Leben

Rudi van Dantzig: Der verlorene Soldat

Inhalt:

Erzählt wird die Geschichte eines elfjährigen Jungen, der -im letzten Kriegsjahr mutterseelenallein in ein winziges friesisches Fischerdorf evakuiert- nach der Befreiung durch die Amerikaner von einem jungen Soldaten in eine sexuelle Beziehung hineingezogen wird. Selten sind Kinderängste und verwirrte Gefühle so eindringlich, so offen und so einfühlsam beschrieben worden, und zwar aus der Sicht des Kindes. (Ausschnitt aus Klappentext)

Rezension:

Es gibt autobiografisch angehauchte Erzählungen, die so kompakt wie schwer lesbar sind, dass sie schon mit Erscheinen kontrovers diskutiert und dann beiseite gelegt werden. So muss es auch mit dieser des niederländischen Choreografen und Tänzers Rudi van Dantzig gewesen sein. „Der verlorene Soldat“, 1988 erschienen, ist heute in der Übersetzung von Helga van Beuningen nur mehr antiquarisch zu erwerben.

Worum geht es? Ein Amsterdamer Junge wird gegen Ende des Krieges auf’s Land geschickt, da in der Stadt ein Mangel an Lebensmittel herrscht und die Familie Sorgen hat, über die Runden zu kommen. Die Niederlande leiden unter dem Besatzungsregime, doch gibt es außerhalb der Stadt immer noch Möglichkeiten, so dass sich der kleine Jeroen bald bei einer friesischen Familie untergebracht findet.

Auf sich gestellt, hat er Probleme sich in die Gegebenheite, Sitten und Gebräuche seiner neuen Umgebung einzufinden. Nicht besser wird es, als der Ort von kanadischen Soldaten befreit wird. Einer der neuen Herren nimmt sich Jeroen an, ist beinahe zärtlich, doch schnell rutscht die bekanntschaft in ein Missbrauchsverhältnis ab, welches Jeroen kaum einzuordnen weiß. Instinktiv ahnt er, dass nicht richtig ist, was da passiert, doch mit jedem Kontakt wird die Verwirrung größer, die Grenze durchlässiger.

Die Beschreibung des Inhalts ist geschönt, wird der Autor in der Erzählung doch sehr explizit. Das Entstehen des Abhängigkeitsverhältnisses, explizite Missbrauchsszenen muss man lesen können, um den Roman durchhalten zu können.

Dies ist einer der Gründe, warum das Werk heute als problematisch angesehen werden kann, zudem, wenn bewusst ist, dass Rudi van Dantzig dies zu Teilen am eigenen Leib erfahren musste.

Die andere Fascette des jungen Protagonisten kommt jedoch eben so zum Tragen, wenn der Autor die Verwirrungen Jeroens herausstellt, der mit seinen eigenen Gefühlen und der aufkommenden Pubertät zu kämpfen hat, um am Ende nicht einmal mehr selbst zu wissen, vielleicht nur noch instinktiv, was gerade richtig ist und was definitiv falsch läuft. Der kleine Hauptprotagonist wird dadurch greifbar, für den Gegenpart, der den Jungen so ausnutzt, kann man nichts mehr als Unverständnis, Ekel und Verachtung empfinden.

Wer zu körperlich negativen Reaktionen neigt, sollte von der Geschichte Abstand nehmen, nicht einmal die kurz darauf erfolgte Verfilmung sich ansehen, die sehr viele explizite Szenen abschwächt.

Beschrieben wird ein fassbarer Zeitraum von etwa zwei Jahren aus einer einzigen Perspektive. Der unverstellte Blick des Kindes ist es, der die Handlung vorantreibt und selbst zum Getriebenen wird, ist maßgebend. Der Autor schildert zudem eine Umgebung, in der man nicht anders konnte, als schneller erwachsen zu werden, einfach nur, um zu überleben. Hier gelang Rudi van Dantzig ein Kniff, der diese Differenz zwischen Kindsein und dem nicht Begreifen, sowie der Konfrontation mit der schrecklichsten aller Seiten, die Erwachsene gegenüber Schwächeren zeigen können, noch einmal besonders herauszustellen.

Handlungsorte und Schauplätze sind überschaubar, treten ob der eigentlichen Thematik in den Hintergrund und stellen diese zur Diskussion. So weit gehen wie einige Rezensionen, die meinen, der Autor verherrliche Pädophilie, würde ich nicht gehen, konzentriert sich van Dantzig doch auf die Gefühlswelt des Jungen, der nicht einordnen kann, was da mit ihm gemacht wird und passiert, der eigentlich vertrauen möchte, aber doch jedes Mal aufs Entsetzlichste enttäuscht wird, der kaum einen Weg aus diesem Abhängigkeitsverhältnis weiß, in das er hinein manöviert wird. Einige Passagen sind dennoch mehr als bedenklich zu bezeichnen.

Für wen ist diese Erzählung nun? Für den Autoren selbst, der damit einen Teil seiner Kindheitserinnerungen wohl verarbeitet, vor allem? Den Lesenden, denen eine nahezu unbekannte, vielleicht nicht massenhafte aber doch mögliche Facette des Krieges oder der Nachkriegszeit vor Augen geführt werden soll? Eine Ergänzung zu den vielen Perspektiven, die damals schon veröffentlicht wurden und noch erscheinen sollten? Diskussionsstoff ist damit in jedem Fall gegeben.

Autor:

Rudi van dantzig wurde 1933 in Amsterdam geboren und war ein niederländischer Tänzer, Choreograf und Schriftsteller. Er debütierte 1952 beim „Nederlands Ballet“, schrieb drei Jahre später seine erste Choreografie. Im späteren „Dutch National Ballet“ wurde er 1968 Co-Direktor, von 1971-1991 alleiniger Chef. 1986 veröffentlichte er seinen autobiografisch angehauchten Roman „Voor een Verloren Soldaat“, welcher 1992 verfilmt wurde. Er starb 2012.

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Francesca Buoninconti: Tierisch laut

Inhalt:

Warum zirpen Grillen, machen Echsen Liegestütze und wechseln Oktopusse ihre Farbe? Und sind Fische wirklich stumm?

Tiere kommunizieren mit den unterschiedlichsten Mitteln: mit Lauten, Gesten und Mimikry, mit Licht- und Duftsignalen, Tänzen und dem Farbenspiel ihrer Federn. Elefanten verständigen sich mit Infraschall und unterscheiden so über große Distanzen zwischen Freund und Feind. Auch unter Wasser herrscht keineswegs Stille, wie die Gesänge der Wale zeigen, aber auch Piranhas sind echte Plaudertaschen – wie übriens auch Krokodile.

Tiere kommunizieren, um sich zu umwerben, Feinde abzuschrecken, Artgenossen zu warnen oder auf Futter hinzuweisen. Ihr Leben hängt vom permanenten Austausch von Signalen ab und sie können dabei auch lügen und sich verstellen… Buoninconti enthüllt uns außerdem die Wechselwirkungen zwischen Lebensräumen, für die wir häufig kein Ohr und Auge haben. Lebensräume, die es dringend zu schützen gilt! (Klappentext)

Rezension:

Kommunikation ist der Austausch von Botschaften zwischen Sendern und Empfängern. So die Definition, der wir folgen. Wenn es darum geht, müssen wir feststellen, dass es uns selbst schwerfällt, gegenüber anderen keine Signale zu senden. Doch, wir sind nicht die einzigen. Auch in der uns umgebenden Fauna herrscht ein reger Informationswechsel. Jeder, der mit Tieren auch nur rudimentär zu tun hat, weiß, sie kommunizieren untereinander und zwischen Arten.

Dazu gehört der Hund, der zum Spielen auffordert ebenso, wie die Katze, die nach Futter verlangt. Die italienische Wissenschaftsjournalistin Francesca Buoninconti begibt sich erneut auf Spurensuche, nachdem sie zuletzt die Wanderungen in der Tierwelt verfolgte. In ihrem Sachbuch „Tierisch laut – Die wundersame Welt der Kommunikation im Tierreich“ erfahren wir, wie und worüber sich unsere tierischen Nachbarn unterhalten, zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

Die Kommunikation im Tierreich ist ein weitgehend noch unergründetes Feld, welches wir erst allmählich verstehen lernen. Noch gibt es zu viele weiße Flecken auf dieser Landkarte. Die Autorin zeigt jedoch, wie viel wir bereits jetzt wissen. Unterfüttert mit einer Vielzahl verschiedener Quellen zeigt sie, teilweise sehr ausführlich, auf, wozu Kommunikation im Tierreich existiert, wie und mit welchen Mitteln sich Affen, Wale, Fische oder Vögel austauschen.

Buoninconti gliedert die Thematik sinnvoll in die optische und sensorische Kommunikation auf und erläutert für jede Untergliederung mehrere Beispiele aus den verschiedensten Winkeln des Tierreichs. Aufgelockert wird dies an einigen Stellen durch verdeutlichende Illustrationen von Frederico Gemma, der sich vor allem mit Natur-Illustrationen einen Namen gemacht hat. Eingestreut werden immer wieder kuriose und zu weilen sehr schräge Beispiele. Sich durch Pupse verständigende Heringe sind da noch das Harmloseste.

Mein Lieblingsfakt möchte ich euch nicht vorenthalten.

Anfang 2000 bat das schwedische Militär kanadische und schottische Wissenschaftler einem geheimnisvollen Ticken im Meer auf den Grund zu gehen. Man befürchtete russische U-Boote, die dafür Verantwortlichen waren jedoch nur Heringe. Diese unterhalten sich durch den Ausstoß von sog. Fast Repetitive Ticks (FRT). Das Kürzel ähnelt fatal dem Wort „fart“, Furz.

Man fand heraus, dass Heringe nur in Gemeinschaft pupsen, das in einer Frequenz von bis zu 65 Stück im Bereich von 1.700 und 22.000 Hz. Pazifische Heringe sind dabei furzfreudiger als ihre atlantischen Verwandten. Für diese Forschungsarbeit wurden die Wissenschaftler mit dem IgNobelpreis für Biologie ausgezeichnet, eine satirische Aufzeichnung, die Jahr für Jahr für wissenschaftliche Leistungen vergeben wird, die die Menschen zum Lachen und zum Nachdenken bringen soll.

[Einklappen]

Bekanntes, wie die Kommunikation der Fledermäuse mithilfe von Ultraschall wird detailliert erklärt, ebenso der Weg der Forschung, bestimmte Sachen herauszufinden und wie unsere Art der Kommunikation die der Tierwelt gefährdet. Inzwischen müssen Wale schreien, um sich über weite Strecken zu unterhalten. Der allgegenwärtige Schiffslärm in den Meeren macht’s notwendig. Aber auch optische Signale, etwa von Insekten, haben es immer schwerer, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Zahlreiche Quellen unterfüttern dieses hoch interessante Sachbuch, welches an manchen Stellen es mit dem Detailgrad etwas zu gut meint. Für einige Passagen ist ein gewisses naturwissenschaftliches Verständnis für Biologie etwa oder Chemie von Nöten, im Großen und Ganzen dennoch gut lesbar ist. Nach der Lektüre wird man in jedem Fall die Tierwelt mit anderen Augen betrachten.

Die Mischung aus amüsanten Anekdoten, wissenschaftlicher Tiefe, auch wenn es etwa um die historische Erforschung der Kommunikation im Tierreich geht, ist ansonsten ausgewogen. Schon vorhandenes Wissen wird vertieft. Neues kommt hinzu.

Trotzdem, dass noch einige Fragen offen sind, könnte dieses Sachbuch Standardwerk zur Thematik werden und dies noch länger bleiben. Zumindest für das interessierte Publikum. Diesem kann man es wirklich empfehlen.

Autorin:

Francesca Buoninconti ist eine italienische Wissenschaftsjournalistin. Sie studierte Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Ornithologie und schreibt für verscheidene Medien und arbeitet für den Rundfunk. 2021 erschien ihr erstes Buch in deutscher Übersetzung „Grenzenlos. Die erstaunlichen Wanderungen der Tiere“.

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Stephen King: Die Leiche

Inhalt:

In einer heißen Sommernacht brechen der zwölfjährige Gordie und seine drei Freunde in die Wälder Maines auf. Die Leiche eines vermissten Jungen soll dort irgendwo an den Bahngleisen liegen. Schon bald erfahren sie, dass Monster nicht etwa unter dem Bett oder im Schrank auf einen lauern, sondern sich in jedem von uns verstecken. (Klappentext)

Rezension:

Der letzte Sommer der Kindheit hält mitunter Magisches bereit und das eine oder andere große Abenteuer. Dies ist es, was der Schriftsteller Stephen King 1982 in seiner Novelle „Die Leiche“ beschrieben hat und auch in einigen seiner anderen Geschichten hier ebenso zur Perfektion getrieben hat. Melancholisch angehaucht ist die Erzählung, in der der Großmeister
amerikanischer Literatur Realität mit Fiktion verwoben hat.

Schnell findet man hinein und beginnt sozusagen einen Roadtrip zu Fuß, aus der Sicht des zwölfjährigen Hauptprotagonisten Gordie, der sich mit seinen Freunden auf den Weg
macht, um die Leiche eines gleichaltrigen Jungen zu finden, der in der Gegend verunglückt sein soll.

Die Aussicht auf den Fund, eine Bande älterer Jugendlicher trüben die Ereignisse, zudem hat jeder der vier sein Päckchen zu tragen, was zumeist mit den älteren Brüdern oder der Familienbande allgemein zusammenhängt. Auf den Weg, der unbewusst zum Ziel selbst wird, kommen Ängste, Hoffnungen und Träume zum Vorschein. Besonders der Hauptprotagonist und sein bester Freund Chris werden über sich hinauswachsen müssen. Gelingt das?

Ich versuchte nicht, ihm etwas anderes zu erzählen. Man erschrickt, wenn man erfährt, dass ein anderer, und sei es ein Freund, genau weiß, wie schlecht es um einen bestellt ist.

Stephen King: Die Leiche

Kurz gesagt, ja. Stephen Kings Fähigkeiten, sich mehr oder weniger in vielen literarischen Genres zu bewegen, dürfte mittlerweile unbestritten sein, doch diese Novelle ist unter seinen Werken, natürlich neben „Es“ ein Klassiker, auf den man sich einlassen kann. Auch hier schafft der Autor wieder ein Gefüge von Kindern und lässt unterschiedliche Charaktere aufeinanderprallen, dies innerhalb eines sensiblen kleinstädtischen Gefüge, welches man wohl schon damals zu den abgehängten Regionen Amerikas zählen dürfte.

Über einen Zeitraum von einigen Tagen erstreckt sich die Geschichte, die mit Rückblenden und nicht zuletzt der Phantasie des erzählenden Hauptprotagonisten breiter aufgefächert wird. Zudem wird aus dem Off erzählt, sozusagen aus der Vogelperspektive des Erwachsenen, der die Geschehnisse der Vergangenheit reflektiert.

Das funktioniert wunderbar, wobei besonders die Konstruktion der Gegensätze gelungen ist. Die befreundeten Kinder, noch unschuldig, neugierig einerseits, die jedoch mehr verstehen, als die meisten Erwachsenen glauben, die der Jugendlichen, die bereits abgehängt sind, bevor sich ansatzweise Chancen auftun könnten.

Freunde kommen und gehen wie Kellner im Restaurant, oder ist das bei euch anders? Wenn ich jedoch an den Traum denke, an die Leichen im Wasser, die mich erbarmungslos herabziehen wollen, dann erscheint es mir richtig, dass es so ist. Ein paar ertrinken, das ist alles. Es ist nicht fair, aber es passiert. Ein paar ertrinken.

Stephen King: Die Leiche

Interessant hierbei übrigens die Parallele zur späteren Verfilmung „Stand by me“, deren Kinderdarsteller real schablonenartig ähnliche Schicksalsschläge erleiden müssen, wie sie auch der Autor für seine Protagonisten erdacht hat. Wer die Verfilmung kennt, es ist beinahe so, wenn auch nur marginal, als hätte Stephen King etwas vorweg genommen, um dies dann zu verarbeiten. Auf ein paar seiner Kindheitserlebnisse, die sich dort wiederfinden, trifft auch das zu.

Trotzdem liest sich das leicht, die Handlung ist nachvollziehbar, sowie auch die Charaktere der einzelnen Protagonisten bis hin zu den Nebenfiguren wunderbar ausgestaltet sind, was lt. Rezensionen einiger neuerer Werke von Stephen King dort nicht immer der Fall ist.

Abwechslung bringen die Einschübe in Form von Geschichten, die der Hauptprotagonist seinen Freunden erzählt etwa, und später als Schriftsteller zu Papier bringen wird. Auch dies ist ein wiederkehrendes Element. Der kindliche Protagonist ist später Schriftsteller. Auch ein manchmal unvorhersehbarer Autor hat eben seine Schablonen und Motive, die immer wieder funktionieren und ja, mitunter auch erwartet werden.

Wechsel, Rückblenden und Einschübe erhöhen hier die Spannung einer Geschichte, bei der man schnell ahnt, wie sie ausgehen könnte, was jedoch nicht stört, da diese Coming of Age Erzählung damit spielt und den Bogen nicht überreizt. Tatsächlich wird man in ein Amerika hinengezogen, welches es noch vor gar nicht allzu vielen Jahren gab. Alleine schon dafür lohnt es sich. Hier können alle etwas für sich herausziehen.

Wir wussten genau, wer wir waren und wohin wir wollten. Es war herrlich.

Stephen King: Die Leiche

Wer gerne Coming of Age, Roadtrips (zu Fuß) liest, liegt hier ebenso richtig, wie jene, die sich einfach vom Setting begeistern lassen oder vom Aufeinanderprallen gegensätzlicher Charaktere, wenn auch mein Bild der Figuren durch die Schauspieler geprägt wurde. Den Film sah ich nämlich zuerst, ohne zu wissen, auf welchen Roman dieser beruht. Macht hier nichts. Die Umsetzung ist super, ohne qualitative Abstriche.

Zurück zur Novelle. Die funktioniert so ziemlich für alle. Jugendliche und Erwachsene. Letztere erinnern sich gleichsam an den Sommer, den sie als den letzten ihrer Kindheit definieren dürften, an all die kleinen und großen Abenteuer, Schwierigkeiten und Probleme, denen man ausgesetzt war, wogegen jüngere Lesende an die Hauptprotagonisten altersbedingt einfach nah dran sind. Zudem, was hier im amerikanischen Nirgendwo stattfindet, könnte man auch mühelos in ein bayerisches Kuhdorf und Umgebung dieser Zeit verfrachten. Das würde wohl ähnlich funktionieren.

Diese Geschichte aus der Feder Stephen Kings, der noch viele weitere folgen sollten (und hoffentlich noch folgen werden), ist zudem ein wenig herausgestellt, da sie keine
übernatürlichen Elemente enthält und statt Horror eher unterschwelligen Grusel, und das auch nur ganz leicht. Das hat mir sehr gut gefallen. So kann es dafür nur eine klare Leseempfehlung geben.

Autor:

Stephen Edwin King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren und ist ein US-amerikanischer schriftsteller. Unter verschiedenen Pseudonymen und unter seinem eigenen Namen verfasste er vor allem Horror-Literatur, aber auch zahlreiche Kurzromane. Seine Bücher wurden in über 50 Sprachen übersetzt, womit King zu den meistgelesensten und kommerziell erfolgreichsten Autoren der Gegenwart zählt.

Nach der Schule studierte er Englisch, unterrichtete in diesem Fach und arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor er seinen ersten Roman veröffentlichte. Sein Werk „Carrie“ erschien 1974 in deutscher Übersetzung als erstes Werk von King. Zahlreiche seiner Werke wurden verfilmt.

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Empfehlung: Jose Eduardo Aqualusa – Barroco Tropical

Vorab: Außerhalb der ausführlich rezensierten Werke gibt es natürlich noch andere empfehlenswerte Literatur, die sicher in dem einen oder anderen Bücherschrank gehört und seine Fans sucht. Für diese gibt es die Kategorie -Empfehlungen- auf diesem Blog.

Dem Schriftsteller und Filmemacher Bartolomeu Falcato fällt eine Frau buchstäblich vor die Füße. Nicht aus heiterem Himmel, schon gar nicht freiwillig, sie ist tot. Eine rasante Odysee beginnt, die durch die Abgründe der angolanischen Hauptstadt Luanda führt. Bartolomeu geräöt in einen Strudel aus skrupelloser Gewalt, Liebe, Leidenschaft und Eifersucht. (abgewandelte Inhaltsangabe)

Der zwischen den Ländern Angola, Portugal und Brasilienpendelnde Schriftsteller Agualusa setzt damit die Wegmarken eines spannenden Settings, welches die Abgründe eines hierzulande nur stiefmütterlich behandelten Bündels aus Themen behandelt, die in der westlichen Welt kaum jemand auf den Schirm hat. Politische Korruption und Machtspiele mag der Eine oder andere noch mit gewissen Ländern in Verbindung bringen. Wie sieht es jedoch aus mit der Verfolgung von insb. Kindern und Jugendlichen als Hexen? Eine Praxis, geschürt durch einen alten Volksglauben, dem in den letzten Jahren zu viele Menschen zum Opfer gefallen sind.

In seinem Roman „Barroco Tropical“ beschreibt der Autor einen chaotischen Trip, diesen Dschungel zu durchdringen, für den nicht nur der Hauptprotagonist all seine Sinne beisammen halten muss. Durchhaltevermögen und Konzentration sind auch bei den Lesenden notwendig.

Autor: Jose Eduardo Agualusa
Titel: Barroco Tropical
Seiten: 316
ISBN: 978-3-293-20913-8
Verlag: Unionsverlag
Übersetzer: Michael Kegler

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Isabela Figueiredo: Die Dicke

Inhalt:

Maria Luisa ist jung, intelligent, eigensinnig, eine gute Schülerin, die auch später konsequent ihren eigenen Weg verfolgt. Doch sie ist dick. Hoffnungslos dick. Dieser Umstand überlagert und beschädigt alles: ihre sozialen Kontakte, ihr Gefühlsleben, ihren Wirklichkeitsbezug. Neben ihrer dominanten Freundin Toni – schlank, schön, umschwärmt – ist sie „das Monster“, „der Blauwal“. Im Studium lernt sie David kennen, der ihren Körper begehrt, sich für ihr Aussehen schämt und schließlich die Beziehung beendet. Von den eigenen Eltern fühlt sie sich eingeschränkt, dennoch werden sie ihr nach deren Tod fehlen. Als Erwachsene fasst Maria Luisa den Entschluss, ihren Magen operativ verkleinern zu lassen. (abgeänderter Klappentext)

Rezension:

Melancholie und Wehmut ist den Portugiesen eigen. Diese Gefühle schwingen in sämtlichen Zeilen des Romans „Die Dicke“ aus der Feder der Autorin Isabela Figueiredo mit, die in ihren Text so viele erzählerische Spielarten vereint, dass alle etwas daraus ziehen können. Tatsächlich ist dies ein Gesellschaftsroman, ein Text über und gegen Mobbing, gegen Perfektionismus und pro Nonkonformität. Es ist eine Geschichte von Selbstfindung, gegen das Stromlinienförmige, aus der Rolle der Außenseiterin, die sich behaupten und entdecken muss.

Erzählt wird sie aus der Sicht der jungen Maria Luisa, die zielstrebig ihren Weg zu gehen versucht, im Schatten der Eltern, später im Internat, im Berufsleben und Privatem jedoch auch immer den Blicken der anderen ausgesetzt sind. Das einzige Manko, Übergewicht, über das andere nicht hinwegsehen können, dieses kommentieren. Die Protagonistin härtet nach außen ab, um innerlich an den Blicken und Bemerkungen fast zu zerbrechen, um später dann selbst einen Schlusstrich zu setzen. Bis dahin ist der Weg steinig, voller Hindernisse. Eine Achterbahn der Gefühle ohnehin.

Sterben wäre vielleicht gar nicht so schwierig, wenn wir nicht Mitleid hätten mit uns selbst und mit dem, was wir zurücklassen, aber das Sterben zu überleben, dem wir lebend beiwohnen, das auf unseren Schultern lastet, erfordert Kaltblütigkeit und Mut.

Isabela Figueiredo: Die Dicke

Immer ist die Protagonistin zwar umgeben von anderen, doch steht sie im Zentrum der Erzählung, die gleich zu Beginn das Körperliche betont. Andere Figuren werden kaum fassbar, in jedem Falle mit Ecken und Kanten, wenn auch Maria Luisa nicht weniger schwierig wirkt. Es ist kompliziert, so könnte der nicht genannte Untertitel lauten. Wer vermeintliche Makel besitzt, für den stimmt das wahrscheinlich, doch sind diese Charaktere nicht dazu angetan, den Lesenden die Lektüre zu erleichtern. Es ist ein drückender Roman, zu Teilen sehr angestrengt. Wer nicht perfekt ist, leidet. Und wer liest, der leidet mit.

Die Erzählperspektive bleibt die gesamte Länge über unverändert, nur der Standpunkt der Protagonistin ändert sich. Gefühlswelten schwanken wie der Boden unter den Füßen oder die Wirkung der Einrichtungen einzelner Zimmer einer Wohnung. So ist der Roman dann auch unterteilt. Für die Protagonistin ist zunächst vor allem das Essen von zentraler Bedeutung und so stehen die Kapitel „Eßzimmer und Küche“ auch im Mittelpunkt der Geschichte, die nach den Räumen einer Wohnung unterteilt ist.

Wer sieht den Schreibfehler? Ja, die Übersetzung orientiert sich nicht an der geübten Rechtschreibung. Jedes „daß“ sticht heraus und stößt unangenehm auf. Darüber ärgert man sich mehr als über manche Eigenheit der Protagonistin. Solche Formalitäten lenken ab von der interessanten Gestaltung des inneren Konflikts, den auschweifenden Gedankengängen, die ansonsten so sprachlich schön formuliert sind.

Das geht einfach nicht in einem heute veröffentlichten Roman, zumal wenn selbst ältere Texte für Neuauflagen konsequent der gültigen Rechtschreibung angepasst werden. Es soll ja schließlich lesbar bleiben. Mit ganz viel guten Willen kann man damit der Übersetzerin unterstellen, dass sie genau das Konforme der Protagonistin zeigen wollte. Die sprachlichen Formulierungen wären dazu jedoch vollkommen ausreichend gewesen.

Der Roman hat das Tempo der Melancholie mit der ihr eigenen Längen, die immer in den Formulierungen von Gedankengängen als innere Monologe entstehen. Darin verliert man sich jedoch, so dass diese nicht weiter störend sind. Das sind die Momente, wo die Figur besonders nahbar wirkt, Höhepunkte der Erzählung. Höhepunkte anderer Natur gibt es übrigens schon innerhalb der ersten fünfzig Seiten, ohne dass das viel zur Geschichte beiträgt. Wer es nötig hat.

Trotzdem lässt die Erzählung die Lesenden nicht los, spielt mit den Gefühlen, wie die Autorin mit den Gefühlen der Protagonistin spielt. Wie begegnen wir Menschen, die fortwährend uns an unsere Makel erinnern und aufmerksam machen? Wie viel Beachtung schenken wir Bemerkungen, die uns verletzen? Was macht das mit uns? Und wie schauen wir selbst auf Makel der anderen, zumal in Zeiten, wo alles und jeder perfekt zu sein hat, wie uns die Mehrheit der Gesellschaft weißmachen möchte.Diese Fragestellungen bestimmen seit jeher den Alltag der Menschen. Gehen wir den Weg der Protagonistin oder nehmen wir einen anderen? Nicht nur wer Isabela Figueiredos „Die Dicke“ gelesen hat, sollte sich diese Fragen stellen.

Autorin:

Isabela Figueiredo wurde 1963 in Mosambik geboren und ist eine portugiesische Schriftstellerin und Journalistin. Seit ihrem zwölften Lebensjahr lebt sie in Portugal und studierte Portugiesische Sprache und Literatur, bevor sie als Journalistin und Lehrerin tätig wurde. 1983 erschienen erste Texte von ihr, 1988 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. In ihren Werken setzt sie sich mit Körper und Rassismus auseinander, zudem hinterfragt sie immer wieder den portugiesischen Kolonialismus.

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Erri de Luca: Fische schließen nie die Augen

Inhalt:

Ein Sommer vor fünfzig Jahren auf einer Insel im Golf von Neapel: In seinem bislang persönlichsten Buch erinnert sich Erri De Luca, wie er erstmals die magische Kraft der Wörter erkannte. Und dasss sich die Hand eines Mädchens anfühlt wie das Innere einer Muschel. (Klappentext)

Rezension:

Der Erzähler erinnert sich zurück an seine Kindheit am Golf von Neapel, an den flirrenden Sommer in der die Zahl der Lebensjahre genau so hoch ist, wie die Anzahl seiner Finger. Mit Zehn endet sie, die Kindheit und so schaut der Autor zurück und macht sich selbst zum Protagonisten seiner eigenen Novelle, die typisch für De Luca einmal mehr von einer atmosphärischen Leichtigkeit getragen wird.

Aus der Ich-Perspektive des Kindes, welches mit der Mutter die Ferien auf einer Insel vor Neapel verbringt, erzählt der Autor und lässt eintauchen in ein Italien nach Kriegsende. Die ersten Feriengäste erobern sich ihre Plätze, darunter ein gleichaltriges Mädchen, in dessen Bann der Junge gerät. Zuneigung zweier Kinder, Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und nicht zuletzt der anderer.

Man taucht ein in die Geschichte, wie im Wasser zwischen den Fischerbooten, die der Junge beobachtet und sucht das Abenteuer, wie das Kind, welches sich mit einem einheimischen Fischer angefreundet hat und auch mal helfen darf. Wer schon Werke des Autoren gelesen hat, erkennt das wiederkehrende Motiv.

Überhaupt bleibt sich De Luca treu. Ein eingeübtes Schema wird hier wieder strapaziert. Nichts neues aus Italien, also. Egal, in welcher Reihenfolge man seine Erzählungen gelesen hat. Immer ist es der Junge, der in den Ferien auf der Insel nahezu frei umherstreunt, zwischen den Fischerbooten Antworten auf Fragen sucht, manchmal sogar welche findet. Das alles wird mit ruhiger Melancholie erzählt, gerade an der Grenze zu dem, was als Kitsch zu bezeichnen ist. Störend ist das nicht.

Dem Protagonisten begegnet die erste Liebe, die dieser nicht wirklcih einzuordnen ist, doch der erste Konflikt seines jungen Lebens wird damit heraufbeschworen. Aus der Sicht des erwachsenen Lesers wirkt das harmlos. Ein Handlungsstrang ist das, ohne Aufreger. Für die kindliche Hauptfigur, der Blick fast viel zu alt für das Alter, ist dies in dem Augenblick jedoch die ganze Welt.

So wie der Protagonist seine Umgebung und sein weibliches Gegenüber zu begreifen versucht, so nüchtern wirkt der Ton. Ausschweifungen finden sich bei De Luca nur in Form von wunderbaren Formulierungen, in die man sich hinein verliert. Sehr kompakt wird der Zeitraum von nur wenigen Wochen erzählt. Auch die Handlungsorte sind derer überschaubar.

Der Hafen, das Fischerboot, das Wohnhaus oder die Ferienunterkunft, der Strand. Wie geschrieben, Erri De Luca erzählt hier wieder die gleiche Geschichte, wie schon mehrfach, dies aber in Perfektion. Man fühlt sich in den kleinen Protagonisten hinein, der bald die Kraft der Worte finden wird, der Beobachter ist, beobachtet wird. Doch bleibt alles vergleichsweise harmlos. Große Überraschungen bleiben aus.

Trotzdem wirkt die Erzählung in ihrer ruhigen Tonalität, in der eigentlich nur der kindliche Protagonist greifbar wird, weniger die Mutter des Jungen. Schon das Mädchen, um die bald die Altersgenossen ebenfalls „kämpfen“ werden, sind für Hauptfigur und Lesende kaum zu fassen. Man kann sich das dennoch alles bildlich vorstellen. Die Novelle wirkt, wie ein per Hand mit der Videokamera gedrehter Urlaubsfilm. Der Einzige, der sich dabei weh tun wird, ist der Protagonist selbst.

Das war es auch schon. Ein Roman ohne wirkliche Ecken und Kanten, zumindest das hat Erri de Luca schon einmal anders hinbekommen, doch zumindest welche glückliche Kindheit hat die schon? Man muss das nicht gelesen haben, bekommt jedoch den Kopf frei. Eine Novelle wie ein kleiner Erholungsurlaub ist das. Manchmal braucht man das auch. Wer würde da widersprechen?

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Julia Cimafiejeva: Minsk. Tagebuch

Inhalt:

Die belarusische Dichterin Julia Cimafiejeva ist inzwischen Writer in Exile in Österreich. Im Rahmen des gleichnamigen Programms lebt sie nun in Graz. Dort hat Cimafiejeva ein tagebuch weitergeführt, das sie in den Tagen vor den Präsidentschaftswahlen in ihrem Land im August 2020 begonnen hatte – es liegt hier erstmals in Deutsch veröffentlicht vor:

Eine Chronik der Ereignisse in eindrücklichen Worten, eine Chronik von Hoffnung und Gewalt. Notizen aus einem Land, das von einem absurden autoritären System in eine offene Diktatur abgleitet – weil sich Belarusinnen und Belarusen sich nicht mehr mit den Lügen der Machthaber abfinden. (abewandelte Verlags-Inhaltsangabe)

Rezension:

Die Studentin beobachtet in ihrem Wohnheim nachts heimlich das Austauschen von Wahlurnen. Die Welt indes schenkt Lukaschenko keine Beachtung. Gerade richtet sich die Aufmerksamkeit auf die einstürzenden Türme des World Trade Centers in New York City und der autoritäre Herrscher zementiert seine Macht. Jahre später ist die Stimmung hoffnungsvoll. Die Opposition hat drei respektable Kandidatinnen. Aufbruch versprechen sie, Wandel. Das Volk geht dafür auf die Straße. Diesmal schaut die Welt zu. Doch das Regime weiß wie man spielt. Mit Unsicherheit und Angst, unter Nutzung von Polizei, Geheimdienst, unter Nutzung von Gewalt.

Die Dichterin, die längst Texte veröffentlicht, lebt in der belarusischen Hauptstadt, hofft und bangt, möchte etwas tun, demonstrieren vielleicht. Man muss auf der Hut sein. In diesen Tagen werden unzählige Menschen verhaftet, von der Straße weg, wenn sie mit der Opposition in Verbindung gebracht werden. Und sei es nur, weil die Socken deren Farbgebung haben.

Ihre Waffe ist das Wort, ein Stift und ein kleines Heft. Es entsteht ein Tagebuch der Proteste. Zunächst voller Hoffnung, vielleicht Zukunftspläne mischen. Was wäre, wenn sich diesmal wirklich etwas ändert? Schnell wird dies verdrängt. Immer öfter nehmen Ängste überhand, je heftiger sich das Regime wehrt. Schließlich der Drang, zu gehen. Erst im Exil ist sie wieder vorhanden, Luft zum Atmen.

Julia Cimafiejeva beschreibt eindrucksvoll die persönliche Sicht auf einen Konflikt, der regelmäßig aufbricht, kurze Zeit Aufmerksamkeit erlangt, um dann dem Vergessen anheim zu fallen. Wer erinnert sich denn noch regelmäßig an die Ereignisse des gescheiterten Versuchs eines Volkes, ein Land zu verändern? Wer hat sich damals, wer interessiert sich heute für die Folgen dieser Tage? Nie zuvor stand das belarusische Regime so sehr mit dem Rücken zur Wand? Nie wehrte es sich so heftig, um dann gefestigter denn je daraus hervorzugehen.

Immer wieder schweift die Beobachterin ab, in ihre Gedankenwelt, nur um dann selbst Akteurin der Ereignisse zu werden. Man hält den Atem an, wenn sie berichtet, wie sie vor Protesten flieht, in Hausaufgänge, Innenhöfe hinein, in das nächste Geschäft. Die Erleichterung ist zu greifen, wenn sie wieder einmal den Häschern entkommen ist. Dann wieder Ängste. Gefühlswelten wechseln innerhalb des Textes, der zunehmend immer bedrohlicher wirkt. Die Gefahr wandelt sich in eine Schreibblockade um. Gedichte zu schaffen, scheint der Autorin unmöglich. Erst außerhalb Belarus wird sich dies lösen.

„Manchmal denke ich, dass sie mit imaginären Feinden kämpfen: grausam, brutal, stark, bis an die Zähne bewaffnet, echte Superkriminelle – die nur in den Köpfen der belarusischen Machthaber existieren. Vielleicht haben sie sich solche echten Gegner immer gewünscht…“

Julia Cimafiejeva: Minsk. Tagebuch

Schließlich das Exil. In Graz gibt es zu dieser Zeit noch keine belarussische Community. Die ist in der österreichischen Hauptstadt viel größer. Doch, im Ausland wird der Konflikt schnell verdrängt. Ernüchternde Erkenntnis, vermischt mit der Erleichterung, der Tristesse, der ständigen Bedrohungen entkommen zu sein. Und wieder schreiben zu können. Frei. Die Einträge im Tagebuch werden leichter. Lesen sich leichter. Die Autorin schafft zum Ende hin nicht nur mit ihrem Text ein Stück Protest.

Der Text, der im Nachhinein entstand, transportiert diese Stimmungen. Die Sätze, mal kompakt, mal ausschweifend, machen deutlich, wie inmitten Europas ein Land und sein Herrscher einem Volk die Luft zum Atmen nimmt. Das Regime kann sich darauf verlassen, dass der Blick Europas schnell in andere Richtungen zeigt. Das Lebensglück der Menschen indes wird verspielt. Ernüchterung, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit. Je nach Abschnitt, es gibt derer drei, kommt mal dieses, mal jenes Gefühl zum Tragen. Die Autorin hat sich diese Tage ins Gedächtnis eingeschrieben, gegen das Vergessen. Damit das wenigstens jemand tut.

Autorin:

Julia Cimafiejeva wurde 1982 geboren und ist eine belarusische Dichterin und Übersetzerin. Zunächst studierte sie Englisch, schrieb selbst an mehreren Büchern und Gedichten, veröffentlicht regelmäßig Texte. Ende 2020 lebte sie für längere Zeit in Graz und ist Teil des Programms Writer in Exile, in Österreich. Sie ist Mitglied des Belarusischen PEN und der Vereinigung belarusischer Autoren und Autorinnen.

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Peter Vajkoczy: Kopfarbeit

Inhalt:

Die Instrumente sind winzig, die Herausforderungen groß.

Kopfarbeit ist der empathische Bericht des rennomierten Gehirnchirurgen Prof. Dr. Vajkoczy, Chefarzt an der Charite in Berlin. Erstmals erzählt er von seltenen Erkrankungen, komplizierten Operationen und modernsten Operationstechniken. Seine Patienten und der wissenschaftliche Fortschritt sind ihm gleichermaßen wichtig. Und ständig leben Neurochirurgen wie er mit dem Druck, dass die kleinste Komplikation schwerwiegende Folgen haben kann, das Gelingen jedoch den Mut belohnt, nichts unversucht zu lassen – und Leben rettet. (Klappentext)

Rezension:

Der Operateur sieht das, was er tut, nur durch ein Mikroskop in bis zu vierzigfacher Vergrößerung. Stunden dauert es, bis der Schädel geöffnet, das Gehirn erreicht ist, Blutgefäße verödet oder miteinander, mit Fäden der Stärke 0,07 mm vernäht und der Tumor entfernt werden können. Selbst, wenn dies geglückt ist, ist das keine Garantie, dass das gewünschte Ziel erreicht ist. Der Spielraum der Neurochirurgen ist gering.

Die Gefahr für Komplikationen ist groß, dass der Patient nur mit schweren Behinderungen oder gar nicht überlebt. Peter Vajkoczys Bericht „Kopfarbeit“ gibt Einblicke ins Kopfinnere und auf den Pakt zwischen dem Allerschönsten und Allerschrecklichsten.

Peter Vajkoczy gibt Einblick in die Königsdisziplin der Medizin, in der Freud und Leid nah beieinander liegen und zeigt, dass längst nicht mehr ein Halbgott in Weiß für Erfolg oder Misserfolg einer behandlung Sorge trägt, sondern ein ganzes Team notwendig ist, um ein gutes Behandlungsergebnis für die Patienten zu erzielen.

In seinem empathischen Bericht, der sachlich einzelne Fallbeispiele darstellt, zeigt er, wie Präzensionsarbeit, Erfahrung und Forschung ineinander übergreifen, welche Operationenstechniken noch vor wenigen Jahren eine Sensation waren, heute zu den Standards der Neurochirurgie zählen und wie weltweit vernetzt geforscht wird, um immer minimalistischere Eingriffe mit größeren Erfolgen für die Patienten zu verbinden.

Betont sachlich stellt er anhand der Fälle die eigentliche Operation dar, beschreibt um so emotionaler die Vorgeschichte und die Nachwirkungen von Behandlungen, welche Lehren man aus Erfolgen zieht, was Niederlagen für die weitere medizinische Arbeit bedeuten. Vajkoczy erklärt detailliert medizinische Präzisionsarbeit, für Laien verständlich gemacht anhand zusätzlicher schematischer Skizzen, zeigt jedoch auch, wie wichtig das Zusammenspiel eines aufeinander abgestimmten Teams ist, ebenso die Kommunikation mit Patienten und deren Angehörigen.

Der Autor beschönigt dabei nichts. Bewusst werden auch medizinische Verläufe geschildert, die keinen guten Ausgang nahmen, aber eben auch, warum es sich lohnt für seine Patienten tagtäglich aufs Neue zu kämpfen. Immer wieder wird deutlich, wie international verknüpft Vajkoczys Arbeit ist, nicht nur anhand seiner Biografie, auch im Sinne der Vernetzung, wenn es darum geht, Strategien für Behandlungen zu entwickeln, Forschung und Alltag gleichermaßen voran zu bringen.

Peter Vajkoczy zeigt, wie viel bereits möglich ist, woran geforscht wird und was die Schönheit und Faszination der Neurochirurgie für ihn ausmacht, nicht zuletzt, wie viel und wir wenig über die funktionalen Zusammenhänge im Gehirn wissen. Wo sitzt eigentlich die Seele des Menschen? Wie entscheidet man am Behandlungstisch zwischen der Bekämpfung eines Tumors und einer Verlängerung von Lebensqualität? Wie geht Vajkoczy mit urplötzlich auftretenden Komplikationen um oder, wenn sich ein Behandlungserfolg nur Stunden später in eine medizinische Niederlage entwickelt? Auch das kommt zur Sprache.

Und die ist für Laien sehr zugänglich, nimmt vielleicht etwas Distanz zu dieser Disziplin heraus, zumal in dieser Form, wenn man sich anhand von Patientengeschichten entlanghangeln kann. Allerdings ist auch klar, dass Vajkoczy hier nur einen winzigen Ausschnitt seiner Arbeit zeigen kann, eben so wie er es unter dem medizinischen Mikroskop sieht. Schon bevor man die letzte Seite umgeschlagen hat, bleibt man beeindruckt zurück.

Autor:

Prof. Dr. Peter Vajkoczy wurde 1968 geboren und ist ein deutscher Mediziner und Neurochirurg. In München und Heidelberg studierte er Medizin und ist seit 2007 Direktor der Klinik für Neurochirurgie an der Berliner Charite. Vorher war an mehreren Forschu8ngseinrichtungen und Kliniken im Ausland tätig, zudem elf Jahre an der Medizinischen Fakultät Heidelberg. Er ist spezialisiert auf Kopf- und Gehirn-Neurochirurgie, Wirbelsäulenchirurgie und Kinderneurochirurgie, zudem beschäftigt er sich mit der Moyamoya-Erkrankung, einer seltenen Erkrankung der Hirngefäße, bei der es zu einer langsamen Verengung und Verschluss der Halsschlagader kommt.

Für seine medizinische und wissenschaftliche Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.

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Irene Vallejo: Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern

Inhalt:

Das Buch ist eine der schönsten Erfindungen der Menschheit. Bücher lassen Worte durch Zeit und Raum reisen und sorgen dafür, dass Ideen und Geschichten Generationen überdauern. Irene Vallejo nimmt uns mit auf eine abenteuerliche Reise durch die faszinierende Geschichte des Buches, von den Anfängen der Bibliothek von Alexandria bis zum Untergang des römischen Reiches.

Dabei treffen wir auf rebellische Nonnen, gewiefte Buchhändler, unermüdliche Geschichtenerzählerinnen und andere Menschen, die sich der Welt der Bücher verschrieben haben. (Klappentext)

Rezension:

Bücher sollten noch lange nicht in der uns bekannten Form existieren, da schon machten längst Legenden die Runde durch die damals bekannte Welt, die sich wie der Plot eines spannenden Kriminalromans lesen. Agenten des Pharaos waren unterwegs um für die Bibliothek ihres Herrschers Schriftstücke zu sammeln, für die Ägypter teils mehr wert als Gold.

Da schon hatte das geschriebene Wort einen langen Weg hinter sich, der bis zu den ersten gebundenen Büchern dennoch langwierig anmuten sollte. Irene Vallejo erzählt sie, die Geschichten von Herrschern, die um die Macht des Wortes wussten, vom beschwerlichen Weg von Papyrus zu Papier und von der Strahlkraft erster Bibliotheken der Antike.

Wenn er durch Alexandria streifte, sah er unter der realen Stadt die abwesende Stadt pulsieren. Obwohl die Große Bibliothek verschwunden war, hingen ihr Echo, ihr Flüstern und Wispern weiter in der Luft.

Irene Vallejo: Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern

Die spanische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Irene Vallejo reist mit uns in die Antike und erzählt von den Anfängen eines Gegenstandes, der sich unzählige Male gewandelt hat, heute gar als Hörbuch oder als elektronische Datei existiert und erst durch entsprechende Gerätschaften sichtbar gemacht werden muss.

Die Verbreitung des Lesens führte zu einem neuen Gleichgewicht der Sinne. Bisher hatte sich die Sprache ihren Weg durch die Ohren gebahnt, mit der Erfindung der Buchstaben aber wanderte ein Teil der Kommunikation zu den Augen ab.

Irene Vallejo: Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern

„Papyrus“ liest sich dabei nicht wie eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern wie ein Spannungsroman, zuweilen mit Krimi-Elementen. Wer liest, nimmt die Perspektive von erzählenden Philosophen ein, die um Worte rangen, und der Unveränderlichkeit dieser, waren sie einmal auf Papyrus oder Pergament festgehalten, misstrauten, von Herrschern im Größenwahn und vom Kampf der ersten Kopisten gegen den Verfall.

Von den meisten Werken gab es nur wenige Kopien, und dass ein bestimmter Text vollständig erlosch, war eine sehr reale Bedrohung. In der Antike konnte das letzte Exemplar eines Buchs jeden Augenblick aus einem Regal verschwinden, von Termiten zerfressen oder von der Feuchtigkeit unwiederbringlich beschädigt werden. Und während das Wasser oder die mahlenden Kiefer der Insekten ihre Arbeit taten, verstummte eine Stimme für immer.

Irene Vallejo: Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern

Vallejo legt dabei zum einen ihren Fokus auf hervorstechende Einzelpersonen, lässt jedoch auch tief ins Innere antiker Gesellschaften schauen, zeigt die Dramatik der ersten Zensur, aber auch warum das Buch an sich, in welcher Form auch immer, schon damals eine Erfolgsgeschichte gewesen ist. In kurzweiligen Kapiteln, die sich jeweils schwerpunktmäßig auf eine Biografie oder ein Ereignis konzentrieren, eröffnet die Autorin uns einige neue Blickwinkel auf die Anfänge und der Schicksale des Buches.

So lohnt es sich durchaus, auch dieses zu lesen.

Autorin:

Irene Vallejo wurde 1979 in Saragossa geboren und ist eine spanische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Zunächst studierte sie klassische Literatur in Saragossa und Florenz und promovierte anschließend. Sie spezialisierte sich dabei auf die Antike. Für Tageszeitungen und Zeitschriften schreibt sie Kolumnen, veröffentlichte 2011 ihren ersten Roman.

2020 gewann sie den Literaturpreis Premio Nacional de Ensavo, 2021 den Premio Aragon, die höchste Auszeichnung, die die Regionalregierung der autonomen Region Aragon vergibt. „Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern“ ist ihr erstes Sachbuch.

Die Rezension wurde auf Grundlage eines Rezensionsexemplares geschrieben, welches ausgewählte Kapitel enthielt, um Übersicht und Eindruck von der Art des Textes zu geben.

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Katrin Schumacher: Naturkunden – Füchse: Ein Portrait

Inhalt:

Welch ein Tier. Wo es auftaucht, verändert es die Spielregeln.

Geschmeidig und klug macht sich Katrin Schumacher in ihrem persönlichen Tierportrait auf einen natur- und kulturgeschichtlichen Beutezug durch Fuchsbaue und Hühnerställe, Pelzgerbereien und Stadtlandschaften, um den realen und imaginären, den ebenso listigen wie charmanten Güchsen auf den Pelz zu rücken. (Klappentext)

Einordnung:

Das Werk ist Teil der Reihe „Naturkunden“.

Rezension:

Nicht allein einen wissenschaftlichen Blick gibt die Buchreihe „Naturkunden“ auf verschiedene Themen, immer auch wird der Mensch und sein Einwirken in Bezug zum Objekt gesetzt. So kommt es, das auch der Fuchs ins Visier genommen wird, dessen kulturgeschichtliche Bedeutung die Journalistin Katrin Schumacher einmal beleuchtet hat. Entstanden dabei ist ein kompakter Rundumblick.

Und mehr leider auch nicht. Die Biologie wird hier schmählich behandelt. Zwar werden einige Aspekte des Lebenszyklus‘ und Sozialverhaltens erläutert, hintenangestellt ein kleiner Überblick zu den verschiedenen Unterarten, doch dominiert in den Zeilen der Blick des Menschens.

Ein Wandel wird beschrieben, vor allem vom Pelzlierferanten und begehrten Jagdziels, welches nicht immer einfach zu erreichen ist, zum Kultobjekt, welches als grafisches Motiv auf allen möglichen Gegenständen prankt, zudem neben den Menschen inzwischen der zweite große Stadtbewohner ist. Der Blickwinkel bleibt, zu wenig erfährt man über Natur und Biologie, zu lange scheint die Autorin durch Pelzgerbereien und mit Jägerinnen umhergestreift zu sein. Wäre dies ein Film, würde man die obligatorische Texttafel vermissen, dass hierfür kein Tier zu Schaden gekommen ist.

Der wissenschaftliche Blick wird zu kurz gehalten. Biologinnen, wie etwa Adele Brand oder Sphia Kimmig liefern ein ausführlicheres und fundierteres Portrait und halten sich nicht mit Beschreibungen etwa auf, wie Pelzhandel früher wirkte und Gerbereien arbeiten. Wer jedoch an dieser historischen Komponente mehr interessiert ist, wird bei Katrin Schumacher an Informationen fündig. Es wirkt dennoch und vor allem deswegen irritierend, dass diese Art von Portrait so ihren Eingang in die Reihe „Naturkunden“ gefunden hat.

Wer zudem schon Grundlagenwissen besitzt, wird nichts neues mehr hier raus entnehmen. So bleibt den Fans von Meister Reineke nur, andere Literatur zu suchen.

Autorin:

Katrin Schumacher wurde 1974 in Lemgo geboren und ist eine deutsche Literaturwissenschaftlerin, Journalistin, sowie Jurymitglied des Preises der Leipziger Buchmesse. Nach der Schule absolvierte sie in Bamberg, Antwerpen und Hamburg ein Studium der Germanistik, Journalistik und Kunstgeschichte und schreibt seit dem Literaturkritiken für den Hörfunk, moderierte für mehrere Radiosender und übernahm nach ihrer Promotion verschiedene Lehraufträge bis ins Jahr 2015.

Danach war sie Redaktionsleiterin im MDR für „Literatur, Film, Bühne“, seit 2020 für „Musik und Kunst“. Ab 2016 war sie Redaktionsleiterin des MDR-Ressorts „Literatur, Film, Bühne“, seit 2020 ist sie stellvertretende Redaktionsleiterin des Ressorts „Musik und Kunst“. Vorher arbeitete sie als Literaturredakteurin und ist zudem Mitglied des Buchzeit-Teams des Senders 3sat.

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