Erzählung

Georg Thiel: Nachtfahrt

Inhalt:

Wien 1997. Markus, Matthäus, Lukas und Johannes kennen einander seit dem ersten Schultag und sind, obwohl sie von Temperament und Wesen unterschiedlicher nicht sein könnten, eng befreundet. Diverse Frauengeschichten, bewusstseinsveränderte Substanzen und eine Leiche später finden sie sich auf einem rasanten Roadtrip wieder, der allerdings ganz anders verläuft als geplant. (Klappentext)

Rezension:

„Die Katastrophe fängt damit an, dass man aus dem Bett steigt.“

Georg Thiel: Nachtfahrt

Im Grunde Alltag, der unberechenbar seine Protagonisten in ein kaum zu entwirrendes Chaos stürzt und die Leserschaft gleich mit. So könnte man diesen Roman zusammenfassen, in dem Georg Thiel seinen Protagonisten viel zumutet, gleichsam den Lesenden viel zutraut.

Dabei beginnt alles zunächst mit einem Knall, gleichsam einer zufallenden Tür oder den Koffer mit Sachen, der einem der Protagonisten vor die Füße geworfen wird. Wohlgemerkt vom Balkon herunter, komplementiert aus der Wohnung von der ehemaligen Freundin. So wirr geht es zunächst weiter. In den Stil muss man erst einfinden und lernt so die Hauptfiguren kennen. Freunde seit Kindertagen zwischen Jobs, Beziehungen und dem einen oder anderen Joint, der da die Runde macht.

Das ganze Leben, die unterschiedlichsten Charaktere, verteilt auf den schmalen Schultern der Protagonisten. Johannes ist da der Ruhepol in der Runde, Lukas voller wilder Ideen und irgendwann auch im Besitz eines Spanferkels als Hauptpreis des Kartenspiels in der Dorfwirtschaft. Wer bis hierhin nicht folgen konnte, wird an diesen Text seine helle Freude haben. wer eine klare Linie erkennt, der sowie so. Mehr darf, kann man jedoch auch nicht verraten, ohne allzu viel vorweg zu nehmen.

Der Stil ist gewöhnungsbedürftig, die Ausgestaltung der Handlungsstränge ist es auch. Alles ist vorhanden, dann wieder auch nicht. Das Tempo ist rasant, wird mit zunehmender Seitenzahl immer schneller. Der „Nachtfahrt“ wohnt ein Zauber inne, aber Obacht. Dennoch, einige Lücken bleiben. Nicht alles wird auserzählt.

Ohne diesen speziellen Humor, den der Autor hier eingewoben hat, funktioniert das nicht, sondern wirkt wie jeder andere schon mehrfach geschilderte Roadtrip auch. Nur wer hier lachen kann, für den funktioniert die Geschichte. Für alle anderen wird der Text nicht wirken. Die Haupthandlung selbst hätte dabei gerne ausufernder sein dürfen. Auf die Spitze getrieben ist das nicht. Auch das Ende wirkt zu abrupt. Hier ein paar Zeilen mehr, dafür die Vorgeschichte etwas weniger ausführlich. Widerum passt es zum Motto des Romans. Darauf ein Spanferkel, bitte.

Autor:

Georg Thiel wurde 1971 geboren und ist ein österreichischer Schriftsteller und Ausstellungskurator.

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Tete Loeper: Barfuß in Deutschland

Inhalt:

Mutoni, eine junge, gebildete Frau aus ruanda, beschließt nach dem Tod ihrer Mutter auszuwandern. Über eine ehemalige Mitschülerin erhält sie das Angebot, nach Hamburg zu ziehen und dort einen Mann zu heiraten. Voller Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres Leben begibt sie sich auf den Weg nach Deutschland. Entgegen ihren Erwartungen findet sie sich jedoch schon bald in unterdrückenden, teils gewaltvollen Arbeitsverhältnissen wieder. Die Erfahrungen, die sie als Schwarze Migrantin in Deutschland alltäglich macht, führen sie schließlich zu einer unerwarteten Entscheidung… (Klappentext)

Rezension:

Als alle Fäden in ihrer Heimat förmlich zerreißen, entschließt sich die junge und lebensfrohe Mutoni ihr Heimatland Ruanda zu verlassen. In der Stadt, in der sie aufgewachsen ist, hält sie nichts mehr, nachdem mehrere Familienmitglieder ebenfalls den Schritt in die Ferne gewagt haben, die Mutter gestorben ist und das Bild, welches sie von Europa im Kopf hat, immer verführerischer wird.

Ein Angebot, in Deutschland einen Mann zu heiraten, den sie kaum kennt, zu arbeiten und Fuß zu fassen, kommt da gerade recht. Doch, nicht nur Temperaturen und Kleidung sorgen schnell für einen Kulturschock. Mutoni erkennt schnell, dass sie unter falschen Versprechungen hergelockt wurde. Ihr gelingt es, sich davon zu befreien, doch auch alltäglichere Nadelstiche setzen ihr zu, gerade wenn den Verursachern contra gegeben wird.

Sie stoppte augenblicklich in ihrer Bewegung und warf mir einen skeptischen Blick zu. Es hatte ihr wohl die Sprache verschlagen, denn wortlos verließ sie die Küche und schloss demonstrativ die Wohnzimmertür hinter sich.

Tete Loeper: Barfuß in Deutschland

So beginnt die Geschichte, die die Autorin und Journalistin Tete Loeper anhand ihrer und die Anderer Erfahrungen entlang aufgeschrieben und zu einem berührenden Roman gewoben hat, der einen nachdenklich zurücklassen wird. In kompakter Form schafft sie es, all die Hoffnungen und Enttäuschungen, die Gewalterfahrungen unterzubringen, seien sie nun physischer oder psychischer Natur, dass es einem beim Lesen kalt den Rücken hinunter laufen wird. Unweigerlich wird man sich zudem fragen, wie viel Härte das Lektorat herausnehmen musste, gerade zu Beginn, damit der Text gerade zu Beginn noch für Lesende zu verarbeiten ist.

Dieses Gefühl wird nach und nach durch zwar immer kleinere aber auch spür- und sichtbare Nadelstiche ersetzt, die die Protagonistin verspürt, ob nun durch ihre Umgebung ungewollt oder gewollt hervorgerufen. Loeper gibt hier einen Ansatz von Vorstellungen weiter, die niemand aktiv erleben möchte, der leider jedoch immer noch Alltag für viele ist. Gleichzeitig ist es der Autorin in prägnanter Sprache gelungen, auf wenigen Seiten ihrer Protagonistin eine gewisse Wandlungsfähigkeit angedeien zu lassen, die weit über das hinaus geht, was sich anfangs erahnen lässt.

Das setzt dann auch eine gewisse Fähigkeit beim Lesenden voraus, sich selbst zu hinterfragen. Wie bestimmen Klischees unser Denken und Handeln, auch unbewusst? Wie kommentieren und beobachten wir, wie wirkt dies nach außen und wie ist es gemeint, im Guten oder auch im Schlechten? Was macht das mit jenen, die dann im Fokus stehen? Was macht es mit uns, als Gesellschaft? Wenn man sich diese Punkte einmal nach dem Lesen des Romans durch den Kopf gehen lässt, hat dieser sehr viel erreicht.

Autorin:

Divine Gashugi Umulisa, bekannt unter ihrem Pseudonym Tete Loeper, wurde 1990 in Ruanda geboren. Sie lebte während des Völkermords an den Tutsi in Burundi und im Kongo im Exil. Nach ihrem Studium des Journalismus arbeitete sie in verschiedenen Forschungsprojekten mit gefährdeten Mädchen und jungen Frauen, leitete Workshops für Kreatives Schreiben. Seit 2016 lebt sie in Deutschland und arbeitet als Autorin, Schauspielerin, Bildungsreferentin für interkulturellen Austausch und globales Lernen.

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Sasha Filipenko: Die Jagd

Inhalt:

Ein Journalist, der zu viel weiß. Ein Sohn, der seinen Vater verrät. Ein Oligarch, der keine Gnade kennt. Ein korrupter Schreiberling ohne jeden Skrupel. Medien, die auf Bestellung einen Ruf ruinieren. Sasha Filipenko erzählt die Geschichte des idealistischen Journalisten Anton Quint, der sich mit einem Oligarchen anlegt. Worauf dieser den Befehl gibt, Quint fertigzumachen. Die Hetzjagd ist eröffnet. (Klappentext)

Rezension:

Wer Belarus und Russland verstehen möchte, sollte sich einmal aufmerksam die Biografie Sasha Filipenkos anschauen. Zunächst nach St. Petersburg ausgewandert, um über sein Geburtsland unbehelligt schreiben, damit gleichzeitig aber auch unangreifbar das russische politische und gesellschaftliche System auf’s Korn zu nehmen, lebt der Autor inzwischen in Deutschland, um ohne Einschränkungen leben und schreiben zu können.

Er tut dies auf Russisch und nahm in seinem Roman „Rote Kreuze“ die Umdeutung der Geschichte vor, im Nachfolgeband dann das belarussische Gesellschaftssystem. In „Die Jagd“ beschreibt er, brandaktuell, den Einfluss der Oligarchen, Russlands Superreiche und das Dilemma derer, die versuchen, ehrlich zu bleiben.

Sperriger als die anderen, bereits auf Deutsch erschienenen Romane, gelingt der Einstieg in zwei parallel verlaufende Geschichten, die sich erst mit zunehmender Seitenzahl in einander verketten und auf die unvermeidbare Katastrophe zusteuern. Der Erzählstil ist gewöhnungsbedürftig, doch zunächst schaffen wechselnde Perspektiven eine Übersicht über die handelnden Protagonisten, die unterschiedlich zum gesellschaftlichen System stehen. Parallelen zu realen Personen sind hier nicht unbeabsichtigt.

„[…] Anton, für eure Zeitung kann man einen eigenen Friedhof aufmachen!“

Sasha Filipenko: Die Jagd

Tatsächlich lassen sich existierende Pendants im russischen Raum ausmachen, was der Erzählung eine ungeheure Brisanz verleiht, zumal jetzt in diesen Zeiten. Filipenko beschreibt familiäre Machtstrukturen nahe der großen Politik, nebst käuflichen und ideellen Medienjournalismus und die Unterschiedlichkeit des Umgangs der Menschen, die damit gelernt haben, zu leben. Ob sie das so akzeptieren oder eben nicht.

Im Gegensatz zu „Der ehemalige Sohn“ ist die Tonalität nicht gleich und überwiegend deprimierend, sondern steuert von einer, vielleicht nicht optimistischen Haltung, so doch Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, zumindest von Seiten der Hauptfigur Anton Quints, erst langsam, dann immer schneller gen Abgrund zu.

„Es ist mein Beruf, an die anderen zu denken!“ „Aber denk doch auch einmal an uns. Oder sollen sich doch deine Opfer, die du andauernd rettest, wenigstens ein einziges Mal für dich einsetzen. Sollen sie mal dir helfen. […]“

Sasha Filipenko: Die Jagd

Filipenko zeigt, wenn auch nicht ganz so stimmig, dass es durchaus auch innerhalb der mächtigen Familien verschiedene Sichtweisen geben mag, zumindest auf einige Themenbereiche bezogen. Der Autor vergisst nicht die Zwischentöne, die vielen Wahrheiten, in denen man in einem System, wie dem russischen, leben kann und das ist großartig, zumal quasi aus dem Exil heraus geschrieben. Hier machen die Protagonisten beider Seiten eine nachvollziehbare Entwicklung durch.

Natürlich ist auch klar, bei welcher Figur die Sympathien liegen müssen, doch zeigt der Schreibende auch, welche Konsequenzen Idealisten in einem solchen Gesellschaftssystem zu tragen bereit sind. Es muss die Frage gestellt werden, ob dies notwendig ist, zumal wenn es darum geht, nicht nur aufzuzeigen, wo die kritischen Punkte liegen, sondern irgendwann auch darum, den eigenen Kopf aus der sich selbst angelegte Schlinge zu ziehen.

„[…] Die ganze Geschichte dieses Landes läuft darauf hinaus, dasss das Geschmeiß Menschen wie dich hinausekelt, und du erwartest, dass sich das plötzlich ändert.“

Sasha Filipenko: Die Jagd

Gegen Ende hat man dem Autoren den zu Beginn etwas hölzernen und unnahbaren Erzählstil verziehen und schaut gebannt auf das dargestellte Szenario, welches reale Vorbilder hat. Vielleicht hilft das zu verstehen, wie Russland funktioniert. Gerade aktuell ist dies bezeichnend. Das System ist hart im Umgang mit dem Lebensglück der Menschen. Filipenkos Roman zeigt, dass das durchaus für beide Seiten der russischen Gesellschaft gilt.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. Petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator. Aktuell lebt Filipenko in Deutschland.

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Vladimir Vertlib: Zebra im Krieg

Inhalt:

In der Geschichte von Paul Sarianidis verbindet Vladimir Vertlib meisterhaft Ironie, Ernst, Menschenfreundlichkeit und politischen Scharfblick zu einem beklemmend aktuellen Roman: Paul lebt mit seiner Familie in einer vom Bürgerkrieg heruntergewirtschafteten osteuropäischen Stadt am Meer. Als er arbeitslos wird, verstrickt er sich immer tiefer in die wüsten Debatten, die in den Sozialen Medien toben.

Doch eines Tages wird Paul von Boris Lupowitsch, einem Rebellenführer, den er im Internet bedroht hat, verhaftet. Lupowitsch rechnet mit ihm vor laufender Kamera ab. Paul wird verhöhnt und gedemütigt, das Video millionenfach gesehen. Wie kann er mit dieser Schande weiterleben? Wird seine Familie ihm verzeihen? Und wird es ihm gelingen, einmal das Richtige zu tun? (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Überschaubar ist die Anzahl der Romane, die von den aktuellen realen Geschehnissen überrollt werden und dennoch nichts von ihrer Brisanz verloren, ja, dadurch viel mehr hinzu gewonnen haben. Die vorliegende Erzählung des österreichischen Autoren Vladimir Vertlib veranschaulicht das in beeindruckender Art und Weise.

Wer liest, taucht in die wirren Tage einer von Bürgerkrieg gebeutelten osteuropäischen Stadt ein, die nicht näer benannt wird, deren reales Vorbild sich jedoch direkt in der Beschreibung der ersten Zeilen aufdrängt. Dort begleiten wir Paul, der in seiner durch Jobverlust erzwungenen Taten- und Perspektivlosigkeit einen an den Unruhen beteiligten Rebellenführer beleidigt, dieser anschließend sich rächt und damit nicht nur dessen Leben komplett auf den Kopf stellt.

Hier setzt die Geschichte an, deren Protagonist gefährlich oft zwischen den Polen schwankt, einerseits Sympathieträger zu sein, andererseits sein Kontingent an Wohlwollen der Lesenden zu schnell zu vebrauchen. Gleichzeitig ist dies eines der handlungstreibenden Elemente, an denen wir uns entlang der doch etwas umfangreicheren Kapitel entlang hangeln,, wobei der Autor den Hang zum Abstrusen hat.

Einmal davon abgesehen, was im beschriebenen Setting als normal gelten kann, hat der Schreibende besonders gen Ende damit über das Ziel hinausgeschossen, wie die Bürgerkriegsparteien auch den städtischen Zoo in Mitleidenschaft ziehen und der Streichelzoo, nun ja, im Nebensatz alles andere als gestreichelt wird. Abgesehen davon, dass Vertlib ebenso eine gehlörige Portion Ironie und Sarkasmus eingebracht hat.

Zuweilen wirkt das komisch, doch das Lachen bleibt einem noch, bevor man dies zulässt, im Halse stecken. Vladimir Vertilb hat es hier verstanden, seine Finger in die Wunden zu legen und schafft es, sprachlich die Extreme eines Bürgerkriegs, seine Absurditäten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Einzelnen auf den Punkt zu bringen.

Der Charakterwandel des Hauptprotagonisten wirkt dabei an manchen Stellen zu glatt, in der nächsten Zeile wieder folgerichtig. Von der Tonalität her ist „Zebra im Krieg“ zwar auch erdrückend, jedoch nicht ganz so deprimierend wie etwa Serhij Zhadans Erzählung „Internat“, die etwas konsequenter wirkt.

Vertlib geht da etwas sanfter, aber ebenso bestimmt mit seinen Lesenden um, was sich in seiner Gesamtheit lohnt.

Autor:

Vladimir Vertlib wurde 1966 in Leningrad geboren und ist ein österreichischer Schriftsteller. Mit seiner Familie emigirerte er 1971 aus Russland und lebt seit 1981 in Österreich, wo er Volkswirtschaft studierte. Zunächst veröffentlichte er verschiedene Beiträge in Literaturzeitschriften. Sein erstes Buch erschien 1995. Vier Jahre später erhielt er den Österreichischen Förderungspreis für Literatur, sowie 2001 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis.

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Erri de Luca: Das Meer der Erinnerung

Inhalt:

Ein Sommer auf Ischia in den fünfziger Jahren. Während sich die anderen Jugendlichen aus der Stadt am Strand vergnügen, fährt der Ich-erzähler jeden Morgen hinaus aufs Meer. Von dem Fischer Nicola lernt er das Handwerk des Fischens, und Nicola ist auch der Einzige, der ihm vom Krieg erzählt. Die Abende verbringt er oft mit der Clique seines älteren Cousins. Dort lernt er Caia kennen, und ein überwältigendes Begehren ergreift den Sechszehnjährigen. Er ist überzeugt, dass Caia ein Geheimnis besitzt, und entschlossen, es in stiller Intimität ans Licht zu bringen. (Klappentext)

Rezension:

Längst ist das Salz in der Luft mit der Haut eins geworden. Die Netze haben Striemen hinterlassen und vom Bisss der Muräne bleibt eine eindrucksvolle Narbe auf der Handfläche zurück. Es ist Sommer auf der italienischen Insel Ischia und der zunächst, über weite Strecken namenlose Stadtjunge verwildert zusehens. Es sind die Beschreibungen solcher Szenen, die Erri de Luca besonders gelingen und einem in seine Geschichten eintauchen lassen.

Wer liest, nimmt in „Das Meer der Erinnerung“ die Perspektive des Jungen ein, der beobachtet und wird damit selbst zum Beobachter des Insellebens. Das Meer ist einer der Handlungsorte und steht zugleich für die nicht verarbeitete Vergangenheit, das Ungesagte, auf dessen Spurensuche sich der Ich-Erzähler begibt. Sehr schnell wird der Beobachtende zum Handelnden.

Feinfühlig verweb der Autor verschiedene Themen mithilfe kunstvoller Sprache. Ruhig, fast melancholisch ist der Sprachstil, so unerbittlich ist das Nicht-mehr-Kind und der Noch-nicht-Erwachsene zu sich selbst. Nicht geschehene Vergangenheitsbewältigung thematisiert Erri de Luca ebenso wie das Verstehen-wollen und das Nicht-begreifen-können.

Das ist sehr viel in dieser kompakten Form, wird jedoch genügend auserzählt. Das halb offene Ende wirkt hier etwas holzschnittartig und passt nicht wirklich zum Rest der Novelle. An den Themen, des vielschichtig ausgearbeiten Protagonisten liegt es nicht. Nur der Tupfen auf dem I fehlt, vielleicht versunken auf den unerreichbaren Gründen des Meeres.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Stefan Zweig: Schachnovelle

Inhalt:

Am Bord eines Passagierdampfers, auf den Weg von New York nach Buenos Aires, wird Schach gespielt. Was als Zeitvertreib wohlhabender Reisender und eines amtierenden Großmeisters beginnt, ruft traumatische Erinnerungen bei Dr. B. an seine Zeit als Gefangener der Gestapo in Wien hervor, zwischen psychischen Abgründen und perfiden Foltermethoden. (abgewandelte Inhaltsangabe)

Einordnung:

Die Rezension bezieht sich auf die klassische Reclam-Ausgabe, die die Geschichte um ein erklärendes Nachwort ergänzt.

Rezension:

Auf einem Passagierdampfer wird Schach gespielt. Das spiel der Könige erhitzt die Gemüter der Reisenden, nicht zuletzt, da ein kaum nahbarer Großmeister an Bord ist und ruft Erinnerung an vergangene Zeiten wach. Nicht gute sind das, an die Dr. B. denken muss, der sich verschüttet geglaubten Dämonen erwehren muss, als er nach Jahren nun wieder einem Schachspiel beiwohnt, sich ganz dem Schwarz und Weiß der Bewegungen hingibt.

Wer die Form einer Novelle wählt, spielt im begrenzten Raum, ist sie doch nur eine längere Form der Kurzgeschichte. Diese beherrschte der Schriftsteller Stefan Zweig meisterhaft und zeigte hier ein letztes Mal sein großes Können. Auf einem Passagierdampfer lässt er Reisende aufeinandertreffen, die sich schließlich um ein schwarz-weißes Brett zusammen findet, welches längst vergrabene Erinnerungen wieder an die Oberfläche kehrt. Das Schachspiel ist hier das Dingsymbol, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, wie auch die Figuren Pole zueinander bilden.

Der Kampf zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse, das miteinander Ringen, das strategische Ausspielen und Vorausdenken, bringt Zweig jedoch nicht nur in den Bewegungen der Figuren zum Ausdruck, überträgt sie auch im besonderen auf einem der Hauptprotagonisten, dessen Schweißtropfen auf der Stirn, zitternde Hände man förmlich vor sich sehen kann, bevor die Katastrophe naht.

Hier kann froh sein, wer die Verfilmungen nicht kennt oder, noch mehr, zu Schulzeiten mit der Lektüre nicht gequält wurde. Unbefangen sollte man an die Novelle herangehen, die sehr kopflastig daherkommt und in die Zweig noch einmal alle Ängste und Befürchtungen hineingepackt hatte, bevor er Suizid begang.

Noch Monate sollte es dauern, bis mit der Kapitulation der Deutschen in Stalingrad der Zweite Weltkrieg eine Wendung nehmen sollte. Der Schriftsteller, der sich fast sein ganzes Leben lang für den Frieden eingesetzt hatte, hatte vorher schon längst alle Hoffnung verloren.

Diese Verzweiflung, diesen Schmerz spürt man zwischen jeder einzelnen Zeile, dabei erfährt man auch vieles über die grausamen Methoden der gestapo und was psychische Folter mit Menschen macht. So ist es keine Lektüre, die man eben mal sich zu Gemüte führen sollte. Stefan Zweig verlangt Aufmerksamkeit und Konzentration, lässt sich jedoch, rein vom Schreib- und Erzählstil her, im Gegensatz zu anderen Schrifstellenden seiner Zeit immer noch gut lesen.

Die Ausarbeitung der wenigen Charaktere ist hier gelungen, besonders der Fokus auf den Hauptprotagonisten, der sich auf einem erzählerischen Monolg konzentriert. Für diese art des Erzählens, die mitunter sehr kopflastig daherkommt, sollte man allerdings offen sein, damit dies funktioniert.

Der Abschluss indes wirkt nicht ganz so rund. Nun gibt die Form einer Novelle aus Platzgründen nicht unbedingt viel her, der Zustand Stefan Zweigs beim Schreiben muss hier ebenfalls berücksichtigt werden, dennoch ist mir die Geschichte beinahe zu einfach aufgelöst. Während die Beschreibungen, selbst von Partien, hier spannend wie einzelne Krimis wirken, ist die Auflösung recht simpel. Vielleicht kann man es so sehen: Das Schachspiel wird hier zum ersten Mal durchbrochen.

Autor:

Stefan Zweig wurde 1881 in Wien geboren und war ein österreichischer Schriftsteller. Er verfasste Gedichte, Erzählungen und Romane, Theaterstücke und Essays, war überdies als Übersetzer und Herausgeber tätig und schrieb Beiträge für diverse zeitungen und Zeitschriften. Von 1919 an lebte er in Salzburg, welches er nach Hitlers Machtergreifung 1934 verließ. Fünf Jahre später nahm er die britische Staatsbürgerschaft an. 1940 verließ er Europa entgültig. 1942 nahmen er und seine Frau sich in Petropolis/Brasilien das Leben. Kurz zuvor hatte Zweig das Manuskript „Schachnovelle“ an seinen Verleger versendet

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Andreas Höll: Am Ende des Schattens

Inhalt:

Berlin in den Dreißigern. Der britische Korrespondent Segal Dolphin schreibt eine Reportage über ein Berliner Forschungsinstitut, an dem „Rassehygieniker“ die „Eingeborenen“ im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika vermessen. Als ihm eines Abends die geheimnisvolle Dodo Liebermann – deutsche Jüdin, bisexuell, Fotografin und Avantgardekünstlerin – begegnet, wird daraus der Beginn einer aufreibenden Amour fou. Doch er ahnt nicht, dass Dodo von einem undurchsichtigen Mann erpresst wird. Auf ihn trifft dolphin schließlich im Südwesten Afrikas, wo es zum Showdown kommt. (Klappentext)

Rezension:

Längere Zeit ein glückliches Händchen bei der Auswahl der Rezensionsexemplare und auch sonst bei der Lektüre zu haben, bedeutet auch anzuerkennen, dass irgendwann der Bruch kommen muss. Der erfolgt dann um so härter, je länger man vorher lesen konnte, wo man schnell Zugang fand und auf Erzählebene ist dieser Bruch bei mir nun der Debütroman von Andreas Höll „Am Ende des Schattens“.

Dabei ist das Grundgerüst, der historische Stoff und die Anlehnung der Figuren an reale Vorbilder durchaus dazu angetan, über die gesamte Handlung hin zu tragen. Schon alleine die Szenerie eines Berlins zu Beginn der 1930er Jahre birgt für Schreibende ungeheuer viel Material, zu erzählen. Um mit etwas Positiven zu beginnen, dies zumindest beschreibt der Autor so plastisch, dass man sich gleichsam in eine Zeitreise wähnt, auch der gleich zu Beginn eingeführte Hauptprotagonist bietet, mit all den formulierten Ecken und Kanten viel Potenzial für die Entwicklung der Geschichte.

Darauf konzentriert hätte dies ein wunderbares und spannendes Leseerlebnis werden können, doch der Genre-Mix verlangt hier einiges ab, hat Brüche zwischen den Szenewechseln entstehen lassen und zumindest bei mir nicht dafür sorgen können, der Erzählung die notwendige Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen, die sie vielleicht verdient hätte. Ständig hatte ich hier das Gefühl, schon wieder irgendein vielleicht wichtiges Detail überlesen zu haben.

Zudem mangelt es hier an wirklichen Sympathieträgern unter den Figuren. Nicht einmal an die beiden Hauptprotagonisten mag man sich halten. Für mich entstand so leider der Eindruck, dass hier viel gewollt und nicht viele der Gedanken wirklich bis zum Ende hin verfolgt wurden. Gleichzeitig wird hier versucht, Fans verschiedener Genres zu bedienen. Wenn jedoch nicht eine Linie einmal etwas konsequenter verfolgt wird, kann der Funke auch nicht überspringen. Egal, bei wen.

Tatsächlich lesen die letzten Seiten so, wie ich mir den gesamten Roman gewünscht hätte. Ich hoffe nur, dass sich jemand findet, der sich mehr darauf einlassen kann, als ich das konnte. Unter den derzeitigen Eindruck stehend, ist es mir nicht möglich, eine Leseempfehlung zu geben.

Autor:

Andreas Höll studierte Allgemeine Rhetorik, Germanistik und Empirische Kulturwissenschaften in Tübingen sowie an der Stanford University in Kalifornien. Nach Volontariaten beim Ammann Verlag in Zürich und bei RIAS Berlin/Deutschlandradio wurde er Kunstredakteur beim Kulturradio des Mitteldeutschen Rundfunks. Neben zahlreichen Katalogtexten zur zeitgenössischen Kunst erschien 2004 sein Buch »Halbzeiten für die Ewigkeit« im Gustav Kiepenheuer Verlag.

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Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Inhalt:

Erzählt wird die Geschichte des kleinen Balbino, ein Bauernkind aus einem kleinen Dorf in Galicien, das gegen die Ungerechtigkeiten der galegischen Gesellschaft jener Zeit ankämpfen muss: Armut, harte körperliche Arbeit von Kindesbeinen an, fehlende Bildung und Demütigungen durch die Machthaber im Dorf, dabei stets erfüllt von der Sehnsucht nach Erwachsensein, um möglichst bald diesem Ort zu entfliehen. (am Klappentext angelehnt)

Rezension:

Archaisch ist die Welt, in der der kleine Balbino aufwächst. Der Horizont ist nicht weit. Er reicht von der Hütte bis zum Fluss, über die Felder bis zum Dorf. Begrenzt ist der Blick und doch, zumindest bei dem Jungen nicht seinem Schicksal ergebend. Groß möchte er werden, erwachsen, wie seine Eltern, seine Tante, dem Herren, von dem seine Familie Land gepachtet hat, dessen Felder sie bestellen und Vieh sie hüten müssen.

Nur so wird es ihm möglich sein, diesem Leben zu entfliehen, wie es sein Bruder einst tat. Der Armut, der eintönigen Arbeit, den Schlägen der Eltern und der Hänseleien vom Sohn des Herren. Balbino beobachtet seine Umgebung sehr genau. Er notiert sie in ein Heft und nimmt uns dabei mit.

So beginnt die Geschichte, die als einziges von Xose Neira Vilas‘ Werken ins Deutsche übersetzt vorliegt. Sie erzählt von einer längst vergangenen Leben, wie es das in Zeiten, in der die kleine Novelle hierzulande erschien, längst nicht mehr gab. Zumindest in Europa. Der Autor setzte seiner Kindheit und der vieler anderer ein Denkmal. der Junge unbestimmten Alters, kaum im Schulalter, beobachtet mit uneingeschränkten Blick die Welt der Erwachsenen, die aus Kinderaugen heraus eigentlich groß und überwältigend erscheinen müssen. Doch schon in jungen Jahren sieht Balbino die Enge.

„Ein Freund, wenn er wirklich einer ist, ist das Beste, was es auf der Welt gibt.“ – „Freunde zu haben ist mehr wert, als Geld zu besitzen.“ – „Ein Freund gibt dir alles und verlangt nichts; und wenn es sein muss, stirbt er für dich.“ Da merkte ich, dass mir ein Freund fehlte.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Episodenhaft wird die Geschichte aus der Sicht des Kindes beschrieben. Ruhige Töne, kurze prägnante und immer wieder sehr poetische Sätze durchziehen den Text. Kurze Momente des Glücks wechseln mit langen der Melancholie Detailreiche Beschreibungen, da wird ein kleines Kästchen zum Dreh- und Angelpunkt der Sehnsucht des Jungen, welche im nächsten Moment wieder zerstört wird. Balbino aber will sich nicht fügen in sein vorbestimmtes Schicksal, wie das die Erwachsenen tun, und so nimmt die Geschichte ihren Lauf. das Erzähltempo beschleunigt sich mit Zunahme der Kapitelzahl.

Unsere Hände sind klein und schaden niemandem; ihre aber sind kräftig, sie tun weh. Wenn sie bereit wären, von uns zu lernen, gingen sie nicht in den Krieg. Im Krieg töten sie einander, meist, ohne überhaupt zu wissen, warum.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Trotz der feinsinnigen Beobachtungen, die ausführlich geschildert werden, bleiben die anderen Protagonisten gleichsam blass und unscheinbar, sowie der Staub der Feldarbeit in ihren Gesichtern. Was sonst passiert, ist auch egal. Das Kind lebt, hofft und bangt, zittert und weint, schlägt sich durch. Der kleine Hauptprotagonist sticht heraus. Urplötzlich, nach einem Dahinplätschern der Handlung steht man vor einem Wendepunkt, den Abrgund, an dem Balbino sich entscheidet. Halboffen ist das Ende, der Konflikt kaum gelöst. Lesen sollte man das nur, wenn man in der richtigen Stimmung ist, über weite Strecken Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zu ertragen.

Ich habe gelesen, dass die Flüsse ins Meer strömen und dass wir uns ebenso und mit derselben Eile auf den Tod zubewegen. Wenn man darüber nachdenkt, möchte man am liebsten weinen.

Xose Neira Vilas: Tagebuch einer Kindheit in Galicien

Trotzdem, lesenswert ist es allemal. Nicht nur um daran erinnert zu werden, dass es auch in unserer Zeit, vielleicht nicht in Europa aber anderswo, immer noch Kinder gibt, die dergleichen erdulden müssen. Armut sowie so, ein Leben ohne Chance auf Bildung und wenn sie diese sehen, sie diese selbst ergreifen müssen, ohne liebevolle Erwachsene, abhängig von anderen. Auch ist es die Geschichte von Xose Neira Vilas selbst, wie groß der biografische Anteil des Autoren daran ist, wie viel selbst Erlebtes er hat einfließen lassen, ist nicht unbedingt klar. Die „Memorias“ sind ein Denkmal für eine ganze Generation, einer ganzen Region, eingordnet in einem ausführlichen Nachwort.

Wer sie sich zu Gemüte führt, wird Stoff zum Nachdenken haben. In sofern straft sich der erzählende Protagonist am Ende des Einführungskapitels selbst Lügen. Diese Novelle ist schon etwas Besonderes.

Autor:

Xose Neira Vilas wurde 1928 geboren und war ein galegischer Schriftsteller. Nachdem er nach Argentinien auswanderte kam er in Kontakt mit anderen Schriftstellern Galiciens, emigrierte später nach Kuba und gründete dort ein Institut zur Aufbewahrung und Erforschung galegischer Schriften. Er selbst schrieb zahlreiche poetische, und Prosawerke, Essays. Sein Roman „Memorias“ ist bis heute sein einziges Werk, welches ins Deutsche übersetzt wurde. Er starb 2015, nachdem er in seinen Heimatort zurückgekehrt war.

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Andreas Moster: Kleine Paläste

Inhalt:

Mehr als dreißig Jahre haben sich die früheren Nachbarskinder Hanno Holtz und Susanne Dreyer nicht gesehen. Als jugendlicher verließ Hanno die heimatliche Kleinstadt urplötzlich, nun ist er zurückgekehrt, um sich nach dem Tod der Mutter um den Vater zu kümmern. Unsicher streift er durch eine Welt, die im näher und fremder nicht sein könnte. Susanne sieht ihm dabei zu.

Seit Jahrzehnten hat sie das Haus der Familie Holtz nicht aus den Augen gelassen. Als sie Hanno ihre hilfe anbietet, treffen Erinnerungen an ein Fest im Sommer 1986 aufeinander. Niemand blieb damals unversehrt – und niemand kann nun verhindern, dass immer mehr Licht durch die Risse der kleinen Paläste dringt. (Klappentext)

Rezension:

Das Haus herausgeputzt, den Sohn vor versammelter Nachbarschaft dazu angetrieben, sein Instrumentenspiel vorzuführen. Schiefe Töne, schiefe Blicke. Des Nachbarsmädchens und der Nachbarn, jene Gemeinschaft, die sich allesamt näher sind als sie glauben und doch wie Geier einander umkreisen. Nur keine Schwäche zeigen. Nur die Fassade wahren. Keinen Blick dahinter zulassen.

Der Übersetzer und Schriftsteller Andreas Moster hat sie geschrieben, diese Erzählung, die nach und nach unter die Haut geht, niemanden unberührt lässt. Es ist ein leiser Roman, zumindest zu Beginn beinahe unscheinbar. Langsam ist das Erzähltempo, doch schon die ersten Kapitel fordern die Lesenden heraus.

Perspektiven wechseln ebenso abrupt, wie Zeitebenen, ohne dass dies besonders gekennzeichnet wäre. Nur in der Draufsicht bemerkt man, wer wen beobachtet. Erinnerungen werden aus der Sicht der Protagonisten, alles kreist um die beiden Hauptfiguren, die nach und nach das Puzzle der Vergangenheit freisetzen, klarer.

Dieser Gesellschaftsroman zeigt die typische Dynamik einer Kleinstadt auf, in der alle einander zu kennen glauben und doch, einmal aufgedeckt, nichts mehr ist, wie es mal war. Die Fallhöhe der Protagonisten, in die der Autor mit immer schnelleren wechseln, die jedoch allesamt nachvollziehbar bleiben, ist unglaublich hoch.

Die Lesenden beobachten, was über Jahrzehnte zwischen den beiden Hauptfiguren unausgesprochen bleibt. Als würde man direkt in deren Umgebung sein und einem Konflikt beiwohnen, der nur sie etwas angeht. Hölzern, fast linkisch, scheu begegnen sie sich zunächst und spielen sich ein. Ein Team wider Willen und doch willens. Mit inneren ungelöst aufgestauten Konflikten.

Sprachlich ist das so unscheinbar ausgearbeitet, dass einzelne Sätze einem mit einer Wucht überfallen, die man nicht erwartet, die einem nachdenklich werden lassen. Was wäre, wenn Unaussprechliches in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschehen würde?

Was würde passieren? Wie würden Verhältnisse sich neu ordnen? Welche Bindungen wären nicht mehr zu kitten? Was wäre für immer zerstört? Wie hätte man eingreifen, bestimmte Dinge verhindern können? Große Fragen, die Protagonisten beginnen zu Beginn der Geschichte die Verarbeitung.

Jeder Handgriff am pflegebedürftigen Vater Hannos, jeder Handgriff am renovierungsbedürftigen Elternhaus steht symbolisch dafür. Der leise Schrei, der hätte laut sein sollen, aber nie die Chance dazu hatte, so zu werden. Andreas Moster ist das Kunststück gelungen, dies auf Papier zu bringen.

Autor:

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren und ist ein deutscher Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete danach als freier Übersetzer. 2017 erschien sein erster Roman „Wir leben hier, seit wir geboren sind“. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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Janina Hecht: In diesen Sommern

Inhalt:

Behutsam tastet sich Teresa an ihre Kindheit und Jugend heran, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. erste unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen sommersonne.

Doch die unbeschwerten Momente werden immer wieder eingetrübt von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwelt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie – alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Warum sich Erinnerungen vermischen, gute die weniger schönen manchmal überdecken, doch schlechte nicht ganz vergessen werden können, kann sich Teresa nicht erklären. Spielt dies überhaupt eine Rolle, wenn man den Ausgang einer Geschichte kennt? Wie wichtig ist es, nicht nur die gegenteiligen Seiten zu betrachten, sondern auch die Zwischentöne? Janina Hecht beschreibt in ihrem Debüt die Geschichte einer Familie, der sich diese Fragen stellen.

„Manchmal würde ich gerne einer Version meines Vaters vertrauen. Eine Antwort haben auf die Frage, wer er war. Ich lege die Ereignisse wie Schichten aus Transparentpapier und versuche zu erkennen, was durchscheint.

Janina Hecht: In diesen Sommern

Das Zitat beschreibt übrigens sehr gut den Aufbau des Romans.

Die ersten Gedanken an die Kindheit werden beherrscht von schönen Gedanken. Das gemeinsame Bepflanzen von Blumenkästen mit der Mutter, der Vater, der der Tochter das Fahrradfahren lehrt. Das Kind saugt dies alles auf und beobachtet ihre Umgebung, die Eltern und den zwei Jahr jüngeren Bruder. Doch schon zu Beginn mischen sich ernstere Momente unter, die das Schulkind zunächst nicht einordnen kann, doch mit den Jahren werden die Ausfälle des Vaters häufiger. Die Angst verhindert da noch das Auseinanderbrechen.

„Ich merke, wie ich manchmal Momente gegeneinander abwäge. Und mich frage, ob man das überhaupt tun darf. Ob man Szenen ausstreichen kann, die nicht ins Bild passen und für Unruhe sorgen.“

Janina Hecht: In diesen Sommern

Aus Sicht von Teresa wird sehr leise eine Geschichte erzählt, die unscheinbar daherkommt und zunächst nur Andeutungen macht, die ähnlich den beschriebenen Ereignissen immer mehr an Konturen gewinnt, je näher diese der erzählenden jungen Erwachsenen liegen. Nur langsam schält sich das Problem des Vaters heraus und rückt in den Vordergrund. Ein jeder der Anderen muss damit umgehen und tut dies auf eigene Weise. Schnell wird klar, so wie es nicht für alles eine Erklärung gibt, ist die Lösung niemals einfach.

Kompakt erzählt Janina Hecht eine Geschichte, wie sie in ähnlicher Form wohl in vielen Familien vorkommt. Dicht folgen die Kapitel aufeinander. Zwischentöne werden nach und nach durch klare Schilderungen ersetzt. Wer das dann liest, sollte das passende Nervenkostüm besitzen. Es ist ein Roman, bei dem ernsthaft über den Sinn einer Spoilerwarnung diskutiert werden kann.

Der Textauszug, den der Verlag in der Erstauflage statt des Klappentextes druckt, dürfte dies verdeutlichen, gibt jedoch auch einen guten Eindruck vom Erzählstil wieder, der nicht viele Worte benötigt, Geschehen unausgesprochen lassen kann. Trotzdem entstehen sofort Bilder, die nicht so schnell loslassen.

„Mein Vater, wie er ganz ruhig den Tag beginnt, nicht ausgeglichen, aber stabil. Nie schrie er am Beginn des Tages, er ging mit vorsichtigen Schritten, manchmal etwas Weiches in seinem Gesicht. Als hätte sich erst danach etwas verändert, als führten erst der Mittag und der Nachmittag in eine andere Richtung, und an jedem Morgen hätte es die Möglichkeit zu einem anderen Verlauf der Geschichte gegeben, die ich schreibe.“

Janina Hecht: In diesen Sommern

Autorin:

Janina Hecht wurde 1983 geboren und ist eine deutsche Lektorin und Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Psychologie, später Neuere deutsche Literatur und Linguistik, arbeitete in verschiedenen Positionen bei Verlagen. Im Goethe-Institut in Tunis absolvierte sie ein Praktikum. „In diesen Sommern“ ist ihr Debütroman.

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