Leben

Jenny von Sperber: Fritz, der Gorilla

Inhalt:

Diese faszinierende Gorilla-Familiensaga erzählt nicht nur das bewegte Leben von Fritz, sondern zeigt auch die Entwicklung in europäischen Zoos im Umgang mit Menschenaffen auf. Als Jenny von Sperber Fritz zum ersten Mal begegnet, lässt der Gorilla sie nicht aus den Augen. Er ist damals schon über 50 Jahre alt, aber immer noch sehr charismatisch. Für die Journalistin ist klar: Sie will alles über das Leben von fritz herausfinden. (Klappentext)

Rezension:

Es ist noch gar nicht so lange her, da bekamen Zoos weltweit nicht selten ihre Tiere durch Wildfänge rund um die Welt, bis man diese Praxis durch internationale Abkommen weitgehend beendete. In Bezug auf Menschenaffen bedeutete dies oft, eine ganze Gruppe von Tieren zu töten, um an die Jungtiere heranzukommen. Wahrscheinlich, genau weiß man das nicht, kam so auch der Gorilla Fritz als einer der ersten seiner Art nach Deutschland und begründete dort eine Familiendynastie, die nicht nur den Wandel der Zootierhaltung erlebte. Die Journalistin Jenny von Sperber begab sich auf weltweite Spurensuche. Entstanden ist so eine beeindruckende tierische Biografie.

Mal etwas ganz anderes ist es, eine Biografie über ein Individuum unserer nächsten Verwandten zu verfassen, zugleich ein Sachbuch, welches sich mit dem Wandel der Betrachtung von Tieren und den Blick auf eine zeitgemäße Betrachtung von Zoos und Tierparks richtet. Dies kombiniert die Autorin hier in einem kompakten, einfühlsamen und doch sehr informationsreichen Sachbuch, welches sich spannend liest, ohne den objektiven Blick zu verlieren.

Interessant ist dabei der immerwährende Perspektivwechsel zwischen der Geschichte eines Tieres, welches nicht nur die Autorin ins herz geschlossen hat, dem sie trotz anfangs spärlich vorhandener Informationen auf den Grund gehen möchte, auch die Geschichte von Zoos, die Tiere zu reinen Anschauungsobjekten machten, bis zum heutigen Versuch einer, wie auch immer, artgerechten Tierhaltung. Natürlich verbunden mit Artenschutzprogrammen und dem Aufbau eines Backups für bedrohte Tierarten, die in freier Wildnis kaum eine Chance hätten, zu überleben, da Lebensräume immer kleinräumiger werden.

Jenny von Sperber geht dabei biografisch vor, hangelt sich anhand einer Zeitachse entlang und streut Episoden aus den Erinnerungen ehemaliger Mitarbeiter von Zoos, sowie Fritz‘ Nachkommen nach, um ein Gefühl für den beeindruckenden Gorilla-Mann zu bekommen, der nur ein paar Jahre nach ihrem ersten Treffen sterben, damit jedoch trotzdem seine Artgenossen in der Wildnis um mindestens zwanzig Jahre überleben sollte. Sie stellt dabei ethische Fragen über Tierhaltung und Artenschutz in Verbund mit Zoos, zudem die Probleme, mit denen sich das internationale Arterhaltungsprogramm heute auseinandersetzen muss.

Keineswegs nüchtern liest sich das. Den Zwiespalt der Autorin liest man in jeder Zeile, doch verlässt Jenny von Sperber, vielleicht auch wegen des Kontakts mit Zoomitarbeitern und Wissenschaftlern, Naturschützern, nicht die sachliche Ebene. Schon deshalb ist die Lektüre wertvoll, da sie sich nicht auf die oft sehr falsch oder zumindest ziemlich einseitig geführte Diskussion um die Daseinsberechtigung der Zoos und Tierparks einlässt. Die Autorin sieht Zweck und Nutzen, verknüpft diese mit einem großen Aber.

Schwenks zurück führen immer wieder zu Fritz und seinen Verwandten, so dass die Grundthematik nicht aus den Augen verloren wird. Interessant hierbei ist der Blick auf Fritz‘ Familie, deren Nachkommen inzwischen weltweit verstreut leben, aber auch, wie viel Wissen sich die Autorin im Laufe der Recherchen und Kontaktaufnahmen zu Sachverständigen und Experten erarbeitet haben muss. Zudem wird detailreich erzählt, ein großes Plus.

Das Sachbuch ist biografisch gehalten, eröffnet neue Blickwinkel und lässt uns einem unserer nächsten Verwandten fortan mit anderen Augen sehen. Mehr solche Beiträge zu Diskussionen wären wünschenswert, gerade wenn nicht die Festlegung auf nur eine Perspektive dieser zuträglich ist. Und das ist ja zumeist der Fall. Auch dafür steht dann Jenny von Sperbers „Fritz, der Gorilla“.

Autorin:

Jenny von Sperber wurde 1979 geboren und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Für Rundfunk und Fernsehen veröffentlichte sie verschiedene Beiträge mit den Schwerpunkten Ökologie, Wild Life, sowie weitere gesellschaftlich relevante Themen. Ausgezeichnet wurde sie mit dem Heureka-Preis für Wissenschaftsjournalismus. Vorher studierte sie u. a. in Tokyo, Japan, bereiste für verschiedene Reportagen die Welt. „Fritz, der Gorilla“, ist ihr erstes Buch.

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Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Inhalt:

Die 1960er Jahre. BRD. Im rheinischen Troisdorf betreiben die Eltern des Erzählers ein gutgehendes Fotoatelier. Häuser. Neues Auto. Sonntags Kirchgang. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassade legen die Familienmitglieder verstörende Verhaltensweisen an den Tag. Was treibt die Eltern um, die während des Zweiten Weltkriegs bereits junge Erwachsene waren? Warum verabscheut die Oma, die zwei Weltkriege erlebte, ihren Enkel? Eine deutsche Familiengeschichte über 3 Generationen. Ein Kriegsenkelroman.

Rezension:

Mit „Die Königin von Troisdorf“, liegt hier vieles vor, nur kein Roman, wie es der Klappentext des Werks von Andreas Fischer behauptet. Beim Lesen wird man sich einmal mehr fragen, wie Verlage machmal zu ihren Einordnungen kommen. Viel mehr ist dieser Text eine Mischform aus literarischem Sachbuch, Tagebuch, Familien- und nicht zuletzt die Biografie einer Kindheit und Jugend in wirtschaftswunderlichen Zeiten.

Aus der Sicht des Kindes, des Erwachsenen, des Jugendlichen Andreas Fischer wird eine Chronik von Ereignissen aufgefächert, an die sich der Autor zu erinnern vermag, sprunghaft in Episoden erzählt, die erst nach und nach ein komplettes Bild mit all seinen Widersprüchen ergeben. praktisch in Form eines Tagebuch springt der Schreibende vom Erlebten zu Erlebten, versucht jene zu verstehen, die ihn in seiner Kindheit und Jugend umgaben und doch immer fern blieben.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestank ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Mehrere Facetten versucht Andreas Fischer zu ergründen, nicht zuletzt den Kitt, der diese dysfunktioniale Familie über Jahrzehnte zusammenhält. Wie erklärt sich die Differenz zwischen dem Schein nach außen, der eine heile Welt vorgaukelt und den Kontrollwahn der Großmutter und ihrer Tochter, vom Erzählenden nicht umsonst Hindenburg und Ludendorff genannt, gegenüber dem Kind, welchs Halt sucht und kaum findet, weder dort, noch bei dem trunksüchtigen Vater, der der Nazi-Zeit hinterhertrauert oder dem schlagkräftigen Onkel mit seinem cholerischen Wutanfällen.

Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich, und an dieser Stelle kennt die Oberste Heeresleitung kein Pardon.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Über allem schwebt die Frage, welche Nachwirkungen zwei Kriege noch über Jahre hinaus auf diese Familie gehabt haben, welche Konsequenzen vor allem jener zu spüren bekommt, der deren Schrecken, Gnade seiner Geburt, nicht erleben musste. Sprunghaft und fahrig wirkt dies zunächst. Mal wird eine Episode aus dem neunten Lebensjahr, dann wieder vom sechsten, zwischendurch vom dreizehnten des Autors aufgefächert, nur um dann einen Briefwechsel nachzuspüren, den der im Krieg gefallene Sohn der Großmutter hinterlassen hat.

Vergleichbar mit immer wieder mündlich erzählt werdenden Familienereignissen ist dies und entfaltet nach und nach eine ganz eigene Dynamik, derer der Autor sich nicht ganz entziehen kann und nicht verstehen wird. Wer tut das schon, selbst bei der eigenen Familie? So spürt Andreas Fischer „Der Königin von Troisdorf“ nach, die als Patriarchin versucht, alle Fäden Zeit ihres Lebens in den Händen zu halten und doch nicht verhindern wird können, dass der Enkel „tüchtig Sand ins Getriebe werfen“ wird, zu Zeiten, die weder sie noch die Eltern des später Schreibenden ganz verstehen werden.

Was wäre, wenn das Undenkbare stimmt?
Was wäre, wenn Vater nicht die Wahrheit sagt?
Kann mein Vater mich anlügen?

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Anstrengend zu lesen, für jene, die sich in diesem Stil nicht zurechtfinden, der mir jedoch auch bisher recht selten begegnet ist. Eine Art Tagebuch über Jahre, Rückblicke, Einstreusel, Zeitsprünge. Das muss man mögen. Der Autor beherrscht diese Kunst und vermag es, eine Art Film vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen. Vielleicht findet man sogar selbst ein Stück eigene Familiengeschichte wieder.

Andreas Fischer versucht mit „Der Königin von Troisdorf“ ein Stück Bewältigung der eigenen Kindheit, sowie der Traumen der Vergangenheit, die wie wiederkehrende Nadelstiche, die Familiengeschichte durchziehen. Es ist ein Versuch, zu verstehen, was kaum zu begreifen ist, literarisch in einer wunderbaren Form, zugleich das Psychogramm einer Familie, mit der der Autor erst im Erwachsenenalter einen wie auch immer gearteten Frieden machen wird, was sich nie ganz auflösen wird.

Ja, ich bin der Prinz.
Ich bin einziger Sohn, einziger Neffe, einziger Enkel.
Auf mich läuft alles zu.
Ich bin der Fluchtpunkt.
Ich werde sie alle beerben.
Ich spiele keine Rolle.
Ich bin unsichtbar.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Für jene, die Geschichte einmal in einer besonderen Form aufgearbeitet erleben möchten, eine unbedingte Empfehlung.

Autor:

Andreas Fischer wurde 1961 in Troisdorf geboren und ist ein deutscher Filmemacher und Autor. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Fotografen und studierte Filmwissenschaft, Ethnologie und Psychologie in Köln und Berlin. Von 1999 bis 2004 war er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln. 1983 erschien sein erster Kurzfilm, danach zahlreiche Dokumentaqrfilme u. a. „Contergan: Die Eltern“ (2004) oder „Söhne ohne Väter (2007). „Die Königin von Troisdorf“ ist sein erster Roman.

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Herbert Heinrich Beckmann: Es sind Kinder

Inhalt:

Tine und Stefan sind ein Paar am Abgrund. Der dünne faden, der ihre Beziehung noch zusammenhält, ist ihr kleiner Sohn Leon. Doch als dieser beim gemeinsamen Urlaub auf einer Insel mitten in der Baltischen See plötzlich verschwindet, stehen die beiden vor einer ganz besonderen Belastungsprobe.

Mit psychologischen Feingefühl zeichnet Herbert Heinrich Beckmann das Psychogramm einer unglücklichen Beziehung in einer Atmosphäre unerklärlicher subtiler Bedrohung. Sprachlich genau erzählt er mit stetig steigender Spannung. Das Kind geht unterdessen seine eigenen Wege. (Klappentext)

Rezension:

Mit den ersten Zeilen werden Fronten geschaffen zwischen den beiden Hauptprotagonisten, was uns Lesende vor die Herausforderung stellt, mit unseren Sympathien, mal für die eine, dann für die andere Figur, umhergeworfen zu werden. Dennoch beginnt die Mischung aus Beziehungs- und Kriminalroman relativ harmlos, doch die Grundstimmung lässt gleich anfangs das Unheil erahnen. Doch schnell findet man hinein in Herbert Heinrich Beckmanns Strudel „Es sind Kinder“. Herauszufinden, ob des Gefühlschaos‘, dem man ausgesetzt wird hingegen schwer.

Im Zentrum der Geschichte steht zunächst die in Trümmern liegende Beziehung der beiden Figuren, die nur noch durch den kleinsten gemeinsamen Nenner zusammengehalten, jedoch nach und nach durch die Dringlichkeit der Suche überdeckt wird, die Verzweiflung förmlich zum Greifen nah. In kurzen Sätzen wird aus wechselnder Perspektive heraus erzählt, wie ein auf wackligen Füßen gebauter Urlaub sich zum elterlichen Horrortrip wandelt, der an den Grundfesten rüttelt.

Kompakt geschrieben ist diese Erzählung. Wenn man so möchte, liest man mit diesem Roman eine Art geografisches, sehr ernstes, Kammerspiel mit begrenzten Figurenensemble. Qualitativ tut dies der Geschichte gut, verliert der Autor so doch nie die Fäden und kann schön mit der Psyche seiner Protagonisten spielen, nicht zuletzt auch mit jenen, die die Erzählung lesen.

Dabei werden die Sympathien klar verteilt, was sich jedoch mit zunehmender Seitenzahl, wenn nicht wandelt, so dann zumindest ausgleicht. Jede Figur hat indes ihre Ecken und Kanten. Der Autor versteht es, damit zu spielen, nicht zletzt so ohne großen Aufwand oder Effekthascherei Wendungen zu schaffen. Der Erzählstil ist ruhig gehalten.

Der Text enthält kein Wort zu viel, beschränkt sich auf das Notwendige, doch hat Beckmann einen Detailgrad, wenn es um die Beschreibungen von Gefühlswelten geht, der die Figuren fassbar macht. Sehr schnell möchte man erfahren, wie es ausgeht, sollte dabei im Verlauf aufmerksam sein. Das Gefühl, etwas Wichtiges überlesen zu haben, könnte sonst gegen Ende eintreten.

Die Überschrift ist mehrdeutig, wie auch einige Begriffe verwendet und im Kontext, im Nachwort vom Autoren selbst notwendigerweise eingeordnet werden. Diese Abrundung ist hier notwendig, da sonst Beckmann leicht missverstanden werden würde, hier jedoch vorhanden.

Wenn man der Geschichte etwas vorhalten möchte, ist es, dass sie in Teilen zu ruhig erzählt wird.l großflächig funktioniert das, jedoch an einzelnen Punkten ist dies für das Aufrechthalten des Spannungsmoments gefährlich, wobei sich dies mit der Perspektive des oder der Lesenden relativeren könnte. Zudem, wer mit bestimmten Inhalten, siehe Klappentext, Schwierigkeiten hat, sollte vorsichtig an die Erzählung herangehen. Allen anderen sei dieser Beziehungs- mit leichtem Hang zum Kriminalroman durchaus empfohlen.

Autor:
Herbert Heinrich Beckmann wurde 1960 geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Psychologe. Er studierte in Berlin Psychologie und promovierte dort 1997, , bevor er sich zunehmend dem Schreiben widmete. Neben Fach- und Sachbüchern schrieb er Hörspiele, für den Rundfunk, sowie verschiedene Romane. Sein erstes Kinderbuch veröffentlichte er 1997, die erste Erzählung für Erwachsene im Jahr 2000. Zudem schreibt er unter verschiedenen Pseudonymen. 2010 stand er auf der Shortlist des Sir-Walter-Scott-Preises. zwei Jahre später auf der Top 5 Liste des Deutschen Kinderhörspielpreises mit seinem Hörspiel „Der Jesus von Kreuzberg“. Beckmann ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller.

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Jürgen Meier: Wöbkenbrot und Pinselstrich

Inhalt:

Johannes Becker beginnt 1910 ein Ingenieurstudium in Chemnitz und heiratet kurz darauf. Als er zunehmend der völkischen Ideologie der Nationalsozialisten verfällt, wendet sich seine Frau von ihm ab. Ähnlich zerrissen ist die Familie Meyer in Ostwestfalen. Der Vater Karl nutzt die Machtübernahme der Nazis aus, um sich an jüdischem Eigentum zu berreichern. Sein Sohn Gottfried folgt ebenfalls seiner Begeisterung für die Nazis und zieht in den Krieg. Er lernt Ingeborg Becker kennen und heiratet sie. Aus Krieg und Hitlerzeit hat er nichts gelernt, sein Sohn Georg aber will es besser machen und schließt sich 1970 der Studentenbewegung an. (abgewandelte Inhaltsangabe).

Rezension:

So ausufernd wie einstweilen Thomas Mann muss man gar nicht schreiben, wenn man eine fiktive Familiengeschichte mit all ihren höhen und Tiefen, Wandlungen und innerer Zerissenheit zu Papier bringen möchte, auch nicht, wenn man den Personenkreis erweitert. Jürgen Meier zeigt in seinem Roman „Wöbkenbrot und Pinselstrich“ dass das auch anders geht und beschreibt so ganz nebenbei die Herausforderungen, Schrecken und Wandlungen des vergangenen Jahrhunderts.

Der leicht gängige Familienroman wechselt zwischen den Perspektiven und Generationen, beginnt 1910. Fortschrittsglaube manifestiert sich in den neuen Errungenschaften der Technik, Ingenieure werden gesucht. Hoffnungsvoll schaut der junge Johannes, ersterer einer interessanten Reihe von Protagonisten in die Zukunft, noch nicht ahnend, dass bereits dunkle Schatten über Deutschland heraufziehen. Eingenommen von der Figur, deren Enthusiasmus aber auch Unsicherheiten der Autor fein herausgearbeitet hat, steigen wir in die Geschichte ein, die zu einem wahren Wechselbad der Gefühle verkommt. Das Erzähltempo passt sich dem an. Sprünge wechseln sich ab mit nachdenklichem Innehalten.

Der Perspektivwechsel zwischen den Figuren aus den zwei Familien, deren Wege sich kreuzen werden, bringt die Dynamik einerseits, wie auch die beschriebenen Generationswechsel. Jürgen Meier versteht es, die Zeiten greifbar zu machen. Hervorzuheben sind besonders seine Beschreibungen des Konflikts und einzelner Abschnitte, wie etwa die unmittelbare Nachkriegszeit, das Nichtsehenwollen des geschehenen Unrechts, aber auch Anspielungen eben der im Klappentext anklingenden Bereicherung von deutschen Familien an jüdischem Besitz. Hier wirkt die Erzählung besonders bedrückend.

Dabei beschränkt sich der Autor nicht nur auf eine Sichtweise, sondern bringt mit einer Vielzahl an Figuren unterschiedliche Perspektiven hinein, die für eine gewisse Dynamik sorgen, nicht zuletzt für gewisse Exkurse in Kunst und Philosophie, die man vielleicht nicht unbedingt beim Aufschlagen des Romans erwartet. Hier kommt das künstlerische Schaffen des Schreibenden durch, der damit an den richtigen Stellen Ruhe einbringt.

Das kann man als Einlassung nehmen, jedoch auch als Meta-Ebene für die jeweils beschriebene Zeitepoche, muss man jedoch mögen. Hier wird wichtig, wie und als was man diesen Roman lesen möchte. Konzentriert man sich auf die Familiengeschichte, setzt den Fokus eher auf die Beschreibungen gesellschaftlichen Wandels oder hat Freude an Kunst und Philosophie? Für jeden ist etwas dabei. So klar habe ich das bisher jedoch nur selten gelesen.

Das Werk orientiert sich am historischen Verlauf der jüngeren Geschichte, so dass Wendungen allein durch das Denken und Handeln der einzelnen Figuren entstehen. Sprachlich wird man zudem über den Dialekt des Östwestfälischen Platts stolpern, in dem einzelne Sätze und Passagen formuliert sind. Sicher eine besondere Herausforderung für das Lektorat, welches wahrscheinlich jedes Wort nachschlagen musste. Für uns Lesende gibt es jedoch eine Art Glossar hintenan mit der Übersetzung ins Hochdeutsche.

Die Protagonisten, mit all ihren Ecken und Kanten, sind nachvollziehbar. Niemand ist hier durchgängig Sympathieträger. Perfektionismus gibt es im realen Leben nicht. Entscheidungen und Handlungen, oft genug die falschen, sind es, die uns zudem machen, was wir sind. Wusste schon Dumbledore aus den Romanen um Harry Potter. Hier gilt das auch. Nicht nur das macht Lust auf mehr. Man darf auf Fortsetzungen gespannt sein.

Ach so, was ist jetzt nun eigentlich Wöbkenbrot? Vielleicht so viel, eine Spezialität, unter der vor allem Menschen aus Ostwestfalen zu leiden haben. Aber hat nicht jede Region, die an kulinarischer Abstrusität kaum zu überbieten sind? Wer genießen möchte, bleibt vielleicht besser bei dieser Erzählung.

Autor:

Jürgen Meier lebt in Hildesheim und ist ein deutscher Schriftsteller und Dokumentarfilmer. Er schloss 1973 ein Studium „Intermedia“ in Bielefeld ab und arbeitete anschließend als PR-Werbechef am Stadttheater Hildesheim. Er gründete die Werbeagentur Aickele & Meier. Seit 1997 ist er selbstständiger Autor und Journalist. Von ihm liegen Theaterstücke, Buchveröffentlichungen und Theaterstücke vor.

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Sam Lloyd: Sturmopfer

Inhalt:

Kalt wie das Wasser. Dunkel wie der Meeresgrund.

Ein Haus auf den Klippen an der Südwestküste Englands. Auf Mortis Point, hoch über den sturmumtosten Atlantik, wurden früher Schmuggler und Diebe gehängt. Heute führen Lucy und Daniel hier ein beschauliches Leben mit ihren beiden Kindern – bis eines Tages Daniels Segelboot auf dem Meer treibend gefunden wird. Von ihm selbst fehlt jede Spur. Als Lucy erfährt, dass auch ihre Kinder verschwunden sind, gerät ihr Leben entgültig aus den Fugen. Offenbar befanden sich Billie und Fin ebenfalls auf dem Boot. Während sich über dem Meer ein Jahrhundertsturm zusammenbraut, versucht Lucy fieberhaft herauszufinden, was an Bord der Lazy Susan geschah. Je näher sie der Wahrheit kommt, desto klarer wird ihr, dass der eigentliche Albtraum gerade erst begonnen hat… (Klappentext)

Rezension:

Zwischen Krimi und Thriller schwankt Sam Llyods Werk „Sturmopfer“ und entführt uns an die vom Meer beherrschte Küste Englands, in der nur jene überstehen, die sich ein Standbein aufbauen, welches auch außerhalb der touristischen Saison funktioniert. Lucy und Daniel haben dies geschafft.

Letzterer ist Unternehmer und Lucy selbst betreibt eine Bar, die am Hafen sowohl die Fischer bedient, als auch Touristen und Einheimische, zudem kleinen Bands und Musikern einen Auftrittsort bietet. Beide scheinen in der Gemeinschafft von Skentel gut integriert zu sein, haben zwei wohlgeratene Kinder, doch es kommt, wie es kommen muss. Zur Katastrophe. Das Boot samt Mann und Kinder verschwinden. Nur Daniel wird aus dem Wasser gefischt und steht bald im Zentrum der Ermittlungen von DI Abraham Rose, der bald hinter die Fassade des perfekten Ehepaares blicken muss und so einiges ans Tageslicht kehren wird.

In ruhiger Tonalität baut der Autor hier einen Spannungsbogen, der vor allem im Wechsel der Erzählperspektiven funktioniert und einen Sog entwickelt, den man sich kaum entziehen kann. Nicht nur die Sicht der ermittelnden Hauptfigur, die zudem mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen hat, kommt zum tragen und so ergibt sich aus einem zunächst unübersichtlichen und verwirrenden Puzzle erst spät ein Gesamtbild, welches gegen Ende zudem noch gut funktionierende Wendungen aufweisen kann. Die sind stimmig, manchmal sehr vorhersehbar, was jedoch ausgeglichen wird, durch die Atmosphäre, die Sam Lloyd hier aufzubauen weiß. Man kann sich all die Figuren mit ihren Ecken und Kanten bildlich vorstellen, wenn auch so manche Szene hart an der Grenze einer ARD-Vorabendkrimi-Serie vorbeischrammt.

Für einen durchschnittlichen Krimis fast schon zu ausführlich, sind die Kapitel dennoch handlich, auch mit Cliffhangern wird nicht gespart, ebenso wenig mit gegensätzlichen Charakteren, für die die Sympathien im Laufe des Lesens wechseln werden. Positiv ist zu nennen, dass die Protagonisten verschiedene Seiten aufweisen, was diese Geschichte positiv von so vielen anderen abhebt. Rückblenden und Zeitsprünge werden ebenso als Elemente effektvoll eingesetzt. Warum jedoch Ermittler scheinbar grundsätzlich einen Knacks haben müssen, wird sich mir nie erschließen.

Es wird nicht schwerfallen, in diese zu anderen Werken im Vergleich ruhig wirkende Geschichten, die durchaus manche Länge aufweist, hineinzufinden. Wer jedoch Probleme hat, mit, angedeutetem Druck oder beschriebener Gewalt gegenüber Kindern sollte sich überlegen, diesen Thriller zur Hand zu nehmen, gleichwohl die Stellen an den Fingern einer Hand abzuzählen sind. Merken tut man jedoch, dass der Autor sich insbesondere mit den technischen „Konstrukten“ vorher beschäftigt hat. Wie funktioniert ein kleines Motorboot eigentlich? Welchen Spielraum habe ich dort für eine Handlung, für Stauraum? Wie laufen Rettungsmissionen bei im Meer vermissten oder im offenen Wasser entdeckten Personen ab? Das ist alles sehr durchdacht.

Dieser Thriller ist ein Stand Alone, wenn auch die Hauptfigur sich anbietet für weitere Geschichten und eine Empfehlung, die Arbeiten des Autoren Sam Lloyd weiter zu verfolgen. Fans des englischen Krimis, die nicht immer auf pure Gewalt setzen, wobei die durchaus dort vorkommt, wenn sie für die Geschichte sinnvoll ist, sind hier gut bedient, wenn auch für Vielleser sich einiges Vorhersehbares ergibt. Für andere kann ich mir diesen Thriller auch gut als Einstieg in das Genre vorstellen. Dafür eine Empfehlung.

Autor:

Sam Lloyd ist ein britischer Schriftsteller, dessen Debüt „Der Mädchenwald“ 2020 erschien. Dies ist sein zweites Werk.

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Yara Nakahanda Monteiro: Schwerkraft der Tränen

Inhalt:

Was löst es aus, in einen Kampf hineingeboren zu werden, der nicht der eigene ist – und der doch alles beeinflusst?

Vitorias Leben besteht aus Erinnerungen. Aus Bildern, Gerüchen, dem Geschmack von saurer Milch. Da sind die Säulen eines Traumas, das sie nicht überwinden kann. Vitoria flieht während des Kriegs für die Unabhängigkeit Angoas mit ihren Großeltern nach Portugal, lernt ihre Mutter nie wirklich kennen. Jahre später bricht Vitoria aus, entdeckt die Einzigartigkeit, aber auch Zerrissenheit dieses, ihres Landes, von sich selbst. Ihrer Familie auf die Spur trifft sie in Huambo auf die Geister einer fremden Vergangenheit und muss lernen, dass es Risse gibt, die vielleicht zu tief sind, um noch geflickt zu werden. (Klappentext)

Rezension:

Der Krieg ist überall gleich, macht uns Menschen zu Monstern und bringt in Einigen von uns das beste zum Vorschein, in anderen alles schlechte. Manche der daraus entstandenen Wunden heilen nie. Sinngemäß könnte dies der Untertitel des vorliegenden Romans „Schwerkraft der Tränen“ sein, mit dem sich die portugiesische Autorin Yara Nakahanda Monteiro der Geschichte ihres Geburtslandes Angola und nicht zuletzt ihrer Familie fiktionalisiert annähert.

Im Zentrum der Erzählung steht die junge Vitoria, deren Großeltern kurz nach ihrer Geburt mitsamt der Enkelin nach Portugal fliehen, vor den Grausamkeiten des Unabhängigkeitskrieges in ihrer Heimat und den sich anbahnenden Bürgerkrieg. Nun, Jahre später, möchte die nun Erwachsene mehr über ihr Geburtsland erfahren, nicht zuletzt, über Beweggründe ihrer Mutter, die Tochter zu Gunsten eines ungewissen und brutalen Kampfes zu verlassen. Vitoria öffnet sich ein wirres gesellschaftliches Gefüge und entdeckt Wunden, die nie vollständig verheilt sind.

Beinahe in der Form einer begleitenden Reportage erzählt, eröffnet die Autorin ihrer Leserschaft den Blick auf eine Welt, der zumindest im westlichen Gefüge viel zu selten Beachtung und erst in letzter Zeit verdienende Aufmerksamkeit bekommt. Welche Folgen hatten Loslösungsbestrebungen von den Kolonialmächten in Afrika, darauf folgende Kriege und Bürgerkriege nicht nur für einzelne Regionen, sondern auch für die betroffenen Menschen, die von den Ereignissen überrollt und oft auf Generationen hinaus gezeichnet wurden? Aus Sicht der Protagonistin werden diese Risse nach und nach deutlich, wenn sich Vitoria im Verlauf der Geschichte ein immer schärferes Bild ihrer eigenen familiären Vergangenheit bietet.

Dabei bleiben andere Figuren reichlich blass. Monteiro gibt nur wenigen Charakteren Ecken und Kanten, was jedoch dem Erzählstil zu Gute kommt. Die Autorin konzentriert sich auf die innere Gefühlswelt Vitorias und nähert sich dabei ein Stück weit ihrer eigenen Geschichte an. Auch sie hat ähnlich der Hauptfigur als Kleinkind das Land verlassen. Besonders beindruckend wirkt der Text immer dann, wenn die junge Frau sich auf kleine Details, die sie beobachtet, fokussiert. Einzelne Passagen stechen hervor.

Doch, die Autorin verliert sich nicht in Belanglosigkeiten. Das Erzähltempo steigt mit zunehmender Seitenzahl. Kleinere Rückblicke und Konfrontationen erweitern den Blickpunkt der Lesenden, strahlen jedoch immer wieder auf die Protagonistin zurück. Die weiß immer genau so viel, wie auch die jenigen, die dieses Buch in den Händen halten. Übergänge sind sehr harmonisch gezeichnet.

Man fühlt die innere Zerrissenheit der Protagonistin, die die Geschichte ihrer Familie, deren Landes nachspürt, zugleich mittendrin ist und doch außen vor steht. Das chaotische Treiben, Willkür, Korruption, Armut und doch Lebensfreude der Menschen dort, schafft Monteiro sehr plastisch wirken zu lassen. Die Autorin leistet damit einen wertvollen Beitrag der Vergangenheitsbewältigung der mit ihr verbundenen Länder. Erzählt wird dabei die Tragik einer ganzen Epoche in einem Zeitabschnitt aus wenigen Wochen. Vorkenntnisse indes braucht man als Lesender nicht. Monteiros Erzählung steht für so viele Familienschicksale Afrikas im Zeichen der Wende von der Kolonialherrschaft zur Unabhängigkeit, mit all den bekannten Folgen, die dort noch heute zu spüren sind.

Die eine oder andere Konfrontation mehr, in manchen Abschnitten eine noch stärkere Fokussierung hätten der sonst sehr eingängigen Geschichte gut getan, welche dennoch empfehlenswert ist. Vom Erzähl- und Schreibstil, den nachverfolgten und klaren Handlungssträngen und den Spannungsmomenten her, ist dies eine der ersten Geschichten aus der Feder einer portoguiesischen Autorinnen, die mir wirklich gefällt. Ergänzend dazu sei gesagt, angolanische und portugiesische Begriffe werden in einem ergänzenden Glossar erklärt.

Warum man aber die Triggerwarnung, wenn man schon eine schreibt, jedoch in Winzschrift in den hinteren Seiten des Romans versteckt, bleibt wohl Geheimnis des Verlags. Die werden die meisten wohl erst entdecken, nachdem sie das Buch gelesen haben. Dann ist es jedoch zu spät.

Autorin:

Yara Nakahanda Monteiro wurde 1979 in Huambo, Angola, geboren und wuchs in Portugal auf, wo sie schon früh mit dem Schreiben begann. Sie schrieb Drehbücher, Kurzgeschichten und für Podcasts, bevor sie mit „Schwerkraft der Tränen“ ihr erstes Buch veröffentlichte, welches in mehreren Sprachen übersetzt wurde.Nach Stationen rund um die Welt lebt sie heute wieder in Portugal.

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J. M. G. Le Clezio: Bretonisches Lied

Inhalt:

Der französische Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clezio erinnert sich in zwei autobiografischen Erzählungen an seine Kinder- und Jugendzeit. An die urlaube mit der Familie in der Bretagne der 1950er-Jahre und an seine frühe Kindheit im besetzten Süden Frankreichs. (Klappentext)

Rezension:

Der französische Schriftsteller nähert sich den Orten seiner Kindheit, vermeidet dabei in Erinnerungen zu stöbern. Ihnen misstraut er, vermischen sie sich doch allzu oft mit Erzählten und dadurch als wahr Empfundenen, ohne wahrhaftig zu sein.

So stellt er zwei Episoden seines Lebens einander gegenüber, die nicht nur geografisch entgegengesetzt zu einander liegen. Le Clezios „Bretonisches Lied“ ist dann auch keine Kindheitsbiografie. Den Lesenden liegt mit diesem Werk eine Art romanhafte Geschichtsstunde vor, deren Sog man sich kaum zu entziehen weiß.

In umgekehrter Reihenfolge beschreibt der Autor zunächst sehr sachlich den Wandel einer Region, ohne nostalgisch daherzukommen. Der Blick für das Vergangene ist geschärft durch das, was die Jahre über hinzukam oder verschwandt. Bilder ungezähmter Natur, archarisch wirkender Landwirtschaft und einer Gegend werden heraufbeschworen, die den Anschluss an die Moderne erst noch finden wird, mit all den Vor- und Nachteilen. Der beschriebene Landstrich spielte erst in Le Clezios späteren Kinderjahren eine Rolle. Die heraufbeschworenen Bilder sind absoluter, haben festere Konturen als die nachgestellten des Krieges.

Damit gemeint ist die zweite Erzählung, die biografisch gesehen, der zunächst ausgeführten vorangestellt hätte sein müssen. Diese Umkehr bricht das gewohnte Schema, wie auch der Ort nicht gegensätzlicher sein könnte. Vom Norden folgt der Lesende dem Erzählenden, der vermeidet, sich zu erinnern, an etwas, was er nur unbewusst erlebt haben kann.

Die Betonung liegt auf die Stimmung der Erwachsenen, die sich auf die Empfindungen der Kinder wiederspiegelt. Diese kennen nichts anderes als den Zustand des Jetzt, wissen nicht, wie es anders hätte sein können, ein Leben ohne Krieg. Gefühle lässt Le Clezio hier nicht an sich heran, wirkt auch nicht kalt, nur nüchtern. Die Auswirkungen des Krieges zeigten sich erst später. Der Gegensatz der zwei Erzählungen, die von einander getrennt sind, aber doch nicht losgelöst betrachtet werden können, wirkt hier um so stärker.

Wörtliche Rede findet sich in beiden Texten kaum. Die gleichen eher einer Zustandsbeschreibung, einem betrachtenden Monolog. Der Autor betrachtet sein früheres Ich oder eher das um das frühere Ich herum Geschehene. Aus Kindersicht passiert nicht viel, die Wucht der Ereignisse wird dem Erzählenden erst später bewusst.

Das Nüchterne wirkt poetisch, stark in der Übersetzung. Wie viel präsenter muss erst der Originaltext drängen? Die Kompaktheit tut ihr übriges. Kein Wort ist zu viel, zu wenig. Es ist ja auch nur ein überschaubarer Zeitraum, der beschrieben wird. Für das Kind, was später den Nobelpreis erlangen wird, gibt es an diesem Punkt nur das Hier und Jetzt.

Der Erzählende ist Dreh- und Angelpunkt der eigenen Geschichte. Andere Figuren spielen kaum eine Rolle, sind zu vernachlässigen und doch immer präsent. Immer wieder gibt es Sprünge zwischen den Hier und Jetzt. Der Wechsel stört nicht. Lesend steht man neben den Protagonisten, ist dieser selbst. Landschaften, Häuser, beschriebene Orte sind beinahe greifbar. Es ist so, als wäre man dort, zu dieser Zeit.

In diesen Texten können sich viele verlieren. Die Sprache ist karg, wie zuweilen die Region und die beschriebenen Jahre. Das muss man jedoch mögen. Wer gerne gewöhnliche Erinnerungen, Biografien liest, für den ist das nichts. Auf die Form muss man sich einlassen, sie auf sich wirken lassen.

Ein französischer Film ohne Handlung, jedoch mit Aussage und ganz viel Inhalt. Nur eben zwischen Buchdeckeln. Das funktioniert hier wunderbar. Die Melancholie wird kleingehalten. Aus anderen Regionen hat man über diese Zeit schon viel lesen können. Nach meinem Empfinden ist unser Nachbarland hier unterrepräsentiert. Es ist zu hoffen, dass es künftig noch mehr solche Erzählungen geben wird. Le Clezio hat hier ein interessantes Puzzleteil gesetzt.

Autor:

Jean-Marie Gustave Le Clezio wurde 1940 in Nizza geboren und ist ein französisch-mauritischer Schriftsteller. Er hat beide Staatsbürgerschaften und studierte nach der Schule zunächst in Bristol und London, während er gleichzeitig Französisch unterrichtete. In Nizza begann er ein Studium der Philosophie und Literatur, beendete dies 1964 und arbeitete im Rahmen seines Militärdienstes als Entwicklungshelfer. 1963 veröffentlichte er eine erste Erzählung, der weitere folgten. Im Jahr 2008 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

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Jules Valles: Jacques Vingtras 1 – Das Kind

Inhalt:

In diesem großen Klassiker der französischen Literatur erzählt Jules valles die durchaus autofiktionale Geschichte eines kleinen Jungen, der von seiner Bauernmutter und seinem Lehrervater ständig zum Sündenbock gemacht und emotional und körperlich missbraucht wird. Sein größtes Anliegen ist es, den sozialen Status der Familie zu verbessern.

Allen geschilderten sozialen Abgründen und menschlichen Bösartigkeiten zum trotz ist Das Kind doch voller Ironie und Humor und gilt vielen gar als eines der witzigsten Bücher der französischen Literatur überhaupt. In Christa Hunschas leichtfüßiger Übersetzung erstrahlt der Roman so modern, als sei er aus dem Herzen der Gegenwart geschrieben. (Klappentext)

Einordnung der Reihe:

Jules Valles: Jacques Vingtras 1 – Das Kind
Jules Valles: Jacques Vingtras 2 – Die Bildung
Jules Valles: Jacques Vingtras 3 – Die Revolte

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Rezension:

Einerseits historischer Roman aus heutiger Sicht, in jedem Fall gesellschaftliches Porträt, autobiografische Erzählung, entführt der Schriftsteller Jules Valles uns in ein Frankreich, welches es so nicht mehr gibt. Unter den Eindruck der Zeitenwende, das Experiment der Pariser Kommune sollte rst Jahre später scheitern, erzählt er von seiner Kindheit, die in Nuancen an die psychische Verlorenheit erinnert, die man später auf der anderen Seite des Kanals in der Figur des Oliver Twists wiederfinden wird.

Doch der Autor hatte Eltern, was es hier nicht besser macht. Deren einzige Erziehungsmaßnahmen schien darin zu bestehen, dem Kind seine Unvollkommenheit, das Kindsein selbst vorzuwerfen. Entlang der eigenen Biografie entwirft der Autor das Bild eines Aufwachsens unter Qualen, eines Kindes, welches um so ungezwungener ist, je weiter es der Recihweite der Eltern entkommt.

Wenn man so möchte, liegt mit „Das Kind“, hier in einer wunderbaren Übersetzung von Christa Hunscha, ein aus heutiger Sicht historischer Coming of Age Roman vor, der sich flüssig lesen lässt. Die Sprache ist klar und ohne Schmirkel. Wo französische Begriffe auftauchen, hilft ein nachgestelltes Glossar. Die Sympathien werden sofort verteilt, vereint der Erzähler doch alle auf sich.

Für die umgebenden Protagonisten ist die Figur des Jacques‘ oft mehr, mal weniger ein lästiges Übel. Frei fühlt sich der Junge. Die größte Freude der Mutter ist es, das Kind zu piesacken. Der Vater gibt Jacques die Schuld für den fehlenden Karriereaufstieg. Von beiden Seiten setzt es Schläge.

So zusammengefasst wirkt das deprimierend, doch Jules Valles bewahrt seinem Protagonisten Neugier und Beobachtungsgabe, Traum und Phantasie, vor allem Hoffnung. So überlebt der Junge den Tag, so alle Lesenden die Seiten, die sonst nur erdrückend wären. Um so bedeudungsvoller erscheinen kleinere Erfolge Jacques‘, die am Ende Früchte tragen, um so witziger wirken einzelne Szenen.

So liest sich schnell, was sonst nur schleppend zu ertragen wäre, auch wenn der Zeitraum eine ganze Kindheit und Jugend, die zu damaliger Zeit, 19. Jahrhundert, schneller zu Ende ging als heute, umfasst.

Das Unglück ist da!

Jules Valles: Jacques Vingtras 1 – Das Kind

Wer liest hangelt sich entlang der Schilderungen aus der Sicht des Protagonisten, Sinnbild für das Gute und Reine.

Die Eltern sind der klare Gegenpol, mit überkommenen und aus der Zeit gefallenen Vorstellungen, die den Betrachtungen des Jungen nicht Stand halten können. Jules Valles lässt Jacques die Stationen seiner Kindheit durchlaufen, erzählt schlüssig. Lücken und unlogische Brüche existieren in diesem Format nicht. Die Erzählung kommt kompakt daher. Ausschweifungen werden vergleichsweise sparsam eingesetzt, dann jedoch besonders betont. Einzelne Sätze stechen heraus.

Man fühlt die Verlorenheit, Hilflosigkeit, später die Entschlusskraft der Hauptfigur, dessen Geschichte so übersetzt, auch gut ins Heute zu übertragen wäre. Jede historische Staubschicht oder Melancholie wurde hier zu Gunsten der Erzählung entfernt.

Das funktioniert, hinterlässt Eindruck. Wer liest, der steht, sitzt neben Jacques, erleidet, erträgt Schläge und psychische Erniedrigung, den kram, den Hass der Eltern, die diesen über das eigene Kind ausschütten. Zart besaite müssen die Lektüre vielleicht das eine oder andere Mal unterbrechen. Lichtblicke für den Jungen gibt es dennoch zur Genüge.

Ein Coming of Age Roman aus einem wechselhaften Epoche in moderner Übersetzung, biografisch angehaucht und Missstände kritisierend, viel steckt in diesen doch überschaubaren Seiten. Doch Valles hat es hier geschafft, das unterzubringen, ohne sich zu vertun. Lesenswert allemal. Kleinere Schwächen ergeben sich aus der Distanz der heute Lesenden heraus.

Wie hätten Erwachsene, wie Kinder in vergleichbaren Situationen heute handeln können? Man ertappt sich dabei, den Protagonisten ein ums andere Mal schütteln zu wollen, als würde das Kind nicht genug körperlich gedemütigt werden, aus damaliger Perspektive ist das jedoch folgerichtig. Macht neugierig auf die weiteren Teile.

Autor:

Jules Valles wurde 1832 geboren und war ein französischer Journalist, Romaschriftsteller und Publizist, sowie Sozialkritiker. Unter den Eindrücken des Deutsch-Französischen Kriegs wurde er 1871 Mitglied der Pariser Kommune, des revolutionären Stadtrats, der gegen den Willen der Zentralregierung versuchte, Paris nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten.

Nach Niederschlagung dieser gelang es ihm nach London zu fliehen. 1880 kehrte er schließlich nach Frankreich zurück, um fortan von seiner publizisitischen Arbeit zu leben. Er starb 1885 in Paris.

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Rudi van Dantzig: Der verlorene Soldat

Inhalt:

Erzählt wird die Geschichte eines elfjährigen Jungen, der -im letzten Kriegsjahr mutterseelenallein in ein winziges friesisches Fischerdorf evakuiert- nach der Befreiung durch die Amerikaner von einem jungen Soldaten in eine sexuelle Beziehung hineingezogen wird. Selten sind Kinderängste und verwirrte Gefühle so eindringlich, so offen und so einfühlsam beschrieben worden, und zwar aus der Sicht des Kindes. (Ausschnitt aus Klappentext)

Rezension:

Es gibt autobiografisch angehauchte Erzählungen, die so kompakt wie schwer lesbar sind, dass sie schon mit Erscheinen kontrovers diskutiert und dann beiseite gelegt werden. So muss es auch mit dieser des niederländischen Choreografen und Tänzers Rudi van Dantzig gewesen sein. „Der verlorene Soldat“, 1988 erschienen, ist heute in der Übersetzung von Helga van Beuningen nur mehr antiquarisch zu erwerben.

Worum geht es? Ein Amsterdamer Junge wird gegen Ende des Krieges auf’s Land geschickt, da in der Stadt ein Mangel an Lebensmittel herrscht und die Familie Sorgen hat, über die Runden zu kommen. Die Niederlande leiden unter dem Besatzungsregime, doch gibt es außerhalb der Stadt immer noch Möglichkeiten, so dass sich der kleine Jeroen bald bei einer friesischen Familie untergebracht findet.

Auf sich gestellt, hat er Probleme sich in die Gegebenheite, Sitten und Gebräuche seiner neuen Umgebung einzufinden. Nicht besser wird es, als der Ort von kanadischen Soldaten befreit wird. Einer der neuen Herren nimmt sich Jeroen an, ist beinahe zärtlich, doch schnell rutscht die bekanntschaft in ein Missbrauchsverhältnis ab, welches Jeroen kaum einzuordnen weiß. Instinktiv ahnt er, dass nicht richtig ist, was da passiert, doch mit jedem Kontakt wird die Verwirrung größer, die Grenze durchlässiger.

Die Beschreibung des Inhalts ist geschönt, wird der Autor in der Erzählung doch sehr explizit. Das Entstehen des Abhängigkeitsverhältnisses, explizite Missbrauchsszenen muss man lesen können, um den Roman durchhalten zu können.

Dies ist einer der Gründe, warum das Werk heute als problematisch angesehen werden kann, zudem, wenn bewusst ist, dass Rudi van Dantzig dies zu Teilen am eigenen Leib erfahren musste.

Die andere Fascette des jungen Protagonisten kommt jedoch eben so zum Tragen, wenn der Autor die Verwirrungen Jeroens herausstellt, der mit seinen eigenen Gefühlen und der aufkommenden Pubertät zu kämpfen hat, um am Ende nicht einmal mehr selbst zu wissen, vielleicht nur noch instinktiv, was gerade richtig ist und was definitiv falsch läuft. Der kleine Hauptprotagonist wird dadurch greifbar, für den Gegenpart, der den Jungen so ausnutzt, kann man nichts mehr als Unverständnis, Ekel und Verachtung empfinden.

Wer zu körperlich negativen Reaktionen neigt, sollte von der Geschichte Abstand nehmen, nicht einmal die kurz darauf erfolgte Verfilmung sich ansehen, die sehr viele explizite Szenen abschwächt.

Beschrieben wird ein fassbarer Zeitraum von etwa zwei Jahren aus einer einzigen Perspektive. Der unverstellte Blick des Kindes ist es, der die Handlung vorantreibt und selbst zum Getriebenen wird, ist maßgebend. Der Autor schildert zudem eine Umgebung, in der man nicht anders konnte, als schneller erwachsen zu werden, einfach nur, um zu überleben. Hier gelang Rudi van Dantzig ein Kniff, der diese Differenz zwischen Kindsein und dem nicht Begreifen, sowie der Konfrontation mit der schrecklichsten aller Seiten, die Erwachsene gegenüber Schwächeren zeigen können, noch einmal besonders herauszustellen.

Handlungsorte und Schauplätze sind überschaubar, treten ob der eigentlichen Thematik in den Hintergrund und stellen diese zur Diskussion. So weit gehen wie einige Rezensionen, die meinen, der Autor verherrliche Pädophilie, würde ich nicht gehen, konzentriert sich van Dantzig doch auf die Gefühlswelt des Jungen, der nicht einordnen kann, was da mit ihm gemacht wird und passiert, der eigentlich vertrauen möchte, aber doch jedes Mal aufs Entsetzlichste enttäuscht wird, der kaum einen Weg aus diesem Abhängigkeitsverhältnis weiß, in das er hinein manöviert wird. Einige Passagen sind dennoch mehr als bedenklich zu bezeichnen.

Für wen ist diese Erzählung nun? Für den Autoren selbst, der damit einen Teil seiner Kindheitserinnerungen wohl verarbeitet, vor allem? Den Lesenden, denen eine nahezu unbekannte, vielleicht nicht massenhafte aber doch mögliche Facette des Krieges oder der Nachkriegszeit vor Augen geführt werden soll? Eine Ergänzung zu den vielen Perspektiven, die damals schon veröffentlicht wurden und noch erscheinen sollten? Diskussionsstoff ist damit in jedem Fall gegeben.

Autor:

Rudi van dantzig wurde 1933 in Amsterdam geboren und war ein niederländischer Tänzer, Choreograf und Schriftsteller. Er debütierte 1952 beim „Nederlands Ballet“, schrieb drei Jahre später seine erste Choreografie. Im späteren „Dutch National Ballet“ wurde er 1968 Co-Direktor, von 1971-1991 alleiniger Chef. 1986 veröffentlichte er seinen autobiografisch angehauchten Roman „Voor een Verloren Soldaat“, welcher 1992 verfilmt wurde. Er starb 2012.

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Francesca Buoninconti: Tierisch laut

Inhalt:

Warum zirpen Grillen, machen Echsen Liegestütze und wechseln Oktopusse ihre Farbe? Und sind Fische wirklich stumm?

Tiere kommunizieren mit den unterschiedlichsten Mitteln: mit Lauten, Gesten und Mimikry, mit Licht- und Duftsignalen, Tänzen und dem Farbenspiel ihrer Federn. Elefanten verständigen sich mit Infraschall und unterscheiden so über große Distanzen zwischen Freund und Feind. Auch unter Wasser herrscht keineswegs Stille, wie die Gesänge der Wale zeigen, aber auch Piranhas sind echte Plaudertaschen – wie übriens auch Krokodile.

Tiere kommunizieren, um sich zu umwerben, Feinde abzuschrecken, Artgenossen zu warnen oder auf Futter hinzuweisen. Ihr Leben hängt vom permanenten Austausch von Signalen ab und sie können dabei auch lügen und sich verstellen… Buoninconti enthüllt uns außerdem die Wechselwirkungen zwischen Lebensräumen, für die wir häufig kein Ohr und Auge haben. Lebensräume, die es dringend zu schützen gilt! (Klappentext)

Rezension:

Kommunikation ist der Austausch von Botschaften zwischen Sendern und Empfängern. So die Definition, der wir folgen. Wenn es darum geht, müssen wir feststellen, dass es uns selbst schwerfällt, gegenüber anderen keine Signale zu senden. Doch, wir sind nicht die einzigen. Auch in der uns umgebenden Fauna herrscht ein reger Informationswechsel. Jeder, der mit Tieren auch nur rudimentär zu tun hat, weiß, sie kommunizieren untereinander und zwischen Arten.

Dazu gehört der Hund, der zum Spielen auffordert ebenso, wie die Katze, die nach Futter verlangt. Die italienische Wissenschaftsjournalistin Francesca Buoninconti begibt sich erneut auf Spurensuche, nachdem sie zuletzt die Wanderungen in der Tierwelt verfolgte. In ihrem Sachbuch „Tierisch laut – Die wundersame Welt der Kommunikation im Tierreich“ erfahren wir, wie und worüber sich unsere tierischen Nachbarn unterhalten, zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

Die Kommunikation im Tierreich ist ein weitgehend noch unergründetes Feld, welches wir erst allmählich verstehen lernen. Noch gibt es zu viele weiße Flecken auf dieser Landkarte. Die Autorin zeigt jedoch, wie viel wir bereits jetzt wissen. Unterfüttert mit einer Vielzahl verschiedener Quellen zeigt sie, teilweise sehr ausführlich, auf, wozu Kommunikation im Tierreich existiert, wie und mit welchen Mitteln sich Affen, Wale, Fische oder Vögel austauschen.

Buoninconti gliedert die Thematik sinnvoll in die optische und sensorische Kommunikation auf und erläutert für jede Untergliederung mehrere Beispiele aus den verschiedensten Winkeln des Tierreichs. Aufgelockert wird dies an einigen Stellen durch verdeutlichende Illustrationen von Frederico Gemma, der sich vor allem mit Natur-Illustrationen einen Namen gemacht hat. Eingestreut werden immer wieder kuriose und zu weilen sehr schräge Beispiele. Sich durch Pupse verständigende Heringe sind da noch das Harmloseste.

Mein Lieblingsfakt möchte ich euch nicht vorenthalten.

Anfang 2000 bat das schwedische Militär kanadische und schottische Wissenschaftler einem geheimnisvollen Ticken im Meer auf den Grund zu gehen. Man befürchtete russische U-Boote, die dafür Verantwortlichen waren jedoch nur Heringe. Diese unterhalten sich durch den Ausstoß von sog. Fast Repetitive Ticks (FRT). Das Kürzel ähnelt fatal dem Wort „fart“, Furz.

Man fand heraus, dass Heringe nur in Gemeinschaft pupsen, das in einer Frequenz von bis zu 65 Stück im Bereich von 1.700 und 22.000 Hz. Pazifische Heringe sind dabei furzfreudiger als ihre atlantischen Verwandten. Für diese Forschungsarbeit wurden die Wissenschaftler mit dem IgNobelpreis für Biologie ausgezeichnet, eine satirische Aufzeichnung, die Jahr für Jahr für wissenschaftliche Leistungen vergeben wird, die die Menschen zum Lachen und zum Nachdenken bringen soll.

[Einklappen]

Bekanntes, wie die Kommunikation der Fledermäuse mithilfe von Ultraschall wird detailliert erklärt, ebenso der Weg der Forschung, bestimmte Sachen herauszufinden und wie unsere Art der Kommunikation die der Tierwelt gefährdet. Inzwischen müssen Wale schreien, um sich über weite Strecken zu unterhalten. Der allgegenwärtige Schiffslärm in den Meeren macht’s notwendig. Aber auch optische Signale, etwa von Insekten, haben es immer schwerer, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Zahlreiche Quellen unterfüttern dieses hoch interessante Sachbuch, welches an manchen Stellen es mit dem Detailgrad etwas zu gut meint. Für einige Passagen ist ein gewisses naturwissenschaftliches Verständnis für Biologie etwa oder Chemie von Nöten, im Großen und Ganzen dennoch gut lesbar ist. Nach der Lektüre wird man in jedem Fall die Tierwelt mit anderen Augen betrachten.

Die Mischung aus amüsanten Anekdoten, wissenschaftlicher Tiefe, auch wenn es etwa um die historische Erforschung der Kommunikation im Tierreich geht, ist ansonsten ausgewogen. Schon vorhandenes Wissen wird vertieft. Neues kommt hinzu.

Trotzdem, dass noch einige Fragen offen sind, könnte dieses Sachbuch Standardwerk zur Thematik werden und dies noch länger bleiben. Zumindest für das interessierte Publikum. Diesem kann man es wirklich empfehlen.

Autorin:

Francesca Buoninconti ist eine italienische Wissenschaftsjournalistin. Sie studierte Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Ornithologie und schreibt für verscheidene Medien und arbeitet für den Rundfunk. 2021 erschien ihr erstes Buch in deutscher Übersetzung „Grenzenlos. Die erstaunlichen Wanderungen der Tiere“.

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