Leben

Franziska Grillmeier: Die Insel

Inhalt:
Franziska Grillmeiers Aufzeichnungen erzählen detailliert und mit großem Einfühlungsvermögen vom Alltag an Europas Grenzen und vergegenwärtigen die systematischen Rechtsbrüche, die dort tagtäglich begangen werden. Ein genauso bewegender wie erschütternder Bericht über jene, deren Ausgrenzung nach ihrer Ankunft in Europa kein Ende nimmt, und über die unmenschliche Realität der Europäischen Union. (Klappentext)

Rezension:

Ein Pushback bezeichnet das unrechtmäßige, gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtenden von Grenzen, die diese versuchen zu überwinden. Alltag inzwischen, an Europas Außengrenze. Insbesondere Griechenland steht bereits seit längerer Zeit in der Kritik, sich solcherlei „Verfahren“ zu bedienen, immer auch dabei in Kauf zu nehmen, Menschenleben aufs Spiel zu setzen.

Erneut wurde kürzlich ein solcher Vorgang dokumentiert. Videoaufnahmen, die der Zeitung The New York Times zugesspielt wurden, zeigen vermummte Personen, die Flüchtlinge aufgreifen, die es bereits von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos geschafft hatten, und mithilfe eines Bootes auf ein Floß im Meer aussetzten, von dem sie später von der türkischen Küstenwache gerettet werden mussten. Dabei ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben, dass alle Flüchtenden ein Recht auf ein geordnetes Asylverfahren haben, zudem natürlich menschenwürdig behandelt werden müssen.

Doch auch das ist auf Lesbos nicht gegeben, wo sich zeitweise eines der größten Lager im Norden der Insel befand. Die Journalistin Franziska Grillmeier dokumentiert die Geschehnisse seit 2018 auf der Insel für verschiedene Zeitungenund erzählt nun anhand von jenen, die sich nicht wehren können, wie die Systematik der Ausgrenzung nach der Flucht erneut Traumata verursacht, wie Recht nahezu täglich gebrochen, auch Journalisten und humanitäre Helfende geblockt und kriminalisiert werden.

Immer mehr Frauen, Männer und Kinder wurden in dieser Zeit in einem eingezäunten Tanker am Hafen von Mytilini gebracht. Am 2. März verweigerte ein dänisches Boot, das im Rahmen der Frontex-Operation Poseidon im Einsatz war, den Befehl der Einsatzleitung. Es sollte 33 gerettete Menschen aus dem Meer in ihr Schlauchboot zurückbringen und aus den griechischen Hoheitsgewässern in türkische Gewässser ziehen. Die Besatzung war der Ansicht, dieser Befehl sei für die Menschen lebensgefährlich, […]. Der Grundstein für die alltägliche Praxis der illegalen Pushbacks war gelegt.

Franziska Grillmeier: Die Insel

„Die Insel“ ist ein erschütternder Bericht über menschliches Leid, welches versucht wird, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen zu halten, ist es doch die Politik, die keine anderen Antworten sucht, als immer neue Wege zu finden, Grenzen noch unüberwindbarer zu machen, als sie es ohnehin schon sind. Es ist ein orchestrierter Ausnahmezustand, der hier beschrieben wird, ein Tanz auf dem Vulkan, aus dessen Folgen beständig fatale Schlüsse gezogen werden. Zu Lasten derer, die einfach nur einen Ort für ein geordnetes und vor allem sicheres Leben suchen, zu Lasten aber auch der Anwohner, die die Wut über die Überforderung der eigenen Politik auf jene projizieren, die am wenigsten dafür können.

Die Journalistin hat über Jahre die unterschiedlichsten Menschen begleitet, die Lesbos mit dem Ziel erreichten, sich ein neues Leben aufzubauen, doch nicht nur, aber vor allem auf der Insel unzählige Steine und erneute Traumatisierungen in den Weg gelegt bekamen. Grillmeier zeigt jedoch auch, dass es immer noch jene gibt, die unermüdlich dagegen ankämpfen, auf lesbos und anderswo, sei es für sich selbst oder für andere, aus einem Mut der Verzweiflung heraus, der in dieser Situation nur bewundernswert genannt werden kann.

Als ich am 22. Juli wieder nach Samos kam, um die Baustelle für das neue Lager von Samos zu besucen, wirkte Choulis noch desillusionierter: „Es wäre ehrlicher zu sagen, die Grenzen sind dicht“, sagte er am Abend in einem Cafe, „und jeder, der versucht, rüberzukommen, auf den schießen wir.“ Das wäre auch nicht schlimmer als das, was im Moment an den Grenzen passierte. So oder so – viele müssten für ihren Versuch, in Sicherheit zu kommen, mit dem Leben bezahlen.

Franziska Grillmeier: Die Insel

Zudem werden Schicksale beschrieben, deren Leid einfach nur erschüttert, wütend macht, auf Entscheidungsträger, die nicht sehen wollen, welche physische und psychische Qualen sie provozieren. Auch wird die Doppelzüngigkeit einer Politik aufgezeigt, die zwischen guten und ungewollten Flüchtlingen unterscheidet, was widerum das Bild um einen anderen Aspekt vervollständigt.

Das wird anfangs von der Autorin selbst noch sehr nüchtern betrachtet, doch je länger sie mit Menschen spricht, um so emotionaler, um so näher ist sie dran am Beschriebenen, was sich auch in der Lektüre widerspiegelt. Man kann dann gar nicht mehr neutral sein, verfolgt wie Grillmeier eine immer unmenschlichere Spirale von Entscheidungen, die die Flüchtlinge betreffen, aber auch sie in ihrer journalistischen Arbeit im Laufe der Zeit immer wieder behinderten. Jedes einzelne Puzzleteil für sich genommen reicht an sich aus, sich zu empören. Fasslungslos liest man Zeile für Zeile. Speiübel wird einem da.

Die Gewalteskalation war das Ergebnis einer europäischen Politik, die keine Vorstellung und keinen Plan hatte, was mit den geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln passieren sollte. Man lies die Sache einfach laufen.

Franziska Grillmeier: Die Insel

Ohne Längen wird hier über das Leben in Moria und nach dessen Brand über die neu errichteten Lager erzählt, die kaum weniger entfernt von dem sein könnten, was man als Gefängnis bezeichnen könnte. Es wird von Menschen berichtet, denen medizinische Hilfe verwehrt wird, die nach ihrer Flucht vom Regen in die Traufe gerieten.

Man möchte dieses in unseren Zeiten unheimlich wichtige Buch sämtlichen europäischen Politikern um die Ohren hauen und zur Pflichtlektüre für all jene werden lassen, die Zahlengrenzen, Zäune, Mauern, Stacheldraht, Überwachungstechnik setzen und offenbar noch nichts von Menschenrechten gehört haben. Bitte, alle dieses Buch lesen.

Autorin:

Franziska Grillmeier wurde 1991 in München geboren und berichtet als freie Journalistin von der griechischen Insel Lesvos (Lesbos) und anderen Grenzorten. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender. Zuletzt war sie Mitglied des Recherchekollektivs zu den neuen Aufnahmelagern „Das neue Moria“ und Teil des Podcasts „Memento Moria“.

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Ina Conzen: Pablo Picasso

Inhalt:
Pablo Picasso (1881-1973) gehört zu den bedeutensten Künstlern des 20. jahrhunderts. Fantasievoll und experiementierfreudig hinterließ er ein atemberaubend umfangreiches OEuvre in nahezu allen Medien. Bis heute fasziniert die stilistische Wandelbarkeit seiner Werke, aber auch deren spannende Verankerung in Picassos Biografie. Souverän und kenntnisreich zeichnet Ina Conzen im vorliegenden Band Leben und Werk dieses Ausnahmekünstlers nach. (Klappentext)

Rezension:

Reduziert auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne wirkt das Wandbild nur auf den ersten Blick als eine wirre Kombinationen aus Formen und Symbolen, doch erschließt es sich nach und nach den Betrachtenden. Es symbolisiert die Schrecken des Krieges und gilt bis heute als bedeutenstes Werk des spanischen Künstlers Pablo Picasso. „Guernica“, welches dieser im Auftrag für die Weltausstellung 1937 unter den Eindrücken des Spanischen Bürgerkriegs anfertigte, ist heute in Madrid zu sehen, doch nicht nur dieses Werk ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Die Konservatorin und Autorin Ina Conzen hat sich auf Spurensuche begegeben. Entstanden ist dabei ein mehr als eindrucksvolles Porträt.

Wer mit relativ wenig Aufwand kompaktes Überblickwissen erlangen möchte ist mit Bänden der vorliegenden Reihe gut bedient. Das gilt für viele Themen, eben auch für die Kunst und so reiht sich nun dieses Bändchen mit ein, in welchem ein bedeutender Ausnahmekünstler beleuchtet wird. Diese Formulierung aus dem Klappentext darf man ruhig wörtlich nehmen, wenn gleich sich die Autorin sehr nüchtern der Biografie und dem Werk Picassos nähert. Sie verfolgt die Spuren dessen, der als Porträtmaler began und später die Grenzen des Künstlerischen Schritt für Schritt erweiterte, sich mitunter selbst zum Objekt seiner Betrachtung machte, von dessen Kindheit an. So gelingt ein eindrucksvoller Rundumblick.

Nicht immer ist das zugänglich. Zwar lockern hier mehrere Bildteile den Text auf, doch sollte man sich zuweilen schon auskennen mit verschiedenen Stilrichtungen der Kunst, die Laien zunächst kaum etwas sagen werden. Was ist das besondere an dem Punkt, wenn Picasso den Bereich des Gegenständlichen verlässt, um ins Surrealistische und Kubistische zu wechseln, um dann später wieder sich einer anderen Form des Gegenständlichen zu widmen? Diesen Zugang muss man sich selbst zusammenrecherchieren. Nicht an jeder Stelle ist hier ein Text für Laien gelungen, wenn man auch mit mehr Wissen aus der lektüre herausgeht, als man eingestiegen ist.

Die Autorin hangelt sich entlang der Perioden künstlerischen Schaffens Picassos, welcher dankenswert die Interpretationen gleich mitgeliefert hat, zuweilen für seine Zeitgenossen unverständlich, die teilweise fassungslos der Tatsache ins Auge sehen mussten, dass für scheinbar einfache Pinselstriche Millionen hingeblättert wurden. Schon zu Lebzeiten war der Künstler mehr als erfolgreich.

Im Privaten unruhig, blieb auch Picassos Kunst immer in Entwicklung. Auch mit den damaligen neuen Medien, der Fotografie, des Films experimentierte er ausgiebig. Auch diesen Aspekt seines Schaffens analysiert die Autorin mit Kennerblick, zeigt jedoch auch, dass Picasso nicht nur von Pinsel, Farbe oder Modellierung etwas verstand, sondern auch von Selbstvermarktung. Alle Aspekte werden in kompakter Form zueinander ins Verhältnis gesetzt, woraus sich ein Gesamtbild für die Lesenden ergibt, welches dazu einlädt die Werke Picassos einmal näher zu betrachten, sich damit zu beschäftigen. Ina Conzen lässt dabei jedoch nicht auch die Widersprüchlichkeiten der Charakterzüge Picassos außer Acht, gibt sich zuweilen kritisch, doch immer auch fasziniert von der Künstlernatur, die für jene, die mit ihm zu tun hatten, nicht immer ganz einfach gewesen sein muss.

Vielleicht ist genau dieser Band nicht unbedingt geeignet, in Leben und Werk Pablo Picassos einzusteigen. Zuvor sollte man zumindest einige von der Anschauung her kennen und vielleicht eine Idee der Grundzüge verschiedener künstlerischer Stile besitzen. Dann kann man sich dieser Lektüre annehmen und sie mit Gewinn sich zu Gemüte führen. Vorher wird man jedoch mehr als einmal über bestimmte Begrifflichkeiten stolpern. Später jedoch ergibt sich ein anderer Blick und dann erschließt sich auch die nüchterne faszination Ina Conzens für Pablo Picasso, der nicht nur mit „Guernica“ ein Werk für die Historie geschaffen hat.

Autorin:

Ina Conzen war bis 2021 Hauptkonservatorin für Kunst der Klassischen Moderne an der Staatsgalerie Stuttgart.

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Jens Soentgen: Staub – Alles über fast nichts

Inhalt:

Wenn wir über Staub sprechen, dann gibt es meist ein Problem: Hausstaub löst Allergien aus, Feinstaub belastet die Stadtluft, Aerosole transportieren gefährliche Viren. Doch die kleinen Teilchen können noch viel mehr: Staubböden sind sehr fruchtbar, der Amazonasregenwald ist auf die Düngung durch Saharastaub angewiesen und ohne Staub in der Luft wäre es um einiges finsterer auf der Erde, da er das Sonnenlicht in die entlegensten Winkel spiegelt. Auch meteorologische Phänomene wie Regen oder Schnee könnte es ohne kleine Partikel in der Luft nicht geben – was wäre als unser Leben ohne Staub?

Klug, witzig und eloquent berichtet der Chemiker und Philosoph Jens Stoetgen von den nützlichen Quälgeistern, die uns täglich umgeben – ein ganz besonderes Lesevergnügen. (Klappentext)

Rezension:

Die Evolutionsgeschichte des Menschen ist zugleich die kleinster gemeinsamer Teilchen. Schon die ersten Menschen haben ihn beobachten können, wenn ein klarer Sonnenstrahl in dunkle Höhleneingänge fiel. Mit Beginn der Nutzung des Feuers hat auch der Staub eine immer rasantere Entwicklung genommen. In der Masse wurde er seither immer mehr. Verschwinden lassen wird uns nie zur Gänze gelingen und selbst in den unendlichen Weiten des Weltalls ist er uns bereits gefolgt. Der Chemiker und Autor Jens Soentgen ist seinen Spuren und Sporen gefolgt, lässt uns eintauchen in die faszinierende Welt des Fast-Nichts.

Wer glaubt, seine Wohnung gründlich gereinigt zu haben, muss nur in die Ecken schauen, den Blick entlang von Kanten und Rändern schweifen lassen. Irgendwo wird man ihn immer entdecken, den man gerade noch geglaubt hat, vollständig beseitigt zu haben. Eine zur Gänze lückenlose Beseitigung des Staubs, der uns umgibt, ist beinahe unmöglich. Doch wäre das überhaupt wünschenswert, wenn man jetzt einmal den ästhetischen Gedanken beiseite schieben würde? Das hier vorliegende faszinierende Sachbuch lädt dazu ein, einen etwas anderen Blickwinkel auf Staubflusen und Wollmäuse einzunehmen. Erzählt vom Leben eines Staubpartikels und was das mit uns macht oder was uns fehlen würde, wäre die Welt zur Gänze staubfrei.

So ungewöhnlich die Thematik des Werks, so liebevoll die Sprache über eine Thematik, der wir uns sonst in vielerlei Hinsicht nur kritisch annähern. Neben allen kritischen Punkten, die ebenfalls beleuchtet werden, wird auch der positive Effekt betrachtet, wenn es etwa um die Rolle des Staubs bei der Fruchtbarkeit von Böden, der Verbreitung von Leben oder es schlicht und einfach darum geht, die Welt ein wenig zu erhellen. Staubfrei bedeutet nämlich, zumindest in der Natur, eine dunklere und nicht ganz so farbenfroh leuchtende Umgebung. Abwechselnd fast wissenschaftlich, dann wieder ganz im Stil des Nature Writing beschreibt der Autor eine Hassliebe, die wir zwar im ersten Moment am liebsten los wären, ohne die wir jedoch nicht sein würden, was wir sind.

In sehr kompakten Kapitel stellt Soentgen die Rolle des Staubs in unserer Welt dar, unterstützt durch zu Weilen urkomische Illustrationen aus der Feder von Katja Spitzer und führt uns dabei nicht nur durch ein imaginäres Museum für die Evolutionsgeschichte der Wollmaus, welche die manchmal „staubtrockene“ Thematik auflockern, sondern zeigt, wie Staub, Natur und Mensch miteinander zusammenhängen.

Schon das hier konzentrierte Faktenwissen ist hier interessant zu lesen, auch die Einordnung nützlichen und nicht ganz so positiver Spielarten, sowie die historische Betrachtung sind sehr spannend zu lesen. Es ist eben nicht nur ein bloßes Abfallprodukt, womit wir uns hier beschäftigen, sondern zugleich eines der kleinsten noch mit bloßen Auge sichtbaren Teilchen, welches viele Geheimnisse verbirgt, doch auch so viel über uns selbst verraten kann.

Längst überfällig war diese popolärwissenschaftliche Aufbereitung eines Sachverhalts, der nicht nur die Reinigungsindustrie stetig beschäftigt, sondern inzwischen auch einige Künstler. Wir können dem Staub ja eh nicht entkommen. Wo wir sind, ist auch er. Zeit also, einmal in Ruhe eine im Licht schwebende Staubfluse zu betrachten. Jens Soentgen zeigt, wie.

Autor:

Jens Soentgen wurde 1967 in Bernsberg geboren und ist ein deutscher Chemiker und Philosoph, sowie Autor verschiedener Sachbücher. Zunächst studierte er Chemie und promovierte anschließend in Philosophie, bevor er verschiedene Lehraufträge annahm. 1999/2000 war er Gastdozent in Brasilien. Seit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg, wo er 2015 habilitierte. Er ist Autor mehrerer Werke, für die er u. a. den Emy Sachbuchpreis erhielt (2016).

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Sasha Filipenko: Kremulator

Inhalt:

Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrauten Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen.

Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen? Ein Roman über Russlands Vergangenheit, die ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft – auf Grundlage historischer Dokumente, die dem Autor von der Organisation Memorial (Friedensnobelpreis 2022) zur Verfügung gestellt wurden. (Klappentext)

Rezension:

Wie sehr muss man sich eigentlich in den Brennpunkt einer Gefahr hinein begeben, um nach und nach den Schrecken vor ihr zu verlieren und schließlich nicht mehr als solche wahrzunehmen? Dabei ist der Direktor des Moskauer Krematoriums Pjotr Nesterenko täglich mit ihr konfrontiert, lässt er doch die Überbleibsel des Stalinschen Terrors von der Bildfläche verschwinden.

Mit jedem Menschen, den Nesterenko verbrennen lässt, zieht sich die Schlinge auch um seinen Hals immer enger zu, bis er schließlich selbst in derer Fänge gerät. Der Geheimdienstoffizier, ihm gegenüber sitzend, bringt ihn zum reden. Nesterenko, der dem Tod so oft ins Auge gesehen hat, spricht, im guten Glauben auch da heil heraus zu kommen, um seines Lebens willen.

Ein Roman funktioniert dann am besten, wenn der Schreibende genau um die Fascetten dessen weiß, worüber er schreibt. Dem belarussischen Schriftsteller Sasha Filipenko gelingt dies ein ums andere Mal, nun wieder. In seiner neuesten Erzählung greift er den Stalinschen Terror auf, dessen Auswirkungen noch heute in vielen russischen Familien zu spüren sind, heute durch die jetzigen Regierenden in anderer Art und Weise, subtiler vielleicht, fortgeführt werden. Mit kurzen prägnanten Sätzen, die nicht zu selten wie gezielte Nadelstiche wirken, eröffnet der Autor ein zu Beginn fast schon amüsant weil surreal wirkendes Kammerspiel, welches sich mehr und mehr zu einem Schachspiel um Leben und Tod wandelt.

Während des Lesens der ersten Hälfte des Romans muss man zuweilen schmunzeln. Das Lachen bleibt im Halse stecken. Wir scheinen schnell zu ahnen, worauf das dargestellte Katz-und-Maus-Spiel hinauslaufen wird. Doch wagen wir zu hoffen, jedem Gedanken um das Unausweichliche beiseite zu schieben. Erzählt wird so ein Zeitraum von wenigen Wochen, der für den Protagonisten mal zu einer atemraubenden Tortur wird, dann wieder in zähflüssiger Langeweile sich zersetzen scheint.

Der Autor öffnet dabei verschlungene Pfade und lässt seine Figur Nesterenko zurückblicken, auf eine Biografie, wie sie ähnlich wohl zu der beschriebenen Zeit viele in Erklärungsnot gebracht haben dürfte. Wir Lesende erfahren so ein bewegendes Stück russischer Geschichte, mit der man auch viel heutiges erklären könnte, bleibt jedoch mit mehr Fragen zurück, als dass man Antworten bekommt.

Nach und nach bekommt die Hauptfigur so Konturen, der Antagonist zeigt indessen sein wahres Gesicht, welches er schon zu Beginn kaum verbirgt. Der hat ein Ziel, der beschriebene Weg und was dies mit seinem Protagonisten macht, ist die Frage, die Filipenko sich stellt und auf deren Beantwortung wir Lesende hinfiebern. Die Intensionen beider Figuren können nachvollzogen werden. Rasant führt die eine den anderen in den Abgrund hinab, den beide aus unterschiedlichen Positionen heraus nur allzu gut kennen.

Die Dynamik im Text entsteht durch gekonnt gesetzte Brüche in Form von verschiedenen Zeitebenen, die sich nur langsam zusammenfügen. Es verdient Anerkennung, das geschrieben zu haben, ohne den Überblick zu verlieren. Dem kommt zu Gute, dass das Figurenensemble überschaubar bleibt. Kein Wort ist hier zu viel, zu wenig gesetzt. Eine Kunst, die Filipenko vollkommen beherrscht. Rückblenden werden gezielt eingewoben. Wäre die beschriebene Zeit jedoch nicht klar, wäre solch ein Verhör, wie dort beschrieben, auch und besonders im heutigen Russland vorstellbar. Abweichung wird nicht geduldet. Damals nicht, heute auch nicht. Und sei sie nur gefühlter Natur.

Zumindest am Anfang nicht ganz so düster daherkommend, wie etwa der Vorgängerroman „Der ehemalige Sohn“, der vordergründig eher ein Familiengefüge beleuchtet hatte, wirkt diese Erzählung an vielen Stellen deutlich leiser. Die Bedrohung packt den Protagonisten an seinen wunden Punkten. Wer liest, dem läuft das kalt den Rücken hinunter. Fast wirkt das, als wäre man selbst der Verhörte, der im Prinzip weiß, redet man, geht man daran zugrunde. Redet man nicht, dann sowie so. Also spricht man, hat natürlich trotzdem oder gerade deswegen die Hoffnung, noch einmal davonzukommen.

Diese Parallelen vom Damals zum Heute sind es, die die Erzählung so besonders machen, da so fein ausgearbeitet, selten ein zweites Mal zu lesen sind. Vergleichbares ist schwer zu finden. Gibt es Romane mit dieser Thematik, die einem noch mehr in den Bann ziehen? Man wird in die Handlung hinein gesogen. Zuweilen fühlt man sich, als würde man diesem fast schon intimen „Gespräch“, welcher zu großen Teilen aus einem äußeren, unterbrochen von inneren, Monolog besteht. Das schafft unbedingte Nähe.

Immer wieder einen anderen gesellschaftlichen oder historischen Aspekt der Geschichte Belarus‘ und Russlands aufgreifend, hat es Filipenko mit „Kremulator“ erneut geschaffen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, der auch nach Zuschlagen der letzten Seite nachhallt und emotional berührt.

Bei mir schaffen das nicht alle Romane, so in diesem Maße und nicht alle Schreibende so oft und stark, wie Sasha Filipenko, der wieder einmal meine Erwartungshaltung übertreffen konnte. Empfohlen sei die Erzählung allen, die sich für die Zeit des Stalinschen Terrors, dieser gewollt herbeigeführten Gesellschaft interessieren, die durch nichts als Angst zusammengehalten wurde und für jene, die erfahren möchten, warum auch heute noch die oberen Zehntausend Russlands mit den ihnen ausgesetzten Massen praktisch nach Gutdünken verfahren können. Die Geschichte ins Heute übertragen, könnte man sicher für einen Gutteil der dortigen Bevölkerung sagen, die Angst hat bis heute überlebt. Man stellt sich ein Verhör mit ungewiss-gewissen Ausgang auch heute noch so vor.

Schlicht und ergreifend beeindruckend ist das, wie hier Filipenko erneut durch den Spiegel der Historie etwas Modernes erzählt. Schon alleine daher ist „Kremulator“ unbedingt zu empfehlen.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein belarussischer Schriftsteller, Journalist und TV-Moderator. Er, der auf Russisch schreibt, wurde in über 15 Sprachen übersetzt und studierte nach der Schule zunächst an der Europäischen Humanistischen Universität Minsk und ging anschließend 2004 nach St. Petersburg. Dort schloss er das Studium der Literatur ab und arbeitete für verschiednee unabhängige russische Fernsehsender.

In Belarus ist sein Werk teilweise verboten, zudem er in Opposition zum herrschenden Machtapperat um Lukaschenka steht, sich mit den in seinem Geburtsland stattfindenden Protesten 2020-2021 solidarisierte. Mit seiner Familie lebt er inzwischen im Schweizer Exil. Filipenko schreibt seine Texte weiterhin auf Russisch.

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Claudia Eilles: Einstweilen ertrunken

Inhalt:

„Die können dir helfen.“ Ein freundlicher, ein harmloser, ein verheerender Satz. Ein Trojanisches Pferd. Im Inneren klebrige Krieger, deren Auftrag darin besteht, deine Würde zu zersetzen.

Schulden, Affären und die Folgen eines Kletterunfalls. Carlo, einst kreativer Werbetexter und Lebenskünstler, steckt in einer Krise. Dort, im Basislager der Neurotiker, betäubt er seine Ängste mit Alkohol, bis der Anruf eines internationalen Unternehmens die Wende verspricht: Geld, erfolg, die Chance auf ein neues Leben.‘

Und während carlo im täglichen Irrsinn einer Großstadt um den auftrag kämpft, bahnt sich eine wandlung an. in der Beziehung zu seiner besten Freundin Sue. Vor allem aber in ihm selbst. Am Ende steht er vor einer Entscheidung. Und vor der Frage: Wer will er sein?
(Klappentext)

Rezension:

Was macht man, nachdem man sich aus einer Welt des Dazwischen herausgekämpft hat? Wie funktioniert das überhaupt? Carlo ist gerade dabei, den für sich richtigen Weg zu suchen und sich für eine Richtung zu entscheiden. Noch liegt er am Boden, versucht gerade wieder aufzustehen. Was macht das also mit einem? Von dieser Phase handelt das Romandebüt von Claudia Eilles.

Die vorliegende Erzählung erzählt sehr kompakt von dem, was sich in unserem Inneren abspielt, wenn wir mögliche Auswege aus einer Krise suchen, von dem Moment, an dem wir uns entscheiden, wenigstens zu versuchen, der Ausweglosigkeit zu entkommen. Innerhalb sehr kompakt wirkender Kapitel begleiten wir den Protagonisten, der zu Beginn nicht wirklich weiß, wie es weitergehen soll als er vor den Trümmern seines Lebens steht. Wieder zurück in Altbekanntes? Die Chance bietet sich, als er in das Auswahlverfahren eines globalen Konzerns gerät. Oder doch etwas ganz anderes? Nur, was ist das genau?

Schritt für Schritt baut die Autorin das Szenario auf. Der Protagonist bekommt nach und nach seine Konturen. Dabei hilft, dass die Umgebung verhältnismäßig blass gezeichnet wirkt, zudem sich Claudia Eilles auf ein überschaubares Figurenensemble beschränkt. Der Fokus selbst liegt auf Carlo. Ihn mag man für seine Schwächen, für die Konsequenzen, die er daraus ziehen wird am Ende der Handlung. Nicht zuletzt, da das Gegenüber, was der Protagonist einmal selbst gewesen ist und ihm droht, wieder werden zu können, schnell klar ist. Auch dieser Antagonist ist sehr stark formuliert. Wird Carlo dem widerstehen können?

Kaum ein Wort ist überflüssig. Sehr kompakt beschreibt Claudia Eilles die wenigen Wochen, die hier erzählt werden, in denen alles zusammenkommt. Und auch, wie schnell sich Leben eben ändern können. Mit feiner Nadel ist das gestrickt, nicht immer ganz einfach zu lesen. Zuweilen nervig. Man möchte den Protagonisten schütteln, der um die notwendigen Konsequenzen fürchtet, aber im Innersten schon zu Beginn weiß, dass sich etwas ändern muss.

Das Szenario, in das sich der Protagonist hineinzubewegen droht, ist dass der Unternehmensberatung, wo mit Worten und Versprechungen viel Geld gemacht werden, die zum überwiegenden Teil nur aus leeren Hülsen bestehen, woraus aber ein erbitterter Kampf gemacht werden kann. Ansätze davon kennen womöglich alle, die auch nur einmal Kommunikationsschulungen oder irgendwelche Vorstellungsspielchen über sich ergehen haben lassen müssen. Die Zahl derer, die so etwas mögen, dürfte überschaubar sein. Dies und die wenigen Figuren, allem voran Carlo, sind es, die die Geschichte bestimmen. Mehr braucht es nicht. Mehr wäre zu viel.

Die Erzählperspektive wechselt nur absatzweise, nur am Ende dann noch etwas prägnanter. Ansonsten folgen wir dem Hauptprotagonisten von Herbst bis Jahresende. Kalenderdaten bilden die Kapitelüberschriften. Mehr wäre kitschig. Der Roman wirkt in sich schlüssig, hat jedoch einige Längen. Entweder ist das ein Kunstgriff, der die Sinnsuche verdeutlichen soll oder einfach der Punkt, an dem man der Autorin ihr Schreibdebüt anmerkt. Kann man sich aussuchen, wobei es manchmal schon arg an Vorabendfilm und Telenovela vorbeischrammt. Nur ist der Protagonist eben männlich.

Carlo legt die Bruchstücke, die Anfang fehlen, um Zugang zur Figur zu finden, selbst offen. Immer mehr erfahren wir von seinen Hintergründen. Um so klarer das Bild der Vergangenheit, um so fester umrissen wird der Weg, für den der Protagonist sich wohl entscheiden wird. Mit zunehmender Zeilenanzahl weiß man rein intuitiv, worauf das ganze hinauslaufen wird. Nur um dann vor einem halboffenen Ende zu stehen. Vielleicht ist das aber besser so. Immer ein guter Kniff, um Kitsch zu vermeiden.

Insgesamt kann man sich das alles gut vorstellen. Die wenigen Figuren sind klar gezeichnet, die Hauptfiguren mit etwas mehr Ecken und Kanten, hier würde auch der Begriff Dellen passen. Die Schausplätze sind mal aalglatt, mal stehen sie sinnbildlich für den Niedergang. Alles könnte tatsächlich so oder so ähnlich passieren. Das macht die Eindrücklichkeit der Erzählung aus. Doch so wie „Einstweilen ertrunken“ eine Geschichte des Dazwischen ist, ist auch das Lesen des Romans selbst. Etwas Futter für Zwischendurch. Nicht besonders anspruchsvoll, man hat das schnell wieder vergessen, aber weit weg von Zeitverschwendung ist es eben auch.

Interessant wäre hier, und das kann ich nicht beantworten, wie die Erzählung wirken würde, wäre man selbst schon einmal so tief im Schlamm versunken, in den Abgrund hinein gefallen? Bekommt der Roman dann einen ganz anderen Dreh? Oder sollte man den Text dann lieber gar nicht lesen. Weil er da vielleicht um so heftiger wirkt? Das müssen andere beantworten.

Was mich beeindruckt hat, ist dann auch eher einer der Szenarien, die beschriebene Welt der Kommunikationsunternehmen, wie oben erwähnt, in denen aus Nichts Gold gemacht wird. Ein hartes Geschäft des Scheins, welches um seiner selbst Willen existiert, aber real kaum einen Nutzen für jene bringt, denen es Nutzen suggeriert. Hier merkt man den praktischen Hintergrund der Autorin an. Sie führt übrigens eine Praxis für Konfliktmanagement und Coaching.

Autorin:

Claudia Eilles ist promovierte Psychologin und führt eine Praxis für Coaching und Konfliktmanagement in Frankfurt/Main. Sie ist Autorin mehrerer Artikel und Kolumnen und hat bereits mehrfach an psychologischen Fachbüchern mitgearbeitet. 2018 erschien ein Sachbuch im Campus-Verlag, „Einstweilen ertrunken“, ist ihr erster Roman.

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Empfehlung: Rafik Schami – Sieben Doppelgänger

Er kann einfach nicht nein sagen. Immer wenn ein Buchhändler, eine Volkshochschule oder eine andere Kulturinstitution anruft und um eine Lesung oder einen Vortrag bittet, sagt er zu. Also hetzt der begnadete Erzähler kreuz und quer durch Deutschland, kennt jedes Hotel – und wird sich selbst dabei ganz fremd. Da bringt ihn eines Tages ein Freund auf die Idee, sich zu vervielfältigen. Mit einer Zeitungsannonce werden Doppelgänger gesucht, die fortan für ihn auf Reisen gehen sollen, während der echte Rafik Schami zu Hause in Ruhe neue Bücher schreiben kann. Doch die Katastrophe bleibt nicht aus … (Inhalt lt. Verlag)

Autor:
Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren. Er studierte Chemie und zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern in deutscher Sprache und wurde in zahlreichen Sprachen übersetzt.

Diesen kleinen Roman möchte ich einmal ohne Rezension grundsätzlich empfehlen oder zumindest präsentieren, da ich mich mit „Sieben Doppelgänger“ mit Rafik Schamis Schreiben versöhnt habe. Vor Jahren hatte ich eine Kurzgeschichten- oder Kolumnensammlung von ihm zur Hand genommen und das hat für mich ganz eindeutig nicht funktioniert. Zugegeben, damals wusste ich vielleicht auch nicht, dass für mich Kolumnen und Kurzgeschichten nur bedingt bis gar nicht funktionieren.

Vom Umfang her klappt das mit kürzeren Romanen oder Novellen besser. Während also eine seiner Kurzgeschichtensammlungen bei mir durchfiel, hat dieser Roman, bei dem Figuren genug Platz bekommen haben, um ausgestaltet zu werden, doch zumindest so funktioniert, dass ich mich mit dem Werk des Autors versöhnt habe. Ob ich nochmal ein Buch von Rafik Schami lesen werde, steht indes in den Sternen. Dafür ist mein Stapel ungelesener Bücher einfach sehr groß, aber zumindest möchte ich es nicht mehr ausschließen. Das sah vorher anders aus. Daher zumindest diese kleine kurze Empfehlung hier.

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Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Inhalt:

Am 8. November 1939 explodierte im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe. Eigentlich hätte sie Adolf Hitler töten sollen, während er gerade eine Rede hielt. Wenn dieser Plan aufgegangen wäre, hätten der Zweite Weltkrieg und mit ihm die Weltgeschichte einen völlig anderen Verlauf genommen. Doch der „Führer“ verließ vorzeitig den Saal und kam mit dem Leben davon. Dieses Buch erzählt die Geschichte des Mannes, der die Tat ganz allein plante und ausführte: Johann Georg Elser. (Klappentext)

Rezension:

Die Rekonstruktion dieser Biografie ist schwierig. Schriftliche Zeugnisse liegen kaum vor. Nur von ihrem Endpunkt gibt es ein Protokoll, ausgerechnet von einem Verhör durch Hitlers berüchtigter Gestapo. Diese konzentrierte sich auf die Tat natürlich an sich, versuchte Hintermänner, Auftraggeber zu finden. Nur, die gab es nicht. Aus moralischem Empfinden und Selbstverständnis heraus, handelte Johann Georg Elser, konstruierte eine Bombe samt Zündmechanismus und platzierte sie im Bürgerbräukeller.

Um Georg Elsers Anschlag am 8. November 1939 beurteilen zu können, muss man die Anstrengungen betrachten, die andere mit dem gleichen Ziel […] unternommen haben. Insbesondere müssen die Möglichkeiten in den Blick gefasst werden, die den Angehörigen traditioneller, gesellschaftlicher Eliten Kraft ihrer Verbindungen, ihrer Position, ihrer Profession und Professionalität zur Verfügung standen bzw. gestanden hätten. Zur moralischen Dimension des Entschlusses, den Tyrannenmord zu wagen, kamen die technischen und logistischen Probleme der Ausführung …

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler – Leben und Tat des Johann Georg Elser

Ein Zufall verhinderte den Erfolg. Doch wer war der Mann, dessen Aktion im Gedenken an den Widerstand gegen Hitler heute so oft schmählich vernachlässigt wird? In wie weit lassen sich seine Lebensstationen nachvollziehen und was veranlasste ihm zu handeln, wo andere nichts taten? Zuletzt auch, wie gestaltete sich das Gedenken im Nachkriegsdeutschland, von 1945 bis heute.

Wolfgang Benz, Antisemitismusforscher, begab sich auf Spurensuche. Entstanden ist eine, der mageren Quellenlage geschuldete, kompakte aber beeindruckende Dokumentation der Biografie eines Menschen, der nicht wegschauen konnte. In der Reihe Bücher gegen das Vergessen wird so eine wichtige Lücke gefüllt, die mit dem Anschlag im Münchner Bürgerbäukeller selbst beginnt, um dann die einzelnen biografischen Stationen kapitelweise nachzuvollziehen.

Der Autor belässt es jedoch nicht dabei und ordnet den Lebensweg immer auch in den Kontext des gesellschaftlichen und politischen Gefüges ein, der jeweiligen Region, die den jeweiligen biografischen Abschnitt beeinflusst, zugleich die familiäre Situation Elsers. So entsteht aus mehren Facetten ein nachvollziehbares und sehr eindrückliches Gesamtbild, welches vor allem die Nachbetrachtung und Bewertung kritisch beleuchtet, ansonsten jedoch sehr sachlich bleibt.

Die schwierige Recherche und darauf aufbauende Rekonstruktion ist beeindruckend zu lesen. Benz versteht es, dem Menschen Johann Georg Elser gerecht zu werden und hoffentlich die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die dieser posthum verdient, auch über die Region Süddeutschland hinaus. Nicht nur für geschichtlich Interessierte eine wichtige Lektüre.

Autor:

Wolfgang Benz wurde 1941 geboren und ist ein deutscher Historiker. Von 1990 bis 2011 lehrte er an der Technischen Universität Berlin und leitete das zugehörige Zentrum für Antisemitismusforschung. Vorher war er wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für Zeitgeschichte in München, nah eine Gastprofessor in Sydney war, lehrte jedoch auch u. a. in Wien.

1992 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis und en Preis Das politische Buch der Friedrich-Ebert-Stiftung. Benz gehört zu den Unterzeichnern der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die eine Neudefinition und Präzisierung des Antisemitismusbegriffs vornimmt.

Er ist zudem Autor mehrerer wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Publikationen.

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Thore D. Hansen: Taupunkt

Inhalt:

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hat Wissenschaftler Tom Beyer das auch im Weltklimarat umstrittene Phönix-Programm entwickelt, das schwerste Eingriffe in das gewohnte Leben der Menschen nach sich ziehen würde. Kein Wunder, dass die Regierungen der Welt nichts davon wissen wollen.

Frustriert zieht sich Tom nach Deutschland zurück, wo er mit seinem Forderungskatalog an die Öffentlichkeit tritt. Damit löst er eine mediale Hetzjagd aus, die sogar sein Leben bedroht. Auch der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt mit Toms Bruder Robert spitzt sich zu. Robert ist Großlandwirt in Norddeutschland, sein Land leidet unter der Dürre, er sieht seine wirtschaftliche Existenz bedroht und verliert sich in Verschwörungstheorien.

Doch dann verändert eine nie da gewesene Hitzewelle den lauf der Geschichte. Alleingelassen auf Roberts Hof, kämpft Familie Beyer ums physische Überleben und muss sich ihren Dämonen stellen. Die Trümmer vor Augen, wissen alle, dass etwas geschehen muss … (Klappentext)

Rezension:

Unser Klima verändert sich in einem atemraubenden tempo. Irgendwann wird diese Geschwindigkeit so sehr überhand nehmen, dass wir laufen müssen, um nicht zurückzubleiben. Das erfordert schon heute Maßnahmen im Kleinen wie Großen.

Die wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten stehen uns zur Verfügung, zumindest in den Industrienationen auch das dafür notwendige Know How und Geld. Nur, die politischen Entscheidungsträger agieren zu zögerlich, entweder da sie um die nächste Wiederwahl fürchten oder von Wirtschaft und Lobbyismus getrieben, praktisch wissend der Katastrophe entgegengehen. Nur, wozu führt das?

Der vorliegende Roman aus der Feder des Politikwissenschaftlers und Soziologen setzt einige Jahre danach an, nicht mehr weit, fürchtet man berechtigterweise beim Lesen und führt uns vor Augen, was es bedeutet, wenn alle notwendigen Maßnahmen soweit aufgeweicht wurden und zwangsläufig gescheitert sind, dass auch Mitteleuropa mit den unmittelbaren Wandel des menschengemachten Klimawandels zu kämpfen hat.

Kurzweilig und auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basierend entwirft der Autor ein Szenario, wie es eintreten könnte. Waldbrände an vielen Stellen in Deutschland gleichzeitig, dicht aufeinanderfolgende Dürreperioden, die auch hier Maßnahmen wie das Abstellen und Rationieren von Trinkwasser notwendig machen, flächendeckende Triage in Krankenhäusern, die aufgrund von dehydrierten Menschen vollkommen überlastet sind.

Dies ist der Raum in dem sich die Handlungsstränge dieser modernen Dystopie bewegen. Einerseits verfolgen wir hier dem Weg des Wissenschaftlers, der sowohl auf taube Ohren bei der Politik als auch bei der Öffentlichkeit stößt, die die Wahrheit nicht erträgt, andererseits mit den Dämonen der eigenen Familie. Toms Bruder ist als Landwirt direkt betroffen, bekommt die Auswirkungen unmittelbar zu spüren und leugnet dennoch, was er sieht.

In diesen Sphären bewegen wir uns im Laufe der Geschichte, in der Perspektive von Kapitel zu Kapitel wechselnd. Sehr sachlich ist das immer dann, wenn der Autor einem seiner Hauptprotagonisten praktisch „Fachvorträge“ in den Mund legt.

Die Dynamik in der Geschichte entsteht jedoch vor allem durch die Konfrontation der Gegensätze in Form der unterschiedlichen Ansichten der Figuren. Wohltuend ist es, dass sich der Autor nicht nur bemüht hat, eine Seite auszuformulieren. Man kann die Gründe für das Denken der Gegenseite, hier in Figur von Toms Bruder, dadurch zumindest nachvollziehen.

Das gleicht entstandene Längen aus, führt dazu, dass man die spannende Geschichte weiterverfolgt, die innerhalb eines Zeitraums von wenigen Wochen spielt.

Auch das Wechselspiel zwischen den handlungsorten, der weltpolitischen Bühne des Weltklimarats, der Großstadt Berlin und der ländlichen Einöde tragen maßgeblich dazu bei, dass die Erzählung nicht kippt, sondern immer neue Punkte hineinbringt, die auch konsequent weiterentwickelt werden.

Der Autor hat sich in diesem Roman auf wenige Figuren konzentriert, diese auszugestalten, und zeigt dennoch gleichermaßen damit die Dramatik im Großen wie Kleinen gleichermaßen auf, während Nebenfiguren relativ blass bleiben. Diese spielen jedoch auch keine so große Rolle, als dass das entscheidend wäre. Die eine gewichtige Rolle spielenden Gegensätze sind nicht nur anhand dieser aber sehr minutiös ausgearbeitet, gerade das macht die Handlung oder die Entscheidungen der Figuren jedoch glaubhaft.

Mit den Figuren wechselt auch die erzählerische Perspektive. Fakten werden innerhalb der eingearbeiteten Vorträge eingebracht. Alleine für dieses Zusammentragen von Informationen, der plastischen Beschreibung, was dies gerade für Deutschland bedeuten kann, muss man dem Autoren Respekt zollen.

Beim Lesen hat man den Eindruck, dass Hansen immer wieder den Finger in die Wunde legen wollte, um aufzuzeigen, dass das, was heute gar nicht oder nur mit Lethargie angegangen wird, uns eines Tages auf die Füße fallen könnte, und nie dagewesene Maßnahmen erfordern würde. Und dafür ist ein Roman vielleicht die geeignetere Form. Einen solchen liest man eher als ein trockenes Sachbuch.

Der Roman ist mit all diesen Punkten sehr schlüssig, dazu spannend geschrieben. Interessant ist zudem das halboffene Ende, was zwar in seiner Ausgestaltung nicht verraten werden soll, aber auch hier wieder ein Fingerzeig des Autoren und vieler Wissenschaftler darstellt. So könnte es aussehen, wenn wir nicht aufpassen. Bei uns und nicht irgendwo anders auf der Welt, wo uns das „egal“ sein könnte. Das wirkt unglaublich stark.

Ab Mitte der Erzählung gewinnt der Roman zudem gehörig an Erzähltempo, welches einem noch mehr in dieses Szenario hineinzieht, als man das zu Beginn des Lesens vielleicht ahnt. So schnell wie die Kapitel hochzählen, passend in Grad Celsius angegeben, die Anzeige des Thermometers klettert unerbittlich, so fix scheinen sich die Befürchtungen des einen Protagonisten zu bewahrheiten, wie auch ein immer bedrohlicher werdender Unterton im Text den Raum einnimmt.

Da das alles in Deutschland spielt und nicht irgendwo anders kann man sich als hier lebender Lesender gut vorstellen, wissen wir doch um staubtrockene Böden in Ostdeutschland, stetig steigende Waldbrandgefahr im Hochsommer oder Niedrigpegel in Flüssen, die für die Binnenschifffahrt oder zum Betrieb von Kraftwerken wichtig sind. Auch wegen Hitze strapazierte Straßen gab es hierzulande ja schon.

Thore D. Hansens Szenario lässt nachdenklich zurück. Möchten wir wirklich so etwas wie dieses erleben oder sollten wir nicht endlich etwas tun, klein im Privaten, groß in der Gemeinschaft. Wer mit wissenschaftlichen Studien nichts anfangen kann, diese schwer zugänglich findet, ist mit diesem wissenschaftlich unterfütterten Roman gut bedient, um Ansätze zu finden, wegen des Warums. Danach ist es vielleicht einfacher, sachlich über das Wie zu diskutieren. Wenn dazu Thore D. Hansens Text beitragen kann, ist viel gewonnen.

Autor:

Thore D. Hansen wurde 1969 geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er studierte zunächst in Hamburg und Boston Politikwissenschaft und Soziologie, bevor er für verschiedene Tageszeitungen und Magazine in Europa zu arbeiten begann. Stationen waren u. a. Deutschland, Österreich und Spanien. Für das Magazin Tomorrow begleitete er den Aufstieg und Fall der New Economy 2001 als Wirtschaftsredakteur, bevor er als Pressesprecher verschiedener Banken arbeitete. Seit 2010 ist er vorwiegend als Schriftsteller tätig. Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland ist er seit 2019.

Nach verschiedenen Arbeiten, etwa zu den Geheimdiensten oder zur Hochfinanzkrise, veröffentlichte er 2017 die Einordnung der Biografie Brunhilde Pomsels, welche die Sekretärin Joseph Goebbels gewesen ist. Basierend auf 30 Stunden Interviewmaterial des gleichnamigen Dokumentarfilms („Ein deutsches Leben“) nimmt er in einen historischen Vergleich Analogien der Gegenwart auf.

Immer wieder verarbeitet Hansen so hochaktuelle und diskutierte Themen in seinen Werken.

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Esther Schüttpelz: Ohne mich

Inhalt:

Sie ist Mitte zwanzig, gerade fertig mit dem Studium und genau so frisch verheiratet wie getrennt. Was tun, nachdem eine erste große Liebe krachend gescheitert ist? Die Erzählerin von Esther Schüttpelz‘ Roman sucht. Nach einem Grund für die Trennung. Nach einem Plan für die Zukunft. Nach Freundschaft und nach Nähe und Rausch und Vergnügen. Scharfzüngig, verletzlich und komisch erzählt sie von einem Jahr des Danach und Dazwischen, von der Sehnsucht nach Verbundenheit in einer distanzierten Welt. (Klappentext)

Rezension:

Romane, die Zwischenräume suchen und dabei direkt ins Innerste treffen, was uns zudem macht, was wir sind. Gefühle können uns umher werfen. Davon hat die Erzählerin gerade ganz viele. Nur welche, ob immer wieder andere oder alle gleichzeitig, ist ihr selbst nicht wirklich klar und so entspannt sich in „Ohne mich“ ein über weite Strecken innerer Monolog der Verarbeitung, des Bewertens von Vergangenem und nicht zuletzt die Suche nach den zukünftigen Weg.

Wir begleiten die Protagonistin vom Anbeginn eines Entwicklungsprozesses, der nach und nach immer größere Steine ins Rollen bringt. Schwermütig, melancholisch seziert Esther Schüttpelz‘ Figur ihre inneren Verletzungen, ist auf der Suche nach Halt. Der gesamte Text ist durchdrängt von der Sehnsucht danach und zugleich nach etwas Neuem. Wie das aussehen soll? Wer weiß das schon? So schwer, wie der Erzählenden oder Monologisierenden diese ersten Schritte fallen, so schwierig ist es, sich einzufinden in den Text. Es braucht, bis man mit dem Erzähltempo warm wird. Das ist zwar nicht mit Mehltau gleichzusetzen, wirkt aber mitunter genau so zäh. Alleine, hier passt es zur Geschichte. Nach und nach enthüllt die Protagonistin die ihre, vor uns Lesende, ihren Mitmenschen und vor sich selbst.

Es ist eine Geschichte vom Vergehen und Enden, vom beschwerlichen Weg zu einem Neubeginn. Manchmal kommt das sehr nüchtern daher, um dann die Lesenden mit allen Gefühlswelten zu konfrontieren, die es gibt. Himmelhoch jauchzend, in kleinen Momenten des Glück. Zu Tode betrübt, die Beziehung hatte doch vielversprechend begonnen, oder? Oder? Sehr kompakt wird der Zeitraum fast eines Jahres aus erzählt. Der Entwicklungsprozess gibt der Protagonistin Konturen. Anfangs kann man diese kaum fassen, findet sie zuweilen unsympathisch oder zumindest nicht einfach. Doch wer mit der Belastung eines Beziehungschaos‘ im Hintergrund, eines Trümmerhaufen an Gefühlen, wäre das nicht?

Die Autorin hat sich innerhalb ihrer kompakt wirkenden Kapitel für die Ausgestaltung nur einer Figur entschieden. Alle anderen bleiben verhältnismäßig konturlos. Es braucht sie aber auch über weite Strecken schlichtweg nicht, wenn dann nur, um der Protagonisten den Spiegel vorzuhalten. Selbst der Antipol, die Figur des Exfreundes, bleibt blass, während Schüttpelz das Gefühlsleben der Erzählenden in allen Farben beschreibt. Parallelen übrigens zum Leben der Autorin dürfen dabei nicht fehlen. Auch der Autorin alter Ego ist Juristin (oder werdende) und Musikerin. Wie viel Verarbeitetes ansonsten in der Geschichte steckt, wer weiß das schon?

Aber das schafft eine ehrliche Nähe, in sich verständlich und schlüssig. Spannend ist hier vor allem, wie Schüttpelz den Knoten auflöst, ohne ins Kitschige zu geraten. Nach und nach erfährt man mehr Hintergründe, die gleichsam eines Puzzles am Ende ein komplettes Bild ergeben. An einigen Stellen wird das etwas anders aussehen, als man zu Beginn glaubt. Rückblenden lockern die Melancholie auf, nur um im nächsten Moment neue zu schaffen. Ein Verarbeitungsprozess soll hier dargestellt werden, mit vielen Hindernissen. Man hat dabei nicht das Gefühl zu viel Überflüssiges zu lesen. Fast jedes Wort sitzt und fühlt sich, im Rahmen des Romans, richtig an.

Den Roman als sehr rational denkender Mensch zu lesen, ist aber das eine. Wie ist es, wer sich lesenden von seinen Gefühlen mitreißen lässt? Wo hier der Rezensent über manche Abschnitte nur die Augen rollen kann oder anders, einem Tunnelblick entwickeln und einfach einen neuen Anfang wagen würde, gleichwohl sich manchmal an die Stirn fasst, was macht das mit jene, die sich beim Lesen in die Gefühlswelten der Protagonistin hineinsteigern können? Wie wirkt dann die Erzählung? Wer „Ohne mich“ so gelesen hat, möge mir das bitte sagen.

Positiv fallen die klar formulierten Sätze auf, die an einigen Stellen den Rhythmus von Songs haben. Man stelle sich das als Album vor, dessen Titel in einem Club gespielt würden. Oder nein, vielleicht wäre das wiederum zu traurig, zu düster. Durch die Ausarbeitung der Protagonistin kann man sie sich dagegen sehr gut vorstellen, genau so die Umgebung, die mal in den leuchtenden Farben beschrieben wird, mal einfach nur grau bleibt. Dieser Wechsel gibt dann auch das Lesetempo vor.

Nicht nur das Portrait einer jungen Frau, einer Suche liegt hier vor. „Ohne mich“ ist vor allem für alle, die sich für Verarbeitungsprozesse interessieren, Figuren, die an ihrer inneren Zerrissenheit leiden und einen Weg finden müssen. Der Roman ist für jene, die vielleicht schon etwas ähnlich Geartetes durchleben mussten, nicht für jene, die gerade in einer Beziehungskrise stecken, möchte man meinen. Dann hätte die Erzählung nochmal eine ganz eigene Wucht. Vielleicht sollte man aber auch nicht allzu nüchtern an die Lektüre rangehen. Dann funktioniert das an einigen Stellen leider nicht. Aber ihr seid ja nicht so.

Autorin:

Esther Schüttpelz wurde 1993 geboren und studierte zunächst Jura in Münster, arbeitete als Rechtsanwältin, bevor sie zu schreiben begann. Zudem schreibt sie eigene Songs und macht Musik. Mittlerweile lebt sie in Berlin. Für ihr Werk „Ohne mich“, erhielt sie den lit.cologne-Debütpreis 2023.

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Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Inhalt:

Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig – Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Und erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte einer eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist.

Ein bewegendes Buch über eine faszinierende Frau und Mutter. (Klappentext)

Rezension:

„Woody Allen hat gesagt: Das schlechte Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Recht hat er.“

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

„Dafür nun habe ich überlebt.“, so oder ähnlich klingen die Vorwürfe, die sich Michel Bergmann Zeit seines Lebens anhören muss, aus dem Munde derjenigen, die ihm am nächsten stehen sollte. Das tut sie auch, doch das Leben spielte der Mutter, wie allzu vieler ihrer Generation übel mit. Geschehnisse, die lange danach noch Wirkung zeigen, in den Familien übergreifend. Der Autor schaut, Jahre nach dem Tod, zurück, sucht die Wegmarker und Wendepunkte und damit, seine Mutter mehr zu verstehen als er es zu ihren Lebzeiten konnte. Entstanden ist eine Mischung aus Romanbiografie, Familienepos, Ode und Psychogram, hart zu der Frau, die er zu seiner Hauptprotagonistin macht, aber auch sich selbst nicht schonend.

Der Filmemacher weiß sich unterschiedlicher Genre zu bedienen und setzt deren Elemente gekonnt um. Der Handlungsverlauf gleicht im Spannungsverlauf eben dem eines guten Films, während dessen er sich an den biografischen und neuralgischen Punkten des Lebens seiner Mutter entlang hangelt. Zuweilen ist das fast wie ein Krimi zu lesen, aber eben in Romanform erzählt Michel Bergmann liebevoll aus dem Leben seiner Mutter. Ihre und seine Perspektive sind die bestimmenden Elemente, die Abwechslung in diese kurzweilige Erzählung bringen. Die Kapitel sind benannt nach den einzelnen Stationen dieser bewegten Biografie, bei der man immer wieder innehalten muss. Um zu schmunzeln, laut loszulachen, auf das einem das Lachen im nächsten Moment im Halse stecken bleibt.

Erzählt wird die Geschichte der Mutter über die gesamte Lebensspanne, konzentriert auf die neuralgischen Punkte. Der Autor könnte noch viel mehr erzählen, doch beherrscht er des Berufs wegen die Kunst des Reduzierens. Auf die Leinwand kann man schließlich auch nicht alles bringen, was man gerne möchte. Überflüssige Zeilen gibt es hier auch zwischen den Buchdeckeln nicht. Dabei lässt Michel Bergmann die unterschiedlichsten Handlungsorte vor dem inneren Auge entstehen. Wir folgen der Protagonistin, deren Ansichten sich über die Jahre verhärten werden, in der Rückschau wird das Schicksal sie verbittern lassen, durch Deutschland in seiner schlimmsten, später auch in seiner besten Zeit, in die Schweiz und nach Frankreich. Wenige Worte genügen hier manchmal, um ganze Welten lebendig erscheinen zu lassen.

Hauptfiguren bilden der Erzähler selbst und seine Protagonistin, die wie zwei gegensätzliche Pole einander abstoßen, aber doch nicht ohne einander können. Diese Konstellation kommt aber auch bei den Nebencharakteren zum Tragen, doch während der Sohn mit dem Abstand der Generation das Konfliktpotenzial sieht und zu bewältigen weiß, kann sich die Mutter nicht davon befreien.

„Und die Ingredienzen dieses neuen Lebens durch Überleben haben nicht nur psychische Schäden verursacht. Sie haben Krankheiten und Todesursachen provoziert und letztlich auch die Gene verändert, die an uns weitergegeben wurden. Bis heute werden die Auswirkungen dieser schweren, lebensbedrohlichen Jahre der Schoah unterschätzt. Wir alle wären andere. Und unserer Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt.“

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Brüche in der Erzählung ergeben sich durch die Protagonisten selbst, nicht zuletzt durch den Erzählenden, der zwischen den Zeiten springt, um damit andere Punkte dieser Geschichte unterfüttern. Im Lesefluss selbst ist das keinesfalls störend. Es ergibt sich sogar eine gewisse Dynamik und ein Erzähltempo, welches es verhindert, dass man vollends in nicht enden wollende Melancholie hinabstürzt, aus der man nicht wieder hinausfinden würde. Dem Lesenden wachsen die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten ans Herz. Vielleicht sollten wir alle uns die Geschichte unserer Eltern anschauen, mag man hinterher meinen, um sie zu begreifen, um sich selbst besser zu verstehen.

Der Autor weiß die Wirkung von Sätzen und sprachlichen Bildern zu nutzen, setzt sie gekonnt und nicht über die Maßen ein, setzt damit seiner Mutter, die er zur Hauptprotagonistin macht, ein Denkmal, nicht ohne dieses selbst zu hinterfragen. Immer wieder steht die Frage im Raum, was wäre wenn, um im gleichem Atemzuge beantwortet zu werden, mit: „So. Und nicht anders.“ Diesem Stil kann man sich nicht entziehen, möchte man auch nach wenigen Seiten schon nicht, trotz einer Figur, die in Teilen unnahbar, manchmal fast unangenehm bleiben wird.

„Ich lehne mich zurück, atme tief durch. Was für eine Geschichte! Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie.“

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Es ist ein Buch über ein Blick hinter die Fassade eines Menschen und auch die Suche des Autoren nach sich selbst. Am Ende scheint Michel Bergmann auf viele seiner Fragen Antworten gefunden zu haben. Diesen Weg zu verfolgen, durch sprichwörtlich viel zu viele und zu tiefe Täler, immer wieder aber auch Berge des Glücks, okay, das klingt jetzt kitschig, war interessant und lesenswert. Gelernt hat man am Ende auch etwas dabei und sei es nur eine ganze Reihe jüdischer Ausdrücke und Begrifflichkeiten, die Bergmann am Ende des Romans, der eigentlich eine Biografie, eine Suche und auch sonst darstellt, erläutert. Ein Text der so viel schafft, den Autoren sicherlich und nicht zuletzt, die Lesenden selbst herausfordert, den kann man nur empfehlen.

Autor:

Michel Bergmann wurde 1945 in Basel geboren und ist ein schweizerisch-deutscher Filmproduzent, Regisseur und Schriftsteller. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung bei der Frankfurter Rundschau und war anschließend als freier Journalist tätig.

Später wechselte er in die Filmbranche und arbeitet seither als Drehbuchschreiber, Regisseur und Produzent. Sein erster Roman wurde im Jahr 2010 veröffentlicht, weitere folgten, 2021 seine erster Kriminalroman. Er erhielt u. a. den Deutschen Industriefilmpreis und den New York Film Award.

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