Juli 2021

Nicolai Boudaghi/Alexander Leschik: Im Bann der AfD

Inhalt:

Sie sind jung, neugierig und hoch motiviert. Über Jahre hinweg engagieren sich Nicolai Boudaghi und Alexander Leschik in der AfD. Schnell steigen sie auf. Dabei stehen sie auf der Seite der gemäßigten. Doch irgendwann müssen sie sich eingestehen, dass der radikale Flügel der Partei nicht zu stoppen ist. In diesem verstörenden Insider-Bericht schildern sie ihre Wege und Fehler in der AfD-Jugendorganisation und der Mutterpartei.

Anhand von Chats, Sitzungsprotokollen und vertraulicher Untelagen geben sie einen Einblick in die rechte Partei, deren Weg und wie Spitzenfunktionäre diesen beurteilen, sowie einen Ausblick auf das Kommende. (abgewandelter Klappentext)

Rezension:

Vor Gründung der AfD hielt man eine Partei von derartiger Ausrichtung kaum für möglich und dauerhaft erfolgreich in Deutschland, doch ist diese seit 2013 in sämtliche Landesparlamente und schließlich in den Deutschen Bundestag eingezogen. Eine Alternative zur etablierten Politik wollten ihre Gründer einst schaffen, vieles anders oder besser machen. Seit dem hat sich viel verändert. Mit zunehmenden Erfolg veränderte sich, zunächst schleichend die Zusammensetzung der Mitglieder, mit ihnen die Tonalität innerhalb der Partei und schließlich den Parlamenten. Heute ist die AfD kaum mehr wiederzuerkennen, geben extreme Kräfte den Ton an.

Wie konnte es dazu kommen? Die Autoren Alexander Leschik und Nicolai Boudaghi zeichnen ihren Weg nach, von den zunächst politikinteressierten Jugendlichen, die sie waren, hin zu engagierten mitgliedern, die nach und nach mit ansehen mussten, wie die vernetzte Rechte nach und nach ihre Partei in eine Richtung dreht, die heute nur mehr als gefährlich und abstoßend zu bezeichnen ist.

Welche Position nahmen sie dazu ein, welche Fehler machten sie und wo eigentlich liegt der Kipppunkt in der bisherigen Geschichte einer Partei, die in Gefahr läuft als Gesamtes vom Verfassungsschutz unter Beobachtung gestellt zu werden, deren Landesverbände zerstritten sind und schon mehrere Metamorphosen hinter sich hat, im Laufe derer nur immer noch radikalere Mitglieder die Zügel an sich gerissen haben.

Ungeschönt erzählen die beiden Autoren von Parteiveranstaltungen und Versammlungen, zitieren aus Chatgruppen und internen Dokumenten, wie rechte Netzwerker im Laufe der Jahre immer mehr den Ton vorgaben, von Taschenspielertricks, die die AfD den etablierten Parteien vorwirft, jedoch selbst bis auf die Spitze treibt und von psychologischer Kriegsführung und Tauziehen um Machtpositionen innerhalb der Parteiebenen, welches irgendwann auch die letzten gemäßigten Mitglieder vertreiben oder mit in den Abrgund reißen wird.

Die Autoren zeigen ihren Weg in der Partei auf, verdeutlichen Beweggründe von Beitritt bis zum Austritt aus der AfD, verdeutlichen Kipppunkte, ihre eigenen Fehler und auch, weshalb sich die AfD so schnell radikalisiert hat. Anhand von Chatprotokollen und internen Dokumenten, Zitaten aus der Führungsebene zeigen Boudaghi und Leschik wie die Partei in ihrem Inneren funktioniert, wie sehr sich Innen- und Außenwirkung unterscheiden. Wie radikal ist die AfD heute, whin wird dieser Weg führen? Wer sind die bestimmenden Personen in der Partei heute? Haben die demokratischen Parteien dagegen eine Chance? Wie sieht diese aus?

Das alles ließt sich schwergängig. Man blättert durch die Seiten mit offenen Mund, erlebt die Zeit seit 2013 im Schnelldurchlauf, in der eine Unerhörtheit der nächsten Absurdität folgt. Zu oft kann man nicht fassen, was da in und zwischen den Zeilen steht. Und, Boughadi und Leschik? Ja, es ist wieder ein Buch von Aussteigern und natürlich mit einer gewissen Intension geschrieben, die man beiden jedoch auch abnimmt, zumal wenn man das Verhalten von Abgeordneten der AfD, deren Aussagen betrachtet und all jenen Verknüpfungen, die es in andere radikale Netzwerke hinein gibt, zudem jene Ereignisse vor Augen führt, auf die gewisse Reaktionen folgten.

Dieses Buch dürfte hoffentlich, ja es muss hohe Wellen schlagen. Unbedingt.

TV-Interview Kontraste:

Interview Tim Gabel:

(Interviews, wie auf der Verlagsseite eingebunden)

Autoren:

Nicolai Boudaghi wurde 1991 geboren und trat 2013 der AfD bei. Er arbeitetet im Vorstand des Bezirksverbands Düsseldorf und arbeitete für die Partei im Landtag, sowie in der Nachwuchsorganisation „Junge Alternative“ als stellvertretender Bundesvorsitzender. Er studierte Sozialwissenschaften und trat 2020 aus der AfD aus.

Alexander Leschik wurde 2000 geboren und schloss sich mit 15 Jahren der AfD-Nachwuchsorganisation an, bewährte sich als Vize-Kreissprecher in Münster und wurde 2021 in die Arbeitsgruppe Verfassungsschutz vom Bundesvorstand berufen. Er studiert Rechtswissenschaften und verließ 2021 die AfD.

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Edgar Rai: Ascona

Inhalt:
Zu Beginn der Dreißiger Jahre steht Erich Maria Remarque im Zenit seines Erfolgs. Doch als der von allen gefeierte Schriftsteller vor den Nationalsozialisten ins Exil am Lago Maggiore fliehen muss, stürzen ihn die politischen Ereignisse in tiefe Ratlosigkeit. Auch mit seinem neuen Roman gerät er in eine Sackgasse. Auf einer Odyssee durch Europa sucht er nach Auswegen – und wählt den riskantesten. (Klappentext)

Rezension:
Ein verschlafenes Nest an der Grenze zu Italien wird für eine lose Gruppe von Künstlern zum Zufluchtsort vor den Häschern in ihrer eigentlichen Heimat. Ernst Toller flüchtete sich an den Lago Maggiore, ebenso die Dichterin Else Lasker-Schüler und viele andere.

Der Berühmteste unter ihnen, der dort Schutz vor den Nationalsozialisten suchte, war der Schriftsteller Erich Maria Remarque, dessen Roman „Im Westen nichts Neues“, ihm 1929 berühmt machte und von den neuen Machthabern bald darauf verbrannt wurde. Er ist der Hauptprotagonist von Edgar Rais‘ historischen Roman „Ascona“, der die flirrende Atmosphäre zwischen den ins Exil getriebenen spüren lässt und die Spuren Remarques in seiner Lebens- und Schaffenskrise verfolgt.

Bildgewaltig beginnt der Roman mit einem Knall und einem Erzähltempo, welches einen schnellen Ortswechsel für den Hauptprotagonisten zu folge hat. Dies behält Rai die gesamte Erzählung über durch und zeigt einen Künstler, der es, im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern vergleichsweise gut getroffen hat.

Abgesehen von seiner Heimat verkauften sich seine Bücher weiter im Ausland, auch hatte er dort ein Anwesen zur Verfügung und Verbindungen, die ihm halt gaben. So liegt der Fokus des Autoren hier auf den Schaffensprozess zu einem Roman, den der gefeierte Schriftsteller von den Ereignissen der Zeit überholt sah. Dieses Ringen um den Erzählstoff und auf einer anderen Ebene Remarques mit sich selbst, setzt Rai sprachlich wunderbar in Szene.

Der Roman lag vor ihm wie ein ausgenommener Hecht, die Eingeweide über den Tisch verteilt. Jetzt galt es festzustellen, welche von ihnen noch brauchbar und welche bereits verdorben waren, die Filets von den Flossen zu trennen, den Schwanz wegzuwerfen, den Kopf auszukochen und sorgsam die Gräten zu entfernen.“

Edgar Rai: Ascona

Gleichnisse, wie diese, durchziehen die Handlung und verdeutlichen die Perspektive des Protagonisten, sowie seine genaue Beobachtungsgabe. Beim Lesen fühlt man sich indes als danebenstehend, als würde man bei Remarque persönlich zu Gast sein und eingenommen von den Figuren, die Rai einen versuchten Alltag leben lässt. Wie ist das möglich, wird man unweigerlich fragen, wenn von einem auf den anderen Tag alle Gewissheiten gekippt werden?

Dies schafft der Autor zu verdeutlichen, ebenso wie die Protagonisten mit Ecken und Kanten versehen sind. Selbst der Hauptprotagonist hat Schattenseiten, die diesen ehrlicher wirken lassen und greifbar machen.

Man muss kein Kenner der Materie sein, sich zuvor weder mit Remarque noch seinen Werken oder die Biografien der anderen Exilanten beschäftigt haben, um der Erzählung folgen zu können. Wer liest, taucht ein und verfolgt diese tragischen Schicksale, die jede ihren eigenen Weg suchen, um mit den Ereignissen fertig zu werden. Das funktioniert, da auch hinter diesem Roman eine Rechercheleistung steckt, die man jeder Zeile ansieht.

Der Ausgang der Geschichte ist bekannt. Die letzten Kapitel zeigen den Beginn eines neuen Lebens, wobei der eigentliche Roman beendet ist. Gefühlt ist dies Stoff für ein eigenständiges Werk und fügt sich nicht ganz so organisch an, wie die vorherigen Abschnitte. Das soll jedoch nicht schwer ins Gewicht fallen und ist überdies eigenes Empfinden. Was bleibt ist ein in Romanform geschriebenes zeithistorisches Porträt, mit dem Rai einer weiteren fast vergessenen Episode ein kleines Denkmal geschaffen hat. Und das ist doch auch ganz schön, oder?

Autor:
Edgar Rai wurde 1967 geboren und ist ein deutscher Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Musikwissenschaften und Anglistik, bevor er seit 2012 Mitarbeiter einer literarischen Buchhandlung in Berlin wurde. Unter Pseudonym und unter eigenem namen schrieb er verschiedene Romane, lehrte von 2003-2008 an der FU Berlin Kreatives Schreiben. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Sir Walter Scott: Chrystal Croftangrys Geschichte

Inhalt:

Chrystal Croftangry versucht am Ende seines Lebens es zum Schriftsteller zu bringen, nachdem er einst reich, dann verarmt, sich aus dieser Armut mühsam herausgekämpft hat. Er berichtet von Freud und Leid des Erzählens, von der Begeisterung der Welt der Stoffe und Geschichten. Hoffen und Bangen eines angehenden Schriftstellers, verbunden mit Witz und Ironie. Sir Walter Scott schuf mit den Protagonisten seinen alten Ego und setzte sich und seinem Leben mit diesem Werk selbst ein Denkmal. (abgewandelte Inhaltsangabe)

Rezension:

Bis auf wenige Werke ist das Schaffen Walter Scotts hierzulande fast vergessen. Nur wenige würden einem spontan einfallen und das auch nur, wer sich wirklich intensiv auseinandersetzt. „Ivanhoe“ vielleicht, könnte als erste Erzählung genannt werden, danach aber wird es schon schwierig. Im englischsprachigen Raum mag das anders aussehen, was aber als gesichert gelten kann, dass der zu seinen Lebzeiten durchaus auch hier bekannte Schriftsteller das Bild Schottlands in der Welt geprägt hat und bei Gelehrten wie Goethe Anklang fand.

Als einer der Begründer des historischen Romans schuf er Vorlagen, die noch heute Grundlage für zahlreiche Theaterstücke, Opern und Filme sind, aber vor allem zahlreiche Werke, die eng mit der Geschichte Englands und Schottlands verbunden sind. Auch seinem Leben und Werken setzte er ein Denkmal in Erzählform. Dieses liegt nun, neu übersetzt von Michael Klein, vor.

Hauptprotagonist ist der verarmte Adel Chrystal Croftangry, der das Vermögen seiner altehrwürdigen Familie durchgebracht hat und sich nur langsam, mit Hilfe einiger Weniger, aus den Sumpf ziehen kann, mit ein wenig Glück wieder Fuß fasst und dann beginnt Erzählstoff zu sammeln, mit dem Ziel ein eigenes Buch zu veröffentlichen. Nebenbei erzählt er selbst im Verlauf der Handlung aus seinem Leben, so dass wir hier ein Roman in Roman in Roman lesen dürfen. Zahlreiche Anspielungen auf die schottische Geschichte inbegriffen.

Ebene Eins ist die Rahmenhandlung, in der Walter Scott sich mit dem Hauptprotagonisten eine Figur alten Egos schuf und so diese praktisch im Autoren selbst übergeht, Ebene Zwei ist die Einbindung und Abwandlung schottischer Geschichte und Legenden, die widerum selbst eigenständig gelesen werden können und wen das noch nicht zu chaotisch wirkt, kann nebenbei auch über die Tragik Walter Scotts etwas erfahren, die in seinen letzten Schaffensjahren ihren Höhepunkt fand.

Das ist viel zu viel, zumindest für die heutige Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne kaum mehr in den Raum zwischen Wand und Tapete passt. Unterschiedliche Erzähltempo und Stile fügen sich nicht zu einem harmonischen Ganzen, abrupte Übergänge erschweren das Lesen. Kaum zu glauben, dass das damals funktioniert hat.

Über manche Literatur legt sich mit der Zeit jedoch zurecht ein Mantel des Vergessens. Vielleicht ist dieses Werk eher als Beispiel für das Studium der Geschichte englischer Literatur geeignet, denn als Historien-Schmöker funktioniert es nicht. Zu viele Themen werden auf so wenigen Seiten aufgegriffen, kaum ausgeführt, zudem wirkt die Ausschmückung der tatsächlichen Geschichte doch sehr gewollt.

Positiv ist genau eine Erzählung innerhalb der Erzählung hervorzuheben. Das reicht nicht.

Autor:

Walter Scott wurde 1771 in Edinbirgh geboren und war ein schottischer Schriftsteller, Dichter, Verleger und Literaturkritiker und gilt als traditioneller Begründer des Geschichtsromans. Viele seiner Werke dienen bis heute als Grundlage für Schauspiele, Opern und Filme. er prägte das Bild der öffentlichen Wahrnehmung Schottland und war einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit.. Er starb 1832 in Abbotsford.

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Alice Piciocchi/Andrea Angeli: Kiribati

Inhalt:

Die kleine Inselwelt Kiribati – 1777 von James Cook zwischen Australien und Hawaii entdeckt – versinkt infolge des Klimawandels allmählich im weiten Blau des Pazifischen Ozeans. Mit einem reich illustrierten Reisetagebuch wollen Alice Piciocchi und Andrea Angeli diese Welt ein Stück weit bewahren.

Hier sind Familien seit Generationen zu Hause, werden alte Traditionen gelebt und sind magische Rituale genauso Teil des alltags wie Satellitenfernsehen und das Internet. Das Buch erzählt von einer Reise ans andere Ende der Welt, ist ein buntes Mosaik aus Anekdoten und Erlebnissen, aufwendig gestalteten Karten, Zeichnungen und Infografiken. Ein Buch, das unsere Sehnsucht weckt und die Hoffnung, dass dieser besondere Ort auch zukünftig bestehen bleibt. (Klappentext)

Rezension:

Mehrere Atolle entlang der Datumsgrenze, die bis zu ihrer Verschiebung den Tag in zwei Teile teilte, bilden eines der letzten Paradiese dieser Erde. Noch leben dort, auf den Inseln des Südseestaates Kiribati, Menschen. Die Frage ist nur, wie lange noch? Die Welt, die einst James Cook entdeckte, zuvor jedoch bereits tausende Jahre besiedelt war, wird untergehen. Für die Umsiedlung der Bevölkerung gibt es bereits einen Plan der dortigen Regierung.

Kiribati – Eine Inselwelt versinkt im Meer (Andrea Angeli)

Doch, wie leben die Menschen dort auf den Inseln, von denen keine eine höhere erhebung hat als fünf Meter über den Meeresspiegel? Mit welchen Problemen haben sie bereits heute zu kämpfen? Was bedeutet es, isoliert und doch verbunden zu sein? Die Autorinnen Alice Piciocchi und Andrea Angeli haben eine Reise um den halben Erdball unternommen, um dies zu ergründen. Herausgekommen dabei ist ein besonderer Bericht über eine entschwindende Welt.

Der besteht aus Elemeneten verschiedener Genre. Beinahe Graphic Novel, nicht ganz Lexikon mit Elementen einer statistischen Sammlung, natürlich Reisebericht findet alle Lesenden etwas, was sie faszinieren wird. Kapitelweise werden die unterschiedlichen Fascetten des Insellebens beleuchtet, aufgelockert durch großflächige Grafiken und liebevollen Zeichnungen. Jeder beobachtung, jedem Atoll setzen die Autorinnen damit ein Denkmal und schaffen es, ohne mahnenden Zeigefinger zu beschreiben, was wir zu verlieren drohen, wenn wir nicht aufpassen.

Dabei befinden sich Piciocchi und Angeli nicht permament im Krisenmodus. Viel Zeit haben sich die beiden genommen, wenn es um die Traditionen, Flora und Faune etwa geht. Neben den Problemen wird vor allem die Schönheit und Verletzlichkeit Kiribatis in den Vordergrund gestellt. Ein Glossar der wichtigsten begriffe ergänzt dieses Werk, zudem ein Zeitstrahl um die historische Komponente. Vielleicht ist dieses Buch so, wie der Inselstaat selbst. Vielfältig, geheimnisvoll und einzigartig.

Vom Gestalterischen hat das Werk ebenso viel Wert, wie von den Informationen her, die man diesem entnehmen kann. Fortwährend kann man das lesen, ebenso umblättern, zurück schauen, innehalten, überfliegen. Zeit wird auf den Inseln Kiribatis in gewissen sinne mit anderen Maßstäben gemessen. Gleiches gilt für dieses Buch.

Autorinnen:

Andrea Angeli wurde 1984 in Brescia geboren und ist ein italienischer architekt. Seit Studium absolvierte er in Mailand, bevor er über verschiedene Stationen schließlich im Verlagswesen landete. Im Zeichnen entdeckte er das Konstruieren von Geschichten.

Alice Piciocchi wurde 1985 in Mailand geboren und studierte zunächst Industriedesign, bevor sie zu Architektur und Design verschiedene Forschungsarbeiten verfasste. Schon früh entwickelte sie eine Begeisterung für Landkarten und studierte schließlich Geografie. Ihre Beiträge erscheinen regeömäßig in diversen italienischen Zeitungen und Magazinen

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Kurzblick: Fall eines Kritikers

In den Fluten der Berichterstattung geht derzeit zurecht eine Diskussion unter, die zunächst hintenan gestellt werden musste. Zu erschütternd sind gerade die Bilder aus dem Westen der Republik, zu erschreckend die Nachrichtenlage, in der es um verlorenes Hab und Gut, zerstörte Existenzen, tote und vermisste Personen geht und einer Großwetterlage, in der mehr denn je die Unfähigkeit eines Kanzlerkandidaten zu Tage tritt. Damit muss und sollte man sich beschäftigen.

Nichts desto trotz ist ein anderer Aufreger aktuell auch erschütternd. Der Kritiker Denis Scheck stellt in mehreren Videos eine Art Anti-Kanon der Literatur vor und empört damit einmal mehr.

Am Anfang stand ein Video zum wohl größten Machwerk der Geschichte. Denis Scheck spricht über „Mein Kampf“, dem Buch, in dem Adolf Hitler seine Gedanken und kruden Theorien formulierte, dem später grausamste Taten folgten, die Millionen von Menschen das Leben kosteten. Das Video selbst wurde inzwischen vom verantwortlichen Fernsehsender offline genommen, doch die anderen Beiträge sind weiterhin zu sehen.

Denis Scheck spricht da z. B. über ein Buch von Christa Wolf, über Johannes R. Becher, Stefan Fitzek und Stefan George. Andere Videos werden sicher folgen, über AutorInnen, deren Werk der Literaturkritiker quasi gottgleich per Blitze vernichtet, die Scheck aus den Händen schießen und mit denen er seines Erachtens Unlesbares eliminiert.

Nun darf Literatur genau so augenzwinkernd ironisch sein, wie auch bösartigen Spott enthalten, auch muss niemand die Bücher eines Thriller-Bestsellerautoren mögen, aber hier passiert dem SWR, nein, Denis Scheck genau das, was noch vor einigen Jahren Booktubern von den etablierten Medien vorgeworfen wurde. Der Kritiker spricht hier nicht vernünftig gegen Bücher, untermauert nicht, sondern bleibt oberflächlich, erhebt sich gottgleich (Keine andere Assoziation lässt der weiße Anzug Schecks zu.) über AutorIn und Werk. Ein Literaturpapst benötigt kein Argument, so die folgerichtige Aussage. Ein Blitz genügt.

Noch nicht im weißen Anzug, auf der Buchmesse Leipzig 2018 fotografiert. (privates Foto)

Was das ZDF mit dem Format „Filmgorillas“ im Bereich Filmkritik gelingt, in dem sich vier Film-Liebhaber kritisch mit cineastischen Werken auseinandersetzen, gelingt dem SWR hier im Bereich Literatur ganz und gar nicht. Dabei gibt es sie noch, Literaturformate im Fernsehen, die sich wohltuend abheben und in denen es um Bücher geht, nicht primär den Kritiker in Szene setzen. So ist in 3sat etwa vier Mal pro Jahr das Format „Buchzeit“ zu sehen, das Schweizer Fernsehen SRF geht monatlich mit seinem Literaturclub auf Sendung, für Deutsche in der Mediathek des Senders abrufbar.

In beiden Formaten stehen die besprochenen Werke im Vordergrund. Es wird verhältnismäßig ruhig miteinander diskutiert, sich ausgetauscht, für oder gegen ein Werk argumentiert. So funktioniert Kritik und so niveauvoll gibt es das bei vielen Booktubern und Bloggern, die mitnichten nur die Cover in die Kamera halten, sondern sich auch mit Sprache und Wirkung, literarischen Stilmitteln und eben all den Dingen auseinandersetzen, die zu guter Literaturkritik gehören. Dabei sind viele kreative Ideen und Formate zu sehen. Inzwischen täte es Sendern wie dem SWR gut, sich das einmal genauer anzuschauen.

Es reicht eben nicht, Werke per Blitz zu eliminieren, zumal die Assoziation zur Bücherverbrennung trotzdem steht, auch wenn sich der Sender inzwischen zumindest für das „Mein Kampf“-Video entschuldigt hat. Simone Barrientos setzte sich mit Schecks Kritik zu Christa Wolfs Werk „Kassandra“ auseinander, bei DeutschlandFunkKultur ist vom „Kritik-Clown“ (nicht Gott) zu lesen, der Literaturkritiker Jörg Magenau findet deutliche Worte, sowie das Magazin Der Spiegel und ich sehe einmal mehr, dass echte Literaturkritik, die sich wirklich argumentativ mit dem Werk auseinandersetzt, inzwischen woanders stattfindet. Beim SWR kann es nur um bloße Aufmerksamkeit gegangen sein. Substantielle Literaturkritik ist das zumindest nicht.

Zu Göttern in Weiß hatte ich bisher jedoch eine andere Assoziation.

Anmerkungen: Links wurden zum Stand des Veröffentlichungszeitpunktes des Textes geprüft. Der Autor übernimmt dafür keine Haftung und betont überdies, dass dieser Beitrag die eigene sehr subjektive Meinung darstellt und nichts anderes.

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Timo Peters: Couchsailing

Inhalt:

Timo Peters hat kein Boot, so gut wie keine Segelerfahrung und kaum Geld – aber den Traum, auf einem Segelboot den Atlantik zu überqueren: Mit leichtem Gepäck macht er sich auf die Suche nach einem Kapitän, bei dem er anheuern kann. In mehreren Etappen und auf verschiedenen Schiffen geht es über den Ozean – unterwegs erwarten ihn überraschende Herausforderungen, Grenzerfahrungen und wunderliche Begegnungen. Eine unvergessliche Reise, ein unglaubliches Abenteuer! (Klappentext)

Rezension:

Spätestens seit Stephan Orth dürfte vielen der Begriff Couchsourfing geläufig sein, doch funktioniert diese Form des Reisens auch auf hoher See? Ein Platz in einer Koje gegen eine helfende Hand an Bord? Mit nur wenig Segelerfahrung, wenn man diese überhaupt so bezeichnen mag, macht sich Timo Peters auf die Suche, dies herauszufinden. Am Ende steht ein neues Leben, ein großes Abenteuer und ein Bericht über die eigentümliche Welt der Segler.

Kennzeichnend für Reiseberichte sind vor allem ausführliche Schilderungen von Begegnungen und die Beschreibung von Landschaften. Letztere beschränken sich hier zwangsläufig fast nur auf die Hafenanlagen für Segelschiffe und die Boote selbst, stellen diese doch für Wochen die ganze Welt dar. Ansonsten ist man der Natur ausgeliefert, der Willkür von Wind, Wasser und Wetter. Anfangs noch fasziniert davon, schenkt dem der Autor nach einer gewissen Zeit kaum mehr Aufmerksamkeit als er muss.

Gerade nur so viel wird zur Kenntnis genommen, wie es für den Trip über den Atlantik von Nöten ist, um so mehr fokussiert sich Peters auf die Schilderungen der Menschen um ihn herum. Schließlich stelklen diese für Wochen seine einzigen Kontakte dar. Im Notfall ist man aufeinander angewiesen. Aus dem Weg gehen kann man sich nach dem Ablegen ohnehin nicht.

Kurzweilig schreibt Timo Peters von seiner Reise, die ihm unbekannte Sichtweisen auf eine teilweise sehr eigentümliche Welt zeigt. Was macht das mit Einem, wenn man der Natur ausgeliefert ist und Menschen, denen man nie zu vor begegnet ist? Welche Schicksale kreuzen sich in den Anlagen der Marinas? Was treibt die Glücksritter, Abenteuerlustigen, Sportsegler und Sinnsuchende an, für Wochen den schwankenden Boden unter den Füßen zu suchen?

Der Autor erzählt von den kleinen Momenten des Glücks, mehr Augenblicken des Zweifels und auch jenen, in denen man nur noch funktionieren und in Bruchteilen von Sekunden die richtigen Entscheidungen treffen muss. Zu Beginn vielleicht noch etwas blauäugig, an manchen Stellen färbt zudem die rosarote Brille im Nachhinein, findet Peters dann doch immer wieder den Ausgleich, so dass auch Konflikte und Gefahren zur Sprache kommen, auf die er reagieren musste.

Für all jene, die jetzt überlegen, eine solche Reise anzutreten, es ist kein Ratgeber, aber der Autor zeigt, was ein solcher Trip mit einem macht. Wenn man daraus etwas für sich ziehen kann, ist es gut. Für alle anderen bleibt die Erkenntnis, das große Abenteuer auch heute noch möglich sind.

Autor:

Timo Peters lebt und arbeitet als freiberuflicher Journalist für diverse Zeitungen und Magazine in Norwegen. Nebenbei betreibt er den Abenteuerblog »bruderleichtfuss.com« und das Onlinemagazin „Fjordwelten„.

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Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Inhalt:

Ihr letzter Schultag fällt auf den 20. Juli. Am Vortag hat die Deutsche Aktion mit ihrem charismatischen jungen Führer bei der Landtagswahl 37 Prozent bekommen. Im Leistungskurs Geschichte entbrennt unter den Abitureienten und ihrem Lehrer eine hitzige Diskussion. Das Attentat auf Hitler kam am 20. Juli 1944 viel zu spät. Es hätte am 20. Juli 1931 begangen werden müssen. Was ist daraus zu lernen? (Klappentext)

Rezension:

Es gibt durchaus Schreibende im deutschsprachigen Raum, die ein gewisses Gespür für literarische Stoffe haben, wenn sie vor einem liegen, um diese zu etwas Großem, kaum Fassbaren verweben können. Ferdinand von Schirach ist so jemand, der eine tagesaktuelle Frage aufgreift, daraus ein Bühnenstück entwickelt hat, welches zugleich verfilmt wurde und für hohe Aufmerksamkeit und eine um sich greifende debatte gesorgt hatte. Nun zieht der andere große Literat, der ebenso historische mit aktuellen Fragen verbinden kann, nach und stellt seine Leserschaft und später sicher auch Theaterpublikum vor eine Denkaufgabe.

Wenn man es gewusst hätte… Aber es war noch weit weg. Das Strafrecht und das Völkerrecht erlauben kein präventives Zuschlagen. Und der Mut… wenn das Furchtbare weit weg ist, wenn man es zwar schon weiß, aber noch nicht spürt… hat man den Mut zum Handeln nicht erst, wenn man das Furchtbare vor sich hat?

Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Was wäre wenn? Was wäre, hätte man schon 1931 das versucht, was später mehrfach und schließlich 1944 als letztes Zeichen gesehen wurde, nämlich Hitler zu ermorden, der so viel Leid über die Welt gebracht hatte und Unzählige ermorden ließ? Was wäre, hätte man schon früh den Zeichen der Zeit Glauben geschenkt? Was wäre, wenn man die Nationalsozialisten schon damals ernst genommen und daraus Konsequenzen gezogen hätte?

Oder, anders gefragt, wie wäre eine solche Aktion, wie die der Widerständler vom 20. Juli 1944 zu bewerten, gäbe es heute eine ähnliche Situation, in der ein Mann, eine Partei, mit derart düsteren Vorzeichen kurz vor Ergreifung der Mechanismen der Macht stünde? Wäre dann sozusagen ein Präventivschlag gerechtfertigt? Moralisch und überhaupt? Auch, wenn man gar nicht genau benennen könnte, ob die Ziele dieses Mannes, dieser Partei, bis in letzter Konsequenz vollzogen werden würden?

Hättest du den Mut gehabt? Den Mut zu wissen, dass es geschehen muss? Dass es jetzt geschehen muss, damit Jahre später… Und dann den Mut, es zu tun?

Bernahrd Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Der Schriftsteller Bernhard Schlink stellt diese Fragen, seinen Protagonisten, die er in der Form eines Bühnenstücks in Diskussion treten lässt und zieht die Zuhörer, hier bei der vorliegenden Skriptform seine Leserschaft mit hinein ins Gedankenexperiment. Automatisch positioniert man sich, kann gar nicht anders, sieht die Widersprüche, in die sich die Figuren verwickeln.

Anfangs scheint die Fragestellung einfach zu beantworten sein, nach und nach schält sich die Komplexität und das moralische Dilemma heraus. Man ahnt, was in den Köpfen Stauffenbergs oder Goerdelers vorgegangen sein muss, um so shcwerer die Frage auf ein Szenario zu übertragen, was vielleicht nicht eintreten wird, vielleicht aber doch.

Der Autor überlässt es uns, das Urteil zu fällen, gibt uns keine Lösungsmöglichkeiten in die Hände, wobei man genau weiß, worauf Schlink abzielt. Er erhebt jedoch keinen moralischen Zeigefinger, zeigt nur Gedankengänge auf, denen man kaum entkommt. Immer schärfer wird die Tonalität zwischen den Protagonisten, immer schneller und abrupter werden die Wechsel.

Als ich im Krankenhaus war, hatte ich eine Freundin, wir lagen im selben Zimmer. Sie wusste, dass sie sterben würde, und wollte die Bilanz ihres Lebens ziehen. Aber sie belog sich nur immer wieder neu. Ein paar Selbstvorwürfe machen noch keine Lebensbilanz.

Sie sieht den Alten an.

Eine Bilanz wird auf einen Stichtag gezogen, und der Stichtag des Lebens ist der Tod. Nach dem Tod können nur andere die Bilanz ziehen.

Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Wer liest, steht neben den Figuren, befürwortet und verwirft Positionen. Einfach zu lesen ist es vielleicht, einfach zu Durchdenken keinesfalls. Bernhard Schlink hat hier ein Stück geschrieben, welches unbedingt herausfordert. Welches vielleicht wichtig wird. Welches nachwirkt und länger beschäftigt, nachdem die letzte Seite zugegschlagen ist.

Autor:

Bernhard Schlink wurde 1944 geboren und ist ein deutscher Jurist, ehemaliger Hochschullehrer und Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Jura in Heidelberg und Berlin, bevor er an verschiedenen Universitäten als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Nach einem Stipendium in Kalifornien promovierte er 1975 in Heidelberg, wurde 1981 in Freiburg im Breisgau habilitiert.

Von 1982-1991 war er Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn, darauf folgen Stationen wie Frankfurt/Main und Berlin. 1987 wurde er Richter am Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfallen, arbeitet in den Wendejahren am Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR mit. Später war er Mitglied u.a. der Vereinigung für Verfassungsgeschichte.

Sein schriftstellerischer Weg begann 1987, der ihm verschiedene Auszeichnungen einbrachte, zunächst mit Kriminalromanen. Im Jahr 1995 erschien sein erster Nicht-Kriminalroman „Der Vorleser“, der zu einem vielbeachteten Bestseller avancierte, später verfilmt wurde. Weitere Werke folgten. 2009 schenkte er seine literarischen Manunskripte und Korrespondenzen dem Literaturarchiv Marbach. Schlink ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und erhielt 1998 den Hans-Fallada-Preis. Im Jahr 2000 folgte die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft, 2004 das Bundesverdienstkreuz, 1. Klasse. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt.

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