Im November 1519 kommt es zur weltberühmten Begegnung von Hernando Cortes mit dem Aztekenherrscher Moctezuma. Was damals passierte und was danach geschah, ist oft erzählt worden, aber vor allem so, wie die Spanier es uns präsentiert haben. Camilla townsend stellt in ihrem glänzend erzählten, preisgekrönten Buch die faszinierende, vielschichtige Geschichte der Azteken konsequent aus deren eigener Perspektive dar. (Klappentext)
Rezension:
Der Gewinner bestimmt die Sichtweise. So war es für lange Zeit. Doch seit einigen Jahren nimmt die korrigierende Geschichtsschreibung einen immer größeren und gewichtigeren Raum ein. Das ist so in Bezug der Interpretion der Kolonialhistorie Afrikas der Fall, kürzlich auch in Blick auf Tahiti und Polynesiens geschehen. Nur konsequent ist es daher, dass nun auch die eurozentrische Sichtweise auf die Azteken und ihre Kultur korrigiert wird, zumal für das Selbstverständnis ihrer Nachfahren.
Camilla Townsend, ihres Zeichens Historikerin, widmet sich seit langem dieser Aufgabe und hat dazu die Texte studiert, die uns die Indigenen, die sich selbst Mexica nannten, studiert. Nach der Ankunft der Spanier nutzten diese das lateinische Alphabet, um ihre Geschichte in der ihnen eignen Sprache Nahuatl aufzuschreiben. Heute ergibt sich daraus das Portät einer sehr wundersamen und herausfordernden Zeit, sowie ein menschlicheres Bild als das, welches immer noch in unseren Köpfen vorherrschend ist.
Produkt dieser ausgiebigen Recherchen, die nur der Beginn weiterer Forschungsarbeiten sein können, ist das hier vorliegende sehr ausführliche Sachbuch, welches zunächst einen Einblick in das Werden der aztekischen Gesellschaft in der Zeit vor der Entdeckung durch die Europäer gibt, ihr Leben und ihre Kultur darstellt. Entlang eines Zeitstrahls werden dann erste Aufeinandertreffen geschildert, und die Neuordnung der mittelamerikanischen Gesellschaft über die kommenden Jahrhunderte.
Schnell wird klar, die Geschichte der Azteken, sie hat nie geendet. Anhand der in den von den Indigenen verfassten Texten dargestellten Personen, stellt die Autorin einen Wandel dar und zeigt, dass die Indigenen schnell die Unterschiede zwischen den Europäern und sich selbst erkannten, aber auch im Laufe von Generationen Technologien übernahmen und politische Loyalitäten neu ausrichteten, um zu überleben. Dennoch hatten die spanische Konquista und von ihr eingeschleppte, bis dahin unbekannte Krankheiten, verheerende Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Bevölkerung dort und damit auch Einfluss auf das Leben der aztekischen Gesellschaft. Auch dies wird nicht unterschlagen.
Jede Geschichte der azteken muss die erfahrungen eines einst mächtigen Volkes erforschen, das mit einer ungeheuren Katastrophe konfrontiert war und irgendwie überleben musste. Die Konquista war, trotz ihrer Bedeutung, weder ein Beginn noch ein absolutes Ende. Die Azteken lebten jahrhundertelang vor der Katastrophe und sie sind immer noch unter uns.
Camilla Townsend: Fünfte Sonne
Camilla Townsends Schilderungen sind immer dann stark, wenn sie die Perspektive bestimmter Personalbiografien einnimmt und Konfrontations- und Reibungspunkte beschreibt. Nur dort, wo uns die Texte der Mexica kaum oder nur wenig Auskunft geben können oder gar gänzlich lückenhaft sind, greift sie auf die, in manchen Teilen doch tendenziösen Hinterlassenschaften der Europäer zurück, trotzdem verliert sie nicht den Blick und kommt immer wieder sehr schnell darauf zurück, die ursprüngliche Perspektive wieder einzunehmen.
Das liest sich zuweilen ungewohnt, eröffnet jedoch eine neue Facette, die wir künftig mitdenken sollten. Die Mexica waren eben nicht nur die menschenopfernden Krieger, die alle um sie herum lebenden Völker unterdrückten, sie sind auch nicht mit dem Auftauchen der Spanier spurlos verschwunden. Im Gegenteil, es gibt sie heute noch. Über eine Million Menschen können z. B. heute noch ihre sprache verstehen und mitunter sprechen.
Zuweilen ergeben sich bei dieser Art von Darstellung Längen, was nicht nur am Schreibstil liegt, sondern auch aufgrund des durch die intensive Recherche entstandenen Detailgrads, der seines Gleichen sucht. Man muss schon den Willen und die Konzentration für die Lektüre aufbringen, wenn sie gewinnbringend sein soll, doch lohnt sich das, da Townsend auch von sehr vielen spannenden Ereignissen und Momenten dieser Geschichte zu berichten weiß.
Die „Fremdlinge für uns Menschen hier“, rücken während des Lesens aber in jedem Fall näher.
Autorin:
Camilla Townsend wurde 1965 geboren und ist eine US-amerikanische Historikerin und Professorin für Geschichte an der Rutgers University. Zunächst studierte sie am Bryn Mawr College und promovierte an der Rutgers University in vergleichende Geschichte. Von 1995-2006 lehrte sie Geschichte an der Colgate University in Hamiliton, New York und begann sich in die Sprache Nahatl einzuarbeiten.
2010 erhielt sie ein Guggenheim-Stipendium und studierte die historischen Primär- und Sekundäquellen, der in dieser Sprache von den Azteken verfassten Texte und spezialisierte sich damit auf die Historie und Frühgeschichte amerikanischer Ureinwohner, sowie die Geschichte Lateinamerikas. Ihr Sachbuch wurde 2020 mit dem Cundill History Prize ausgezeichnet.
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Inhalt: Franziska Grillmeiers Aufzeichnungen erzählen detailliert und mit großem Einfühlungsvermögen vom Alltag an Europas Grenzen und vergegenwärtigen die systematischen Rechtsbrüche, die dort tagtäglich begangen werden. Ein genauso bewegender wie erschütternder Bericht über jene, deren Ausgrenzung nach ihrer Ankunft in Europa kein Ende nimmt, und über die unmenschliche Realität der Europäischen Union. (Klappentext)
Rezension:
Ein Pushback bezeichnet das unrechtmäßige, gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtenden von Grenzen, die diese versuchen zu überwinden. Alltag inzwischen, an Europas Außengrenze. Insbesondere Griechenland steht bereits seit längerer Zeit in der Kritik, sich solcherlei „Verfahren“ zu bedienen, immer auch dabei in Kauf zu nehmen, Menschenleben aufs Spiel zu setzen.
Erneut wurde kürzlich ein solcher Vorgang dokumentiert. Videoaufnahmen, die der Zeitung The New York Times zugesspielt wurden, zeigen vermummte Personen, die Flüchtlinge aufgreifen, die es bereits von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos geschafft hatten, und mithilfe eines Bootes auf ein Floß im Meer aussetzten, von dem sie später von der türkischen Küstenwache gerettet werden mussten. Dabei ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben, dass alle Flüchtenden ein Recht auf ein geordnetes Asylverfahren haben, zudem natürlich menschenwürdig behandelt werden müssen.
Doch auch das ist auf Lesbos nicht gegeben, wo sich zeitweise eines der größten Lager im Norden der Insel befand. Die Journalistin Franziska Grillmeier dokumentiert die Geschehnisse seit 2018 auf der Insel für verschiedene Zeitungenund erzählt nun anhand von jenen, die sich nicht wehren können, wie die Systematik der Ausgrenzung nach der Flucht erneut Traumata verursacht, wie Recht nahezu täglich gebrochen, auch Journalisten und humanitäre Helfende geblockt und kriminalisiert werden.
Immer mehr Frauen, Männer und Kinder wurden in dieser Zeit in einem eingezäunten Tanker am Hafen von Mytilini gebracht. Am 2. März verweigerte ein dänisches Boot, das im Rahmen der Frontex-Operation Poseidon im Einsatz war, den Befehl der Einsatzleitung. Es sollte 33 gerettete Menschen aus dem Meer in ihr Schlauchboot zurückbringen und aus den griechischen Hoheitsgewässern in türkische Gewässser ziehen. Die Besatzung war der Ansicht, dieser Befehl sei für die Menschen lebensgefährlich, […]. Der Grundstein für die alltägliche Praxis der illegalen Pushbacks war gelegt.
Franziska Grillmeier: Die Insel
„Die Insel“ ist ein erschütternder Bericht über menschliches Leid, welches versucht wird, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen zu halten, ist es doch die Politik, die keine anderen Antworten sucht, als immer neue Wege zu finden, Grenzen noch unüberwindbarer zu machen, als sie es ohnehin schon sind. Es ist ein orchestrierter Ausnahmezustand, der hier beschrieben wird, ein Tanz auf dem Vulkan, aus dessen Folgen beständig fatale Schlüsse gezogen werden. Zu Lasten derer, die einfach nur einen Ort für ein geordnetes und vor allem sicheres Leben suchen, zu Lasten aber auch der Anwohner, die die Wut über die Überforderung der eigenen Politik auf jene projizieren, die am wenigsten dafür können.
Die Journalistin hat über Jahre die unterschiedlichsten Menschen begleitet, die Lesbos mit dem Ziel erreichten, sich ein neues Leben aufzubauen, doch nicht nur, aber vor allem auf der Insel unzählige Steine und erneute Traumatisierungen in den Weg gelegt bekamen. Grillmeier zeigt jedoch auch, dass es immer noch jene gibt, die unermüdlich dagegen ankämpfen, auf lesbos und anderswo, sei es für sich selbst oder für andere, aus einem Mut der Verzweiflung heraus, der in dieser Situation nur bewundernswert genannt werden kann.
Als ich am 22. Juli wieder nach Samos kam, um die Baustelle für das neue Lager von Samos zu besucen, wirkte Choulis noch desillusionierter: „Es wäre ehrlicher zu sagen, die Grenzen sind dicht“, sagte er am Abend in einem Cafe, „und jeder, der versucht, rüberzukommen, auf den schießen wir.“ Das wäre auch nicht schlimmer als das, was im Moment an den Grenzen passierte. So oder so – viele müssten für ihren Versuch, in Sicherheit zu kommen, mit dem Leben bezahlen.
Franziska Grillmeier: Die Insel
Zudem werden Schicksale beschrieben, deren Leid einfach nur erschüttert, wütend macht, auf Entscheidungsträger, die nicht sehen wollen, welche physische und psychische Qualen sie provozieren. Auch wird die Doppelzüngigkeit einer Politik aufgezeigt, die zwischen guten und ungewollten Flüchtlingen unterscheidet, was widerum das Bild um einen anderen Aspekt vervollständigt.
Das wird anfangs von der Autorin selbst noch sehr nüchtern betrachtet, doch je länger sie mit Menschen spricht, um so emotionaler, um so näher ist sie dran am Beschriebenen, was sich auch in der Lektüre widerspiegelt. Man kann dann gar nicht mehr neutral sein, verfolgt wie Grillmeier eine immer unmenschlichere Spirale von Entscheidungen, die die Flüchtlinge betreffen, aber auch sie in ihrer journalistischen Arbeit im Laufe der Zeit immer wieder behinderten. Jedes einzelne Puzzleteil für sich genommen reicht an sich aus, sich zu empören. Fasslungslos liest man Zeile für Zeile. Speiübel wird einem da.
Die Gewalteskalation war das Ergebnis einer europäischen Politik, die keine Vorstellung und keinen Plan hatte, was mit den geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln passieren sollte. Man lies die Sache einfach laufen.
Franziska Grillmeier: Die Insel
Ohne Längen wird hier über das Leben in Moria und nach dessen Brand über die neu errichteten Lager erzählt, die kaum weniger entfernt von dem sein könnten, was man als Gefängnis bezeichnen könnte. Es wird von Menschen berichtet, denen medizinische Hilfe verwehrt wird, die nach ihrer Flucht vom Regen in die Traufe gerieten.
Man möchte dieses in unseren Zeiten unheimlich wichtige Buch sämtlichen europäischen Politikern um die Ohren hauen und zur Pflichtlektüre für all jene werden lassen, die Zahlengrenzen, Zäune, Mauern, Stacheldraht, Überwachungstechnik setzen und offenbar noch nichts von Menschenrechten gehört haben. Bitte, alle dieses Buch lesen.
Autorin:
Franziska Grillmeier wurde 1991 in München geboren und berichtet als freie Journalistin von der griechischen Insel Lesvos (Lesbos) und anderen Grenzorten. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender. Zuletzt war sie Mitglied des Recherchekollektivs zu den neuen Aufnahmelagern „Das neue Moria“ und Teil des Podcasts „Memento Moria“.
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Inhalt: Pablo Picasso (1881-1973) gehört zu den bedeutensten Künstlern des 20. jahrhunderts. Fantasievoll und experiementierfreudig hinterließ er ein atemberaubend umfangreiches OEuvre in nahezu allen Medien. Bis heute fasziniert die stilistische Wandelbarkeit seiner Werke, aber auch deren spannende Verankerung in Picassos Biografie. Souverän und kenntnisreich zeichnet Ina Conzen im vorliegenden Band Leben und Werk dieses Ausnahmekünstlers nach. (Klappentext)
Rezension:
Reduziert auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne wirkt das Wandbild nur auf den ersten Blick als eine wirre Kombinationen aus Formen und Symbolen, doch erschließt es sich nach und nach den Betrachtenden. Es symbolisiert die Schrecken des Krieges und gilt bis heute als bedeutenstes Werk des spanischen Künstlers Pablo Picasso. „Guernica“, welches dieser im Auftrag für die Weltausstellung 1937 unter den Eindrücken des Spanischen Bürgerkriegs anfertigte, ist heute in Madrid zu sehen, doch nicht nur dieses Werk ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Die Konservatorin und Autorin Ina Conzen hat sich auf Spurensuche begegeben. Entstanden ist dabei ein mehr als eindrucksvolles Porträt.
Wer mit relativ wenig Aufwand kompaktes Überblickwissen erlangen möchte ist mit Bänden der vorliegenden Reihe gut bedient. Das gilt für viele Themen, eben auch für die Kunst und so reiht sich nun dieses Bändchen mit ein, in welchem ein bedeutender Ausnahmekünstler beleuchtet wird. Diese Formulierung aus dem Klappentext darf man ruhig wörtlich nehmen, wenn gleich sich die Autorin sehr nüchtern der Biografie und dem Werk Picassos nähert. Sie verfolgt die Spuren dessen, der als Porträtmaler began und später die Grenzen des Künstlerischen Schritt für Schritt erweiterte, sich mitunter selbst zum Objekt seiner Betrachtung machte, von dessen Kindheit an. So gelingt ein eindrucksvoller Rundumblick.
Nicht immer ist das zugänglich. Zwar lockern hier mehrere Bildteile den Text auf, doch sollte man sich zuweilen schon auskennen mit verschiedenen Stilrichtungen der Kunst, die Laien zunächst kaum etwas sagen werden. Was ist das besondere an dem Punkt, wenn Picasso den Bereich des Gegenständlichen verlässt, um ins Surrealistische und Kubistische zu wechseln, um dann später wieder sich einer anderen Form des Gegenständlichen zu widmen? Diesen Zugang muss man sich selbst zusammenrecherchieren. Nicht an jeder Stelle ist hier ein Text für Laien gelungen, wenn man auch mit mehr Wissen aus der lektüre herausgeht, als man eingestiegen ist.
Die Autorin hangelt sich entlang der Perioden künstlerischen Schaffens Picassos, welcher dankenswert die Interpretationen gleich mitgeliefert hat, zuweilen für seine Zeitgenossen unverständlich, die teilweise fassungslos der Tatsache ins Auge sehen mussten, dass für scheinbar einfache Pinselstriche Millionen hingeblättert wurden. Schon zu Lebzeiten war der Künstler mehr als erfolgreich.
Im Privaten unruhig, blieb auch Picassos Kunst immer in Entwicklung. Auch mit den damaligen neuen Medien, der Fotografie, des Films experimentierte er ausgiebig. Auch diesen Aspekt seines Schaffens analysiert die Autorin mit Kennerblick, zeigt jedoch auch, dass Picasso nicht nur von Pinsel, Farbe oder Modellierung etwas verstand, sondern auch von Selbstvermarktung. Alle Aspekte werden in kompakter Form zueinander ins Verhältnis gesetzt, woraus sich ein Gesamtbild für die Lesenden ergibt, welches dazu einlädt die Werke Picassos einmal näher zu betrachten, sich damit zu beschäftigen. Ina Conzen lässt dabei jedoch nicht auch die Widersprüchlichkeiten der Charakterzüge Picassos außer Acht, gibt sich zuweilen kritisch, doch immer auch fasziniert von der Künstlernatur, die für jene, die mit ihm zu tun hatten, nicht immer ganz einfach gewesen sein muss.
Vielleicht ist genau dieser Band nicht unbedingt geeignet, in Leben und Werk Pablo Picassos einzusteigen. Zuvor sollte man zumindest einige von der Anschauung her kennen und vielleicht eine Idee der Grundzüge verschiedener künstlerischer Stile besitzen. Dann kann man sich dieser Lektüre annehmen und sie mit Gewinn sich zu Gemüte führen. Vorher wird man jedoch mehr als einmal über bestimmte Begrifflichkeiten stolpern. Später jedoch ergibt sich ein anderer Blick und dann erschließt sich auch die nüchterne faszination Ina Conzens für Pablo Picasso, der nicht nur mit „Guernica“ ein Werk für die Historie geschaffen hat.
Autorin:
Ina Conzen war bis 2021 Hauptkonservatorin für Kunst der Klassischen Moderne an der Staatsgalerie Stuttgart.
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Sommer 1940. Die deutsche Wehrmacht besetzt das Elsass, aber es gibt Widerstand: In der Straßburger katholischen Pfarrei St. Jean gründen sechs französische Pfadfinderinnen eine Untergrundfluchthilfe für Regimegegner, Juden, Kommunisten, Militärs. Sie erkunden geheime Wege über die Vogesen und retten viele Menschenleben. Bevor die Gestapo sie 1942 aufgreift, bringen sie ungefähr 500 Menschen in Sicherheit. Thomas Seiterich hat sich auf Spurensuche nach diesen beeindruckenden Frauen des Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime begeben und mit den letzten Zeitzeuginnen gesprochen. (Klappentext)
Rezension:
Jenseits der Grenze wird er nun immer häufiger diskutiert, das Gewicht und die Rolle der Frauen in der Resistance, des französischen Widerstands gegen die Deutschen während der Besatzung des Landes im Zweiten Weltkrieg. Deren Wirken war vielfältig, doch auch dort noch vergleichsweise wenig wahrgenommen, spielt er in der hießigen Betrachtung der Historie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.
Der Autor und Soziologe Thomas Seiterich hat sich nun der Thematik angenommen, um dieses beinahe vergessene Stück Geschichte auch einem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Dabei entstanden ist ein umfassendes Porträt sechs beeindruckender Frauen, die mit ihren Taten ihr Leben riskierten, um das anderer zu retten.
Beleuchtet wird die düstere Zeit der deutschen Besatzung des Elsass, zunächst mit den daraus resultierenden Auswirkungen und der Rolle der Kirche in dieser Region, im Gegensatz zum übrigen Frankreich. Der Autor folgt dem Zusammenfinden der Frauen, ebenso den Entschluss, viele Menschenleben durch persönlichen Einsatz zu retten und zeigt auf, wie diese Art des Widerstands auch im Zusammenspiel mit der damals dort lebenden Bevölkerung funktioniert hat.
An manchen Stellen liest sich das zuweilen wie ein Krimi, was die Thematik bedingt, doch verliert der Autor nie seinen fachlichen Blick. Einige Zeilen lassen doch sehr den theologischen Hintergrund von Thomas Seiterich durchscheinen, damit auch seinen Zugang zur Gedankenwelt der von ihm beleuchteten Frauen, doch driftet die Betrachtung nie ins allzu Religiöse ab. Die Gefahr hier eine theologische Abhandlung anhand eines positiven Beispiels sich hier zu Gemüte führen zu müssen, worauf man bei Klappentext und Kurzbiografie durchaus kommen könnte, ist nicht gegeben. Stattdessn ergänzt der Autor unser Geschichtsbild um einen weiteren wichtigen Aspekt gegen das Vergessen.
Nüchterne Absätze oder gar Kapitel erzeugen einige Längen, doch holt der Autor die Lesenden immer wieder zurück, mit einem dann doch sehr kompakten Stil, der wichtiges auf den Punkt bringt. Nur ein relativ überschaubarer Zeitraum wird in diesem Sachbuch besprochen und immer wieder das Handeln der Frauen im Kontext der Geschehnisse eingeordnet. Vorausgegangen sind dem zahlreiche Gespräche mit zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches noch lebenden Zeiitzeugen und Zeitzeuginnen, sowie das durchforsten von Archivmaterial, soweit vorhanden.
Warum wurde bisher noch nicht mehr über diesen Aspekt der, ja auch französisch-deutschen Geschichte gesprochen? Thomas Seiterich würdigt sehr gelungen die Frauen, die so unzählige Menschenleben retteten und dabei am Ende selbst in die Fänge eines mörderischen Regimes gerieten. Man will sich das alles nicht vorstellen, die Beschreibungen lassen jedoch sehr genaue Bilder entstehen von Schauplätzen. Wie ist es, plötzlich vor Stacheldraht einer streng bewachten Grenze zu stehen, im Verhör oder in einer Zelle auf die Vollstreckung eines Todesurteils zu warten, wie das Erkunden neuer Fluchtwege? Diese Beschreibungen werden hier gut transportiert.
An der einen oder anderen Stelle hätte man formulierungstechnisch durchaus vor Veröffentlichung noch feilen dürfen und hoffentlich, vor weiteren Auflagen, noch den einen oder anderen Rechtschreib- und Grammatikfehler ausgebessert. Das hält sich in grenzen und stört nicht so sehr im Lesefluss, wie vielleicht die eine oder andere Länge. Über allem und positiv steht das Aufgreifen eines hier nur selten diskutierten Aspekts der Geschichte und natürlich dem nun gesetzten schriftlichen Denkmal dieser Frauen. Wer also seinen Blick über den sonst üblichen Tellerrand hinaus erweitern möchte, sei die Lektüre dennoch empfohlen.
Autor:
Thomas Seiterich studierte Geschichte, Soziologie und Theologie in Freiburg, Fribourg und Jerusalem, sowie Frankfurt. Er ist Herausgeber der „Frankfurter Hefter“ und war von 1980 bis 2020 Redakteuer der kritisch-linkschristlichen Zeitschrift „Publik Forum“. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Seiterich lebt in Ulm.
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Manche Ferientage der Kindheit sind in meiner Erinnerung sehr sandig. Bewaffnet mit Schaufeln und Förmchen, so sehe ich meine Geschwister und mich, am Meer große Phantasielandschaften aus diesen kleinen Körnern bauen, immer mit dem Hoffen und Bangen verbunden, dass die erdachte Konstruktion aus Burgen, Tunneln und Gräben wenigstens eine Zeit lang der Witterung stand hält. Im ständigen Kampf gegen die Sonne wurden die oberen Sandschichten stets feucht gehalten. Nicht zu sehr zwar, das hätte der Stabilität nicht gut getan, ebenso wie man sein Meisterwerk auch nicht vertrocknen lassen durfte. Wenn der Tag endete, ging man dann glücklich erschöpft, zu weilen müde, auch wenn man sich das als Kind gar nicht gern eingesteht, mit den Eltern ins Hotel, in die Pension, um darauf zu hoffen, dass die Sandburg am nächsten Tag noch genau so prachtvoll vorzufinden ist, wie man sie verlassen hat. Meistens hat das dann natürlich nicht geklappt.
Heute ist der Blog einer meiner Spielwiesen, die ich regelmäßig befülle. Zumeist mit meinen Gedanken zu Gelesenem. Auch hier ist die Konstruktion dessen ganz entscheidend, was mich wie beim Sandburgen-Bau früher auch heute manchmal fluchen lässt. Vor allem, wenn WordPress gedenkt ein Update durchführen zu müssen und dieses mir das Design zerschießt oder Plugins danach nicht mehr funktionieren. Danach sitze ich zumeist mehrere Abende am heimischen Arbeitsplatz und versuche unter dem Verbrauch mehrer Nerven und einiger Tassen Kaffee zu retten und zu richten, was mir möglich ist. Das Gefühl, alle Nullen und Einsen zusammenkleben zu müssen, ohne eine Ahnung zu haben, was man da eigentlich tut, ist nicht gerade erhebend. Lieber schreibe ich, die ganze technische Arbeit, die hier drin steckt, ist ein notwendiges Übel. Dennoch wichtig.
Sollen es andere Beiträge als eine der hier regelmäßig erscheinenden Rezensionen sein, kontrolliere ich deshalb die dafür notwendige Technik doppelt und dreifach. Im Falle eines Interviews bedeutet dies vor allem die Funktion meiner Videokamera zu überprüfen, SD-Karten, Akkus. Funktioniert das Ladegerät? Können Computer, Laptop und Kamera die SD-Karten lesen? Wie nimmt man überhaupt nochmal damit auf? Hört man den Ton gut? Vor Buchmessen und Lesungen gleicht diese Prozedur bei mir zu Hause einem Staatsakt. Nichts soll dem Zufall überlassen werden. Wer braucht schon eine böse Überraschung? Ich jedenfalls nicht.
So habe ich das dann auch gehalten, in den Tagen der vergangenen Buchmesse. Ein Autoren-Interview sollte nämlich an deren Ende stehen und letztlich hier zu lesen sein. Mit Frank Vorpahl wollte ich über dessen Sachbuch „Aufbruch im Licht der Sterne“ sprechen, in dem er von der Cook’schen Expedition und vor allem vom Wirken und der Sichtweise seiner polynesischen Helfer Tupaia, Maheine und Mai berichtet. In seinem Buch lässt Vorpahl diese Unternehmung in einem ganz neuen Licht erscheinen. Darüber und über einige andere Aspekte des Werks sollte es auch in dem Interview gehen, welches hier zu lesen sein sollte.
Das Gespräch fand dann auch statt. Vorher fand sich sogar die Zeit für eine kleinere Testaufnahme, auch zu Hause vorab hat die Technik nicht versagt, ebenso wie sie gerade auch jetzt noch oder eher, wieder, funktioniert. Ich sehe auch das Bild des Kameradisplays vor mir, auf der Messe, den kleinen rot blinkenden Punkt, der eigentlich dafür steht, wenn es heißt: „Aufnahme läuft!“ Nur, offenbar tat sie das nicht oder zumindest nicht so, wie sie es sollte. Das, was eigentlich als Videodatei mir als Grundlage für das niedergeschriebene Interview dienen sollte, ist nirgendwo zu finden. Weder auf dem internen Speicher der Kamera, noch auf irgendeiner meiner zahlreichen SD-Karten, von denen ich aufgrund ihrer Speicherkapazität jedoch nur einige wenige für solche Aktionen benutze.
Lange Rede, gar kein Sinn. Das Interview ist im Nirvana der Technik verschwunden oder gar nicht erst aufgezeichnet wurden, was schade ist. Herstellen lässt sich das so ohne Grundlage nicht mehr, die Spontanität einer Gesprächssituation eben so nicht mehr herbei konstruieren. Dabei war es ein sehr ausführliches und detailliertes Gespräch gewesen, welches eine wunderbare Ergänzung zu der hier auf den Blog erschienen Rezension gewesen wäre. Im Nachhinein eine Art Gedächtnisprotokoll zu nutzen, wage ich lieber nicht. Zu viel ginge dabei verloren.
Und so bleibt dieser Text als Erinnerung und Dank an Frank Vorpahl, den lieben Menschen vom Verlag Galiani Berlin und mich, der sich bitte bis zur nächsten Buchmesse ein vernünftiges Diktiergerät beschafft. Oder gleich einen Kamera- und Tonmenschen der öffentlich-rechtlichen Sender, wenn man schon jemanden interviewen möchte, der sonst auch für diese tätig ist.
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„Als Russland mein Land, die Ukraine, überfiel, flüchteten meine Eltern, mein Hund und ich in einen mir mehr als skurril erscheinenen Bombenschutzkeller. Und weil es dort WLAN gab und die Tage verdammt lange und auch langweilig waren, postete ich Videos, die mein neues Zuhause vorstellen sollten – manche davon gingen dann sogar um die Welt.
Aber meine Geschichte ist eigentlich eine ganz andere: Es ist die eines jungen Mädchens voll mit großen Träumen, das die Welt entdecken wollte und den Krieg für einen schlechten Scherz hielt- Bis zu dem Tag, an dem ich erkennen musste, dass ich mittendrin bin im größten Alptraum meines Lebens.“
Valeria Shashenok
Valeria beschließt, der Welt ihre Heimatstadt Tschernihiw zu zeigen und die wahren Geschichten zu erzählen. Es sind Bilder und Geschichten, die wir uns alle im 21. Jahrhundert mitten in Europa nicht vorstellen konnten und wollten.
Und das Grauen endet nicht einmal mit ihrer Flucht nach Mailand, denn dort angekommen, holen Putins Bomben sie ein und treffen sie mitten ins Herz. (Klappentext)
Rezension:
Wie macht man Außenstehenden begreiflich, was man selbst kaum zu verstehen vermag? Lange Zeit hielt sie es ja selbst kaum für möglich. Gesprochen wurde immer wieder darüber, gedacht haben es viele. Doch irgendwo war da immer die Hoffnung, dass sich die schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheiten sollten. Dennoch, sie taten es. Am 24. Februar 2022 beginnt für die in der Ukraine lebenden Menschen ein wahrer Alptraum. Bomben fallen. Schüsse sind zu hören. Russland versucht sich des Landes zu bemächtigen. Und Valeria, Tochter, junge Frau, dokumentiert das Grauen, was ihren Geburtsort und ihre Heimatstadt Kiew überkommt. Bis sie schließlich sich selbst entschließt, zu fliehen. Doch auch in der Ferne lässt sie das Grauen nicht los.
Gerade in unseren Zeiten ist es wichtig, dass solche Berichte eine große Öffentlichkeit finden, gerade wenn in Zeiten von Fake News aus einem zweifelhaften Weltbild heraus, bestimmte Gruppen auf Propaganda-Züge aufspringen und gar nicht so schnell schauen können, wie sie für sehr krude Zwecke eingespannt und nicht zuletzt gelenkt werden. Am Eindrücklichsten gelingt das, wenn man vom Unmittelbaren erzählt, die Auswirkungen auf einem selbst versucht zu verdeutlichen. Genau dies versucht Valeria Shashenok mit Videos und Bildern, die sie von Beginn des Kriegs gegen die Ukraine in den sozialen Netzwerken postet. Diese Schnipsel hat sie nun versucht, zusammenzusetzen. Entstanden ist dieser nahegehende Bericht.
Es ist eine Art Tagebuch, welches hier vorgelegt wird. Nicht in großen Worten wird hier beschrieben, die Autorin, so hat man beim Lesen das Gefühl, hat noch während des Schreibens versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Voller Emotionen, erschüttert natürlich über das Erlebte, schildert sie von der Zeit des Krieges und ihrer Flucht, aber auch von den Tragödien, die sie einholen werden, als sie sich bereits im sicheren Italien befindet. Wir können hier die Zeilen einer jungen Frau voller Träume lesen, die gerade noch zu Beginn eher irritiert beobachtet, versucht einzuordnen und eigentlich immer noch nicht fassen kann, was da gerade passiert. Mit ihr, ihrer Umgebung, den Menschen, die sie liebt. Allein auf dieser Ebene ist es gut, dass Shashenok dies dokumentiert, was man auch als Versuch einer Verarbeitung und Einordnung lesen kann.
Sprachlich wirkt das leider wie ein besserer Schulaufsatz, mehr nicht, wie ich an anderer Stelle in einer Rezension lesen musste. Dem kann ich nicht widersprechen. Das ist zuweilen recht anstrengend, an anderer Stelle liest sich das fast belanglos, was schade ist. Schließlich hat der Text seine Berechtigung und natürlich auch Relevanz, da ist dann dieser Abstrich, den man an der Stelle hinnehmen muss, unschön. Hier funktioniert es nicht Erwartungsmanagement und Relevanz in Übereinklang zu bringen. Vielleicht wirkt der Text noch mehr, wenn man die Instagram-Posts und Tiktoks dazu beachtet. Fotos zumindest gibt es ein paar. Doch reicht das leider nicht, um den Bericht, der hier in einer Art Tagebuchform vorliegt, vollständig abzurunden.
Eventuell liest sich das jedoch in ein paar Jahren anders. Das vermag ich nicht auszuschließen.
Autorin:
Valeria Shashenok wurde 2002 im Norden der Ukraine geboren und arbeitet als freiberufliche Fotografin. Den Angriff und ihre Flucht aus der Ukraine dokumentierte sie in den sozialen Netzwerken, worauf weltweit Medien auf sie aufmerksam wurden. Sie gab mehrere Interviews und damit den Menschen aus der Ukraine eine Stimme und ein Gesicht.
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Ein Polit-Skandal erschüttert Berlin: In einem geleakten Video ist zu sehen, wie Bausenator Dieter Möller schmutzige Immobiliendeals mit einem russischen Oligarschen aushandelt – auch der Vater von Strafverteidiger Rocco Eberhadt soll darin verwickelt sein.
Als der für das Video verantwortliche Tontechniker auf dem Seziertisch von Rechtsmediziner Dr. Justus jarmer landet, lautet die Anklage gegen Möller plötzlich auf Mord. In die Enge getrieben, bittet er Rocco um Hilfe und beteuert seine Unschuld.
Doch die ermittelnde Kommissarin findet immer mehr Beweise gegen den Bausenator, und Rocco muss sich fragen, ob sein Vater einen Mörder deckt … (Inhalt lt. Verlag)
Rezension:
Ein Treffen in den Hinterzimmern der Macht, eine heimliche Aufnahme und ein anonym weitergereichtes Video. Es gab Zeiten, da hat schon viel weniger auch große Politiker zu Fall gebracht und in sofern haben die Autoren, der Rechtsmediziner Michael Tsokos und der ehemalige Strafverteidiger Florian Schwiecker auch das Rad nicht neu erfunden, dennoch liegt mit „Die letzte Lügnerin“ nun ein weiterer spannender Justiz- und Politkrimi vor.
Im dritten Band um Rechtsmediziner Justus Jarmer und Strafverteidiger Rocco Eberhardt entführen uns die Schreibenden in die Abgründe kommunalpolitischen Geschehens, welche sich zu einem handfesten Skandal auswachsen. Das Ausgangsszenario, siehe oben, ist klar gezeichnet. Ein Gespräch hinter verschlossenen Türen, welches den Beteiligten um die Ohren fliegt und mehr als nur einen Stein ins Rollen bringt.
Auch ohne Vorkenntnisse der voranstehenden Bände findet man schnell den Einstieg in die Geschichte, derer beider Hauptprotagonisten klar umrissen sind. Dabei wirkt die Figur des Dr. Justus Jarmer nahezu blütenweiß, während die Eberhardts schon zu Beginn Ecken und Kanten aufweist. Das muss auch so sein, schließlich muss sich der Strafverteidiger erneut auch mit seinem Vater auseinander setzen, ohne zu wissen, welche Kreise dies ziehen wird.
Mit Hilfe einer dichten Taktung in der Erzählfolge wird, immerhin nicht ganz so blutig, die Handlung sehr rasant vorangebracht. Ein steter Perspektivwechsel und kurz hintereinander weg folgende Kapitel tun ihr übrigens, um die Dynamik zu verschärfen.
Im Gegensatz zu anderen Werken aus der Feder Michael Tsokos‘ liegt hier der Fokus ganz klar auf die Erarbeitung des Falls im Gerichtssaal, in dem die Szenarien erarbeitet werden und die Figuren an Profil bekommen. Zu Beginn spielen die Autoren hier mit dem Gegensatz der um die beiden Hauptprotagonisten platzierten Figuren, welcher im Verlauf immer mehr und deutlichere Risse bekommt.
Der geübt Lesende ahnt eventuell sehr schnell des Rätsels Lösung, doch tut dies der spannungsgeladenen Atmosphäre keinen Abbruch. Die eine oder andere Länge im Erzählstrang, dessen einzelne Fäden nie aus den Augen verloren werden, fällt da nicht weiter ins Gewicht.
In sich schlüssig und ohne große Logikfehler ist die sehr kompakt wirkende Erzählung aufgebaut, die vielleicht sprachlich nichts Besonderes hergibt, aber sehr gut unterhält und ohne Splatter-Effekt auskommt. Tatsächlich aber wird man sich bei dem Gedanken erwischen, dass es genau so läuft in der hauptstädtischen Politik, ohne jedoch Zeile für Zeile eine Provinz-Schreibe ertragen zu müssen. Trotzdem kann man sich auch diesen, wie die anderen Bände zuvor sehr gut als Verfilmung vorstellen. So einprägsam sind Örtlichkeiten beschrieben.
Es ist spannend, Eberhardt und Jarmer auf ihrer Spurensuche zu begleiten, zudem auch diese beiden positiv besetzten Protagonisten in ihren Charaktereigenschaften doch gegensätzlich ausgestaltet wurden. Dem Text merkt man an, wo die Sachkenntnis welchem der beiden Autoren eingeflossen ist, was der Erzählung gut tut.
Wer einfach nur gut unterhalten werden möchte, ohne große Ansprüche einer Handlung folgen will, die spannend ist, jedoch ohne wirkliche Effekthascherei auskommt, ist auch mit diesem Band, den man unabhängig von den Vorgängern lesen kann, bedient.
Der gerichtsmedizinische Anteil ist dabei gering gehalten. Blut fließt also nicht allzu viel. Vor allem die Gerichtsszenen, wahrscheinlich das, was im Deutschen am wahrscheinlichsten an einem Grisham herankommt, sind es, die „Die letzte Lügnerin“ zu einer über Strecken durchaus in den Bann ziehenden Lektüre machen.
Damit ist dann auch das Trio perfekt. Gegen einen weiteren Band wäre dennoch nichts einzuwenden. Im Zusammenspiel mit den beiden Protagonisten könnte man noch so einige Geschichten erzählen.
Autoren:
Michael Tsokos wurde 1967 in Kiel geboren und ist ein deutscher Rechtsmediziner und Professor an der Charite Berlin. Seit 2007 leitet er dort das Institut für Rechtsmedizin und das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin-Moabit. Zudem ist er als Autor von Sachbüchern und Thrillern, oft in Kombination mit anderen Autoren tätig.Seit 2014 engagiert er sich als Botschafter des Deutschen Kindervereins.
Florian Schwiecker wurde 1972 in Kiel geboren und ist vom Beruf Strafverteidiger. 2017 erschien sein erster Thriller. Für eine Zeitung schreibt er regelmäßig eine Thriller-Kolumne.
Der Autor lebt in Berlin.
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Wenn wir über Staub sprechen, dann gibt es meist ein Problem: Hausstaub löst Allergien aus, Feinstaub belastet die Stadtluft, Aerosole transportieren gefährliche Viren. Doch die kleinen Teilchen können noch viel mehr: Staubböden sind sehr fruchtbar, der Amazonasregenwald ist auf die Düngung durch Saharastaub angewiesen und ohne Staub in der Luft wäre es um einiges finsterer auf der Erde, da er das Sonnenlicht in die entlegensten Winkel spiegelt. Auch meteorologische Phänomene wie Regen oder Schnee könnte es ohne kleine Partikel in der Luft nicht geben – was wäre als unser Leben ohne Staub?
Klug, witzig und eloquent berichtet der Chemiker und Philosoph Jens Stoetgen von den nützlichen Quälgeistern, die uns täglich umgeben – ein ganz besonderes Lesevergnügen. (Klappentext)
Rezension:
Die Evolutionsgeschichte des Menschen ist zugleich die kleinster gemeinsamer Teilchen. Schon die ersten Menschen haben ihn beobachten können, wenn ein klarer Sonnenstrahl in dunkle Höhleneingänge fiel. Mit Beginn der Nutzung des Feuers hat auch der Staub eine immer rasantere Entwicklung genommen. In der Masse wurde er seither immer mehr. Verschwinden lassen wird uns nie zur Gänze gelingen und selbst in den unendlichen Weiten des Weltalls ist er uns bereits gefolgt. Der Chemiker und Autor Jens Soentgen ist seinen Spuren und Sporen gefolgt, lässt uns eintauchen in die faszinierende Welt des Fast-Nichts.
Wer glaubt, seine Wohnung gründlich gereinigt zu haben, muss nur in die Ecken schauen, den Blick entlang von Kanten und Rändern schweifen lassen. Irgendwo wird man ihn immer entdecken, den man gerade noch geglaubt hat, vollständig beseitigt zu haben. Eine zur Gänze lückenlose Beseitigung des Staubs, der uns umgibt, ist beinahe unmöglich. Doch wäre das überhaupt wünschenswert, wenn man jetzt einmal den ästhetischen Gedanken beiseite schieben würde? Das hier vorliegende faszinierende Sachbuch lädt dazu ein, einen etwas anderen Blickwinkel auf Staubflusen und Wollmäuse einzunehmen. Erzählt vom Leben eines Staubpartikels und was das mit uns macht oder was uns fehlen würde, wäre die Welt zur Gänze staubfrei.
So ungewöhnlich die Thematik des Werks, so liebevoll die Sprache über eine Thematik, der wir uns sonst in vielerlei Hinsicht nur kritisch annähern. Neben allen kritischen Punkten, die ebenfalls beleuchtet werden, wird auch der positive Effekt betrachtet, wenn es etwa um die Rolle des Staubs bei der Fruchtbarkeit von Böden, der Verbreitung von Leben oder es schlicht und einfach darum geht, die Welt ein wenig zu erhellen. Staubfrei bedeutet nämlich, zumindest in der Natur, eine dunklere und nicht ganz so farbenfroh leuchtende Umgebung. Abwechselnd fast wissenschaftlich, dann wieder ganz im Stil des Nature Writing beschreibt der Autor eine Hassliebe, die wir zwar im ersten Moment am liebsten los wären, ohne die wir jedoch nicht sein würden, was wir sind.
In sehr kompakten Kapitel stellt Soentgen die Rolle des Staubs in unserer Welt dar, unterstützt durch zu Weilen urkomische Illustrationen aus der Feder von Katja Spitzer und führt uns dabei nicht nur durch ein imaginäres Museum für die Evolutionsgeschichte der Wollmaus, welche die manchmal „staubtrockene“ Thematik auflockern, sondern zeigt, wie Staub, Natur und Mensch miteinander zusammenhängen.
Schon das hier konzentrierte Faktenwissen ist hier interessant zu lesen, auch die Einordnung nützlichen und nicht ganz so positiver Spielarten, sowie die historische Betrachtung sind sehr spannend zu lesen. Es ist eben nicht nur ein bloßes Abfallprodukt, womit wir uns hier beschäftigen, sondern zugleich eines der kleinsten noch mit bloßen Auge sichtbaren Teilchen, welches viele Geheimnisse verbirgt, doch auch so viel über uns selbst verraten kann.
Längst überfällig war diese popolärwissenschaftliche Aufbereitung eines Sachverhalts, der nicht nur die Reinigungsindustrie stetig beschäftigt, sondern inzwischen auch einige Künstler. Wir können dem Staub ja eh nicht entkommen. Wo wir sind, ist auch er. Zeit also, einmal in Ruhe eine im Licht schwebende Staubfluse zu betrachten. Jens Soentgen zeigt, wie.
Autor:
Jens Soentgen wurde 1967 in Bernsberg geboren und ist ein deutscher Chemiker und Philosoph, sowie Autor verschiedener Sachbücher. Zunächst studierte er Chemie und promovierte anschließend in Philosophie, bevor er verschiedene Lehraufträge annahm. 1999/2000 war er Gastdozent in Brasilien. Seit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg, wo er 2015 habilitierte. Er ist Autor mehrerer Werke, für die er u. a. den Emy Sachbuchpreis erhielt (2016).
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Vor den pandemiebedingten Ausfällen hat mich der Messe-Blues immer im Nachgang erwischt. Dieses Mal komme ich regelrecht euphorisch zurück, nachdem ich viele sehr besondere und erfrischende Eindrücke gesammelt, viele Gesichter zum ersten Mal nach drei Jahre bedingtem Ausfall, zudem im etwas kürzeren Ausfall, viele Mitglieder eines bestimmten Literaturforums (buechertreff.de) wieder treffen und zahlreiche Blog- und auch sonstigen Ideen sammeln konnte. So ging es vielen.
Die rot verkleidete Treppe mit dem obligatorischen Buchmesse-Logo dürfte ein beliebtes Fotomotiv diesmal gewesen sein. (Foto: Privat-Archiv)
Einmal vorausgeschickt, die Verantwortlichen zählten 274.000 Besucher, was nur 12.000 Menschen weniger gewesen sind als im Jahr vor der Pandemie, dies bei nur etwas weniger Ausstellern und Lesungen, die sich nicht nur auf dem Gelände der Leipziger Messe, sondern auch wieder in der Innenstadt und auf der neu hinzugekommenen Klimabuchmesse verteilten, die im Studentenviertel Connewitz stattfand. Die Leipziger und alle anderen natürlich auch haben sich ihre Messe zurückerobert. Das konnte man schon am Donnerstag sehen.
Angereist bin ich einen Tag vorher. Gut vorbereitet, der Zug war pünktlich, meine ersten Online-Termine, ich hatte diesmal viel Blogger-Zeug geplant, fielen aus, so dass ich die Zeit nutzen und mich mit den ersten ebenfalls an diesem Tag eingetroffenen Buechertrefflern, nun ja, treffen konnte. Es war wirklich schön, auch wenn das für mich natürlich an den Grundfesten meiner Planungen gerüttelt hatte. Aber man soll ja seine Chancen durchaus nutzen.
In jedem Fall war es das Richtige, um sich gemeinsam auf die kommenden Tage einzustimmen, von denen wir uns natürlich vorab gefragt haben, wie werden sie sein? Werden wirklich viele Menschen kommen? Werden wir durch leere Halle schlendern oder wird doch etwas Betrieb die Messe beleben?
Ja, der tat es. Gleich am ersten Messetag kam ich, der sich wieder ziemlich nah dran einquartiert hatte, nicht in die erste Tram, aber in die zweite, um ins Pressezentrum zu gehen und dort die Garderobe abzulegen, einen Kaffee zu trinken. So beginnt für mich immer die Leipziger Messe. Das Pressezentrum füllte sich schnell, eine mir bekannte Literaturagentin habe ich auch getroffen und ich kam mit einem ZDF-Menschen ins Gespräch. Das ist das, was für mich Messe ausmacht, dass man eben auch von anderen Seiten Einblicke bekommt.
Draußen hat sich derweil der Vorplatz gefüllt, die Glashalle ebenso und dann endlich wurden auch schon die Messehallen geöffnet, die sich schnell belebten. Was war neu? Gänge von der Glashalle zu den eigentlichen Messehallen waren klarer aufgeteilt, die Hallen ebenso durch ein neues Konzept, welches man erst einmal verinnerlichen musste, genau so, wie zu realisieren, dass dies nun wieder eine reguläre Messe ist. Nur, wie macht man die?
Volle Hallen nach drei Jahren Pause. (Foto: Privat-Archiv)
Die ersten drei Stunden haben sich etwas merkwürdig angefühlt. Wie wir abends festgestellt haben, ging es uns allen so. Eine Weile hat es also doch gebraucht, um wieder auf Betriebstemperatur zu kommen. Das ging aber dann wieder und für mich hieß das einen ersten Messerundgang zu verschiedenen Verlagsständen. Diese hatte ich mir vorher nptiert, aber natürlich noch zahlreiche andere mehr im Laufe der Tage entdeckt. Dafür ist eben Messe gut. Es gibt Verlage, von denen erfährt man eben nur so.
Die Gespräche an den Ständen empfand ich alle als freundlich, interessiert, was sich über die Tage fortsetzen sollte. Die Trennung zwischen althergebrachten Feuilleton und Blogs/Social Media/Booktube gibt es so wie vor ein paar Jahren noch in diesem Sinne nicht mehr, zumal manch kleiner Verlag nur durch die Aufmerksamkeit letzterer in den vergangenen Jahren überleben konnte. Das empfinde ich als angenehmen Wandel, mal so aus Bloggersicht heraus geschrieben. Am Ende können ja beide Seiten im Prinzip nur dabei gewinnen.
Mein Autoren-Interview mit Frank Vorpahl („Aufbruch im Licht der Sterne„) fand als einer meiner ersten Termine gleich am Donnerstag statt. Ein sehr sympathischer und uinteressierter Mensch, der bei der Beantwortung meiner Fragen andere gleich vorweg genommen hat. Das hat es mir in der Interview-Situation durchaus leicht gemacht, aber ich fürchte mich schon vor der Aufbereitung. Ihr und andere sollen ja nicht nur Blocktext zu lesen bekommen.
Weiter ging es dann zu einer Lesung mit Uwe Neumahr, der mir sein Buch „Nürnberg 46 – Das Schloss der Schriftsteller“ im Anschluss signierte, sowie zu einer Bloggerveransdtaltung mit Sebastian Hotz (El Hotzo), der über sein Buch „Mindset„, viel mehr darum herum gesprochen hat. Ein sehr witziger Mensch ist das schon, nur weiß ich eigentlich immer noch nicht so richtig, worum es in diesem Roman eigentlich geht. Nun ja, man kann nicht alles haben.
Der Tag endete auf dem Messegelände mit einer Programm-Vorstellung bei Rowohlt, aus der ich sicher das eine oder andere euch künftig vorstellen werde. Nur ein Rezensionsexemplar habe ich mir gleich mitgenommen. Peter Urbans „On Air„, ich bin in jedem Fall gespannt. Im Anschluss habe ich noch ein paar Fotos allgemein in den Hallen geschossen, wie am frühen Morgen auch, z. B. von der Messetreppe, die dieses Jahr ein beliebtes Motiv gewesen sein dürfte. Ohne konnte man es ja zumindest am ersten Tag kaum glauben, dass wirklich wieder Messe ist. Den Abend habe ich dann zusammen mit Freunden im Pinguin (hießige Eisdiele, wo man aber auch wunderbar warm essen kann) und im Irish-Pub ausklingen lassen. Mein Kopf wusste davon jedenfalls im Anschluss zu erzählen.
Am Freitag ging es weiter mit der Vorstellung des Gastlandes Slowenien der nächsten Frankfurter Messe, wofür ich mich bisher sehr ungünstig einquartiert habe, wie ein Frankfurt-Kennner am Vorabend klar gemacht hatte. Das muss ich in jedem Fall nochmal überdenken. Slowenien wird es auf der Frankfurter Buchmesse 2024 sein, wozu einige Reden gehalten wurden. In ähnlich vollen Hallen.
Da war im Prinzip schon klar, dass sich die Leipziger Veranstalter ziemlich verschätzt hatten. Man ist ja ursprünglich von einer Anzahl von Besuchern ausgegangen, die 60 Prozent der Besucherzahl von 2019 entsprochen hätte. Aus den Gesprächen mit Verlagsmitarbeitern, durch die Bank weg, von groß bis klein, ergab sich ein derart positiver Vibe, auch der Buchverkauf an den Ständen verlief offenbar sehr gut in diesen Tagen.
Danach traf ich eine Literaturagentin, die mich zu verschiedenen kleineren Verlagsständen führte. Dort hielt man sich eben darum mit Rezensionsexemplaren sehr zurück. Natürlich, man wollte ja verkaufen, wenn es schon mal so gut läuft. Das ist verständlich gewesen. Im Nachhinein bin ich auch froh darüber. Es wurden mit Rezensionsexemplaren und dazu gekauften Büchern am Ende übrigens 21 Bücher, die nun bei mir aufgestapelt liegen und dazu diverse Vorschauen und Messedevotionalien. Gelobt sei der zweite kleine Handkoffer.
Darum ging es mir nicht hauptsächlich, wobei es natürlich die Blog-Planung vorwegnimmt, eher um solche Sachen wie um eine Signatur von Sasha Filipenko. Dessen Verlag Diogenes war nicht selbst mit einem eigenen Stand vertreten (Ob die sich jetzt ärgern?), sondern nur im Rahmen des Schweizer Gemeinschaftsstandes.
Er selbst war aber da und hat natürlich die Bücher signiert und sich ehrlich über all die Interessierten gefreut, die sich um ihn herum getummelt haben. Danach ein Treffen mit dem Mitteldeutschen Verlag, die sich ebenso wie andere über viel Andrang an ihrem Stand freuen konnte, zuletzt dann eine Lesung über „Grenzschicksale – Als das grüne Band noch grau war“. Auch das war durchaus interessant.
Nach nur wenigen Stunden Schlaf, der Abend vorher im Pinguin, später Pub, endete, nun ja, spät, ging es am nächsten Tag nach einem ausgiebigen Bloggerfrühstück mit dem S. Fischer Verlag (Das klingt so, als würde ich die ganze Zeit nur essen und trinken, aber dem ist nicht so. Wirklich nicht.) mit integrierter Programmvorstellung und einer Spontanidee für Frankfurt ging es zum C. H. Beck Verlag, wo ich ebenfalls zum ersten Mal das Gesicht hinter der E-Mail-Adresse sehen durfte.
Im Anschluss zu kleineren Verlagen und schließlich ins ARD-Forum zu einem Gespräch von Sebastian Fitzek. Für sein neues Buch „Elternabend“ hatte ich am Sonntag versucht, die Signierstunde zu besuchen, bei dem dortigen Andrang aber keine Chance gehabt.
Sebastian Fitzek im Interview im ARD-Forum (Foto: Privat-Archiv)
Danach habe ich meinen Messetag beendet, um auf dem Gespräch zwischen Giovanni di Lorenzo und Angela Merkel beizuwohnen. Dafür hatte ich eines von zwei letzten Tickets damals noch im Online-Verkauf bekommen. Die Veranstaltung selbst muss innerhalb von zwei Tagen ausverkauft gewesen sein. Vor dem Schauspielhaus, wo das stattfand, stand dann auch schon eine lange Schlange Wartender, ebenso wie Leute mit Pappschild, die noch ein Ticket kaufen wollten. Wie auf einem Konzert war das. Ging natürlich nicht.
Nach kurzer Sicherheitskontrolle und dem Einlass in den Saal ging es los. Man kann von Merkels Politik und Entscheidungen halten, was man will, aber sie kann ironisch, witzig sein und di Lorenzo ist jetzt aber auch kein Journalist, der bei Ausweichversuchen locker lässt.
Angela Merkel beim Signieren. (Foto: Privat-Archiv)
In sofern habe ich eine interessante, wenn auch natürlich nicht alles beantwortende Diskussion erlebt. Die könnt ihr übrigens auf der Seite der Zeit und sicher auch in den ÖR-Mediatheken nachverfolgen, wenn ihr mögt. Signiert hat sie ihr Buch „Was also ist mein Land?„, in dem drei exemplarische Reden von ihr versammelt sind, danach auch.
Der letzte Messetag begann wieder mit Rundgängen. So viel Schritte laufe ich sonst nicht, der Veranstaltung „Druckfrisch“ mit Denis Scheck und im Anschluss mit einem vereinbarten Treffen mit dtv. Auch hier gab es einen Einblick ins künftige Programm. So viel sei schon mal verraten, es werden wieder ganz tolle Bücher erscheinen. Nach einem letzten Rundgang, habe ich meine erste reguläre Messe nach drei Jahren dann ausklingen lassen. Mit schweren Gepäck. Mitgekommen sind:
– unzählige Bücher
– diverse Vorschauen
– interessante Gespräche und Kontakte
– die Erkenntnis, wie viel eigentlich in einem Koffer passt (und was danach nicht)
Es hat mich gefreut, vor allem euch wieder einmal zu sehen und gemeinsam Messeluft aufzunehmen, dazu diverse Aperol (nicht nur, glaube ich). Ein paar tolle Tage waren es. Natürlich gab es auch im Nachgang wieder die Artikel von wegen der Relevanz zweier Messen oder aber die, die das Nebeneinander von Cosplay und Buchmesse kritisierten, aber auch das gehört ja irgendwie zum Messe-Feeling mit dazu. Ich freue mich aufs nächste Jahr.
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Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrauten Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen.
Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen? Ein Roman über Russlands Vergangenheit, die ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft – auf Grundlage historischer Dokumente, die dem Autor von der Organisation Memorial (Friedensnobelpreis 2022) zur Verfügung gestellt wurden. (Klappentext)
Rezension:
Wie sehr muss man sich eigentlich in den Brennpunkt einer Gefahr hinein begeben, um nach und nach den Schrecken vor ihr zu verlieren und schließlich nicht mehr als solche wahrzunehmen? Dabei ist der Direktor des Moskauer Krematoriums Pjotr Nesterenko täglich mit ihr konfrontiert, lässt er doch die Überbleibsel des Stalinschen Terrors von der Bildfläche verschwinden.
Mit jedem Menschen, den Nesterenko verbrennen lässt, zieht sich die Schlinge auch um seinen Hals immer enger zu, bis er schließlich selbst in derer Fänge gerät. Der Geheimdienstoffizier, ihm gegenüber sitzend, bringt ihn zum reden. Nesterenko, der dem Tod so oft ins Auge gesehen hat, spricht, im guten Glauben auch da heil heraus zu kommen, um seines Lebens willen.
Ein Roman funktioniert dann am besten, wenn der Schreibende genau um die Fascetten dessen weiß, worüber er schreibt. Dem belarussischen Schriftsteller Sasha Filipenko gelingt dies ein ums andere Mal, nun wieder. In seiner neuesten Erzählung greift er den Stalinschen Terror auf, dessen Auswirkungen noch heute in vielen russischen Familien zu spüren sind, heute durch die jetzigen Regierenden in anderer Art und Weise, subtiler vielleicht, fortgeführt werden. Mit kurzen prägnanten Sätzen, die nicht zu selten wie gezielte Nadelstiche wirken, eröffnet der Autor ein zu Beginn fast schon amüsant weil surreal wirkendes Kammerspiel, welches sich mehr und mehr zu einem Schachspiel um Leben und Tod wandelt.
Während des Lesens der ersten Hälfte des Romans muss man zuweilen schmunzeln. Das Lachen bleibt im Halse stecken. Wir scheinen schnell zu ahnen, worauf das dargestellte Katz-und-Maus-Spiel hinauslaufen wird. Doch wagen wir zu hoffen, jedem Gedanken um das Unausweichliche beiseite zu schieben. Erzählt wird so ein Zeitraum von wenigen Wochen, der für den Protagonisten mal zu einer atemraubenden Tortur wird, dann wieder in zähflüssiger Langeweile sich zersetzen scheint.
Der Autor öffnet dabei verschlungene Pfade und lässt seine Figur Nesterenko zurückblicken, auf eine Biografie, wie sie ähnlich wohl zu der beschriebenen Zeit viele in Erklärungsnot gebracht haben dürfte. Wir Lesende erfahren so ein bewegendes Stück russischer Geschichte, mit der man auch viel heutiges erklären könnte, bleibt jedoch mit mehr Fragen zurück, als dass man Antworten bekommt.
Nach und nach bekommt die Hauptfigur so Konturen, der Antagonist zeigt indessen sein wahres Gesicht, welches er schon zu Beginn kaum verbirgt. Der hat ein Ziel, der beschriebene Weg und was dies mit seinem Protagonisten macht, ist die Frage, die Filipenko sich stellt und auf deren Beantwortung wir Lesende hinfiebern. Die Intensionen beider Figuren können nachvollzogen werden. Rasant führt die eine den anderen in den Abgrund hinab, den beide aus unterschiedlichen Positionen heraus nur allzu gut kennen.
Die Dynamik im Text entsteht durch gekonnt gesetzte Brüche in Form von verschiedenen Zeitebenen, die sich nur langsam zusammenfügen. Es verdient Anerkennung, das geschrieben zu haben, ohne den Überblick zu verlieren. Dem kommt zu Gute, dass das Figurenensemble überschaubar bleibt. Kein Wort ist hier zu viel, zu wenig gesetzt. Eine Kunst, die Filipenko vollkommen beherrscht. Rückblenden werden gezielt eingewoben. Wäre die beschriebene Zeit jedoch nicht klar, wäre solch ein Verhör, wie dort beschrieben, auch und besonders im heutigen Russland vorstellbar. Abweichung wird nicht geduldet. Damals nicht, heute auch nicht. Und sei sie nur gefühlter Natur.
Zumindest am Anfang nicht ganz so düster daherkommend, wie etwa der Vorgängerroman „Der ehemalige Sohn“, der vordergründig eher ein Familiengefüge beleuchtet hatte, wirkt diese Erzählung an vielen Stellen deutlich leiser. Die Bedrohung packt den Protagonisten an seinen wunden Punkten. Wer liest, dem läuft das kalt den Rücken hinunter. Fast wirkt das, als wäre man selbst der Verhörte, der im Prinzip weiß, redet man, geht man daran zugrunde. Redet man nicht, dann sowie so. Also spricht man, hat natürlich trotzdem oder gerade deswegen die Hoffnung, noch einmal davonzukommen.
Diese Parallelen vom Damals zum Heute sind es, die die Erzählung so besonders machen, da so fein ausgearbeitet, selten ein zweites Mal zu lesen sind. Vergleichbares ist schwer zu finden. Gibt es Romane mit dieser Thematik, die einem noch mehr in den Bann ziehen? Man wird in die Handlung hinein gesogen. Zuweilen fühlt man sich, als würde man diesem fast schon intimen „Gespräch“, welcher zu großen Teilen aus einem äußeren, unterbrochen von inneren, Monolog besteht. Das schafft unbedingte Nähe.
Immer wieder einen anderen gesellschaftlichen oder historischen Aspekt der Geschichte Belarus‘ und Russlands aufgreifend, hat es Filipenko mit „Kremulator“ erneut geschaffen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, der auch nach Zuschlagen der letzten Seite nachhallt und emotional berührt.
Bei mir schaffen das nicht alle Romane, so in diesem Maße und nicht alle Schreibende so oft und stark, wie Sasha Filipenko, der wieder einmal meine Erwartungshaltung übertreffen konnte. Empfohlen sei die Erzählung allen, die sich für die Zeit des Stalinschen Terrors, dieser gewollt herbeigeführten Gesellschaft interessieren, die durch nichts als Angst zusammengehalten wurde und für jene, die erfahren möchten, warum auch heute noch die oberen Zehntausend Russlands mit den ihnen ausgesetzten Massen praktisch nach Gutdünken verfahren können. Die Geschichte ins Heute übertragen, könnte man sicher für einen Gutteil der dortigen Bevölkerung sagen, die Angst hat bis heute überlebt. Man stellt sich ein Verhör mit ungewiss-gewissen Ausgang auch heute noch so vor.
Schlicht und ergreifend beeindruckend ist das, wie hier Filipenko erneut durch den Spiegel der Historie etwas Modernes erzählt. Schon alleine daher ist „Kremulator“ unbedingt zu empfehlen.
Autor:
Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein belarussischer Schriftsteller, Journalist und TV-Moderator. Er, der auf Russisch schreibt, wurde in über 15 Sprachen übersetzt und studierte nach der Schule zunächst an der Europäischen Humanistischen Universität Minsk und ging anschließend 2004 nach St. Petersburg. Dort schloss er das Studium der Literatur ab und arbeitete für verschiednee unabhängige russische Fernsehsender.
In Belarus ist sein Werk teilweise verboten, zudem er in Opposition zum herrschenden Machtapperat um Lukaschenka steht, sich mit den in seinem Geburtsland stattfindenden Protesten 2020-2021 solidarisierte. Mit seiner Familie lebt er inzwischen im Schweizer Exil. Filipenko schreibt seine Texte weiterhin auf Russisch.
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