Keeffe: Sie sah die Welt in einer Blume, ISBN: 978-3-8310-4453-5 (Abbildung: Dorling Kindersley)

Zwei Werke, die für kreative Kinder sicher interessant sind, zudem einige Anregungen geben, um selbst kreativ zu werden und vielleicht einige davon auch für Museumsbesuche begeistern können. Das wäre doch schön. Eventuell gibt es die eine oder andere Idee, was man sonst noch malen könnte, gleich dazu.

Der virtuelle Spendenhut

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Elke Lorenz: Machtworte

Inhalt:

Die Geschichte eines Mädchens und ihrer Familie im Osten Deutschlands. Sie wächst nach dem Krieg als Tochter eines der neuen Gesellschaft kompromisslos dienenden Staatsanwalts auf. Immer ist sie konfrontiert mit seiner Wortmacht, seinen Forderungen, seinen Anklagen und Urteilen, seinem Krieg der Worte. Der Mann weiß alles, hört alles, er hat immer recht. Irrte er, war das notwendig gewesen für einen höheren Zweck. Und das Mädchen hat zu folgen, muss vieles durchleben und verstehen. Verletzendes, Böses, Komisches, bis bei ihr aus dem Nachreden ein Nachdenken wird, bis sie als junge Frau andere Worte hat als der Vater für ihr Leben sucht und findet. (gekürzter Klappentext)

Rezension:

Nach dem Tod des Mannes erinnert sich das einstige Kind, inzwischen längst erwachsen, zurück, spürt der über allem schwebenden Frage nach dem Warum nach. Warum dachte, warum handelte der Mann, der ihr Vater gewesen war, so und warum sah er das Leid der ihn umgebenden und ausgelieferten Menschen nicht, die Differenzen zwischen aus einer Ideologie heraus entstandenen Wunschvorstellung und dem Unglück derer, die sich dem nicht fügen konnten oder wollten? Nicht zuletzt seiner eigenen Familie.


Elke Lorenz beschreibt in „Machtworte“, ihrem neuen zeithistorischen Roman, der fiktives Geschehen mit eigenen Lebenserfahrungen verbindet, wie ein vorgegebenes gesellschaftliches Bild nicht nur eine Gesellschaft zerbrechen lässt, sondern auch jene auseinanderbringt, die sich eigentlich am nächsten stehen sollten. Diese Elemente sind hier verbunden mit einer eindrücklichen Coming-of-Age-Geschichte, einer kompakt formulierten Familienhistorie, die sich so oder ähnlich, im übertragenen Sinne, in vielen Familien Ostdeutschlands abgespielt haben dürfte.

Die Autorin, die sich in der Rolle des Mädchens begibt, erste Arbeiten entstanden dabei bereits Mitte der 1980er Jahre, als noch längst nicht abzusehen war, dass ein paar Jahre später ein komplettes Staatensystem in sich zusammenfallen würde, beschreibt dabei nüchtern den sich wandelnden Denkprozess. Zunächst möchte das Mädchen gerne glauben, doch schon da ist Angst das bestimmende Gefühl. Noch nicht vor den langen Armen eines Landes seinen Feinden gegenüber, hier noch in der Gestalt des Vaters, der von Beginn an unnahbar erscheint. Mit den Jahren schlägt Glaube in Erkennen um. Reife macht das Loslösen, nicht zuletzt vom Weltbild des Mannes möglich. Probleme folgen auf den Fuß. Wie integer und selbst bestimmend bleiben, in einem Land, welches alles unter Kontrolle haben möchte?

Trotz dem die Geschichte vor allem aus einer Perspektive heraus erzählt wird, werden die Sichtweisen der elterlichen Figuren vorangestellt, um einen Teil des Rahmens zu bilden, der erst gegen Ende geschlossen wird und in dem sich die Protagonistin bewegt. Lorenz gelingt damit der Versuch, die Erzählung nicht einseitig verkommen zu lassen, sondern eine Erklärung zu liefern, warum die dem Mädchen umgebenden Erwachsenen so handeln, gleichzeitig wird die charakterliche Stärke ihrer Hauptfigur um so besser herausgearbeitet. Der Tonfall. der die sich über Jahre abspielenden Handlung erzählt, ist nüchtern gehalten, stellenweise arg kalt. Die Autorin verliert kein Wort zu viel und versteht es schnörkellos ohne Ausschweifungen zu erzählen.

Elke Lorenz gibt nicht vor, wie ihre Leserschaft die beschriebene Zeit zu werten haben, zeigt jedoch, warum bestimmte Personen so handelten, wie sie gehandelt haben und was dies mit jenen machte, die darin eben nicht ihr Glück sahen. Sie zeigt im Kleinen die Differenzen einer Gesellschaft auf, die mit den Jahren immer mehr nur nach Außen eine Einheit darstellte, am Ende nicht einmal das vermögen konnte.

Die Sympathiepunkte liegen klar auf Seite der erzählenden Protagonistin, auf alle anderen Figuren muss diese nur reagieren. Mal sind die dunklen Flecke größer, mal ist die Weste tiefschwarz. Oder eben rot, wenn wir bei dem Zeitstrang bleiben. Man kann eigentlich nicht anders, als mit der Hauptfigur mitzufühlen, zu leiden, zu kämpfen. Da die Geschichte aus einer Art Rückblende heraus erzählt wird, ist von Anfang an klar, dass die erzählende Perspektive allwissend ist, auch den Lesenden sollte schnell bekannt werden, wohin das alles führt, zumal wenn der zeitliche Kontext bekannt ist. Die Autorin verklärt nichts, gibt jedoch Einblicke auch in jene, die wirklich an bestimmte Mechanismen dieses Systems glaubten. Das ist teilweise sehr beklemmend zu lesen, zumal aus ostdeutscher Perspektive. Hier wären noch andere Lese-Perspektiven interessant.

Die Autorin beschreibt vor allem die Mechanismen einer Gefühlswelt, die sich nach allen Seiten eingeschränkt sieht. So was muss man mögen, um in die Erzählung komplett eintauchen zu können. Dann jedoch werden Figuren und Schauplätze lebendig. Nicht nur die beschriebene Wohnung ist plötzlich beengend.

Der Roman zeigt ganz klar eine Perspektive von vielen und spricht damit nicht nur ostdeutsche Lesende an, sondern alle, die verstehen und begreifen wollen. Den zeitlichen Kontext ausgetauscht, dazu bestimmte Begrifflichkeiten und schon könnte die Erzählung in jedem anderen autoritären Staatswesen spielen. Dabei wirkt das Ende der Erzählung dann doch eine Spur zu einfach. Ansonsten ist Elke Lorenz, nicht zuletzt durch eigene, eingearbeitete Erfahrungen, mit „Machtworte“ eine abgerundete Geschichte gelungen.

Autorin:

Elke Lorenz, geb. 1950, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete danach drei Jahre lang in einer Kreisredaktion. Es folgten erste literarische Arbeiten. Nach der Wende war sie verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Bautzen. Seit 2009 widmet sie sich wieder vermehrt ihrer schriftstellerischen Arbeit. „Machtworte“ ist ihr Debütroman. Elke Lorenz lebt in Wuischke am Czorneboh bei Bautzen.

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Karl Schlögel: Terror und Traum – Moskau 1937

Inhalt:

Schauprozesse und Massenverhaftungen markieren den Höhepunkt von Stalins diktatorischer Herrschaft. Im Schatten des Terrors aber scheint der Traum einer neuen Gesellschaft Gestalt anzunehmen: Gigantische Bauprojekte verändern das Stadtbild, sowjetisches Hollywoodkino, Fliegerhelden und Sportspektakel begeistern die Massen. Karl Schlögels neues Meisterwerk schildert ein russisches Schicksalsjahr, das in der europäischen Geschichte tiefe Spuren hinterlassen hat. (Klappentext)

Rezension:

Im Blick auf die Zivilisationsbrüche der 1930er Jahre herrscht eine auffallende Asymmetrie. Eine Welt, der sich im kollektiven Gedächtnis nach dem Zweiten Weltkrieg Namen wie Dachau, Buchenwald und Auschwitz eingeprägt hatten, fehlen oft Workuta, Kolyma oder Magadan. Auch in Stalins Riesenreich vollzog sich ein totalitärer Wandel, dessen Opfer spätestens mit der Festigung des Eisernen Vorhangs zum zweiten Mal hinter einer Mauer des Schweigens verschwanden und erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der zaghaften Öffnung von Archiven wieder zum Vorschein kamen.

Dabei ist das Moskau 1937 ein Schauplatz europäischer Geschichte, viel facettenreicher und durchmischter, als das die damaligen Machthaber wahrhaben wollten. Die Welle des Terrors, mit der Stalins getreue, die nicht selten selbst derer Opfer wurden, fegte um so heftiger über die Metropole an der Moskwa hinweg. Der Historiker Karl Schlögel zeichnet dies nach und schaut dabei nicht nur auf die großen Schauprozesse, sondern auch auf eine immer mehr verängstigte Gesellschaft im erzwungenen Wandel.

Das sehr detaillierte Sachbuch des Osteuropa-Historikers Karl Schlögel erfährt, 2008 erstmals erschienen, durch die tagespolitischen Ereignisse eine Aktualität, die ihres Gleichen sucht, ist die Geschichte der Stalinschen Terrors doch untrennbar mit dem verbunden, was danach passieren sollte, auch, was passiert, wenn Verarbeitungs- und Erinnerungskultur nicht in dem Maße wirken können, wie dies in der Mitte des europäischen Kontinents in Sachen Holocaust der Fall ist.

Dabei wagt der Autor einen Rundumblick, soweit es damals schon die geöffneten Archive in Russland zugelassen haben und führt die Leserschaft ein, in ein pluralistisches Moskau, welches es nach 1937 so nicht mehr gab. Schlögel zeigt eine Vielfältigkeit auf, die sich nicht nur in Architektur und Fortschrittsglaube widerspiegelte, sondern auch in Kunst und Kultur, sowie Technik. Der junge Staat wollte sich der Welt präsentieren, zugleich die Machthaber im Kreml ihren Status sichern und festigen. Kapitel für Kapitel beschreibt Schlögel einzelne Aspekte des gesellschaftlichen Kosmos‘ einer Metropole, die im Zuge des Stalinschen Terrors in seine Bestandteile zerfiel. Das letzte Adressbuch für lange Zeit, 1936, steht am Anfang dessen, sowie Kongresse und Ausstellungen, die die Welt bewegten, während anderswo in Europa bereits zuvor dunkle Wolken dem vorauseilten, was später die Welt in den Abgrund stürzen sollte. Danach folgte nur noch Terror, mit all seinen schrecklichen Folgen.

Der beschriebene Zeitraum ist überschaubar, nicht so sehr die geschehenen Ereignisse und beleuchteten Perspektiven, deren Biografien abrupt 1937/38 endeten. In seinem Standardwerk nimmt sich der Historiker Zeit für einzelne gesellschaftliche Aspekte, die Beschränkung liegt allein im stadtgeografischen Raum, den Stalins Getreue mit Gewalt umformen wollten. Hier versinkt man in Details, was sehr nüchtern, teilweise sehr schwerfällig zu lesen ist, doch auch so sein muss, wenn man ein umfassendes Gesamtwerk erhalten möchte.

Fragen kommen auf, wie jene, warum selbst ehemalige Minister und Beamte, die an der ersten Terrorwelle beteiligt waren, in Schauprozessen angeklagt, selbst absurde vorgefertigte Geständnisse und Schuldbekenntnisse unterschrieben? Im Wissen um die Mechanismen des Machterhalt Stalins. Der Historiker beleuchtet das Geschehen an verschiedenen Schauplätzen Moskaus, den Blick der Einheimischen, der alten und der neuen Elite Russlands, sowie die Betrachtung der Emigranten und Exilanten, den Blick Amerikas auf das neue Moskau, sowie diesem auf sich selbst. Nach und nach setzt Schlögel hier ein Puzzle zusammen, welches abrupt zum Stillstand kam, als ein anderes Land Europa mit Gewalt und Terror überziehen sollte.

Karl Schlögel spricht hier den interessierten Laien mit Vorkenntnissen an, sowie Kenner der Historie und hat mit seinem geschichtlichen Standardwerk Grundlage für Diskussionen und weitere Betrachtungen gelegt, denen sich Andere annehmen können. Vieles von dem, was später in der Sowjetunion passierte, wäre ohne das Jahr 1937 nicht denkbar. So ganz ohne Vorkenntnisse geht es jedoch nicht, die mit Quellen gut unterfütterte Lektüre, ergänzt durch eine historische Karte des Schauplatzes, ist ohne dies nicht leicht lesbar. Zu viele Namen mussten erwähnt, zu viele Biografien und gesellschaftliche Aspekte beleuchtet werden.

Die Lektüre, die nur vor allem die Konzentration der Lesenden gewinnt, ist erhellend. Fraglich nur, wie viele Fakten letztendlich hängen bleiben und was die noch ausführliche Betrachtung eines einzelnen Aspekts des gesellschaftlichen Wandels Moskaus noch zusätzlich für Erkenntnisse bringt. Hier ist die Grundlage dafür, dies auszuprobieren und um sich, in turbulenten Zeiten, neue Perspektiven zu schaffen. In diesem Sinne, zu empfehlen.

Autor:

Karl Schlögel wurde 1948 geboren und ist ein deutscher Historiker und Publizist. Er studierte u. a. Soziologie, osteuropäische Geschichte und Slawistik in Berlin und schrieb seine Dissertation über Arbeiterkonflikte in der Sowjetunion nach Stalin. 1982 ging er als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Moskau, wo er sich mit der Geschichte der russischen Intelligenzija im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigte, arbeitete anschließend als Privatgelehrter und freier Mitarbeiter für den Rundfunk.

Er veröffentlichte dort, sowie in mehreren Magazinen und Zeitungen, bevor er eine Professur für Osteuropäische Geschichte in Konstanz erhielt, sowie 1995 die selbe in Frankfurt/Oder. Von 2003 bis 2005 war er dort Dekan der Kulturwissenschaftlichen Universität.2013 wurde er emeritiert. Er konzipierte mehrere Ausstellungen und Zeitschriften mit, war Mitglied der Jury des Friedenspreises des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und beschäftigt sich seit Beginn der Krimkrise intensiv mit der Geschichte der Ukraine. 2013 wurde er mit der Puschkin-Medaille ausgezeichnet, welche er 2014 ablehnte. 2018 erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse, ein Jahr darauf den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.

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Udo Lielischkies: Im Schatten des Kreml

Inhalt:

Seit Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, berichtete Udo Lielischkies als ARD-Korrespondent aus dem riesigen Land. In dieser Zeit hat er nicht nur die russische Politik, sondern auch den Wandel des russischen Lebens unter Putin hautnah miterlebt. Udo Lielischkies erzählt von seinen Erlebnissen zwischen Kreml und russischer Provinz und vor allem von den stillen Helden in den Weiten Russlands. Ein einzigartiges Bild des facettenreichen wie widersprüchlichen Landes. (Klappentext)

Rezension:

Fast zeitgleich, als Putin 1999 an die Macht kam, wechselte der ARD-Reporter Udo Lielischkies das Berichtsgebiet und begann einzutauchen, in das Leben und die große Politik des größten Landes der Erde. In seinem Sachbuch berichtet er, in der Neuauflage vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine, vom Wandel der russischen Gesellschaft, einem Staat, dessen Gesicht nun ein vollkommen anderes ist, aber auch von den Herausforderungen des Korrespondenten-Daseins, wenn nichts ist, wie es zunächst scheint.

Eingerahmt von Eindrücken des jüngsten Ereignisses beginnt der Autor das Erlebte von Beginn an, aufzurollen und zeigt die Schwierigkeiten des Reporterlebens in einem zunächst ihm unbekannten Land auf, sowie die Schnelllebigkeit der Ereignisse, die von Beginn an seine Tätigkeit bestimmte.

Dabei setzt er den Fokus auf einzelne Ereignisse, sowie auf seinen Begegnungen mit Menschen aus ganz Russland und portraitiert das Leben in Moskau ebenso, wie die Unzulänglichkeiten der Provinz, aber auch die Unberechenbarkeiten des Tschetschenien-Kriegs, das erste Geschehnis, welchem er für den ersten deutschen Fernsehsender auf den Grund gehen musste. Im Fokus dabei, neben der Einordnung politischer Entscheidungen für die Zuschauenden, immer auch die Menschen, die davon direkt betroffen waren, dabei einen vollkommenen und gefährlichen Umbau der russischen Gesellschaft zu erleben.

Kompakt reiht er Ereignis um Geschenis aneinander, zeigt die Konsequenzen auf und konzentriert sich dabei immer wieder auf einzelne Themen, wie die Gleichschaltung des einheimischen Journalismus‘, sowie dem Ausschalten derer, die versuchen, so lange, wie möglich, noch ihre eigene Sicht der Dinge zu publizieren oder aber die Vereinnahmung von Ernten kleiner Bauern durch übermächtige Agrar-Konzerne mit Verbindungen, hinein in höchste politische Ebenen.

Warum sind trotz offensichtlicher Willkür und um sich greifender Korruption, spurlos verschwindender Gelder aus thematisch begrenzten Budgets, so viele Menschen immer noch für Putin? Was hält dieses Land zusammen, wo das Vertrauen nicht Weniger längst zerstört ist und Russland längst ausblutet?

Anhand von zahlreichen Beispielen gibt er Einblick in den schwierigen Alltag der Menschen, die oft das propagierte Bild im Einklang mit der Wahrheit bringen müssen, was immer schwieriger wird. Was nützt es, ständig von Erfolgen zu hören, wenn der eigene Kühlschrank leer bleibt, da Löhne und Renten nicht zum leben reichen, Dächer undicht sind und kein Zugang zu sauberen Trinkwasser vorhanden ist. Udo Lielischkies gibt jedoch auch Einblick in den schwierigen Reporter-Alltag, Recherchearbeit, Berichtsglück und der Entscheidungsfindung, was berichtet wird, wenn sich die Ereignisse mal wieder überschlagen.

Doch nicht die großen Eindrücke sind es, die diese Rückschau so interessant macht, sondern die zahlreichen dokumentierten Begegnungen, vor allem mit Menschen, die die Differenzen sehen, jedoch nicht gegen die Allmacht des Staates und seiner Anhängel ankommen. Einmal mehr gilt der Spruch, Russland schert sich nicht um das Lebensglück seiner Menschen. Fasslungslos nimmt man das Beschriebene auf, welches zudem durch umfangreiches Quellenmaterial unterfüttert wird, welches der Autor hintenan stellt.

Udo Lielischkies hat Wandel und Widerspruch portraitiert, authentisch zudem, da auch er inzwischen in Russland Familie hat und sozusagen den Alltag mitbekommt. Das Land, was er 2018 verließ, war da längst ein anderes, als das, von welchem er 1999 zu berichten begann, vier Jahre später sowie so.

Der Journalist schlägt sich auf keine Seite, beobachtet und ordnet ein und zeigt an zahlreichen Beispielen auf, wie Entscheidungen verschiedener staatlicher Ebenen, gewollt ein System der Willkür und Korruption geschaffen haben, welches längst ein Eigenleben führt. so gewollt von der obersten Führung.

Der Ton wechselt dabei von sachlicher zu emotionaler Ebene. Sowohl die Portraits der Ereignisse als auch der teilhabenden Menschen waren sehr spannend zu lesen, aber auch, wie Berichtsalltag in einem solch kaum fassbaren Land überhaupt funktioniert. Vom letzteren hätte es nicht geschadet, noch mehr Beispiele aufgeführt zu sehen, jedoch auch so ist ein sehr bezeichnender Bericht. Udo Lielischkies zeigt, was passiert, wenn sich Politik und Volk auseinander entwickeln und nur durch verschiedene Formen von Gewalt und Willkür zusammengehalten werden. „Im Schatten des Kreml“ zeigen sich die Widersprüche.

Autor:

Udo Lielischkies wurde 1953 in Köln geboren und ist ein deutscher Journalist und ehemaliger Leiter des ARD-Studios in Moskau. Er studierte in Köln Volkswirtschaft und Soziologie, sowie Journalistik. 1980 begann er als Wirtschaftsredakteur beim WDR, nachdem er zuvor als freier Mitarbeiter tätig war.

Nach Stationen in verschiedenen Redaktionen wurde er 1994 Europa- und NATO-Korrespondernt in Brüssel, bevor er 1999 nach Moskau wechselte und von dort u. a. aus Tschetschenien und der Ukraine berichtete. Für seine Reportagen wurde er u. a. mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Ab 2006 war er kurzzeitig in washington tätig, kehrte jedoch bald für die ARD nach Moskau zurück und blieb dort bis zu seinem Ruhestand, 2018.

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Jenny von Sperber: Fritz, der Gorilla

Inhalt:

Diese faszinierende Gorilla-Familiensaga erzählt nicht nur das bewegte Leben von Fritz, sondern zeigt auch die Entwicklung in europäischen Zoos im Umgang mit Menschenaffen auf. Als Jenny von Sperber Fritz zum ersten Mal begegnet, lässt der Gorilla sie nicht aus den Augen. Er ist damals schon über 50 Jahre alt, aber immer noch sehr charismatisch. Für die Journalistin ist klar: Sie will alles über das Leben von fritz herausfinden. (Klappentext)

Rezension:

Es ist noch gar nicht so lange her, da bekamen Zoos weltweit nicht selten ihre Tiere durch Wildfänge rund um die Welt, bis man diese Praxis durch internationale Abkommen weitgehend beendete. In Bezug auf Menschenaffen bedeutete dies oft, eine ganze Gruppe von Tieren zu töten, um an die Jungtiere heranzukommen. Wahrscheinlich, genau weiß man das nicht, kam so auch der Gorilla Fritz als einer der ersten seiner Art nach Deutschland und begründete dort eine Familiendynastie, die nicht nur den Wandel der Zootierhaltung erlebte. Die Journalistin Jenny von Sperber begab sich auf weltweite Spurensuche. Entstanden ist so eine beeindruckende tierische Biografie.

Mal etwas ganz anderes ist es, eine Biografie über ein Individuum unserer nächsten Verwandten zu verfassen, zugleich ein Sachbuch, welches sich mit dem Wandel der Betrachtung von Tieren und den Blick auf eine zeitgemäße Betrachtung von Zoos und Tierparks richtet. Dies kombiniert die Autorin hier in einem kompakten, einfühlsamen und doch sehr informationsreichen Sachbuch, welches sich spannend liest, ohne den objektiven Blick zu verlieren.

Interessant ist dabei der immerwährende Perspektivwechsel zwischen der Geschichte eines Tieres, welches nicht nur die Autorin ins herz geschlossen hat, dem sie trotz anfangs spärlich vorhandener Informationen auf den Grund gehen möchte, auch die Geschichte von Zoos, die Tiere zu reinen Anschauungsobjekten machten, bis zum heutigen Versuch einer, wie auch immer, artgerechten Tierhaltung. Natürlich verbunden mit Artenschutzprogrammen und dem Aufbau eines Backups für bedrohte Tierarten, die in freier Wildnis kaum eine Chance hätten, zu überleben, da Lebensräume immer kleinräumiger werden.

Jenny von Sperber geht dabei biografisch vor, hangelt sich anhand einer Zeitachse entlang und streut Episoden aus den Erinnerungen ehemaliger Mitarbeiter von Zoos, sowie Fritz‘ Nachkommen nach, um ein Gefühl für den beeindruckenden Gorilla-Mann zu bekommen, der nur ein paar Jahre nach ihrem ersten Treffen sterben, damit jedoch trotzdem seine Artgenossen in der Wildnis um mindestens zwanzig Jahre überleben sollte. Sie stellt dabei ethische Fragen über Tierhaltung und Artenschutz in Verbund mit Zoos, zudem die Probleme, mit denen sich das internationale Arterhaltungsprogramm heute auseinandersetzen muss.

Keineswegs nüchtern liest sich das. Den Zwiespalt der Autorin liest man in jeder Zeile, doch verlässt Jenny von Sperber, vielleicht auch wegen des Kontakts mit Zoomitarbeitern und Wissenschaftlern, Naturschützern, nicht die sachliche Ebene. Schon deshalb ist die Lektüre wertvoll, da sie sich nicht auf die oft sehr falsch oder zumindest ziemlich einseitig geführte Diskussion um die Daseinsberechtigung der Zoos und Tierparks einlässt. Die Autorin sieht Zweck und Nutzen, verknüpft diese mit einem großen Aber.

Schwenks zurück führen immer wieder zu Fritz und seinen Verwandten, so dass die Grundthematik nicht aus den Augen verloren wird. Interessant hierbei ist der Blick auf Fritz‘ Familie, deren Nachkommen inzwischen weltweit verstreut leben, aber auch, wie viel Wissen sich die Autorin im Laufe der Recherchen und Kontaktaufnahmen zu Sachverständigen und Experten erarbeitet haben muss. Zudem wird detailreich erzählt, ein großes Plus.

Das Sachbuch ist biografisch gehalten, eröffnet neue Blickwinkel und lässt uns einem unserer nächsten Verwandten fortan mit anderen Augen sehen. Mehr solche Beiträge zu Diskussionen wären wünschenswert, gerade wenn nicht die Festlegung auf nur eine Perspektive dieser zuträglich ist. Und das ist ja zumeist der Fall. Auch dafür steht dann Jenny von Sperbers „Fritz, der Gorilla“.

Autorin:

Jenny von Sperber wurde 1979 geboren und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Für Rundfunk und Fernsehen veröffentlichte sie verschiedene Beiträge mit den Schwerpunkten Ökologie, Wild Life, sowie weitere gesellschaftlich relevante Themen. Ausgezeichnet wurde sie mit dem Heureka-Preis für Wissenschaftsjournalismus. Vorher studierte sie u. a. in Tokyo, Japan, bereiste für verschiedene Reportagen die Welt. „Fritz, der Gorilla“, ist ihr erstes Buch.

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Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Inhalt:

Die 1960er Jahre. BRD. Im rheinischen Troisdorf betreiben die Eltern des Erzählers ein gutgehendes Fotoatelier. Häuser. Neues Auto. Sonntags Kirchgang. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassade legen die Familienmitglieder verstörende Verhaltensweisen an den Tag. Was treibt die Eltern um, die während des Zweiten Weltkriegs bereits junge Erwachsene waren? Warum verabscheut die Oma, die zwei Weltkriege erlebte, ihren Enkel? Eine deutsche Familiengeschichte über 3 Generationen. Ein Kriegsenkelroman.

Rezension:

Mit „Die Königin von Troisdorf“, liegt hier vieles vor, nur kein Roman, wie es der Klappentext des Werks von Andreas Fischer behauptet. Beim Lesen wird man sich einmal mehr fragen, wie Verlage machmal zu ihren Einordnungen kommen. Viel mehr ist dieser Text eine Mischform aus literarischem Sachbuch, Tagebuch, Familien- und nicht zuletzt die Biografie einer Kindheit und Jugend in wirtschaftswunderlichen Zeiten.

Aus der Sicht des Kindes, des Erwachsenen, des Jugendlichen Andreas Fischer wird eine Chronik von Ereignissen aufgefächert, an die sich der Autor zu erinnern vermag, sprunghaft in Episoden erzählt, die erst nach und nach ein komplettes Bild mit all seinen Widersprüchen ergeben. praktisch in Form eines Tagebuch springt der Schreibende vom Erlebten zu Erlebten, versucht jene zu verstehen, die ihn in seiner Kindheit und Jugend umgaben und doch immer fern blieben.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestank ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Mehrere Facetten versucht Andreas Fischer zu ergründen, nicht zuletzt den Kitt, der diese dysfunktioniale Familie über Jahrzehnte zusammenhält. Wie erklärt sich die Differenz zwischen dem Schein nach außen, der eine heile Welt vorgaukelt und den Kontrollwahn der Großmutter und ihrer Tochter, vom Erzählenden nicht umsonst Hindenburg und Ludendorff genannt, gegenüber dem Kind, welchs Halt sucht und kaum findet, weder dort, noch bei dem trunksüchtigen Vater, der der Nazi-Zeit hinterhertrauert oder dem schlagkräftigen Onkel mit seinem cholerischen Wutanfällen.

Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich, und an dieser Stelle kennt die Oberste Heeresleitung kein Pardon.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Über allem schwebt die Frage, welche Nachwirkungen zwei Kriege noch über Jahre hinaus auf diese Familie gehabt haben, welche Konsequenzen vor allem jener zu spüren bekommt, der deren Schrecken, Gnade seiner Geburt, nicht erleben musste. Sprunghaft und fahrig wirkt dies zunächst. Mal wird eine Episode aus dem neunten Lebensjahr, dann wieder vom sechsten, zwischendurch vom dreizehnten des Autors aufgefächert, nur um dann einen Briefwechsel nachzuspüren, den der im Krieg gefallene Sohn der Großmutter hinterlassen hat.

Vergleichbar mit immer wieder mündlich erzählt werdenden Familienereignissen ist dies und entfaltet nach und nach eine ganz eigene Dynamik, derer der Autor sich nicht ganz entziehen kann und nicht verstehen wird. Wer tut das schon, selbst bei der eigenen Familie? So spürt Andreas Fischer „Der Königin von Troisdorf“ nach, die als Patriarchin versucht, alle Fäden Zeit ihres Lebens in den Händen zu halten und doch nicht verhindern wird können, dass der Enkel „tüchtig Sand ins Getriebe werfen“ wird, zu Zeiten, die weder sie noch die Eltern des später Schreibenden ganz verstehen werden.

Was wäre, wenn das Undenkbare stimmt?
Was wäre, wenn Vater nicht die Wahrheit sagt?
Kann mein Vater mich anlügen?

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Anstrengend zu lesen, für jene, die sich in diesem Stil nicht zurechtfinden, der mir jedoch auch bisher recht selten begegnet ist. Eine Art Tagebuch über Jahre, Rückblicke, Einstreusel, Zeitsprünge. Das muss man mögen. Der Autor beherrscht diese Kunst und vermag es, eine Art Film vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen. Vielleicht findet man sogar selbst ein Stück eigene Familiengeschichte wieder.

Andreas Fischer versucht mit „Der Königin von Troisdorf“ ein Stück Bewältigung der eigenen Kindheit, sowie der Traumen der Vergangenheit, die wie wiederkehrende Nadelstiche, die Familiengeschichte durchziehen. Es ist ein Versuch, zu verstehen, was kaum zu begreifen ist, literarisch in einer wunderbaren Form, zugleich das Psychogramm einer Familie, mit der der Autor erst im Erwachsenenalter einen wie auch immer gearteten Frieden machen wird, was sich nie ganz auflösen wird.

Ja, ich bin der Prinz.
Ich bin einziger Sohn, einziger Neffe, einziger Enkel.
Auf mich läuft alles zu.
Ich bin der Fluchtpunkt.
Ich werde sie alle beerben.
Ich spiele keine Rolle.
Ich bin unsichtbar.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Für jene, die Geschichte einmal in einer besonderen Form aufgearbeitet erleben möchten, eine unbedingte Empfehlung.

Autor:

Andreas Fischer wurde 1961 in Troisdorf geboren und ist ein deutscher Filmemacher und Autor. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Fotografen und studierte Filmwissenschaft, Ethnologie und Psychologie in Köln und Berlin. Von 1999 bis 2004 war er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln. 1983 erschien sein erster Kurzfilm, danach zahlreiche Dokumentaqrfilme u. a. „Contergan: Die Eltern“ (2004) oder „Söhne ohne Väter (2007). „Die Königin von Troisdorf“ ist sein erster Roman.

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Herbert Heinrich Beckmann: Es sind Kinder

Inhalt:

Tine und Stefan sind ein Paar am Abgrund. Der dünne faden, der ihre Beziehung noch zusammenhält, ist ihr kleiner Sohn Leon. Doch als dieser beim gemeinsamen Urlaub auf einer Insel mitten in der Baltischen See plötzlich verschwindet, stehen die beiden vor einer ganz besonderen Belastungsprobe.

Mit psychologischen Feingefühl zeichnet Herbert Heinrich Beckmann das Psychogramm einer unglücklichen Beziehung in einer Atmosphäre unerklärlicher subtiler Bedrohung. Sprachlich genau erzählt er mit stetig steigender Spannung. Das Kind geht unterdessen seine eigenen Wege. (Klappentext)

Rezension:

Mit den ersten Zeilen werden Fronten geschaffen zwischen den beiden Hauptprotagonisten, was uns Lesende vor die Herausforderung stellt, mit unseren Sympathien, mal für die eine, dann für die andere Figur, umhergeworfen zu werden. Dennoch beginnt die Mischung aus Beziehungs- und Kriminalroman relativ harmlos, doch die Grundstimmung lässt gleich anfangs das Unheil erahnen. Doch schnell findet man hinein in Herbert Heinrich Beckmanns Strudel „Es sind Kinder“. Herauszufinden, ob des Gefühlschaos‘, dem man ausgesetzt wird hingegen schwer.

Im Zentrum der Geschichte steht zunächst die in Trümmern liegende Beziehung der beiden Figuren, die nur noch durch den kleinsten gemeinsamen Nenner zusammengehalten, jedoch nach und nach durch die Dringlichkeit der Suche überdeckt wird, die Verzweiflung förmlich zum Greifen nah. In kurzen Sätzen wird aus wechselnder Perspektive heraus erzählt, wie ein auf wackligen Füßen gebauter Urlaub sich zum elterlichen Horrortrip wandelt, der an den Grundfesten rüttelt.

Kompakt geschrieben ist diese Erzählung. Wenn man so möchte, liest man mit diesem Roman eine Art geografisches, sehr ernstes, Kammerspiel mit begrenzten Figurenensemble. Qualitativ tut dies der Geschichte gut, verliert der Autor so doch nie die Fäden und kann schön mit der Psyche seiner Protagonisten spielen, nicht zuletzt auch mit jenen, die die Erzählung lesen.

Dabei werden die Sympathien klar verteilt, was sich jedoch mit zunehmender Seitenzahl, wenn nicht wandelt, so dann zumindest ausgleicht. Jede Figur hat indes ihre Ecken und Kanten. Der Autor versteht es, damit zu spielen, nicht zletzt so ohne großen Aufwand oder Effekthascherei Wendungen zu schaffen. Der Erzählstil ist ruhig gehalten.

Der Text enthält kein Wort zu viel, beschränkt sich auf das Notwendige, doch hat Beckmann einen Detailgrad, wenn es um die Beschreibungen von Gefühlswelten geht, der die Figuren fassbar macht. Sehr schnell möchte man erfahren, wie es ausgeht, sollte dabei im Verlauf aufmerksam sein. Das Gefühl, etwas Wichtiges überlesen zu haben, könnte sonst gegen Ende eintreten.

Die Überschrift ist mehrdeutig, wie auch einige Begriffe verwendet und im Kontext, im Nachwort vom Autoren selbst notwendigerweise eingeordnet werden. Diese Abrundung ist hier notwendig, da sonst Beckmann leicht missverstanden werden würde, hier jedoch vorhanden.

Wenn man der Geschichte etwas vorhalten möchte, ist es, dass sie in Teilen zu ruhig erzählt wird.l großflächig funktioniert das, jedoch an einzelnen Punkten ist dies für das Aufrechthalten des Spannungsmoments gefährlich, wobei sich dies mit der Perspektive des oder der Lesenden relativeren könnte. Zudem, wer mit bestimmten Inhalten, siehe Klappentext, Schwierigkeiten hat, sollte vorsichtig an die Erzählung herangehen. Allen anderen sei dieser Beziehungs- mit leichtem Hang zum Kriminalroman durchaus empfohlen.

Autor:
Herbert Heinrich Beckmann wurde 1960 geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Psychologe. Er studierte in Berlin Psychologie und promovierte dort 1997, , bevor er sich zunehmend dem Schreiben widmete. Neben Fach- und Sachbüchern schrieb er Hörspiele, für den Rundfunk, sowie verschiedene Romane. Sein erstes Kinderbuch veröffentlichte er 1997, die erste Erzählung für Erwachsene im Jahr 2000. Zudem schreibt er unter verschiedenen Pseudonymen. 2010 stand er auf der Shortlist des Sir-Walter-Scott-Preises. zwei Jahre später auf der Top 5 Liste des Deutschen Kinderhörspielpreises mit seinem Hörspiel „Der Jesus von Kreuzberg“. Beckmann ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller.

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Jürgen Meier: Wöbkenbrot und Pinselstrich

Inhalt:

Johannes Becker beginnt 1910 ein Ingenieurstudium in Chemnitz und heiratet kurz darauf. Als er zunehmend der völkischen Ideologie der Nationalsozialisten verfällt, wendet sich seine Frau von ihm ab. Ähnlich zerrissen ist die Familie Meyer in Ostwestfalen. Der Vater Karl nutzt die Machtübernahme der Nazis aus, um sich an jüdischem Eigentum zu berreichern. Sein Sohn Gottfried folgt ebenfalls seiner Begeisterung für die Nazis und zieht in den Krieg. Er lernt Ingeborg Becker kennen und heiratet sie. Aus Krieg und Hitlerzeit hat er nichts gelernt, sein Sohn Georg aber will es besser machen und schließt sich 1970 der Studentenbewegung an. (abgewandelte Inhaltsangabe).

Rezension:

So ausufernd wie einstweilen Thomas Mann muss man gar nicht schreiben, wenn man eine fiktive Familiengeschichte mit all ihren höhen und Tiefen, Wandlungen und innerer Zerissenheit zu Papier bringen möchte, auch nicht, wenn man den Personenkreis erweitert. Jürgen Meier zeigt in seinem Roman „Wöbkenbrot und Pinselstrich“ dass das auch anders geht und beschreibt so ganz nebenbei die Herausforderungen, Schrecken und Wandlungen des vergangenen Jahrhunderts.

Der leicht gängige Familienroman wechselt zwischen den Perspektiven und Generationen, beginnt 1910. Fortschrittsglaube manifestiert sich in den neuen Errungenschaften der Technik, Ingenieure werden gesucht. Hoffnungsvoll schaut der junge Johannes, ersterer einer interessanten Reihe von Protagonisten in die Zukunft, noch nicht ahnend, dass bereits dunkle Schatten über Deutschland heraufziehen. Eingenommen von der Figur, deren Enthusiasmus aber auch Unsicherheiten der Autor fein herausgearbeitet hat, steigen wir in die Geschichte ein, die zu einem wahren Wechselbad der Gefühle verkommt. Das Erzähltempo passt sich dem an. Sprünge wechseln sich ab mit nachdenklichem Innehalten.

Der Perspektivwechsel zwischen den Figuren aus den zwei Familien, deren Wege sich kreuzen werden, bringt die Dynamik einerseits, wie auch die beschriebenen Generationswechsel. Jürgen Meier versteht es, die Zeiten greifbar zu machen. Hervorzuheben sind besonders seine Beschreibungen des Konflikts und einzelner Abschnitte, wie etwa die unmittelbare Nachkriegszeit, das Nichtsehenwollen des geschehenen Unrechts, aber auch Anspielungen eben der im Klappentext anklingenden Bereicherung von deutschen Familien an jüdischem Besitz. Hier wirkt die Erzählung besonders bedrückend.

Dabei beschränkt sich der Autor nicht nur auf eine Sichtweise, sondern bringt mit einer Vielzahl an Figuren unterschiedliche Perspektiven hinein, die für eine gewisse Dynamik sorgen, nicht zuletzt für gewisse Exkurse in Kunst und Philosophie, die man vielleicht nicht unbedingt beim Aufschlagen des Romans erwartet. Hier kommt das künstlerische Schaffen des Schreibenden durch, der damit an den richtigen Stellen Ruhe einbringt.

Das kann man als Einlassung nehmen, jedoch auch als Meta-Ebene für die jeweils beschriebene Zeitepoche, muss man jedoch mögen. Hier wird wichtig, wie und als was man diesen Roman lesen möchte. Konzentriert man sich auf die Familiengeschichte, setzt den Fokus eher auf die Beschreibungen gesellschaftlichen Wandels oder hat Freude an Kunst und Philosophie? Für jeden ist etwas dabei. So klar habe ich das bisher jedoch nur selten gelesen.

Das Werk orientiert sich am historischen Verlauf der jüngeren Geschichte, so dass Wendungen allein durch das Denken und Handeln der einzelnen Figuren entstehen. Sprachlich wird man zudem über den Dialekt des Östwestfälischen Platts stolpern, in dem einzelne Sätze und Passagen formuliert sind. Sicher eine besondere Herausforderung für das Lektorat, welches wahrscheinlich jedes Wort nachschlagen musste. Für uns Lesende gibt es jedoch eine Art Glossar hintenan mit der Übersetzung ins Hochdeutsche.

Die Protagonisten, mit all ihren Ecken und Kanten, sind nachvollziehbar. Niemand ist hier durchgängig Sympathieträger. Perfektionismus gibt es im realen Leben nicht. Entscheidungen und Handlungen, oft genug die falschen, sind es, die uns zudem machen, was wir sind. Wusste schon Dumbledore aus den Romanen um Harry Potter. Hier gilt das auch. Nicht nur das macht Lust auf mehr. Man darf auf Fortsetzungen gespannt sein.

Ach so, was ist jetzt nun eigentlich Wöbkenbrot? Vielleicht so viel, eine Spezialität, unter der vor allem Menschen aus Ostwestfalen zu leiden haben. Aber hat nicht jede Region, die an kulinarischer Abstrusität kaum zu überbieten sind? Wer genießen möchte, bleibt vielleicht besser bei dieser Erzählung.

Autor:

Jürgen Meier lebt in Hildesheim und ist ein deutscher Schriftsteller und Dokumentarfilmer. Er schloss 1973 ein Studium „Intermedia“ in Bielefeld ab und arbeitete anschließend als PR-Werbechef am Stadttheater Hildesheim. Er gründete die Werbeagentur Aickele & Meier. Seit 1997 ist er selbstständiger Autor und Journalist. Von ihm liegen Theaterstücke, Buchveröffentlichungen und Theaterstücke vor.

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